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Dieter Bührig

Schattengold

Ein musikalischer Kriminalroman nach den ›Madagassischen Gesängen‹ von Maurice Ravel

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Um eine unerwünschte Assoziation zu vermeiden, wurde der Name einiger Institutionen, Dienstbezeichnungen und politischer Funktionen leicht verändert.

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3. Auflage 2013

Neue epub-Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/Korrekturen: Daniela Hönig / Doreen Fröhlich, Katja Ernst

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung des Fotos »Die Gasse« von: © Kay Horn / fotolia.de

ISBN 978-3-8392-3538-6

Vorwort

Und das alles geschah vor nicht allzu langer Zeit in Lübeck.

Sie kennen Lübeck nicht, die alte Hansestadt Lübeck? – Dabei liegt sie doch ganz in Ihrer Nähe. Mitunter spielen sich dort schon recht merkwürdige Geschichten ab – und von einer möchte ich Ihnen erzählen. Sie ist so fantastisch, dass sogar manche Lübecker an ihrer Echtheit zweifeln.

Aber davon später. Vorher lade ich Sie zu einem kleinen Rundgang durch die Handlungsorte meiner Geschichte ein. Am besten, Sie setzen sich gleich in Ihr Auto und geben ›Lübeck‹ in Ihr Navigationsgerät ein. Eine freundliche, ausgeglichene Automatenstimme weist Ihnen, ohne auf Ihre Widerrede zu achten, sogleich den richtigen Weg. Während Sie den Anweisungen folgen, können Sie und Ihre Begleitung entspannt den Blick über die Umgebung schweifen lassen.

Denn der Weg nach Lübeck führt in der Tat durch eine wunderschöne Landschaft. Sie kommen durch gepflegte Dörfer mit Reetdachkaten, die von fruchtbaren Wiesen und goldgelben Rapsfeldern umgeben sind. Hin und wieder lädt ein gemütliches und kaum teures Gasthaus den Reisenden aus der Ferne zu ›Sauerfleisch mit Bratkartoffeln‹ ein, einem regionaltypischen Mittagessen. Ein paar alte Wehrkirchen mit Fundamenten aus Findlingen, schmiedeeiserne Wegekreuze und holzgeschnitzte Gedenktafeln erinnern an ferne Tage. Überhaupt ist hier alles sehr friedlich und überschaubar, so, als wäre die Zeit stehen geblieben.

Bald haben Sie das Meer erreicht. Viel ist da um diese Jahreszeit nicht zu sehen. Die wegen der gefürchteten Sturmfluten hochgezogenen Deiche geben nur selten den Blick auf ein paar gelangweilt schlendernde Spaziergänger frei. Hin und wieder taucht einer der leeren Strandkörbe im Sichtfeld auf. Die wenigen Segelboote am Horizont scheinen ihren Weg zum Heimathafen zu suchen. Genau wie Sie Ihren nur noch kurzen Weg nach Lübeck.

Gleich hinter Neustadt, wenn Sie von Norden kommen, nur wenige Kilometer unterhalb der Meeresküste, tauchen das erste Mal die Kirchturmspitzen von Lübeck auf. Von Weitem sieht die Stadt noch immer so mittelalterlich aus wie vor Hunderten von Jahren, als man sie das Kronjuwel der über die Ost- und Nordsee herrschenden Kaufmannshanse nannte.

Nicht alle Lübecker wissen, woher der Name ihrer Heimatstadt stammt. Viele glauben, er leite sich von dem ›Lübecker Marzipan‹ ab, dabei verhält es sich natürlich umgekehrt. Aber das Marzipan ist nun einmal weltweit bekannter als die Stadt selbst. Andere meinen, ›Lübeck‹ gehe aus der Bezeichnung ›lütte Bäke‹, also ›kleiner Bach‹, hervor. Auch das stimmt nicht, obwohl die Trave, die Lübeck früher von fast allen Seiten umspülte, kein wirklich großer Fluss ist. Das dem Namen zugrunde liegende Wort ›Liubice‹ kommt vielmehr aus dem Slawischen und bedeutet – je nach Auslegung – ›Siedlung der L’ub‹ oder ›die Liebliche‹.

Eine kleine Gruppe von Lehrern des Katharineums, der altsprachlichen Oberschule, von der in meiner Geschichte noch die Rede sein wird, findet ihre Stadt nicht besonders lieblich. Vor Kurzem, während einer ihrer Stammtischrunden in der benachbarten Kneipe ›Buthmanns‹, beschloss sie, Lübeck in Anlehnung an das griechische Wort ›chronos‹, die Zeit, umzutaufen in ›Chronaborg‹: Hort der Zeit – Stadt, in der die Zeit stehen geblieben ist.

