Cover


Richard Lorenz


Amerika Plakate


Roman






Edel Elements

Über das Buch:

Im Schrank findet der junge Leibrand einen Rückzugsort – vor seinen Mitschülern, vor seinem zerrütteten Elternhaus. Er driftet ab in seine eigene kleine Welt, in die Welt der Schrankgeschichten und Amerika-Plakate, die er nach und nach auf seiner Schrankwand und später auch auf Papier verewigt. Der Kuss Suzannes, den sie ihm während eines Jahrmarkts gibt, lässt ihn aus der Welt fallen und fesselt ihn sein Leben lang, doch sie verlieren sich aus den Augen. Jahre später findet er im Fall aus der Welt Suzanne wieder ... 

Leibrand

Ging durch Philadelphia.

Malte sechsundsiebzig Amerika-Bilder.

Schlief in Brooklyn auf der Straße.

Träumte von Marylin Monroe.

Schrieb vierunddreißig Schrankgeschichten.

Kannte den Teufel.

Kannte die Engel.

Auch den Rattenkönig.

Fiel aus dreiundsechzig Fenstern.

Rettete dreiundzwanzig Menschen.

Der erste Kuss.

Der letzte Kuss.

Liebender

Suchender

Verlorener

Lebender

Sterbender

Kapitel Eins

Der erste Kuss
(Brooklyn ist überall)

Take a walk on the wild side.

– Lou Reed

1

Ich sitze hier in meiner Küche, draußen regnet es bereits seit einigen Stunden. Dunkelgrau der Himmel, Wolkenfetzen. Vor mir auf dem Tisch liegt ein Paket. Ich habe es noch nicht aufgemacht, obwohl es da schon über eine Stunde liegt. Oben in den Zimmern höre ich meine Kinder, meine Frau telefoniert im Wohnzimmer mit einer Freundin, ich höre sie lachen. Ich liebe sie sehr.

Die Regentonne vor dem Fenster läuft über, Blätterschiffe torkeln durch den Sturm.

Vier Pakete und unzählige Briefe sind seit dem Tod Leibrands vor vier Jahren angekommen. Tagebücher, Notizbücher, Skizzen und vor allem Leinwände (die größte so hoch wie eine Tür, die kleinste im Format einer Postkarte) – voll mit seinen Amerika-Plakaten. Ich habe nie herausgefunden, wer sie mir wohl schickt, und wenn ich ehrlich bin, glaube ich auch nicht, es herausfinden zu wollen. Sie kommen aus der Vergangenheit, so viel ist sicher.

Alles im Leben schließt sich. Ich denke zum Ende hin kommen alle Dinge wieder ins Lot. Einige seiner Briefe habe ich gelesen, spätnachts, und ich muss zugeben, ich hatte mir ein wenig Mut dafür antrinken müssen. Leibrand fehlt mir. Für eine lange Zeit war er ein Teil meiner selbst, manchmal ein Bruder, meist sogar wie ein Vater, der auf mich aufpasste und mich beschützte. Vermutlich begegnet man solchen außergewöhnlichen Menschen nur einmal im Leben. Dennoch war mir Leibrand aus den Händen geglitten, wie ein Fisch aus unerfahrenen Kinderfingern, am Bachufer. Wenngleich ich weiß, dass ich ihn niemals hätte retten können, fühle ich mich schuldig, nichts für ihn getan zu haben.

Das Paketpapier ist nass, die Schrift darauf ein wenig verschmiert, aber noch lesbar. Zwei, drei schmale Bücher, mehr werden es heute kaum sein. Absenderadresse: Brooklyn, letztes Haus links, Amerika. Natürlich weiß ich, dass Leibrands Brooklyn überall sein konnte. Selbst Amerika konnte gleich hinter unserem Haus beginnen; ich hatte alles gesehen. Dinge, die ich meiner Frau nicht erzählen kann. Sie würde mich für verrückt halten.

Draußen zieht ein Gewitter auf. Das Licht beginnt schon zu flackern.

2

Die späten Siebzigerjahre, in einer kleinen Stadt. Wir hatten hier einen winzigen Supermarkt, eine Bäckerei, einen Metzger, ein Postamt und eine Schule. Zwei Telefonzellen, denen man jedoch nicht sonderlich vertraute (man könnte schließlich eingeschlossen werden). Hier kannte man beinahe jeden, der über die Straße lief – und jedem, den man nicht kannte, begegnete man mit Misstrauen und Argwohn, die durchaus in Feindseligkeiten enden konnten.

Die Leute lebten in gekalkten Häusern, und so gut wie niemand hatte ein Telefon. Im Grunde dachte damals niemand, dass man Telefone im eigenen Haus jemals brauchen würde.

Ein, zwei Mal im Jahr ging ich mit meiner Mutter zum Postamt, um unsere Verwandten in München anzurufen. Die einzige Telefonkabine war so groß wie ein Auto und roch nach feuchter, ungewaschener Haut. Das magische Rattern der Wählscheibe, während ich nach draußen schaute. An den getünchten Wänden die Fahndungsplakate der RAF-Bande, Baader und Meinhof. Leute, die durch die Stadt fuhren, ohne anzuhalten, waren von der RAF, da gab es gar keinen Zweifel. Wir Kinder erwarteten sowieso, erschossen zu werden, bevor wir fünfzehn sein würden. Einmal zu neugierig aus der Tür geguckt, und schon hätte es passieren können. Damals spürten wir, dass sich die Zeit verändern sollte. Gerade so, als wäre ein schlimmes Unwetter aufgezogen; die Wolken standen noch am Himmel, aber niemand ahnte, was danach kommen würde.

