Valentina Bruno

 

Mutterschaden

 

Wenn die eigene Mutter der schlimmste Feind ist, zerbricht die Seele

 

 

 

 

Böses Kind!

 

„Urteile nie über einen anderen, bevor du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gelaufen bist.“

Sprichwort der nordamerikanischen Ureinwohner

 

 

Was mit einem Menschen passiert, der von frühester Kindheit an von einem Elternteil oder beiden Eltern physisch und/oder psychisch misshandelt wurde, ist hinlänglich bekannt. Die Medien sind voll von Berichten über Amokläufer, Kindsmörderinnen und -mörder, Sexualstraftäter, aggressive Schläger und andere Verbrecher, deren Anwälte bei der Verurteilung mildernde Umstände erwirkten mit dem Hinweis auf eine schlimme Kindheit. Mal war der Schuldige ein liebloser, mit oder ohne Alkohol- oder Drogenmissbrauch gewalttätiger Vater oder/und die lieblose, die Kinder mit oder ohne Alkohol- oder Drogenmissbrauch prügelnde Mutter. Oder/und ein Elternteil hat das Kind sexuell missbraucht. Und allzu oft gab es „nur“ oder zusätzlich seelische Gewalt durch psychoterrorisierende Familientyrannen. In zu vielen Fällen trifft alles zusammen zu.

Dass aus Kindern, die so aufwachsen mussten, psychisch gestörte Erwachsene werden – wenn auch nicht jeder dieser Erwachsenen zwangsläufig ein behandlungsbedürftiges Krankheitsbild entwickelt oder zum Verbrecher wird –, ist seit Jahrzehnten bekannt. Dass aus geschlagenen Kindern später ihre eigenen Kinder schlagende Eltern werden – weil sie es nicht anders kennengelernt haben –, ist mindestens ebenso lange bekannt. Nicht ohne Grund wurde mit Wirkung zum 1. Januar 1980 die in den Paragrafen 1626 bis 1698 des Bürgerlichen Gesetzbuches verankerte „elterliche Gewalt“ durch die „elterliche Sorge“ ersetzt. Trotzdem dauerte es noch zwanzig weitere Jahre, bis zum 1. Januar 2000 der Absatz 2 des Paragrafen 1631 ins BGB aufgenommen wurde: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“

Damit wurden erstmalig physische und psychische Misshandlungen („Bestrafungen“) als Straftat definiert. Für alle noch lebenden Menschen – Erwachsene wie Kinder – die vor dem Jahr 2000 geboren wurden, kam der Paragraf jedoch zu spät. Und auch für etliche seitdem geborene Kinder verhindert(e) er nicht, dass sie von ihren Eltern misshandelt werden, denn in der breiten Masse der Bevölkerung ist dieses Gesetz weitgehend unbekannt. Obendrein meinen trotzdem viele Eltern, die es zwar kennen, dass es für sie nicht gelte, weil der Gesetzgeber ja keine Ahnung habe, mit was für einem renitenten (alternativ: ungezogenen, bösen, schwer erziehbaren, frechen, uneinsichtigen, unverschämten, vorlauten, dreisten usw.) Kind sie sich plagen müssen, dem anders als mit Gewalt und seelischen Verletzungen nicht beizukommen sei.

Anderen ist gar nicht bewusst, dass verächtliche Bemerkungen wie „Du stellst dich mal wieder dümmer an, als die Polizei erlaubt!“, „Du kannst aber auch nichts richtig machen!“, „Andere Kinder schreiben viel bessere Noten als du!“, „Du bist wie dein Vater/deine Mutter/dein Großvater!“ (was nie als Kompliment gemeint ist), „Du bist so eine Enttäuschung!“, „Und wenn du nicht endlich ..., dann kannst du zusehen, wie du allein zurechtkommst!“ und dergleichen mehr, genau die Art von die Seele des Kindes schädigende Entwürdigungen sind, die der Gesetzgeber mit § 1631 Abs. 2 unterbinden wollte.

Nicht alle Kinder besitzen genug Resilienz (seelische Widerstandskraft), um diese Verletzungen unbeschadet oder weitgehend unbeschadet zu überstehen. Bis ans Lebensende anhaltende Minderwertigkeitsgefühle, Beziehungsstörungen, Suchtverhalten (von Alkohol-, Nikotin- und Drogenmissbrauch über Essstörungen, Arbeitssucht, Spielsucht und alle anderen Arten von Süchten), Depressionen bis zum Selbstmord und schwere Persönlichkeitsstörungen sind die Folgen.

Nicht jede „Kleinigkeit“ oder eine unzusammenhängende Menge von Einzelereignissen als Ausnahmen hinterlässt prägende Spuren in der kindlichen Seele. Aber wenn solche negativen Erlebnisse permanente Grunderfahrungen darstellen, ist die Schädigung programmiert. Weichenstellend ist das gesamte Klima im Elternhaus, in dem wir aufwachsen (müssen). Je heftiger und intensiver das in/seit frühester Kindheit erlittene Trauma ist, desto größer ist nicht nur die Wahrscheinlichkeit, eines Tages behandlungsbedürftig psychisch krank zu werden, sondern auch die Intensität der Krankheit. Nicht jeder so geschädigte Erwachsene wird zum (Schwer)Verbrecher. Aber für allzu viele ist ein normales, glückliches Leben nicht mehr möglich.

Mag man sich vorstellen, was mit einem Kind passiert, das nicht nur mit seelischer und körperlicher Misshandlung durch die Mutter aufwachsen musste, sondern obendrein noch von derselben Mutter zur Erfüllung der eigenen emotionalen Bedürfnisse missbraucht wurde? Das von seinem nur auf sein eigenes Wohl bedachten Vater nicht nur nicht vor diesen Misshandlungen beschützt wurde, sondern von ihm oft genug absichtlich der mütterlichen Willkür überantwortet wurde, damit er selbst seine Ruhe hatte? Wer solche Eltern hat, braucht keine Feinde mehr.