Ausgangspunkt ihrer Überlegung war die Tatsache, dass die berühmte große Astronomische Uhr, die die Marienkirche am Marktplatz ziert, nicht zwischen Sommer- und Winterzeit unterscheiden kann. Aber das diente ihnen nur als Vorwand. In Wahrheit hatten sie es satt, sich ständig über eine Kulturpolitik aufzuregen, der es ihrer Meinung nach völlig an Aufgeschlossenheit gegenüber dem zeitgemäßen Wandel fehlte. Für sie handelte der Senat der Stadt nach dem Prinzip: Meide alles, was neu und was fremd ist.

Ein entsprechender Antrag in der Bürgerschaft sorgte für heftige Aufregung. Dazu muss man wissen, dass die alteingesessenen Hanseaten in jeder Beziehung äußerst konservativ mit ihrer Zeit umgehen. Und daher verwundert es nicht, dass der Antrag der Studienräte nach längerer heftiger Debatte abgelehnt wurde.

In ihrer Blütezeit war die Stadt von einem riesigen Ringwall umgeben, der zum Schutze vor Eindringlingen außerdem noch mit einem raffinierten Wassergrabensystem verbunden wurde. Streng genommen handelt es sich um Flussteile der Trave und der Wakenitz, um Kanäle und Hafenanlagen. Sie bilden einen labyrinthischen Wassergürtel, der früher die Schutzfunktion eines Wehrgrabens hatte. In meiner Geschichte werde ich also vereinfachend nur vom ›Stadtgraben‹ reden. Inzwischen hat der Wall seine militärische Funktion eingebüßt und wurde größtenteils geschleift, um friedlichen Parkanlagen und heiß umkämpften Parkplätzen zu weichen. Die Stadtväter meinten, auf diese Weise ›mit der Zeit zu gehen‹.

Viele Touristen besuchen die Stadt eigentlich nur wegen des weithin bekannten Marzipans oder um die Wirkungsstätten einiger berühmter Dichter zu bewundern. Dabei wurde das Marzipan hier gar nicht erfunden, und mit den Dichtern stand die Stadt zu deren Lebzeiten nicht immer auf bestem Fuß. Nun, in Lübeck schmückt man sich gelegentlich gern mit fremden Federn. Dabei ist die Altstadt als solche schon einen Besuch wert – auch wenn der Neuzeitmensch in seinem Zerstörungswahn mit Kriegsbomben so manche Lücke in das historische Erbe riss.

Aber das Lückenreißen kann er auch ganz gut in Friedenszeiten. Fast alle alten Stadttore fielen den angeblichen Bedürfnissen des modernen Verkehrslebens zum Opfer. Nur einem Zufall ist es zu verdanken, dass das Holstentor, heute eindrucksvolles Wahrzeichen der Stadt, nicht mit eingerissen wurde.

Das alles wäre nicht notwendig gewesen. Heute ist der Verkehr längst wieder aus der Innenstadt verbannt, um einer bis in die Nacht shoppenden Menschenmenge Platz zu machen. Die Stadtplaner setzen auf Fußgängerzonen – globalisierte Flaniermeilen, die sich mit ihren Modeboutiquen, Fast-Food-Ketten und Medienmärkten in nichts von den Hauptstraßen anderer gesichtsloser Großstädte unterscheiden.

Wo beispielsweise früher ein traditionsreiches Musikalienhaus das kulturelle Leben der Stadt befruchtete, haust jetzt ein Billigmodeladen, aus dem monoton hämmernde Popmusik dröhnt. Wohl in der Absicht, unter den Kunden gleich von vornherein die Spreu vom Weizen zu trennen. Lübeck kann eben international mithalten.

Sie sind also herzlich in unserer Stadt willkommen. Wenn Sie von der Westseite anreisen, werden Ihnen die prachtvollen Barockfassaden mit den schwungvoll gestalteten Giebelvoluten auffallen. Durch die mit verzweigten Ornamenten geschmückten Haustüren schritten einst die vornehmen Kaufleute, durch deren Handel die Stadt aufblühte.

Einige der schönsten dieser Häuser dienen heute als Kitsch-Andenkenläden und der touristischen Gastronomie. Italienisch, griechisch, türkisch – nicht gerade hanseatisch. Wie gesagt, ganz international.