Es war unsere Stadt, so viel stand fest. Wir kannten jeden Winkel und jede Ecke, geheime Plätze und verborgene Geheimnisse. Natürlich gab es hier auch ein Gespensterhaus, wie jedes leer stehende Haus in jeder Kindheit ein Gespensterhaus sein konnte. Unseres lag am Ende der Straße, die wie eine tote graue Zunge zu einem Waldstück führte, es durchleckte und nirgendwo endete. Die alte Gantner hatte sich in diesem Haus vor über zehn Jahren in der Küche erhängt. Ihr Mann und ihr Sohn waren von Russland nicht mehr heimgekommen, und von Tag zu Tag war sie seltsamer geworden. Die Leute erzählten, dass es an jedem Todestag der alten Gantner in ihrer schimmeligen Küche regnen würde – es regnete Sterbebilder, wie es hieß. Sterbebilder jener Leute, die in diesem Jahr sterben würden. Natürlich glaubten wir das. Leibrand und ich hatten die alte Frau einige Male am Fenster sitzen sehen, lange nach ihrem Tod. Ein böses dunkles Gesicht, ein zahnloser offener Mund, der unsere Namen flüsterte, so leise, dass wir es nur in unseren Bäuchen hören konnten.

Gerade in den dunklen Herbst- und Wintermonaten erzählten sich die Erwachsenen viele solcher Geschichten. Schwarz-Weiß-Episoden, während das Holz der Öfen knisterte und schnalzte. Von Männern und Frauen, die man im Sarg angenagelt hatte, damit sie nicht wiederkommen konnten. Von Kindern, die nachts über Glasscherben gingen und mit blutigen Füßen auf den Dachsimsen wanderten. Fußspuren im Schnee, die im Teufelsloch endeten, Zwielicht-Gestalten, angeführt von der alten Gantner, die keine Ruhe fand. An Sonntagen war die Kirche voll, und bei jedem Unwetter verspritzte man Weihwasser vor den Türen, um die bösen Geister um Mitternacht zu vertreiben.

Das große Unheil begann in den längsten Sommerferien unseres Lebens, Ende der Siebzigerjahre. Ein heißer Sommer, flirrend die Luft über dem Asphalt. Die Straße, in der ich und Leibrand wohnten, war unsere Straße. Als hätte man sie ausschließlich für uns gelassen, eine schlafende Schlange, die nur darauf wartete, von uns erweckt zu werden.

Wir waren elf Jahre alt, aber Leibrand war immer schon groß gewesen. Ein Junge, der ebenso gut vom Himmel gefallen hätte sein können. Leibrand war nicht so wie wir, nicht wie die anderen Kinder, nicht einmal so wie die anderen Menschen. Er schlief mit den Eidechsen und wachte mit den Wölfen.

Ich kann mich nicht erinnern, wann Leibrand hier gewesen war. In den Nächten scheint es, als wäre er plötzlich von einem auf den anderen Tag aufgetaucht, alleine nur, um die Welt zu verändern.

3

Bereits im Frühjahr, nach den großen Regenfällen, waren die Ratten immer wieder in die Häuser gekrochen. Aber erst nach den heißen Sommerwochen hatte es mit der Angst vor ihnen begonnen.

Heute denke ich, es war ein Vorzeichen für alles, was geschehen sollte. Wie ein leises Donnergrollen am Himmel, noch bevor man die rabenschwarzen Wolken sah und man die Elektrizität riechen konnte, die mit den Blitzen kam.

Die meisten Ratten kamen von der Müllhalde, die es zu dieser Zeit noch gab. Dort hatte es natürlich immer schon welche gegeben. Der Aufseher der Stadt, der da nach dem Rechten sah, verscheuchte sie mit einem Luftgewehr und legte regelmäßig Giftkonserven aus. Niemand hatte damals Angst vor ihnen. Man erschlug sie mit einer Schaufel, traf man eine davon in seinem Haus an. Doch in diesem Sommer waren sie zu einer regelrechten Plage geworden.

Sie kamen über die Felder, durch die Kanalstränge, und fraßen sich durch die Keller in die Häuser. Auf den Straßen lagen sie in den frühen Morgenstunden, ausgeblutete Kadaver mit offenen Mäulern, wenn sie das Gift erwischte.

Da die Ferien begonnen hatten, waren es die Kinder, die nach Ratten suchten. Wir fanden sie überall. Sie gierten aus Abwasserrohren, verschwanden in Kellerschächten. Wir konnten sie sogar riechen, wie alte Männer den Schnee in den ersten Novembertagen riechen können.

Es war die Zeit der Teufel und des Staubes, der blutigen Schlieren auf den gestampften Lehmböden. Eingeweide und scheußlich schimmernde Fliegen.

Leibrand wusste immer, wo er die meisten Ratten finden konnte.

»Ich kann sie hören, du musst nur deine Augen schließen. Sie singen«, sagte Leibrand. Ich schloss meine Augen.

»Hörst du sie?«

»Ja«, log ich. Ich hörte das Summen des Sommertages; ein Hund kläffte weit weg.

»Sie singen das Lied der Gewitter«, sagte Leibrand und lächelte. Nickte.

Wir öffneten die Dachluke des alten Hauses. Staub bedeckte unsere Gesichter.

Für einen Augenblick war mir tatsächlich, als würde ich ein leises Kindersingen hören – ein grässlicher und zugleich wunderschöner Todesgesang.

In der Nacht, bevor der Jahrmarkt in die Stadt kam, wurde der alte Hund der Penkers, ein hinkender, beinahe blinder Mischling, totgebissen. Scheinbar im Schlaf überrascht, fand man ihn am Morgen verendet in der Einfahrt liegen. Seine Augen trübe, die Zunge abgebissen neben seinem Kopf.

Eine Ratte, so groß wie eine junge Katze, steckte noch in seinem Maul und labte sich am geronnenen Blut. Sie konnten die Ratte schmatzen hören. Jemand schrie.