 

Den Anlass, mein eigenes Martyrium aufzuschreiben, lieferte nicht nur die Erfahrung, dass es mir schon immer geholfen hat, mir meinen Kummer in Tagebüchern von der Seele zu schreiben, sondern auch der Schlusssatz eines Zeitungsartikels. In dem ging es um den Selbstmord einer alten Frau, die tagelang tot in ihrer Wohnung gelegen hatte, weil niemand sich um sie sorgte, niemand sich um sie kümmerte. Die einzige Tochter hatte den Kontakt zur Mutter Monate vorher abgebrochen und die alte, aber keineswegs pflegebedürftige und noch sehr rüstige Frau sich selbst überlassen. Aus diesem Grund beendete der Verfasser des Artikels seinen Text mit den Worten: „Juristisch ist der Tochter kein Vorwurf zu machen.“ Unausgesprochen dahinter stand die Ergänzung, die sich als Meinung des Autors auch im gesamten Artikel abzeichnete: „Moralisch ist ihr aber sehr wohl ein Vorwurf zu machen.“

Das machte mich wütend. Wieder einmal maßte sich bei diesem Thema ein Fremder an, der die Verhältnisse in der betreffenden Familie überhaupt nicht kannte, ein Urteil zu fällen. In der breiten Masse der Bevölkerung hält sich ohnehin immer noch hartnäckig die Ansicht, dass Kinder für ihre Eltern dazusein haben und, wenn die Eltern alt sind, für sie zu sorgen und sich um sie zu kümmern haben. Tenor: „Die Eltern haben euch großgezogen (und dafür auf so manches verzichtet), also schuldet ihr ihnen das!“

Dieser Forderung, dieser Ansicht kann ich mich nicht anschließen. Im Gegenteil empfand ich schon als Kind und später als Jugendliche die Aufbürdung dieser einseitigen „Schuldenlast“ als ungerecht. Wer Kinder in die Welt setzt, übernimmt mit dieser Entscheidung die gesetzliche und selbstverständlich auch moralische Verpflichtung („elterliche Sorge“), im bestmöglichen Maß nach bestem Wissen und Können für sie zu sorgen, bis sie in der Lage sind, das selbst zu tun, also erwachsen sind. Diese Verpflichtung haben alle Eltern freiwillig übernommen, denn niemand hat sie gezwungen, ein Kind oder mehrere in die Welt zu setzen. Vielleicht haben sie sich mit der Entscheidung für ein Kind/Kinder einem gesellschaftlichen Druck gebeugt, weil sie glaubten oder von ihrer Umwelt vermittelt bekamen, dass ein (Ehe)Paar nur dann „vollständig“ ist oder gesellschaftskonform handelt, wenn es mindestens ein Kind in die Welt setzt. In diese Bresche schlägt auch die diskriminierende und in meinen Augen menschenverachtende Überlegung von manchen Politikern, kinderlose Paare oder Einzelpersonen höher zu besteuern, um die Rentenkassen besser zu füllen.

Oder ein Kind gehört für die Eltern ganz selbstverständlich zu einer Ehe, weil für sie Ehe ohne Familiengründung und damit ohne Kinder aus persönlichen oder religiösen Gründen undenkbar ist. Vielleicht wollten die Großeltern unbedingt (einen) Enkel haben. Vielleicht wollten die Eltern sich durch das Großziehen von Kindern den Vorwurf ersparen, der den Kinderlosen allzu gern gemacht wird, selbstsüchtige Egoisten zu sein, die ihre persönlichen Bedürfnisse über die „Pflicht“ stellen. Mit dieser Behauptung wird – ebenfalls unter anderem in Politikerkreisen, aber nicht nur dort – immer wieder gern und in der Regel ohne Kenntnis der wahren Gründe jeder gescholten, der sich bewusst gegen ein Kind/Kinder entscheidet oder der aus biologischen/gesundheitlichen Gründen kein Kind empfangen/zeugen kann.

Natürlich gibt es auch eine Menge Eltern, die in Kindern die Krönung und ultimative Erfüllung ihrer Liebe zueinander sehen und/oder die Entscheidung fürs Kind um des Kindes willen treffen. Und es gibt auch die „Unfälle“, die zur Zeugung eines Kindes führen und bei denen sich die Mutter oder beide Elternteile für das Kind und gegen eine Abtreibung entscheiden.

Doch welches Motiv der Entscheidung für ein Kind auch zugrunde liegt, dieser Entschluss ist und bleibt die freie Wahl der Eltern, zu der niemand sie gezwungen hat; allenfalls sie sich selbst. Aus dieser spätestens seit der Einführung von Verhütungsmitteln und der Möglichkeit zur Abtreibung freiwillig getroffenen persönlichen Entscheidung für ein Kind ein „Schuldnerverhältnis“ zu Lasten des Kindes abzuleiten, bürdet den Kindern die Verantwortung für etwas auf, mit dem sie nicht das Geringste zu tun hatten.

Eltern, die glauben, dass ihre Kinder ihnen etwas schuldig seien für die ihnen entgegengebrachte Fürsorge, für diese freiwillig übernommene, aber gesetzlich gebotene Pflicht, verkennen diese Tatsache. Die Zeiten, in denen die Alten nur überleben konnten, indem sie möglichst viele Kinder in die Welt setzten, die sie versorgten, wenn sie selbst nicht mehr arbeiten konnten, sind seit Einführung der Rente, Krankenversicherung, Sozialhilfe, Grundsicherung und der hochwertigen medizinischen Versorgung in unserem Land vorbei. Außerdem: Aufrichtige Liebe, wie Eltern sie für ihre Kinder empfinden sollten, ist immer selbstlos, verlangt keine Gegenleistung und macht auch keine „Schuldnerrechnung“ auf.

Trotzdem wird von uns Kindern erwartet, dass wir uns um unsere Eltern kümmern, wenn ihnen das aufgrund von Alter oder Krankheit schwerfällt oder nicht mehr möglich ist. Wenn das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern gut oder zumindest erträglich ist, ist das kein Thema. Dann wird jeder gern die Eltern unterstützen. Doch auch wenn die Eltern oder ein Elternteil das eigene Kind misshandelt und schwer psychisch, vielleicht auch körperlich geschädigt hat, wird von eben diesen Eltern und auch von dem Gros der Gesellschaft erwartet, dass die misshandelten Kinder sich kümmern.

Die Kinder haben sich gefälligst für die Eltern aufzuopfern, auch wenn ihnen das wegen ihrer physischen, psychischen oder finanziellen Konstitution nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich ist. Ein erwachsenes Kind, das sich diesem Anspruch verweigert, sogar verweigern muss oder – noch schlimmer – den Kontakt zu den Eltern komplett abbricht, gilt als egoistisch, als undankbar, moralisch verwerflich und als schlechter Mensch. Böses Kind! Pfui, schäm dich! Diese Einstellung ist nicht nur fatal, sie negiert das vorangegangene immense Leid des Kindes, das zu diesem schwerwiegenden Schritt geführt hat.

Kein Kind bricht den Kontakt zu den Eltern oder einem Elternteil leichtfertig ab, weil es gerade nichts Besseres zu tun hat oder wegen einer Kleinigkeit oder einer Reihe von Nichtigkeiten, die im Verhältnis zwischen Eltern und Kind nicht stimmen. Dem Kontaktabbruch ist immer eine lange, in der Regel über Jahre und Jahrzehnte hinweg dauernde, konfliktreiche Leidensgeschichte vorausgegangen, in der das betreffende Kind – oft noch bis weit ins Erwachsenenalter hinein – Opfer war: Opfer von physischer Gewalt und/oder psychischer Gewalt und/oder verbaler Gewalt beziehungsweise Verächtlichmachung und/oder sexualisierter Gewalt. In den meisten Fällen treffen die drei Erstgenannten als ein „Trio infernal“ zusammen.