Kommen Sie jedoch von der Ostseite, bietet sich Ihnen ein anderes Bild. Zunächst passieren Sie enge, kopfsteingepflasterte Gassen, in denen es gelegentlich nach feuchter Wäsche und Kohleintopf riecht und in denen Kinder unbesorgt Fußball kicken, ohne sich um die fahlen Scheiben der butzigen Kleinkrämerläden oder die Häuflein von Hundekot, die ab und an den Rinnstein säumen, zu kümmern.

Wechseln Sie in einem solchen Fall besser die Straßenseite. Von dort aus können Sie die gotischen Backsteintreppengiebel mit den fensterlosen Blenden bewundern, die sich die Handwerker und Krämer teuer ausbauen ließen. Dadurch erschien ihr Haus größer und wichtiger. Hinter der leeren Fassade versteckt sich allenfalls ein steiles, unbewohnbares Dachgeschoss. Auch in diesen Vierteln lebt man seit jeher nach dem Motto: ›Der äußere Schein ist alles‹.

Auf der Spitze des kleinen Hügels, den die Altstadt von Natur aus bildet, steht das ehrwürdige Rathaus mit dem berühmten Ratsweinkeller, in dem schon viel Geschichte und so manche Geschichten geschrieben wurden. Unübersehbar riesige Wappen an der Fassade zeugen von der seefahrerischen Tradition der Stadt. Auch die mittelalterlichen Ratsherren liebten den Schein: Zum Markt hin ließen sie eine hochragende Wand bauen, um die markttreibenden Bürger mit ihrem Reichtum und ihrer Macht zu beeindrucken. Damit die Scheinfassade schweren Stürmen trotzen konnte, wurden Windlöcher in den gotischen Backsteinbau eingefügt.

Eine, in niederländischer Renaissance gehaltene Prachttreppe, führt auf die Hauptstraße, als wolle Lübeck beweisen, es sei weltoffen und wohlhabend. Aber auch dieser Schein trügt in beiderlei Hinsicht. Vielleicht war das früher einmal so. Heute kommen die Ratsherren nur noch selten vor die Tore ihrer Stadt. Das brauchen sie auch nicht, denn die wichtigen Probleme werden gern im Ratsweinkeller bei einem Krug selbst gebrautem Braunbier gelöst.

Und von Wohlhabenheit kann man heute nicht mehr sprechen. Lübeck ist eine der am meisten verschuldeten Städte im Land. Da helfen auch nicht die reichlich fließenden Einnahmen durch die Touristen. – Wo wohl das viele Geld bleibt?

Gegenüber dem Rathaus steht die Marienkirche. Sie ist nicht nur das geistliche Zentrum der Stadt, sondern auch das kulturelle. In Trost spendender Regelmäßigkeit wird hier zu Ostern die Matthäuspassion, am Totensonntag die h-Moll-Messe und zur Weihnachtszeit passend das gleichnamige Oratorium aufgeführt. Und am Abend des Jahreswechsels strömt ganz Lübeck in die Kirche, um sich den Messias anzuhören. Viele Zuhörer singen selbst mit.

Nur ein paar kulturell interessierte Bürger beklagen, dass sich das Musikleben der Stadt wenig weiterentwickelt. Neuere Klänge hört man lediglich aus den engen Fenstern der Übungsräume der nahe gelegenen Musikhochschule herausschallen.

Bevor wir diese erreichen, machen wir noch einen kleinen Abstecher zum Stadttheater und zur Oberschule. Das Theater ist in einem ehemaligen Handelsherrenpalast untergebracht. Es diente zunächst mehr oder weniger als Tummelplatz für durchreisende Theatergruppen. Als aber im Jahre 1794 die ›Zauberflöte‹ auf den Spielplan gesetzt wurde, waren auch die vornehmeren Bürger von Lübeck gewonnen – auch wenn sie nur wenig von dem verwirrenden Märchen verstanden. Spötter behaupten, die ›Zauberflöte‹ erklinge dort noch heute 365 Mal im Jahr.

Gleich in der Nähe befindet sich ein Theater anderer Art: die Oberschule. Ein achtlos Vorübergehender wird in den alten Gemäuern zunächst ein Kloster vermuten. Was auch gar nicht so abwegig ist, da das Gebäude vor der Säkularisation im 16. Jahrhundert schweigenden Mönchen als Katharinenkloster der inneren Einkehr diente.