Die Zirkuswagen schepperten in die Stadt, als man den alten Hund am Ausläufer der Straße vergrub (dort hatte sich im Laufe der Jahre ein beachtlicher Tierfriedhof entwickelt). Es war damals nicht ungewöhnlich, dass plötzlich ein Jahrmarkt in die Stadt kam: Schaubuden, Gaukler und Hausierer, ausgemergelte Tiere und der immerwährende Geruch von alter Zuckerwatte.

Ein einäugiger Mann mit Augenklappe blickte herunter.

Auf seinem Wagen steht mit geschwungener Schrift: Das Auge.

Drei Kinder stehen auf einem offenen Anhänger.

Die Farbe blättert ab und bleibt auf der Straße liegen.

Blau.

Spielkarten, die vom Himmel fallen.

Alles sehr langsam und gemächlich, schwere Traktoren zogen bunte Holzwagen mit abenteuerlichen Aufschriften und Bildern darauf. Ein fahrbarer Kinematograf, auf dessen dunkelblauer Plane versprochen wurde:

Sehen Sie in das magische Auge – wir sehen in Ihre Seele

Sie fuhren runter zum Stadtplatz, auf dem immer die Jahrmärkte, Rummelplätze und Feste gastierten. Kein guter Ort, zu viel seltsame Magie und billiger Zauber, nachts streifte hier der Wolfsmann herum und fraß den Sternenstaub der Nächte. Heulte zum Mond und verdarb Kinderträume.

Ein Budenbesitzer schrie: »Nur drei Tage, nur drei Tage!«, während Zelte aufgebaut und Stahlheringe eingeschlagen wurden. Ein Elefant schlich die Straße hinunter; wir trauten kaum unseren Augen. Leibrand flüsterte mir etwas ins Ohr, und schließlich sah ich es auch.

Eine Ratte saß auf dem Rücken des Elefanten und sah zu uns herunter, als wollte sie uns allesamt verspotten; der König der Welt.

Leibrand und ich folgten den Jahrmarktsleuten bis runter zum Stadtplatz. Der Elefant rieb sich an einem der Bäume, die Ratte auf seinem Rücken lief auf und ab. Die Kirchenglocken fingen an zu läuten.

Schaubuden wurden aufgestellt, Strom- und Wasserleitungen verlegt, bunte Fahnen aufgehängt, Lampions verteilt. Wir saßen auf einer Anhöhe und zählten unser Geld, das wir noch in den Hosentaschen hatten.

Ein Lastwagen kam angefahren, und wir stellten mit Freude fest, dass es auch einen Autodrom geben würde.

»Es wird der Jahrmarkt der Ratten«, sagte Leibrand und lächelte.

»Der König hält bereits seine Rede«, sagte ich, und Leibrand nickte.

Am himmelblauen Sommerhimmel zog ein Unwetter auf.

4

Suzanne kam in die Stadt, als das Unwetter den Ort erreicht hatte und der Rattenkönig vom Rücken des Elefanten in die Dunkelheit sprang. Zusammen mit ihren Eltern besuchte sie Verwandte, die sie nicht einmal ausstehen konnte. Wir zählten vor unserem Haus die Blitze, als das fremde Auto im Regen zum Stehen kam. Ein Mann rief etwas, Leibrand rannte barfuß los. Sagte etwas, nickte, zeigte auf das Haus der Bergers. Hob seine Hand und kam wieder zurück, völlig durchnässt.

»Feuerrote Haare«, sagte Leibrand.

»Wer?«

»Das Mädchen. Das Mädchen hat feuerrote Haare«, sagte Leibrand. Es blitzte, Sekunden später Donnergrollen. Der Regen machte kalte Pfützen auf dem schlechten Asphalt.

»Kennst du sie?«, fragte ich ihn.

Leibrand sah ihnen nach, der Wagen kam zum Stehen, zwei Erwachsene und ein Kind rannten zum Haus. Einen Augenblick sah ich die roten, langen Haare.

»Leibrand? Kennst du das Mädchen?«

»Ich hab von ihr geträumt, als ich gestern Nacht im Schrank saß, weißt du«, sagte Leibrand, blickte zum Himmel, und ich sah einen Blitz niederfahren in seinen Pupillen.

Natürlich wusste ich von Leibrands Schrank. Immer wenn sein Vater zu viel getrunken hatte, und das passierte vier, fünf Mal die Woche, war der Schrank Leibrands Versteck. Während sein Vater unten in der Küche so laut schrie, dass man es noch bei uns klar und deutlich hören konnte, verschwand Leibrand in dem schweren Holzkasten und ging fort – schloss die Augen und träumte sich weg von diesem schrecklichen Ort. Wann die Sache mit dem Schrank und dem Verstecken vor dem Monstrum unten in der Küche begonnen hatte, daran konnte sich Leibrand nicht mehr erinnern.

Sein Vater hatte ihn nie gefunden, und er war nie so schlau gewesen, in dem Kleiderschrank neben Leibrands Bett nachzusehen. Vermutlich war er die meiste Zeit dafür einfach auch zu betrunken.

Natürlich wusste ich auch von den Zeichnungen in dem Schrank, ich hatte sie schließlich mit eigenen Augen gesehen. Leibrand hatte an die Rückwand Papier geklebt und angefangen, es zu bemalen. Ein riesiges Kunstwerk.

»Ich glaube, es wird eine Stadt. Häuser und so«, flüsterte Leibrand eines Tages, als wir beide in dem Schrank saßen. Er hatte immer eine Taschenlampe dabei; der Lichtkegel streifte geheimnisvoll über das Papier.

»Hohe Häuser. Gibt’s bei uns nicht«, flüsterte ich.

»Die gibt’s überall. Du musst sie nur suchen.«

Ich dachte darüber nach, und wer weiß, vielleicht hatte Leibrand sogar recht.

In der Küche knallte eine Tür zu. Sein Vater, ein stämmiger Mann mit dunklen Augen, übergab sich im Garten. Leibrand schloss seine Augen und sagte: »Willst du eine Schrankgeschichte hören? Ich hab davon geträumt, genau hier.«

Leibrand fing an zu erzählen.