Der Kontaktabbruch ist lediglich der Schlusspunkt, der allerletzte Ausweg, aber meistens die einzige nach außen sichtbare „Spitze“ eines riesigen Eisbergs aus Misshandlungen, von denen oft nicht einmal die Verwandten etwas mitbekamen, weil sie vertuscht wurden – von den Eltern, um sich nicht für ihre Taten rechtfertigen zu müssen. Und aus Scham sowie aus irrationalen Schuldgefühlen auch von den Kindern, weil sie von den Misshandlern vermittelt bekamen: „Du bist schuld, dass ich dich misshandle, denn du zwingst mich dazu, weil du dich nicht so verhältst, wie ich das will/meine Bedürfnisse nicht befriedigst/nicht das bist, was ich haben will/brauche!“ Und dergleichen mehr.

Und natürlich schweigen die Opfer auch aus leider berechtigter Angst, dass man ihnen nicht glaubt, wenn sie von ihrem Martyrium erzählen. Denn das Tückische an seelischen Wunden ist, dass sie unsichtbar sind. Seelenblut sieht man nicht, einen gebrochenen Geist oder zerstörten Lebensmut auch nicht.

Obwohl es eine natürliche und sehr intensive Bindung und Liebe von Kindern zu ihren Eltern gibt, müssen die Eltern, wenn sie sich diese Liebe erhalten wollen, ihre Kinder entsprechend liebevoll behandeln. Kein psychisch gesunder Mensch mit einem Mindestmaß an Selbstachtung bliebe mit einem anderen Menschen befreundet oder hielte Kontakt zu ihm, wenn er von ihm permanent beschimpft, seelisch verletzt, niedergemacht und/oder geschlagen oder vergewaltigt würde. Sind aber die eigenen Eltern die Misshandler, machen erwachsene Kinder noch unendlich viele Zugeständnisse und erdulden eine Menge, eben weil die Peiniger die Eltern sind, die einem das Leben schenkten und weil die Liebe eines Kindes zu selbst den grausamsten Eltern lange braucht, um zu sterben.

Aber irgendwann ist auch der Duldsamste mit seiner Leidensfähigkeit am Ende. Dann bleibt nur der finale Kontaktabbruch als letztes Mittel, um das ununterbrochene Leid zu beenden. Zumindest das durch die Eltern verursachte. Beendet ist das Leiden dadurch noch lange nicht. Die erlittenen Wunden zu heilen, ist eine schmerzhafte Mammutaufgabe, die ohne professionelle therapeutische Hilfe selten zu schaffen ist und manchmal trotz bester Therapie scheitert.

Obendrein kommt der Druck von Verwandten, Freunden, der Gesellschaft: „Das kannst du doch nicht machen! Das sind immerhin deine Eltern!“ Es folgt die Verurteilung durch die Mitmenschen, die dem Opfer vermitteln, dass ein „guter“ Mensch bis in alle Ewigkeit, das heißt bis zum natürlichen Tod der Eltern, zu leiden hat, andernfalls er ein schlechter, herzloser, egoistischer und anderweitig moralisch zweifelhafter Mensch sei und pfui, was für ein böses Kind! Schlimm genug, wenn man zu dem erlittenen Leid auch noch solche Diffamierungen aushalten muss. Oder zynisch zu hören bekommt: „Irgendwann erledigt sich das doch von selbst (durch den Tod der Eltern). Bis dahin wirst du das doch wohl noch aushalten können.“

Das Schlimmste aber sind die eigenen Schuldgefühle, die Selbstvorwürfe, die nagenden Zweifel, ob man mit dem Kontaktabbruch trotz jahrzehntelang erlittenen Leids, das zuletzt nicht mehr zu ertragen war, nicht doch zu vorschnell gehandelt hat, ob man nicht noch mehr hätte ertragen können, ertragen müssen. Auch dann noch, wenn einem der Verstand und die angegriffene oder sogar schon ruinierte physische und psychische Gesundheit sowie die Ärzte nachdrücklich sagen, dass die Entscheidung richtig und zur Selbstrettung, zum (nicht immer nur seelischen) Überleben unumgänglich notwendig war und der mitleidende (Ehe)Partner sowie der gesamte Freundeskreis einem versichern, dass dieser Schritt schon seit Jahren überfällig war.

Nein, keine Tochter, kein Sohn macht sich eine solche Entscheidung leicht. Erst recht trifft niemand sie ohne einen mehr als schwerwiegenden Grund. Und noch schwerer ist der Schritt von der gefällten Entscheidung zur Tat. Denn die eigene Mutter, den Vater vollständig aufzugeben, ist ein gewaltiger Kraftakt, der immer eine klaffende Wunde hinterlässt, die lange braucht, um zu heilen. Sie heilt, keine Frage; das ist die gute Nachricht. Aber bis zu diesem Punkt ist es ein langer Weg. Und selbstverständlich bleiben Narben zurück, seelische und in allzu vielen Fällen auch körperliche. Beide schmerzen ab und zu. Aber man lernt (mit professioneller Hilfe), damit zu leben.

 

Auch ich habe den Kontakt zu meiner Mutter letztendlich abbrechen müssen, um mein eigenes Leben, meine Gesundheit und auch meine Ehe zu retten. Um halbwegs seelisch stabil und so psychisch gesund zu werden, wie das nach den schwerwiegenden und teilweise irreparablen Schäden, die meine Mutter mir von frühester Kindheit an zugefügt hat, noch möglich war.

Rückblickend weiß ich, dass ich diesen Schritt viel zu spät getan habe; um Jahrzehnte zu spät. Schlimmer noch: Weil ich meine Mutter im Alter nicht allein lassen wollte, hatte ich ihr sogar vorgeschlagen, zu mir zu ziehen. Zwar nicht ins selbe Haus, weil darin kein Platz war (rückblickend: zum Glück!), aber in unmittelbare Nähe (212 Schritte entfernt). Ich hatte mir nie im Leben vorstellen können, dass ich jemals Liebe und Mitgefühl für einen anderen Menschen bereuen würde, besonders wenn dieser Mensch meine Mutter ist. Doch das Mitgefühl und die Liebe, die mich veranlasst haben, sie zu mir zu holen, habe ich aufs Bitterste bereut. Denn meine Mutter machte mir das Leben derart zur Hölle – wieder einmal –, dass ich komplett zusammengebrochen bin und viele Jahre brauchte, um mich davon zu erholen. Aber ich habe es geschafft. Und mit den dennoch zurückgebliebenen Beeinträchtigung habe ich gelernt, trotz allem gut zu leben.

Wie alles begann

 

Meine Geburt war das Ergebnis des Egoismus’ meiner Mutter, die in mir das Mittel zum Zweck ihrer eigenen Selbstverwirklichung sah. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit und manchmal ziemlich exzessiv betonte sie, dass es ihr größter Traum gewesen war, ausschließlich Mutter zu sein und viele Kinder zu haben. Im selben Zug bedauerte sie nicht nur zutiefst, dass sie aus gesundheitlichen Gründen nur ein einziges Kind haben konnte, sondern auch, dass sie immer hat berufstätig sein „müssen“, weil ohne ihren Zuverdienst das Geld hinten und vorn nicht reichte, obwohl sie doch tausendmal lieber „nur Mutter“ gewesen wäre. Zeit ihres Lebens haderte sie mit dem Schicksal, das ihr die Erfüllung dieses Traums verwehrt hatte.