Zwar sind die alten Sprachen, die Naturwissenschaften und die Musik Schwerpunkte des Instituts, wichtiger für unsere Geschichte sind jedoch die hartnäckigen Gerüchte, nach denen geheime unterirdische Gänge, von den ehemaligen Klostergemäuern aus, sowohl westwärts zum Stadttheater als auch südwärts zu den Bürgerhäusern rund um die Musikhochschule bis hin zu den Kanälen am Stadtwall führen sollen. – Aber das basiert wahrscheinlich nur auf den üblichen Schülerfantastereien.

Doch schreiten wir weiter. Der nächste Tempel der schönsten Muse der Stadt, die Musikhochschule, liegt, der allgemeinen Hierarchie folgend, weiter südlicher, etwas mehr den Hang hinab. Für einen Fremden ist er leicht zu übersehen, vermittelt er auf den ersten Blick nicht unbedingt den Eindruck einer akademischen Einrichtung.

Im Gegenteil. Die Musikhochschule besteht aus einer Anhäufung von alten Bürgerhäusern, die sich um ein paar enge Gassen gruppieren. Da das Gelände in Richtung Stadtgraben abfällt, scheint es, als müssten sich die rötlichen Backsteinhäuser gegenseitig stützen, wie es die Rentnerehepaare tun, wenn sie einander untergehakt gemächlich durch die Wallanlagen spazieren.

Beim Ausbau des Konzertsaals der Hochschule fand ein Baggerführer einen mittelalterlichen Geldschatz mit Münzen aus den Jahren um 1533. Jemand hatte ihn aus mysteriösen Gründen unter den Fußbodendielen eines Altstadthauses vergraben. Den Gegenwert schätzte man auf den eines ausgewachsenen Privathauses. Kein schlechter Fund also. Der Bauarbeiter erhielt einen sechsstelligen Finderlohn, der Schatz wurde später dem Land zugeschrieben. Man munkelt, dass irgendwo dort ein weiterer Goldschatz in einer Holzkiste zu entdecken sei.

Nicht weit vom Haupteingang der Musikhochschule befindet sich ein Marionettenmuseum. Skurrile Puppen, Ritterrüstungen und Holzmarionetten werben im Eingang und im Schaufenster des hübschen und gepflegten Altstadthauses um Besucher. Eine wirklich sehenswerte Sammlung.

Unter den Lübeckern gibt es allerdings zu wenig Träumer, als dass das kleine Museum ein Publikumsmagnet wäre. Manchmal kommen ein paar Kinder, die versuchen, sich an dem hohen Fenstersims heraufzuziehen, um einen Blick in die geheimnisvolle Welt der mechanischen Fabelwesen werfen zu können. Für einen echten Hanseaten ist das Museum zu kindisch. Der weiß seine Zeit besser zu nutzen, als Spielzeug anzuschauen.

Nur ein paar Touristen, die von dem Zeitgefühl der Lübecker nichts ahnen, lassen sich gelegentlich von den technischen Wunderwerken anlocken. Gern bestaunen sie die mechanische Präzisionsarbeit und manche von ihnen, die es mit der elterlichen Pädagogik ein wenig übertreiben, rauben anschließend ihren Töchtern und Söhnen jegliche Fantasie, indem sie ihnen jedes Rädchen, jedes Gelenk, jeden Hebel und jedes Gewinde physikalisch genauestens erklären.

*

Auf der Rückseite dieses Hauses, in der Parallelstraße, stoßen Sie auf die merkwürdigste Erscheinung im Stadtbild von Lübeck. An der hinteren Brandmauer des Marionettenmuseums klebt eine bizarre, bis auf einige Mauerreste ausgebrannte Ruine, die eine Tragödie erahnen lässt. Zwischen den verrotteten Ziegeln und verkohlten Holzbalken versteckt sich ein Gewirr unbestimmbarer Zahnräder, Stahlfedern, Eisengerüste, Kabel und Metallbehälter. Trotzdem deuten die Trümmerreste darauf hin, dass hier einmal ein hochherrschaftliches Haus gestanden haben muss. Am verfallenen ehemaligen Eingangsportal erkennt man unter einer festen Ruß- und Dreckschicht noch ein paar Schriftzüge: ›Adrian Ampoinimera, Goldschmied und Uhrmacher‹.