Ich fand die erste Schrankgeschichte, die mir Leibrand erzählt hatte, in einem seiner Notizbücher wieder. Er muss sie um 1990 niedergeschrieben haben, als die Dinge längst nicht mehr aufzuhalten waren. Natürlich erzählte er sie mir damals ein wenig anders, als wir beide elf Jahre alt waren, das Erbrechen seines Vaters im Garten hörend. Dann wieder das Schreien und das Weinen seiner Mutter. Ich las die Geschichte an einem Herbsttag, während es draußen regnete, und erinnerte mich an damals – damals, als ich glaubte, es wäre nur eine Geschichte. Aber das stimmte nicht. Alle Menschen, über die Leibrand geschrieben hatte, gab es tatsächlich. Natürlich auch Albert Sterner; ich habe ihn selbst viele Jahre später einmal getroffen. Heute glaube ich, Leibrand hat ihre Türen geöffnet. Türen, von denen sie selbst nicht einmal wussten, dass es sie gab. Ich weiß nicht, was er tatsächlich sah, wenn er in seinem Schrank saß, aber er gab ihnen allen eine Geschichte.

Hier erzähle ich sie so, wie ich sie in einem schwarzen Notizbuch gefunden habe, denn ich denke, Leibrand hätte ein Schriftsteller werden können. Aber die Kunst kommt weit nach dem Leben, wie es heißt.

ALBERT STERNER UND DIE WARTENDEN

(Die erste Schrankgeschichte Leibrands)

Albert Sterner tanzte nicht auf ihrer Hochzeit, wenn man es so sagen möchte. Manche Leute behaupteten, Sterner sei ein ziemlich verschrobener, eigenartiger Vogel, und einige waren sogar fest davon überzeugt, dass er nicht alle Tassen im Schrank hatte. Der alte Mann hatte davon schon mehrmals gehört, aber es interessierte ihn nicht sonderlich. Der sonderbare Kauz hatte es geschafft, siebenundsechzig Jahre alt zu werden – und diese Zeit mit dem zu füllen, was er liebte. Zwei große Geschichten waren noch in seinem Kopf, zwei Bücher, die noch Seite für Seite geschrieben werden mussten. Eines für ihn, eines für den Teufel. So war der Handel. Schließlich hatte er ihn bei dem Wettrennen am Grünen See geschlagen, und es mochte schon etwas heißen, den Teufel bei einem Wettlauf hinter sich zu lassen. Vor langer Zeit, gewiss, aber für einige Dinge des Lebens ist Zeit nicht wirklich wichtig.

Mit sieben Jahren hatte Albert Sterner angefangen, in leere Flaschen Geschichten hineinzusprechen und zu hoffen, dass er sie wieder hören könnte, wenn er nur nahe genug sein Ohr daran halten würde. Mit acht Jahren ging er in die einzige Bücherei der Stadt und schrieb in einige Bücher, die ihm gefielen, einen neuen Schluss auf die letzte leere Seite. Als er neun Jahre alt war, traf er schließlich den Teufel zufällig unten am Fluss. Der Teufel war dort, um pechschwarze Steine hineinzuwerfen, Albert war dort, um einen Frosch zu fangen. Da ihm der Junge nicht glaubte, rülpste der Teufel, öffnete seinen Mund und gebar zwischen schneeweißen Zähnen eine riesige, scheußliche Kröte. Er würde den Anblick niemals wieder vergessen können, selbst wenn er die Kröte nicht ausgespien hätte. Ein sehr alter Mann mit den Händen eines Kindes. Er trug einen schwarzen Anzug mit einer schwarzen Krawatte und glänzend schwarze Schuhe, in denen sich der Junge und der Sommer spiegelten.

»Wie wär’s mit einer kleinen Wette, weil so ein schöner Tag ist, Junge?«, fragte der alte Mann und lächelte.

»Ich weiß nicht, ich finde Wetten ziemlich blöde«, antwortete Albert, und es war wirklich so. Die meisten Wetten, die er jemals mit anderen Kindern abgeschlossen hatte, waren wahrhaftig sehr blöde gewesen.

»Ein kleines Rennen. Ein alter Mann gegen einen jungen Mann. Von hier nach dort, zum Flussende, zur Gabelung.« Er deutete zum Wald, der den Grünen See in sich verschluckte.

»Ist nicht weit«, sagte Albert, legte seine Hand über die Augen und sah zum Ende der staubigen Straße, die viel mehr ein Weg als eine Straße war.

»Ich bin alt, du hast noch das ganze Leben in den Beinen. Du hast schon so gut wie gewonnen, finde ich.« Der Teufel nickte, während er sprach.

»Und wenn ich verliere?«, fragte Albert.

»Du kannst nicht verlieren, mein Junge.«

»Und wenn doch?«

»Sagen wir mal, wenn du verlierst, was ja sehr unwahrscheinlich ist, dann bekomme ich deine Beine. Natürlich erst, wenn du tot bist, versteht sich.«

»Meine Beine?«

»Ja, aber erst, wenn du tot bist, darauf gebe ich dir mein Wort.«

Albert überlegte eine ganze Weile, und obwohl er nicht im Geringsten wusste, was der Teufel mit seinen Beinen wollte, war er nicht uninteressiert an diesem Geschäft.

»Und wenn ich gewinne?«

»Such’s dir aus. Ich meine, außer Geld – so ein niedriger Wunsch würde mich sehr beschämen.«

»Zwölf Bücher«, sagte Albert.

»Ich verstehe nicht ganz.«

»Zwölf Bücher für meinen Kopf, neue Bücher. Romane, die ich schreiben kann. Ich schreibe gern«, schlug Albert vor.

»Natürlich sollen sie auch gedruckt werden, nicht wahr?«

»Natürlich«, sagte Albert, und beide nickten.