Deshalb lag sie mir schon seit meiner frühen Kindheit in den Ohren, ich solle unbedingt einen reichen Mann heiraten, damit mir dieses „Schicksal“ erspart bliebe. Dass ich einen ganz anderen Lebensentwurf hatte, wertete sie als einen aus purem Widerspruchsgeist gefassten und gegen sie persönlich gerichteten Entschluss. Gleichzeitig pochte sie auf eine gute Ausbildung für mich, damit ich nicht wie sie eines Tages von einem Mann abhängig sein müsse. – Nein, diesen Widerspruch muss man nicht verstehen.

Außerdem hatte sie ein völlig unrealistisches Bild von ihrem idealen Kind („Traumkind“) im Kopf, dem ich entsprechen sollte: nach ihren eigenen wiederholten Aussagen brav und artig, aufs Wort gehorchend, fleißig und entsprechend gut in der Schule, strebsam, arbeitsam, intelligent, immer ehrlich und „gefällig“. Anders ausgedrückt: Ich sollte eine Kopie ihres eigenen Selbstbildes sein. Obendrein erwartete sie, im Mittelpunkt meines Lebens und vor allem meiner Liebe zu stehen. Sicherlich hegte sie diese Erwartung unbewusst, doch diese äußerte sich unter anderem in dem wiederholten Vorwurf, ich hätte schon als Kind ihre Liebe „mit Füßen getreten“. Auf meine Frage, wie ich das denn angeblich getan haben solle, da ich mir keiner entsprechenden Schuld bewusst war, bekam ich zur Antwort, das habe sich darin geäußert, dass ich „so oft“ ihre Umarmungen abgeweht habe, nicht jedes Mal mit ihr kuscheln wollte, wenn sie das „anbot“ und „schon immer“ gegen sie gewesen sei.

Ja, klar: Wenn Mutter umarmen und kuscheln wollte, hatte ich das zu dulden, auch wenn mir gar nicht der Sinn danach stand. Wagte ich es, meiner unkuscheligen Stimmung Ausdruck zu geben, trat ich damit gleich ihre Liebe mit Füßen. Wagte ich es, einen anderen Geschmack zu haben, zum Beispiel in Musik, bevorzugter Kleidung, Literatur oder grundsätzlich anderer Meinung zu sein, war das kein Ausdruck meiner eigenen persönlichen Ansichten und Vorlieben, sondern eine Vortäuschung angeblicher Vorlieben mit dem einzigen Ziel, gegen sie zu sein und damit ihre Liebe mit Füßen zu treten. – Nein, das ist kein Scherz und keine Übertreibung, sondern ein mir immer wieder aufs Neue in diesem Wortlaut gemachter Vorwurf, den ich sogar noch bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu hören bekam, als ich schon seit Jahrzehnten erwachsen war.

Dass meine Mutter wurde, wie sie war und tat, was sie getan hat, lag in ihrer eigenen Familiengeschichte begründet. Durch ihre Eltern und auch den Zweiten Weltkrieg, den sie als Kind und Jugendliche miterleben musste, wurde sie schwer psychisch krank. Damals nannte man das nicht so, vielmehr kümmerte es niemanden, solange die psychische Erkrankung nicht in einem Verhalten gipfelte, das eine Zwangseinweisung in ein „Irrenhaus“ erforderlich machte. Meine Mutter, wie viele psychisch Kranke, verstand es zudem meisterhaft, sich nach außen hin nicht nur „normal“ zu geben, sondern den Anschein zu erwecken, ein ausgesprochen netter Mensch zu sein. Hinter den geschlossenen Türen ihrer eigenen Familie – meines Vaters und mir – sah die Sache ganz anders aus.

Meine Mutter war die Älteste von fünf Schwestern und bekam, der damaligen Zeit entsprechend (unmittelbar vor und während des Zweiten Weltkriegs sowie in der Nachkriegszeit), deshalb schon früh die Verantwortung für die jüngeren Schwestern aufgebürdet, die sie überforderte. Konnte sie der nicht gerecht werden, gab es Prügel, nicht nur von ihrem Vater, sondern auch von ihrer Mutter. Das Verhältnis zu ihren Schwestern war zeitlebens nicht nur deshalb denkbar schlecht. Ein Grund dafür war sicherlich auch, dass meine Großeltern die vier jüngeren Töchter besser behandelten als meine Mutter. Die Ursache dafür kann ich nur erraten, aber ich glaube, dass ich mit meiner Vermutung nicht falsch liege.

Meine Großeltern haben nicht aus Liebe geheiratet, sondern weil meine Großmutter mit meiner Mutter schwanger war. Damals, Mitte der 1920er Jahre, war ein nichteheliches Kind noch ein Skandal. Ein „Ehrenmann“ heiratete selbstverständlich die Frau, die er geschwängert hatte. Tat er das nicht freiwillig, bekam er Druck vom Vater der Frau und von seinem eigenen unter Umständen auch. Ich glaube, dass meine Großeltern, deren Ehe definitiv nicht glücklich war, meiner Mutter unbewusst die Schuld gaben, dass sie „ihretwegen“ hatten heiraten „müssen“. Und welche Auswirkung es hat, wenn man als unerwünschtes und ungeliebtes Kind aufwachsen muss, habe ich später am eigenen Leib erfahren.

Man weiß schon lange, dass Menschen, die selbst keine Liebe erfahren haben, auch keine geben können. Meine Mutter hatte das Pech, eine gefühlskalte Frau als Mutter und einen jähzornigen, prügelnden, saufenden Familientyrannen als Vater zu haben. Ich habe meine Großmutter als einen Menschen erlebt mit einem Gemüt wie ein Stein und der Sensibilität eines Betonpfeilers. Sicherlich hatte sie Gefühle, aber sie war nicht in der Lage sie zu zeigen. Und Mitgefühl schien ihr völlig abzugehen. Entsprechend behandelte sie ihre Kinder.

Zu den durch diese Gefühlskälte verursachten psychischen Schäden kam noch der Krieg mit seinen unsicheren, sich ständig gewaltsam verändernden Gegebenheiten und allzu häufiger Todesangst. Gepaart mit einer immensen Verlustangst, denn die Familie wurde damals zweimal ausgebombt. Alle Familienmitglieder konnten sich zwar in Luftschutzkeller retten und haben deshalb überlebt, aber als sie den nach dem jeweiligen Angriff verlassen haben, stand von dem Haus, in dem sie Stunden zuvor noch gewohnt hatten, nichts mehr. Sie hatten nur noch das eigene Leben, die Kleidung auf dem Leib und die wenigen Habseligkeiten, die sie in ständig gepackt bereitstehenden Notfallkoffern hatten retten können.