Eigentlich passt die Ruine überhaupt nicht in das Stadtbild. Doch eigenartigerweise ist dieser Schandfleck bis heute nicht beseitigt worden. Die offiziellen Stadtführer schweigen dazu. Es wird Ihnen schwerfallen, Näheres über die Ruine und die Brandursache zu erfahren. Weder das Internet noch Ihr Navigationsgerät geben Auskunft.

Eine menschliche Tragödie, ein bedauernswerter Unfall, ein abstoßendes Kriminaldelikt? Oder lastet ein alter Fluch auf dem Gelände? Die Bewohner meiden den Ort. Die Leute haben eine alte Sage nicht vergessen. Ich möchte sie Ihnen nicht vorenthalten, bevor ich zu meiner eigentlichen Erzählung komme, der Geschichte dieser Ruine.

Und da Sie, lieber Leser, sicherlich wissen, dass Raum und Zeit nie getrennt voneinander existieren können, ist es auch eine Geschichte über die Zeit, eine Geschichte über Vergangenes und über Vergängliches. Die Vergangenheit ist physikalisch gesehen nichts als der negative Teil der Zeitachse. Die Vergänglichkeit jedoch, das ist der Schatten, den die Zeit schon heute auf unsere Lebenswelt wirft.

*

Im Jahr 1493 starb auf dem Anwesen, auf dem jetzt die Brandruine steht, ein reicher und vornehmer Kaufmann, der wegen seines Geizes und seiner gotteslästerlichen Ansichten gefürchtet war. Er hatte sein Leben damit verbracht, religiösen Silberschmuck, vergoldete Reliquien, heilige Amulette und wertvolle Perlenketten aus aller Welt zu sammeln. Da er seinen Schatz liebte und niemand ihn erben sollte, verfügte er, dass alles zusammen mit ihm begraben wird. Erst nach 50 Jahren durfte das Grab geöffnet werden, und der Reichtum sollte dem Katharinenkloster gestiftet werden.

Seine letzten Worte waren: »Hole euch alle der Teufel!«

Als die Frist vergangen war, konnten es die Mönche kaum abwarten und öffneten den Sarg. Und siehe da: Der Schatz war verschwunden, der Leichnam lag jedoch frisch und unverwest darin, als ob die Reliquien seinen Körper am Leben gehalten hätten.

Die Mönche, um ihren Gewinn gebracht, beschlossen, den Toten öffentlich auszustellen und gegen einen nicht unbeträchtlichen Obolus besichtigen zu lassen. Wer das Rätsel der Unvergänglichkeit löse, dem wollten sie täglich eine kostenfreie Messe lesen.

Eines Tages kam ein Fremder, stieg in dem besagten Haus ab, das inzwischen eine Gastwirtschaft beherbergte, und wollte das Wunder sehen. Der Klostervorsteher beauftragte die Hausmagd, den Leichnam aus dem Keller des Klosters zu holen und ihn auf den Schanktisch zu legen.

Die gute Frau zierte sich sehr und ging erst, als der Fremde ihr einen Beutel Dukaten anbot. Sie holte den unverwesten Körper und legte ihn wie befohlen auf den Tisch.

»Da lieg in Gott!«

Kaum hatte sie das ausgesprochen, erhob sich der Tote und sprach: »Ich danke dir. Jetzt bitte den lieben Gott auch noch, dass ich verwesen möge!«

Zweimal bat er die Magd. Jedes Mal antwortete eine ferne Stimme, die vom Dachboden herzukommen schien: »Nein, Gotteslästerer, nein!«

Erst beim dritten Mal erschütterte ein lautes Krachen das Haus und man hörte die geheimnisvolle Stimme rufen: »Wohlan, um der guten Magd willen sei er verwest.«

Ein scharfer Windstoß durchfuhr die Schenke. Dann war der Leichnam verschwunden.

Als die Mönche am nächsten Tag die Gruft aufräumen wollten, fanden sie die Körperreste des Leichnams darin. Er war über Nacht zu Staub und Asche geworden.

Die Ordensbrüder betteten ihn zur letzten Ruhe und ließen sich von dem Fremden einen gehörigen Batzen ausbezahlen.

Die Magd lebte von ihren Dukaten glücklich bis an das Ende ihrer Tage und bekam dazu noch jeden Tag eine Messe für ihr Seelenheil gelesen.

Der heilige Schatz – im Volksmund zu Unrecht ›Wikingerschatz‹ genannt – jedoch blieb für immer verschwunden.