»Ein wahrlich ungewöhnlicher Wunsch, ja. Du bist nicht dumm, Junge. Nein, das bist du wohl ganz und gar nicht.«

»Und tanzen. Ich möchte tanzen können«, sagte Albert und lächelte.

»Oh, tanzen. Sicher. Ein guter Handel, das lässt sich machen.« Der Teufel ließ die restlichen schwarzen Kieselsteine in seine Jackentasche gleiten. Für einen Augenblick lang glaubte Albert, ein Stöhnen der Steine zu hören, aber vermutlich hatte er sich nur getäuscht. Eine Krähe kreischte im Waldstück hinter ihnen, während sich ihre Schatten auf dem trockenen Boden berührten.

Die Welt ging unter, der Himmel füllte sich mit zahlreichen Gewittern. Albert rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her – was in der Tat auch so war –, und er drehte sich nicht um und versuchte, nicht auf den Boden zu sehen. Hunderte von Kröten, eine scheußlicher als die andere, über die er hinwegflog, als hätte er Flügel bekommen. Hinter ihm die schweren Schritte des alten Mannes und das scheußliche Atmen, das sich anhörte, als würde er bei jedem Schritt den Namen des Jungen fluchend ausstoßen. Gierige Finger, die an seinem T-Shirt zerrten, aber es nicht zu fassen bekamen. Geister und Ungeheuer, durch die der Junge hindurchlief und die er noch Tage später auf seiner Haut riechen konnte. Visionen in seinem Kopf – er sah seine Eltern sterben und seinen einzigen Bruder, sah sich selbst als alten, gebrochenen Mann, einsam und zurückgeblieben. Aber dennoch rannte er mit den Raketenschuhen schneller als der Teufel selbst.

Die Raketenschuhe, jedenfalls hatte sein Großvater sie so genannt, waren merkwürdige Schuhe. Sie sahen wie Sonntagsschuhe aus, das Leder war aber nach all den Jahren durchgewetzt und schäbig geworden. Alberts Mutter hatte schon mehrmals versucht, sie wegzuwerfen, doch er hatte sie immer wieder aus dem Mülleimer retten können.

Sein Großvater hatte ihm die Schuhe geschenkt, als Albert sechs Jahre alt war.

»Es sind Zauberschuhe, merk dir das. Ich habe sie bei einer Wette gewonnen, mit dem Teufel, ob du es glaubst oder nicht. Als ich noch ein Kind war, kam er oft in die Stadt, um die Sterbenden zu besuchen. Wir kannten ihn alle. Aber versprich mir eines – erzähl deinen Eltern ja nicht, was ich dir gerade erzählt habe. Sie würden uns alle beide für vollkommen verrückt halten.«

Albert ging weit vor dem Teufel durch das Ziel, und als er sich umdrehte, war der Teufel nicht mehr da. Die Gewitter zogen sich über dem Jungen zusammen, und die ersten Regentropfen berührten sein Gesicht. Ein Blitz fuhr nahe in den Wald, und Albert roch verbrannte Erde.

Die Geschichten kamen in seinen Träumen. Am Anfang nur brüchige Bilder, unscharf und ausgebleicht. Im Winter seines zehnten Geburtstages wachte er eines Nachts auf und konnte sich an die Geschichte seines Traumes klar und deutlich erinnern. Es war die Geschichte des Wettrennens, doch im Traum war der Teufel noch hinter ihm, keuchend jenen Satz wiederholend, den Albert ein Leben lang nicht vergessen sollte:

Wir werden uns wiedersehen, Junge, und dann wirst du alt sein und das Rennen verlieren.

Albert war überzeugt, dass er ihm eines Tages wieder begegnen würde. Er wusste sogar ziemlich sicher, wann dieser Tag sein würde. Wenn alle Bücher geschrieben und sein Kopf leer sein würde. Wenn der Tag seines Sterbens so nahe sein würde, dass man ihn riechen konnte, wie man den Winter riechen kann, wenn man die Augen schließt und an die eigene Kindheit denkt.

In den letzten vierzig Jahren hatte Albert fünf seiner Bücher veröffentlicht, und sie hatten sich gut verkauft. Weitere fünf hatte er an Abenden und in Nächten geschrieben, überarbeitet, und sie in leere Flaschen hineingesprochen, um danach das Manuskript in seinem Küchenofen zu verbrennen. Für jedes Buch brauchte er zehn bis fünfzehn leere Weinflaschen, die nun an den Fensterbrettern und auf dem Boden seines Hauses standen. Er wusste, dass es dieses Mal funktionieren konnte. Nachts, wenn das Haus ganz still geworden war, hörte er seine eigenen Geschichten, so leise, dass er sie kaum verstehen konnte. Er war glücklich – ein glücklicher alter Mann.

Als Albert die Schmerzen in seinem rechten Bein bekam, fing er gerade an, sein elftes Buch zu schreiben. Er wusste, dass das sicher nichts Gutes zu bedeuten hatte. Dabei war er seit einigen Monaten dabei, einige neue Tanzschritte zu lernen. Manchmal besuchten ihn junge Frauen, die seine Töchter hätten sein können, und tanzten mit ihm in der kleinen Küche von einem Ende zum anderen. Er mochte es sehr gerne, sie zu berühren und den Duft ihrer Haut einzuatmen. Einige von ihnen waren sehr gute Tänzerinnen, und die Küche war keine Küche mehr, sondern ein vergessener Platz in Paris. Es war die Liebe zwischen den Menschen, die nichts mit sexuellen Abenteuern zu tun hatte. Für solche Dinge war er viel zu alt und viel zu verschroben geworden, aber wenn sie seine Schultern berührten, war es, als wäre noch jeder Sommerregen für dieses Jahr offen. Sie trafen sich heimlich mit dem alten Mann, saßen bei ihm und hörten seine Geschichten. Streiften sein Leben, um die Schatten der Nacht verstehen zu können. Gingen nach Hause, um wieder das zu tun, was tun zu müssen sie für richtig hielten. Aber mit der Gewissheit in ihrem Herzen, dass es immer zwei Seiten der Straße gab. Den Mädchen schenkte er manches Mal eine seiner Flaschen, die Geschichten darin wie ein Geheimnis. Die meisten Ehemänner und Freunde verstanden von Geheimnissen nicht sonderlich viel, es interessierte sie auch einen feuchten Dreck, welche Ungeheuer der Nacht an ihre Fenster klopften, um Einlass zu erbitten. Vielleicht erst durch die Enttäuschung wurden die Mädchen zu den Verlorenen, die ihn aufsuchten, die mit ihm lachten und weinten. Die mit ihm tanzten und ihn liebten, auf eine sehr bescheidene Weise.