Man muss sich das einmal verdeutlichen. In keiner Nacht konnte man wirklich ruhig schlafen, weil die Angst vor dem nächsten Fliegeralarm und Angriff und die Angst, nicht rechtzeitig aus den Federn zu kommen, wenn man zu tief schief, einen wirklich tiefen Schlaf über Monate und Jahre hinweg unmöglich machten. Kaum gab es Alarm, packte jeden Menschen die Todesangst, weil niemand wusste, ob er die nächsten Stunden oder nur Minuten überlebte und ob man es rechtzeitig in den Bunker oder Keller schaffte, der trügerische Sicherheit bot. Dann dort mit unzähligen fremden Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht zu sein und ihren Gestank zu riechen, besonders wenn jemand auf die Toilette musste, die nur aus einem Blecheimer bestand, für den es meistens nicht einmal einen Deckel gab – aushalten zu müssen, wenn jemand Panik bekam, schrie, tobte, zu flüchten versuchte ...

Nachdem der Angriff vorbei und man wundersamer Weise noch am Leben war, aus dem Bunker/Keller zu kriechen und zu sehen, dass das eigene Zuhause nur noch Schutt ist und man alles verloren hat, was man sich mühsam erworben und aufgebaut hat, alle Erinnerungsstücke, an denen das Herz hing, für immer verloren ... Wenn man dann noch erfährt, dass Angehörige in anderen Teilen der Stadt nicht überlebt haben, dazu noch Hunger und Vertreibung, dann ist das Trauma perfekt. Damals wurde eine ganze Generation irreparabel traumatisiert.

Menschen, die ihr Heim durch eine Naturkatastrophe verloren haben, können das nachvollziehen. Die Flüchtlinge, die zu Hunderttausenden vor dem Krieg in ihren Heimatländern geflohen sind, wissen um das dadurch verursachte Grauen, das sich in die Seele brennt und nie wieder ausgelöscht werden kann.

Meine Mutter hat oft von dieser Zeit erzählt. Dass sie, nachdem der Krieg vorbei war und sich die Lage ein paar Jahre später halbwegs beruhigt hatte, in ihrem Leben ein Höchstmaß an Kontrolle über alles für ihre seelische Stabilität brauchte, ist nachvollziehbar. Dass sie das mit psychischer Gewalt meinem Vater und mir gegenüber durchsetzte, ist es ebenfalls. Menschen, die Gewalt erfahren haben, geben diese fast immer an andere weiter. Ohne Therapie können sie nicht anders, weil diese Mechanismen unbewusst ablaufen.

Aber Psychotherapie steckte damals noch weitgehend in den Kinderschuhen. Außerdem haftete ihr der Makel an, dass Patienten, die sie nötig hatten, geistesgestörte und gemeingefährliche „Irre“ waren, die man mied und die in der Gesellschaft „normaler“ Menschen nichts mehr zu suchen hatten. Niemand kam damals auf den Gedanken, sich freiwillig einer Therapie zu unterziehen, nicht nur aus Kostengründen. Davon abgesehen hätte das vorausgesetzt, dass meiner Mutter oder jemandem in ihrem Umfeld ihre psychische Erkrankung bewusst gewesen wäre. Doch die wollte sie bis ins hohe Alter nicht wahrhaben – trotz mehrfacher entsprechender Diagnose von vier verschiedenen Ärzten.

 

Um die Schäden von damals zu kompensieren, klammerte sich meine Mutter an die Illusion eines Selbstbildes, das der Realität nicht entsprach. In ihrer eigenen Wahrnehmung war sie eine untadelige und vor allem perfekte Person, die nie etwas falsch machte und demnach auch immer im Recht war. Wenn die Realität dem widersprach, blendete sie die aus und hielt an ihrer Einbildung fest, getreu nach Pippi Langstrumpfs Motto: „Ich mach mir die Welt widdewidde wie sie mir gefällt!“

Ich habe in meinem ganzen Leben keinen einzigen weiteren Menschen kennengelernt, bei dem die Lücke, nein: der Abgrund zwischen dem eigenen Selbstbild und der Wahrnehmung der/des Betreffenden durch die Umwelt derart weit auseinander klaffte wie bei meiner Mutter. Sie hielt sich selbst für das Maß aller Dinge, für einen guten, rechtschaffenen Menschen und jeden, der sich nicht so verhielt und handelte wie sie selbst, für einen Ausbund an Schlechtigkeit. Da niemand ihren Ansprüchen genügen konnte, waren alle Menschen in ihren Augen „schlecht“. Einschließlich meines Vaters und mir.

Obendrein verstieg sie sich mehr als einmal zu der Behauptung, sie lüge „nie“. Dabei waren es gerade ihrer Lügen, die mir die schlimmsten seelischen Schäden zugefügt haben. Einmal verkündete sie sogar im Brustton der Überzeugung, es gäbe nicht viel, auf das sie in ihrem Leben stolz sei, aber auf ihren „guten Charakter“ sei sie sehr stolz.

Dieser „gute Charakter“ hat sie aber nicht davon abgehalten, meinem Vater und mir das Leben zur Hölle zu machen, sich mit allen Leuten, die sich nicht so verhielten, wie sie das erwartete, anzulegen und/oder sie zu verachten und unsere kleine Familie zu tyrannisieren. Wie ähnlich sie in diesem Verhalten ihrem verhassten Vater war (bis auf die unterschiedlichen Tyrannenmethoden), hat sie nie wahrhaben wollen. Vermutlich konnte sie das aufgrund ihrer psychischen Erkrankung auch gar nicht erkennen.

Diese Erkrankung war auch der Grund dafür, dass sie nicht in der Lage war, sich der Realität anzupassen. Sie gab das zwar nach außen hin perfekt vor, innerlich aber haderte sie mit allem, was nicht ihren Vorstellung entsprach. Dass man sich gewisse Vorstellungen von den Dingen macht, die man sich wünscht oder erwartet oder die man noch nicht kennt, ist normal. Treffen diese Ideen in der Realität nicht zu, sind normale Menschen zwar unter Umständen enttäuscht, je nach Situation vielleicht auch vorübergehend verärgert bis wütend, akzeptieren aber die Realität.

Nicht so meine Mutter. Entsprach die Realität nicht ihren Erwartungen, war nach ihrer Überzeugung nicht etwa ihre unzutreffende Fantasie dafür verantwortlich, sondern die böse Realität, die es wagte, ihre Erwartung zu enttäuschen. Wenn Menschen ihre Vorstellungen nicht erfüllten, dann war das mitnichten deren gutes Recht (besonders wenn sie gar nichts von den Erwartungen meiner Mutter an sie wussten), sondern die Betreffenden per se schlechte Menschen, die sich „unmöglich“ benahmen. Obendrein hegte sie einen aus solchen Enttäuschungen resultierenden Groll oftmals jahrelang, in einigen Fällen sogar über Jahrzehnte. So machte sie mir, als ich schon weit über fünfzig Jahre alt war, immer noch Vorwürfe, dass ich sie als Kind des Öfteren belogen hatte. Ihre eigenen Lügen negierte sie selbstverständlich oder redete sie vor sich selbst schön.