Kapitel 1: Der Küster

»Lass die Finger davon!«

Der Küster, den kaum einer wirklich kannte, hatte heute noch schlechtere Laune als üblich. Das kleine Mädchen mit den auffällig neugierigen Mandelaugen, das die überdimensionale Astronomische Uhr in der Marienkirche einmal von ganz nahe anschauen wollte, wich erschrocken zurück. Seine Eltern blickten den Mann verständnislos an. Schließlich war doch Tag der offenen Tür.

»Nun übertreiben Sie mal nicht! Die Kleine wollte doch nur …«

»Das kennen wir: Alle wollen doch nur mal … Und ich hab dann das Nachsehen. Mache ohnehin Überstunden, und dann muss ich am Ende auch noch alles wieder hinbiegen, was die Gören kaputt gemacht haben.«

Die Eltern hatten keine Lust, sich mit dem schrulligen Alten zu streiten, nahmen das Mädchen an die Hand und verschwanden wortlos. Der Küster brummelte noch eine Weile halblaut vor sich hin, trat dann aus dem Halbschatten heraus und blickte missmutig um sich.

Endlich begann sich der Besucherstrom zu lichten. Der Aushilfsorganist, der oben auf der Totentanzorgel gelangweilt zum x-ten Male die d-Moll Toccata abspulte, hörte mitten im Stück einfach auf und klappte geräuschvoll den Orgeltisch zu. Für eine geistreiche Kadenz fehlte ihm heute der Sinn. Und ausgerechnet der verminderte Septakkord hallte in dem riesigen Kirchenschiff minutenlang wie eine Feuerwehrsirene nach. Das allgemeine Gemurmel und Getrampel ebbte langsam ab. Irgendwo klingelte ein Handy. In der hohen Kirchenhalle hörte sich die billige Plastikmelodie an wie das Donnern der Trompeten von Jericho.

»Kein Respekt mehr heutzutage!«, schnaufte der Küster wütend. Eine junge Frau, die zufällig vorbeikam, bezog den Tadel auf sich, errötete und knöpfte, sich ihrer mangelnden Demut schämend, flink die durchaus gewagte Bluse bis zum obersten Knopf zu. Schnell machte sie eine knappe Verbeugung in Richtung Mutter Maria und bekreuzigte sich eilfertig. Damit wollte sie sichergehen, dass ihr die Absolution auch für ihre zukünftigen Sünden erteilt würde.

Nachdem auch diese lästige Besucherin verschwunden war, nahm sich der Küster Zeit, die Astronomische Uhr in Ruhe zu mustern. Es handelte sich nicht um eine herkömmliche Uhr, wie beispielsweise seine billige Taschenuhr, die nur die momentane Zeit wiedergab. Die in dem schlichten Holzrahmen untergebrachten Kalenderscheiben informierten den Betrachter über Gegenwart und Vergangenheit und reichten sogar weit in die Zukunft hinein. Sie zeigten Tag, Monat, Sonnen- und Mondstand, die Tierkreiszeichen, das Osterdatum und die Goldene Zahl an.

Von jeher bewegten sich zu jeder vollen Stunde Figuren zum Glockenspiel. Ursprünglich stand Jesus in der Mitte, umrahmt von den zwölf Aposteln. Aus zwei seitlichen Türen erschienen Rotröcke, die mit einer Fiedel aufspielten. Die Apostel fingen daraufhin an zu tanzen, ohne dem Herrn die nötige Reverenz zu erweisen.

Einer Sage nach soll eines Tages der Blitz in die Kirche eingeschlagen sein, weil der Fiedeltanz angeblich ein ›heidnisch Wesen‹ sei. Man ersetzte die zwölf Heiligen durch die sieben Kurfürsten und einen Schatzmeister, die sich allesamt vor dem Herrn verbeugten, außer dem Letzteren, der nur seinen Mammon verehrte. Statt der Fiedler erschienen Engel mit Posaunen. Nach einem erneuten Umbau grüßen nun Nachbildungen von Menschen unterschiedlicher christlicher Völker die Besucher der Lübecker Hauptkirche.

Der Küster liebte das feinmechanische Wunderwerk, denn das sogenannte Planetarium ermöglichte ihm, der den überwiegenden Teil seines Lebens im Schatten dunkler Kirchenmauern verlebte, einen Blick in die Weite der Zeit zu werfen. Die Nachahmung des Laufes der Gestirne ließ ihn beim Betrachten für ein paar Augenblicke alles Irdische vergessen. Das unüberhörbare Ticken des überdimensionalen und komplizierten Räderwerks mahnte ihn, dass alle Menschen, also auch ein Küster, den kaum einer wirklich kannte, unter dem göttlichen Gesetz der Zeit lebten.