Albert wusste, dass er das verdammte Rauchen längst hätte aufgeben sollen. Zwei Schachteln Overstolz pro Tag ließen ihn nun zu einem humpelnden alten Mann werden, der sich an einigen Tagen nicht einmal mehr die Schuhe anziehen konnte.

In den Wochen, in denen er nicht zum Arzt ging, konnte er kaum an seinem Buch arbeiten. Kritzelte sporadisch Wörter in sein Notizbuch und genoss nur die Besucher zur späten Stunde. Las ihnen vor oder hörte ihnen einfach nur zu, während es im Haus immer dunkler wurde und nur noch vereinzelt Kerzen brannten und flackerten. Der Sommer neigte sich dem Ende zu, und die ersten kalten Regenschauer erzählten vom Herbst. Albert spürte, dass sich die Dinge verändern würden. Kinder fingen an, ihn zu besuchen. Aßen mit ihm frisch gebackenen Käsekuchen, tranken Tee und diskutierten über Fahrradfahren, Blaubeerpflücken und die ganzen anderen Dinge, die so wunderbar klein sind, kaum der Rede wert, und doch so mächtig. Ein zwölfjähriger Junge brachte ihm einige Gedichte vorbei, die er geschrieben hatte. Albert brachte ihm bei, wie man Wörter in eine Flasche sprechen konnte, und vor allem, wie die Wörter auch darin blieben.

Als der Herbst begann, wurden die Schmerzen so groß, dass Albert einen Arzt kommen ließ, der ihm mitteilte, dass man das Bein, jedenfalls wie es aussah, vermutlich nicht mehr retten konnte. Man würde es amputieren müssen, vielleicht nur bis zum Knie, vielleicht ganz. Natürlich konnte Albert dem Arzt nicht sagen, dass es unmöglich sei, auf einem Bein den Teufel in einem letzten Rennen zu schlagen. Dachte an den Schriftsteller Cornell Woolrich, dem man die Beine abnehmen wollte, und der sich in einem Hotel versteckte, aus Angst vor der Operation. Jetzt war er ein wirklich sehr alter Mann geworden, krank und dem Tod näher als je zuvor, auch wenn sein Herz das eines Kindes war. Aufbegehrend gegen Frühzubettgehen, den Unsinn, keine Schokolade essen zu dürfen oder immer wissen zu müssen, was aus einem werden sollte.

Der Regen kam, und mit dem Regen die dunkleren Traumepisoden.

Je kälter der Herbst wurde, desto öfter verbrachte Albert die Tage im Bett; den alten Plattenspieler in der Nähe, und immer, wenn Besuch hereintrat, wurden die Schallplatten gewechselt. Das Fieber kam wie ein Vampir. Leute, die er noch nie in seinem Leben gesehen hatte, betraten sein Haus und setzten sich auf den Stuhl an seinem Bett. Manche von ihnen sagten kein Wort, aber das ist oft auch nicht sonderlich wichtig. Zündeten ihm eine Zigarette an und ließen ihn daran ziehen. Sprachen von seinen Büchern und den Geschichten darin oder sahen sich nur die Fotografien an, die an den Wänden hingen. Manches Mal wenden sich die Dinge erst am Schluss zum Besseren, und manches Mal verschwindet erst am Schluss die Einsamkeit eines Menschen. Vielleicht muss im Leben erst ein Sturm zeigen, wie gut es ist, in Sicherheit zu sein, und wie wertvoll es ist, jeden Tag seine eigene Zeit neu zu bemessen. Erst das Sterben zeigt einem, wie kläglich der Versuch ist, erwachsen zu sein.

Albert Sterner starb an einem vierten Oktober nach Mitternacht. An seinem Bett saßen die Mädchen, mit denen er getanzt und denen er gezeigt hatte, jemanden zu lieben, wie man einen Bruder oder eine Schwester liebt. Denen er die Angst genommen hat vor den nächsten Stunden und Tagen, denen er gezeigt hatte, wie es ist, ohne Flugapparat und Flügel zu fliegen. Sein elftes Buch wurde während der nächsten drei Jahre zu Ende geschrieben; Brenner und die Hoffnung, so hieß es. Beinahe jeden Tag kamen Menschen in Alberts Haus, setzten sich auf einen seiner Stühle und schrieben dort weiter, wo er selbst aufgehört hatte, zu schreiben. Sein zwölftes Buch wurde mit ihm in seinem Garten vergraben, hieß es. Der Teufel hatte Alberts Beine nicht bekommen, das letzte Rennen hatte nie stattgefunden. Aus seinem Haus kann man, viele Jahre nach seinem Tod, immer noch die leise Musik von Charlie Parker und Glenn Miller hören, und manches Mal sogar Alberts Stimme aus den Flaschen.

Sie nennen ihn heute Wonderboy, und auf seinem Grab stehen leere Flaschen, als wollten sie noch eine Geschichte hören.

5

Die Lichter des Jahrmarktes färbten die Sterne rot und blau.