 

Dass meine Mutter sich von meinem Vater und mir erhofft hat, die emotionalen Defizite auszugleichen, die sie von frühester Kindheit an hatte, liegt auf der Hand. Ich habe das schon als Kind gespürt und als Jugendliche auf den Punkt gebracht, indem ich ihr vorhielt, dass sie uns dazu zu missbrauchen versuchte, von uns die Liebe und Fürsorge zu bekommen, die sie von ihren Eltern nie erhalten hat. Ich habe damals bewusst „missbrauchen“ gesagt, denn ich fühlte mich emotional missbraucht und überfordert mit ihren nicht nur emotionalen Ansprüchen an mich.

Als ich Jahrzehnte später eine Psychotherapie machte, wurde mir bestätigt, dass diese Einschätzung korrekt war. Man nennt dieses Phänomen Parentifizierung – „Verelterlichung“, bei der ein Elternteil (oder beide) mit dem eigenen Kind einseitig die Rollen tauscht und von ihm erwartet, dass es wie ein Elternteil für Mutter oder Vater sorgt, indem es ihre emotionalen Bedürfnisse erfüllt. Unnötig zu erwähnen, dass Kinder damit komplett überfordert sind, selbst wenn die Parentifizierung erst auftritt, wenn sie schon erwachsen sind. Obendrein wurde ich schon als Kind von meiner Mutter verachtet und bestraft, wenn ich sie nicht erfüllen konnte.

Ein weiteres Indiz dafür, dass mein Vater und ich die emotionale Mangelernährung meiner Mutter ausgleichen sollten, war, dass mein Vater fünfundzwanzig Jahre älter war als meine Mutter – ein Vaterersatz, obwohl sie das immer vehement leugnete. Ihr Verhalten ihm gegenüber (unter anderem redete sie ihn wie ich ausschließlich mit „Papa“ an) belegte das aber ebenso wie ihre Begründung, warum sie sich in ihn verliebt hatte: wegen seiner fürsorglichen Art. Trotzdem hat ihre angebliche große Liebe zu ihm sie nicht daran gehindert, ihn insofern zu verleugnen, dass sie sein wahres Alter gegenüber allen Menschen verheimlichte und aller Welt (einschließlich mir) vorlog, er sei fünfzehn Jahre jünger als er tatsächlich war. Ihre Begründung für diese Lebenslüge lautete, sie habe dadurch verhindern wollen, dass man sie (!) verletzte, indem man sie wegen des Altersunterschiedes hänselte oder verachtete. Wie sehr sie meinen Vater mit diesen Verleugnungen verletzt haben muss, ist ihr nie in den Sinn gekommen.

Ich erinnere mich an einen Vorfall, als mein Vater nach einer Feier bei Bekannten dort seinen Mantel mit seinem Ausweis und Führerschein darin vergaß. Als meine Eltern das zu Hause bemerkten, machte meine Mutter ein Heidentheater und meinem Vater Vorwürfe, „warum“ er den Mantel vergessen habe. Eine wahrhaft sehr sinnvolle Frage! Der Grund, weshalb das für sie „Oh Gott, das ist ja furchtbar!“ war, lag darin, dass sie davon ausging, die Bekannten würden, um herauszufinden, wem der Mantel gehörte, natürlich in dessen Taschen nach Papieren suchen, meins Vaters Ausweis finden, darauf sein Geburtsdatum sehen und anhand dessen sein wahres Alter erfahren.

Mein Vater murmelte immer wieder: „Tut mir leid!“ Aber meine Mutter hörte nicht auf mit ihren Tiraden, die sich ausschließlich darum drehten: „Jetzt wissen die, wie alt du wirklich bist! Warum musstest du auch den Mantel vergessen?“ Wie sehr muss ihn das verletzt haben! Als mein Vater darauf hinzuweisen wagte, dass er den Mantel schließlich nicht absichtlich vergessen hatte, schnauzte meine Mutter ihn an: „Du hättest darauf achten müssen und ihn einfach nicht vergessen dürfen!“

Die ganze Situation war zwar dadurch entstanden, dass meine Mutter darauf bestanden hatte, aller Welt ein falsches Alter meines Vaters vorzulügen, aber als die Lüge aufflog, war selbstverständlich nicht sie als Initiatorin der Täuschung schuld, sondern mein Vater, weil er versehentlich seinen Mantel an der Garderobe vergessen hatte. Wer diese Frau als Ehefrau hatte, der brauchte wirklich keine Feinde mehr. Warum mein Vater das bis zu seinem Tod mitgemacht hat, statt sich scheiden zu lassen, habe ich sehr lange Zeit nicht verstanden. Erst als ich begann, dieses Buch zu schreiben und die Zusammenhänge zu ergründen, wurde es mir klar. Dazu später mehr.

Selbst mir wurde sein wahres Alter verheimlicht. Vielleicht hätte meine Mutter das bis zu seinem Tod getan, wenn die Lüge nicht vorher aufgeflogen wäre. Als ich sechzehn war, ging mein Vater in Rente. Als ich eines Tages von der Schule nach Hause kam, lag auf dem Tisch die Glückwunschkarte seiner Kollegen, mit der sie ihn in den Ruhestand verabschiedeten. Ich bekam einen Riesenschreck, denn nach meinem Wissen war mein Vater erst fünfzig. Und Leute, die mit fünfzig in Rente gingen, waren in der Regel so schwer krank oder behindert, dass sie nicht mehr arbeiten konnten. Deshalb glaubte ich, mein Vater sei ebenfalls schwer krank und sah ihn in meiner Fantasie mit einem Bein schon im Grab.

In dem Moment kam meine Mutter herein, sah mich auf die Karte starren und griff flugs zu einer Lüge: Mein Vater sei verrentet worden, weil auf dem Amt ein Fehler passiert sei, aufgrund dessen man glaube, er sei bereits fünfundsechzig. Die Verrentung sei ein Versehen. Das hörte mein Vater, und ihm platze (endlich einmal) der Kragen: „Hör doch endlich auf mit dieser Lüge!“, forderte er meine Mutter auf und erklärte mir, dass er bereits fünfundsechzig war und das vor der gesamten Familie geheimgehalten worden war, weil „die Leute“ einen Altersunterschied von fünfundzwanzig Jahren nicht akzeptierten.

Ich frage mich nur, wie sich meine Eltern das Weitere gedacht hatten, wenn ich nicht die Glückwunschkarte gesehen und dadurch die Wahrheit erfahren hätte. Hätten sie mir vorgelogen, mein Vater sei arbeitslos geworden und fände keine Arbeit mehr, bis er fünfzehn Jahre später „offiziell“ hätte in Rente gehen können? Oder hätten sie so getan, als habe er noch Arbeit und er wäre jeden Morgen wie immer aus dem Haus gegangen und nach acht Stunden zurückgekommen? Hätte er sich neue Arbeit suchen müssen und mir wäre bis dahin vorgelogen worden, er habe noch sooo viel Urlaub zu bekommen, dass er mehr als die damals üblichen vier Wochen zu Hause bleiben konnte? Ich weiß es nicht.