Nicht durch Zufall wurde die Astronomische Uhr neben den Totentanzfenstern aufgestellt. Ein Lübecker Bischof behauptete einmal: »Zeit und Tod gehören zusammen.« Auf dem Holzrahmen an der Seite waren ungelenke Kritzeleien eingraviert: »Ny fotoana dia fifanakalozan’ny fiainana sy fahafatesana«.

Immer wieder ärgerte sich der Küster, wenn er diese Hieroglyphen sah. Sie verunsicherten ihn, weil er sie nicht verstand. Ihm waren Computer, Internet und all dieser seiner Ansicht nach neumodische Kram völlig unbekannt, sonst hätte er durch Googeln des Rätsels Lösung gefunden, wenn auch mit einiger Mühe. Wie dem Küster ging es ebenso dem Kirchenvorstand, der einfach das tat, was viele Mächtige in einem solchen Falle machen: Ignorieren und zum alltäglichen Einerlei zurückkehren.

In den Anblick der Uhr vertieft, bemerkte der Alte nicht, wie sich eine Gestalt an ihm vorbei schob und hinter einer kaum sichtbaren Tür neben der Uhr verschwand. Hätte der Küster heute nicht wegen der elenden Überstunden anlässlich des Tags der offenen Tür eine so betäubend schlechte Laune gehabt, wäre ihm aufgefallen, dass die Gestalt schon längere Zeit bewegungslos in der Nische einer benachbarten Kapelle gestanden hatte.

Halblaut über die Schlechtigkeit der Welt brabbelnd, fischte der Alte seinen schweren Schlüsselbund aus der Hose, suchte zielsicher den richtigen Schlüssel heraus und öffnete umständlich die unscheinbare Tür, durch die kurz vorher die geisterhafte Gestalt mühelos verschwunden war. Normalerweise quietschten alte Kirchentüren. Diese jedoch hatte man genauso gut geölt wie den gesamten Mechanismus der Astronomischen Uhr.

In den kleinen Raum, der der Wartung der Uhr diente, drang nur spärliches Licht. Das Geräusch langsam mahlender Zahnräder und schwer tickender Pendel durchströmte das Kabinett. Sicherlich war es nicht ungefährlich, sich hier ohne Taschenlampe und ohne Kenntnis des Mechanismus zu bewegen.

Dem Küster machte das alles nichts aus. Schließlich kannte er den engen Raum. Jede kleine mechanische Bewegung war ihm vertraut. Er liebte den schwerfälligen Rhythmus der Zeit, der den Rhythmus der Unendlichkeit widerspiegelte. Wäre er etwas gebildeter gewesen, wäre ihm sicherlich aufgefallen, wie merkwürdig es ist, dass selbst die Unendlichkeit des Himmels nicht ohne den Puls der Zeit auskommt.

»Hast du jetzt endlich alles zusammen?«

Die kalte, monotone Stimme passte gut in diese Atmosphäre der Zeitlosigkeit. Sie entstammte der Gestalt von vorhin. Obwohl sie sich im Dunkeln der Pendelachsen aufhielt, waren ihre Augen doch klar zu erkennen.

Dem Küster fröstelte. Die schlechte Laune wich einem tiefen Angstgefühl, Alarmglocken klingelten in seinem Kopf. Draußen schlug die Turmuhr sechs. Er warf der Gestalt ein Bündel Papier zu, das er die ganze Zeit sorgfältig unter seinem Arbeitskittel verwahrt hatte.

»Jetzt sind die Unterlagen fast vollständig. Mir fehlen nur noch ein paar Recherchen. Ich hab mein Bestes gegeben, aber an die alten Dokumente aus dem Kirchenarchiv kommt man ohne Genehmigung nur sehr schwer heran …«

»Jammer nicht! Morgen um diese Zeit will Er alles haben! Mach deine Arbeit ordentlich, sonst wird Er wirklich von dir dein Bestes verlangen, nämlich dein Leben!«

Ein makaberes, blechern schepperndes Lachen erfüllte die kleine Wartungsbude. Die Gestalt verschwand so schnell zwischen den Gestängen der Astronomischen Uhr, dass dem Küster keine Zeit für Ausreden blieb. Wieder hörte man nur das gleichmäßige Ticken, Surren und Rumpeln des alten Mechanismus. – Plötzlich wusste der Küster, was er zu tun hatte.