Mathilda hörte den Doktor nur nachts schreiben. Sie lag im Bett und hörte alles, was er tat. Die Kaffeetasse, die er vom Tisch nahm, einen Schluck trank und wieder zurückstellte. Das Anzünden eines Streichholzes und einer Zigarette. Natürlich hörte sie den Rauch nicht, der aus seinem Mund schwebte, aber sie konnte ihn sich jedes Mal vorstellen. Unter der Zimmerdecke, ein dicker, schwerer Camel-Nebel.

Zwar hatte Berender eine Schreibmaschine; sie war bereits im Zimmer gewesen, aber er benutzte sie nicht. Schwarz und schwer stand sie unter dem Fenster zum Hof hinaus. Wie ein Wächter oder ein Engel mit verbogenen, schwerfälligen Flügeln.

Seine alten, fleckigen Hände, die zusammen mit dem dünnen Bleistift über das Papier zitterten. Er radierte niemals etwas aus. Berender war ein Mann, der die Dinge durchstrich, wenn sie nicht mehr richtig schienen. Um ehrlich zu sein, klangen seine Worte oft nicht mehr richtig, sobald sie aus ihm herausgekommen waren. Das Gespenst verlor an Macht, wenn es dem Grab seiner selbst nahe kam. Er wusste das.

Berender war fast gleichzeitig mit dem Jahrmarkt in der Stadt angekommen. Ein Wetterleuchten hatte ihn angekündigt. Leere, vom ersten Regen nass gewordene Bänke und gekippte Stühle. Abgerissene Zweige auf dem brüchigen Asphalt; die Nächte brachten die Träume der Glücksscheibe. Die Ausläufer der Straßen wurden zu den Venen des Verderbens. Das Leben der kleinen Arbeiterstadt war nur noch ein kurzes, helles Aufflammen von Menschen, dort und da, verschwindend in ihren Häusern. Die Schatten der Küchenlampen malten sich auf die Vorgärten und schmalen Straßenstreifen.

Berender war aus dem Mittagsbus gestiegen, in jeder Hand einen kleinen Altmännerkoffer. Seine Blicke unruhig, flatternd, wie winzige Insekten im Regen.

Er sah die Straße hinunter und nickte. Er kam noch nicht zu spät. Die Dinge waren noch im Lauf.

Auch die Kinoleute waren in die Stadt gekommen. Sieben Männer, die an einem Mittwoch aus zwei VW-Bussen stiegen und sich in der Stadt umsahen. Ihre Fahrzeuge waren alt und von einem dreckigen Schwarz, auf jeder Seite stand in giftgrüner Farbe zu lesen:

Die Kinoleute sind in der Stadt.

Niemand kannte diese Männer, auch wenn einige glaubten, sie bereits einmal irgendwo gesehen zu haben; dunkle Ahnungen von vergangenen Episoden.

Viele Jahre später, als Berender abermals in die Stadt kam, um die Grillenfänger zu finden, erzählte er Mathilda, dass sie immer in eine Stadt kamen, sobald es ein Kind gab, das die Gespenster im Schneetreiben sehen konnte. Sie wirklich und wahrhaftig zu sehen vermochte, nicht nur zu erahnen. Der Schnee, so sagte Berender, mache die Gespenster manches Mal ein wenig sichtbar für diese Kinder, immer nur ganz kurz, so, als hätte man sich beim ersten Hinsehen getäuscht, und beim zweiten Hinsehen war schon wieder alles vorbei.

An diesem Sommertag jedoch wusste Mathilda nichts von den Gespenstern und den wirklichen Absichten der sonderbaren Männer, die über Nacht in die Stadt gekommen waren. So gut wie niemand sprach mit ihnen. Die meiste Zeit waren sie auch wie vom Erdboden verschluckt. Hätten nicht die zwei Busse hinter dem Zirkuszelt gestanden, hätte man sie vermutlich auch wieder vergessen. Jedenfalls bis zu dem Nachmittag, als plötzlich an jedem Strommast und an jeder Ecke ein Plakat zu finden war. Überall standen Leute, die sich das grüne Stück Papier ansahen. Obwohl Mathilda erst zwölf Jahre alt war, kam es ihr vor, als kenne sie das Plakat schon eine Ewigkeit. Geschwungene Schrift, die zu verwischen drohte, je länger man sie ansah, dazwischen und eigentlich überall winzige Augen, die einen anstarrten und die einen verfolgten, egal wohin man auch gehen wollte.

Es war zu lesen:

Eine unglaubliche Vorstellung!

Sehen SIE in das Auge, und wir sehen in Ihre Seele.

Nur drei Tage!

Versäumen Sie nicht dieses Abenteuer.

Mathilda hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Natürlich würde sie ihren Vater oder ihre Mutter danach fragen, am besten gleich beim Abendessen. Vielleicht würde sie sogar von den vielen kleinen Augen erzählen, aber das wusste sie noch nicht sicher. Sie waren ihr unheimlich, sehr unheimlich sogar. Vielleicht war es besser, nicht davon zu erzählen. Auf jeden Fall ahnte sie, dass sie davon träumen würde. Ihre Träume waren manchmal kurze schlechte Nachrichten aus ihrem Bauch. Träume von Steinen, die in ihren Hosentaschen waren, so schwer, dass sie kaum noch gehen konnte. Träume von riesigen Menschen, deren Schatten sie sehen konnte, lange bevor sie die Menschen selbst sah. Unendlich lange Arme und Beine, viel zu kleine Köpfe, die mit dem Wind hin und her wackelten. Mathilda sah sich die Augen noch einmal an, obwohl sie es eigentlich gar nicht wollte. Es war, als müsste sie in diese Augen blicken, in die winzigen Pupillen, diese kleinen Punkte, die wie Löcher im Papier waren, und hinter dem Papier endlose ewig dauernde Nacht.

»Nimm dich in Acht vor dem Auge, nimm dich in Acht. Sieh nicht zu lange in das Auge, sonst sieht das Auge in deinen Kopf«, sagte plötzlich jemand, und Mathilda erschrak. Links neben ihr stand ein kleiner Junge, vielleicht acht, neun Jahre alt; er blickte auf den Boden. Seine Hände steckten in den Hosentaschen, sein Gesicht war bleich. Dann drehte er sich um und lief davon. Mathilda hatte ihn nicht einmal fragen können, was er damit meinte.