Dass ich die Wahrheit entdeckt hatte, gab jedenfalls den Anlass zu einem weiteren Heidentheater, denn meine Mutter machte meinem Vater endlose Vorwürfe, dass er die Karte nicht versteckt, sondern auf dem Tisch vergessen hatte: „Warum musstest du die auch da liegen lassen? Warum hast du sie überhaupt dahin gelegt? Wieso hast du sie nicht sofort weggeschlossen?“ Und sie warf ihm das noch Wochen später vor.

Als ich sie, nachdem ich mich von dem Schock erholt hatte, fragte, warum sie denn auch mich sechzehn Jahre lang belogen hatten, behauptete meine Mutter, sie habe befürchtet, dass ich meine Eltern für den Altersunterschied verachten würde und sie habe sich davor schützen wollen, dass sie (sie – nicht auch mein Vater!) dadurch verletzt wurde.

Eine weitere Lüge, denn ich erinnerte mich an einen Vorfall ungefähr zwei Jahre zuvor, bei dem meine Mutter das Thema mit mir besprochen hatte. Anlass war ein Liebesfilm, den wir gemeinsam angeschaut hatten, in dem ein älterer Mann sich in eine blutjunge Frau verliebt hatte und sie an ihrer Liebe allen Widrigkeiten und Widerständen zum Trotz festhielten. Im Anschluss an den Film fragte mich meine Mutter, was ich denn davon hielte, wenn der Altersunterschied zwischen einem Paar so groß ist. Ich weiß noch, dass ich damals stolz wie Bolle war, weil meine Mutter mich nach meiner Meinung fragte und mit mir ein „Erwachsenengespräch“ führte, wo sie mich sonst immer noch wie ein kleines Kind behandelte. Weil ich schon damals einen wie auch immer großen Altersunterschied zwischen Liebenden für bedeutungslos hielt, lautete meine Antwort: „Wenn die beiden sich lieben, ist das doch egal.“

Das wäre der richtige Moment gewesen, mir die Wahrheit über meines Vaters Alter zu sagen, da sie nun wusste, dass sie von mir keine Verletzung oder Verachtung zu erwarten hatte. Doch sie schwieg. Als ich ihr das nach dem Auffliegen ihrer Lebenslüge vorhielt, versuchte sie, sich für ihr fortgesetztes Verschweigen damit herauszureden, sie habe befürchtet, ich würde mich gegenüber anderen Menschen verplappern, wenn ich die Wahrheit wüsste. Eine weitere Lüge, denn sie wusste schließlich, dass ich das Gegenteil eines plapperhaften Typs bin.

In Wahrheit befürchtete sie, dass, wenn sie ehrlich zu mir gewesen wäre, genau das passieren würde, was dann tatsächlich passierte. Nachdem ich sie bei einer so gravierenden Lüge ertappt hatte, gab ich ihr jedes Mal Kontra, wenn sie mich mal wieder wegen einer meiner Lügen bestrafen wollte: „Du erdreistest dich, mir Lügen vorzuwerfen – du, die du mich sechszehn Jahre lang über das Alter meines Vaters belogen hast?“ Ich gestehe, ich nahm ausgiebig meine Rache und rieb ihr das monatelang bei jeder sich bietenden Gelegenheit unter die Nase, bis das Ganze keinen Spaß mehr machte. Aber der Schmerz über diesen gravierenden Vertrauensbruch und die Empörung darüber, dass ich so massiv belogen worden war, selbst aber für jede kleine Lüge bestraft wurde, hat mich noch sehr lange begleitet.

 

*

 

Meine Mutter musste im Lauf ihrer Ehe feststellen, dass weder mein Vater noch ich in der Lage waren, ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Wir konnten nicht heilen oder sie vergessen lassen, was die mangelnde Liebe ihrer Eltern bei ihr geschaffen hatte, weil das die Bedürftigkeit eines kleinen Kindes nach elterlicher Zuwendung war. Mein Vater als ihr Ehemann gab ihr eine ganz andere Art von Liebe, ich als ihr Kind ebenfalls. Doch beides versorgte sie emotional nicht mit dem, was sie brauchte. Vermutlich unbewusst machte meine Mutter uns für ihr Wohlbefinden und ihr Glück verantwortlich und dafür, die „Lücken“ zu schließen, die in ihrer Kindheit und Jugend entstanden waren.

Und weil wir ihr das nicht geben konnten, war die daraus resultierende Enttäuschung programmiert. Weil wir uns außerdem nicht immer so verhielten, wie sie das wünschte – und zwar nicht nur in emotionaler Hinsicht –, gab es ständig Streit, den ohne auch nur eine einzige Ausnahme meine Mutter vom Zaun brach. Mein Vater war ein sehr ruhiger und leider allzu nachgiebiger Mann, der, wenn er die Wahl hatte, jedem Streit aus dem Weg ging und seine Ruhe und Harmonie haben wollte. Leider ließ meine Mutter ihm diese Wahl nicht.

Da ich völlig anders geraten war, als sie sich ihr „Traumkind“ vorgestellt hatte und sie zeit ihres Lebens nicht in der Lage war, das auch nur zu begreifen, geschweige denn zu akzeptieren, setzte sie alles daran, mich buchstäblich mit Gewalt dazu zu „erziehen“. Wie sie selbst einmal Jahrzehnte später gestand, hatte sie einfach nicht einsehen können, „dass ein Kind, das ich geboren habe, so völlig aus der Art geschlagen ist“. Was sie allzu oft mit den Worten kommentierte, ich sei „ein Wechselbalg, das die Trolle vertauscht haben“, aber ganz sicher nicht ihr Kind. Aua!

Ihre Versuche, mich zu „ihrem Kind“ zu modellieren, reichten von Strafen ohne Ende über Schläge, Beschimpfungen und Liebesentzug bis hin zu ständigen Vorwürfen, was ich in ihren Augen alles falsch machte. Und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich ihr nahezu nichts recht machen konnte. Irgendeinen Kritikpunkt fand sie immer. Dazu gab es jede Menge Vorschriften und Vorgaben, wie ich mich zu benehmen, wie ich zu sprechen, zu gehen, mich zu kleiden, zu kämmen hatte und was ich überhaupt tun sollte und was nicht. Wobei die Verbote, was ich nicht tun sollte oder durfte, bei Weitem überwogen.

Interessanterweise und traurigerweise tat sie mit meinem Vater dasselbe. Sie korrigierte jeden Grammatikfehler, der ihm unterlief, wenn er etwas sagte, bestimmte, welche Kleidung er zu tragen hatte und sparte nicht mit verächtlichen Bemerkungen à la „Um Himmels Willen, wie sieht das denn aus?“, wenn er sich etwas anzog, das nicht ihre Billigung fand. Sie schrieb ihm vor, wie er sich in der Öffentlichkeit zu benehmen hatte und gab uns beiden vor jeder Familienfeier detaillierte Verhaltensanweisungen. Ging das schief, was fast jedes Mal der Fall war, gab es für uns beide Vorwürfe und Beschimpfungen und für mich Bestrafungen, kaum dass wir wieder zu Hause oder die Gäste gegangen waren. Sowohl mein Vater wie auch ich sahen deswegen jeder Familienfeier mit Grauen entgegen.

Sehr aufschlussreich ist ihre Begründung dafür, dass sie uns in dieser Hinsicht einfach nicht in Ruhe lassen konnte: „Euer schlechtes Benehmen fällt doch auf mich zurück!“ Ich habe dieses Argument bis heute nicht verstanden. Und „schlecht“ benommen hatten wir uns sowieso nicht. Wir „benahmen“ uns nur nicht so, wie meine Mutter uns das vorschrieb. Nicht mehr, nicht weniger.

Da die familiäre Atmosphäre zu Hause nicht nur durch solche Dinge vergiftet war, so lange ich mich erinnern kann, lebte ich in ständiger Angst vor meiner Mutter. Mein Vater ebenfalls. Selbst wenn sie zwischendurch mal heitere Momente hatte, konnten die ohne Vorwarnung jederzeit ins Gegenteil umschlagen. Ich war immer auf der Hut, um zu erspüren, wann es wieder so weit war, und wurde doch in den meisten Fällen von ihren Stimmungswechseln und den damit einhergehenden Verletzungen oder Bestrafungen – oft für Dinge, bei denen ich nicht einmal genau wusste, womit ich wieder einmal ihr Missfallen erregt hatte – überrascht, weil meine Mutter unberechenbar war.

Rückblickend weiß ich, dass ich schon sehr früh – noch bevor ich in die Schule kam, also vor meinem sechsten Lebensjahr – eine tiefe Depression entwickelt hatte. Sie äußerte sich unter anderem darin, dass ich, wie ich damals mangels anderer Ausdrucksmöglichkeiten auf die Frage meiner Mutter formulierte, warum ich „immer so miesepeterig“ sei, das Gefühl hatte, das Wetter sei ausschließlich um mich herum ständig dunkel, trüb und verregnet. Keine guten Bedingungen zum Aufwachsen.

 

Eine besondere Rolle in dem ganzen Drama spielte mein Großvater. Sein Verhalten war indirekt mit dafür verantwortlich, dass meine Mutter mich misshandelte und mich nie so sehen konnte, wie ich bin.

Mein Großvater war ein Mensch ohne Grenzen. In der Zeit (den letzten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts) und in den Stand, in den er hineingeboren wurde (Großgrundbesitzerfamilie), war der männliche „Stammhalter“, der den Familiennamen fortführte, noch eine Prestigefrage für die Familienpatriarchen. Die Ehefrauen mussten so lange Kinder bekommen, bis sie mindestens einen Sohn zur Welt gebracht hatten oder aus Gesundheitsgründen nicht mehr gebären konnten oder durften. Deshalb hatte mein Großvater acht ältere Schwestern und war der „Kronprinz“ der Familie. Entsprechend wurde er behandelt. Die gesamte Familie hofierte ihn, verwöhnte ihn nach Strich und Faden und ließ ihn seinen Willen immer durchsetzen. Selbstverständlich forderte er das Recht, seinen Willen zu bekommen, später auch in seiner eigenen Familie ein. Wer sich ihm widersetzte, wurde geschlagen. Bekam er nicht, was er wollte, gab es Prügel. Und selbst im hohen Alter bekam er bei Nichterfüllung seiner Forderungen Wutanfälle in einer Form, die jedem Kindergartenkind, das noch keine Impulskontrolle gelernt hat, alle Ehre gemacht hätten. Die ganze Familie lebte in Angst vor ihm.

Zu meinem zusätzlichen Unglück kam ich an seinem Geburtstag zur Welt. Da meine Mutter an Astrologie glaubte, besonders hinsichtlich der Charaktereigenschaften, die jedem Sternzeichen zugeschrieben werden, stand schon deshalb von Anfang an für sie fest, dass ich selbstverständlich „wie der Opa“ sein musste. Als ich im Alter von ungefähr drei Jahren in die erste Trotzphase kam und die damit üblicherweise einhergehenden Wutanfälle hatte, nahm sie die als Beweis für die Richtigkeit ihrer Annahme. Denn sie sah darin kein normales kindliches Verhalten, sondern den Ausdruck desselben jähzornigen Charakters, den ihr Vater besaß. (In der Psychologie nennt man dieses Phänomen eine „Übertragung“.) Jahrzehnte später hat sie das sogar offen zugegeben und mir erzählt, bei meinem ersten Wutanfall habe sie „ein eisiger Schreck durchfahren“ und der entsetzte Gedanke: „Oh Gott, sie wird wie ihr Opa!“ Was sie mit viel Gewalt körperlicher und seelischer Natur zu unterdrücken versuchte.

Dieser Wahn trieb manchmal die abenteuerlichsten Blüten. Die alltäglichen Auswirkungen bestanden „nur“ darin, dass sie jedem, der sich negativ über mich äußerte oder etwas gegen mich sagte, vorbehaltlos glaubte und meine Dementis für hinterhältige Täuschungsversuche und Lügen hielt.

Ein Beispiel. Ich muss ungefähr sechs Jahre alt gewesen sein, als meine vier Jahre ältere Cousine und ich bei einer Familienfeier in Streit gerieten. Sie wollte mich zwingen, etwas zu tun, was ich nicht tun wollte (ich weiß nicht mehr, was das war) und drohte mir, mich bei meiner Mutter zu verleumden, sollte ich ihr nicht gehorchen. Ich weigerte mich, sie verleumdete mich. Obwohl weder meine Mutter noch irgendjemand anderes Zeuge unseres Streits gewesen war, fragte meine Mutter nicht, was ich zu der Anschuldigung zu sagen hatte, sondern verlangte ohne Prüfung des Sachverhalts, ich solle mich für meine „gemeine Tat“ bei meiner Cousine entschuldigen.

Ich weigerte mich hartnäckig, denn ich war schließlich unschuldig. Sehr schnell ging es nicht mehr darum, dass ich mich entschuldigen sollte, sondern nur noch darum, dass ich zugeben sollte getan zu haben, was ich nicht getan hatte. Ich wurde von meiner Mutter vor allen Anwesenden als niederträchtige Lügnerin beschimpft, als böses Kind und gemeines Etwas. Schließlich brach ich in Tränen aus, beharrte aber immer noch auf meiner Unschuld: „Ich kann doch nichts zugeben, was ich gar nicht getan habe!“ Bis heute habe ich nicht den Blick purer Verachtung vergessen, mit dem meine Mutter mich bedacht hat, als sie mich erneut und ziemlich nachdrücklich aufforderte, nun doch endlich die Wahrheit zu sagen.