Die erste Vorstellung der Kinoleute war für den nächsten Tag geplant. Heruntergerissene Plakate schienen über Nacht nachgewachsen zu sein. Warum auch immer zählte Mathilda die Plakate schon am ersten Tag, und sie fand genau siebenundvierzig davon in der Stadt. Eines davon, das Letzte, das sie gezählt hatte, und das in einer schmalen Seitenstraße an einem Stromkasten hing, nahm sie herunter, faltete es und steckte es sich ein. Natürlich würde sie es nie mehr im Leben aus ihrer Jeans nehmen, nicht einmal für viel Geld, aber das war auch nicht der Grund, weshalb sie es getan hatte. Vermutlich würde ihre Mutter es beim nächsten Waschen finden, es kurz ansehen, den Kopf schütteln und es wegwerfen. Vielmehr wollte Mathilda herausfinden, ob es am nächsten Tag wieder dort sein würde.

Am nächsten Morgen nahm sie einen Umweg zum Rummelplatz, zählte dabei vier der Plakate und kam schließlich in die Seitenstraße. Sie war nicht einmal sonderlich überrascht, denn sie sah es schon von Weitem leuchten. Dieses scheußliche Grün, giftig, als würde es bei Gewitter glimmen können. Als Mathilda näher kam, sah sie etwas, das sie nie mehr in ihrem Leben vergessen sollte. Sie sollte davon träumen, harte und schmerzvolle Träume, weit über ihre Kindheit hinaus. Eines der unzähligen Augen war verschlossen. In winziger Handschrift stand unter dem verschlossenen Auge:

Jeder Dieb wird bestraft – vor allem kleine, freche Mädchen!

Mathilda rannte davon, als würde sie um ihr Leben laufen. Vielleicht tat sie das auch.

6

Berender war ein eigenartiger Mann. Er hatte das winzige Zimmer in ihrem Haus genommen, obwohl es viel schönere und viel größere Zimmer in der Stadt gab, die man hätte nehmen können. Mathilda verstand das nicht. Das Zimmer, das einmal Mathildas Großvater gehört hatte, war eigentlich kein richtiges Zimmer. Es gab zwei Stühle, einen Tisch, ein Bett und sonst eigentlich nichts darin. Die Schreibmaschine, die ihr Großvater mit nach Hause gebracht hatte, als Mathilda noch nicht einmal geboren gewesen war, und die er nie benutzt hatte. Es schien, und das dachte sich Mathilda in jenen Tagen zum ersten Mal, als hätte ihr Großvater diesen Raum nur für diese eine alte Schreibmaschine gebraucht, die einfach nur so herumstand.

»Genau richtig für mich«, hatte Berender gesagt, die Miete für eine Woche bezahlt und war darin verschwunden, als wäre er nie aufgetaucht.

Das Zimmer lag neben Mathildas Zimmer, das viel größer und viel schöner war. Ihr Bett stand an der Seite zu diesem Zimmer, und deshalb konnte sie auch alles hören. Vermutlich, oder eigentlich ganz sicher, hätte ihre Mutter ihr verboten zu lauschen, aber wenn man ehrlich war, war es ja eigentlich gar kein Lauschen. Mathilda hörte ihn herumgehen, seine Koffer auf- und zuschnappen, Papier rascheln, und sie hätte alles verwetten können (selbst ihre Murmelsammlung mit den drei blauen Murmeln), dass sich der fremde Mann an die Schreibmaschine setzen würde. Aber er tat es nicht. Setzte sich an den Tisch – sie hörte den Stuhl auf dem alten Holzfußboden – und rauchte. Weiß Gott, was der alte Mann dort drüben vorhatte. Mathildas Mutter hatte gesagt, dass es sie nichts anginge und das Geld ihnen gerade recht kommen würde, jetzt, wo die Ölpreise wieder gestiegen waren. Aber unheimlich war es ihnen allen dennoch. Das Zimmer hatten sie noch nie vermietet, es hing ja nicht einmal ein Schild im Küchenfenster, wie bei den Schneiders. Schnurstracks war der Mann zu ihrem Haus gekommen und hatte nach einer Bleibe für höchstens eine Woche gefragt. Wahrscheinlich werde es nicht einmal für so lange nötig sein, hatte er gesagt.

»Was in aller Welt meint er damit?« Sie saßen beim Abendessen, und Mathildas Vater fragte es noch einmal, als hätten sie ihn beim ersten Mal nicht gehört.

»Aber so hat er es gesagt«, sagte Mathildas Mutter.

»Vielleicht hat er etwas zu erledigen«, sagte Mathilda selbst.

»Wer weiß, vielleicht gehört er zu diesen Kinomenschen«, sagte ihr Vater, aber eigentlich glaubte das niemand an diesem Tisch so recht. Der Mann, der sich als Berender vorgestellt hatte, nur als Berender, kein Vorname oder sonst etwas, sah bei aller Welt nicht wie jemand aus, der in einem Bus herumfuhr, um Leute an der Nase herumzuführen. Mathilda fand, dass er eher wie jemand aussah, der sich nicht an der Nase herumführen ließ. Wie jemand, der etwas suchte und es auch finden konnte.

In der ersten Nacht war es Mathilda etwas mulmig gewesen. Berender stieg mittags aus dem Bus, nahm das Zimmer und war seitdem nicht mehr herausgekommen. Ihre Mutter hatte ihn gefragt, ob er mit ihnen zu Abend essen wolle, aber er lehnte dankend ab.

»Er hat gesagt, er hätte noch einiges zu erledigen.«

»Was in aller Welt meint er damit?«, sagte Mathildas Vater und schüttelte den Kopf.