Wie es seine Art war, brabbelte er, wenn er intensiv grübelte, laut vor sich hin. Die vielen Nachforschungen, die er aufgrund der gezielten Befehle des Unbekannten im Archiv anstellen musste, ließen nur einen Schluss zu. Man müsste, um sicherzugehen, aber noch einmal den Blick von da ganz oben wagen, dachte er sich. Wenn das stimmte, was er vermutete, konnte er, wenn er sein Wissen geschickt an den Mann brächte, durch Erpressung bald ein Vermögen besitzen.

Er begab sich eiligen Schrittes in die entgegengesetzte Ecke der Kirche, öffnete eine versteckte Tür und stieg ächzend und langsam die vielen Stufen zum Deckengewölbe hinauf. Weil das für ihn mühselig war, merkte er nicht, dass ihm jemand folgte. Sein unseliges Selbstgespräch unterbrach er trotz der Anstrengungen nicht, denn schließlich musste er jetzt sehr genau nachdenken.

Die schmale Stiege führte ihn an staubigen Mauernischen und verborgenen Seitenräumen vorbei, in denen sich manches Gerümpel aus alten Zeiten angesammelt hatte. Es schien, als läge hier Schutt von Generationen bereit, um im Schoße der Kirchenmauern die Ewigkeit zu erleben.

In einem kleinen Erker ruhte ein verstaubter Engel mit einem abgebrochenen Flügel neben einem Haufen niedergebrannter, verrußter Kerzenstummel. Ein zerbeulter Kronleuchter verhüllte sich mit einem dichten Netz von Spinnweben. Irgendwo fristete ein Stapel abgegriffener und teilweise zerfetzter Gesangsbücher ein trostloses Dasein. Weiter oben flatterten aufgescheuchte Vögel durch kleine Mauerritzen davon.

Endlich kam er auf die Ebene, die sich direkt über dem Kreuzgewölbe befand. Sie bestand aus einem wackligen und staubig-rutschigen Holzgerüst. Das Anbringen von Geländern hatte man sich aus Kostengründen erspart. Von hier aus blickte man auf die schmalen Rippen und die gebusteten Kappen, die nur einen halben Stein dick waren, und die sich über den Kreuzrippen wölbten.

Hin und wieder war das Ganze durch Balken und starke, eiserne Anker mit den Außenmauern verbunden. Deutlich konnte man auch hier oben den sorgfältig ausgemeißelten Schlussstein im Zentrum eines Gewölbes erkennen, der alles wie von Zauberhand zusammenhielt.

Der Küster hatte für die Architektur keinen Sinn. Er ging zielstrebig auf eine Mauernische zu, die einen fantastischen Blick auf den Teil der Stadt ermöglichte, der von der Oberschule und den Backsteinhäusern im Umkreis der Musikhochschule dominiert wurde.

Draußen dämmerte es. Ein leichter roter Schleier lag über dem Horizont. Das war gewöhnlich ein Vorbote von schlechtem, stürmischem Wetter. Das Treiben unten in den Straßen drang nur dünn an sein Ohr.

Lange Zeit stand er unbeweglich da und brummte vor sich hin. Plötzlich schoss aus einem der Fenster ein schwacher Lichtstrahl herauf, so, als würde es von dem Glas eines Fernrohrs herrühren.

*

Wochen später fand man seine Leiche in einer Ecke des Dachs. Er musste sich beim Sturz von dem schmalen Wegbalken oberhalb des Kirchengewölbes das Genick gebrochen haben. Seine billige Taschenuhr war zerbrochen und bei 18:16 stehen geblieben.

Im Kirchenvorstand atmete man erleichtert auf, als der Statiker versicherte, dass das alte Kirchengemäuer durch die Wucht des Aufpralls keinen Schaden genommen habe.

In der Tasche des Toten fand Kriminalinspektor Kroll einen Zettel, auf dem ein merkwürdiges Wort stand: ›maty‹.

Kroll konnte sich das nicht erklären. Während er darüber nachgrübelte, band er sich umständlich einen Schnürsenkel zu, der sich beim Treppensteigen geöffnet hatte. Dann strich er sich mit dem Nagel seines linken Daumens über die Stirn. Das machte er immer, wenn er scharf nachdachte. Er hatte die Bewegung im Fernsehen gesehen, bei Inspektor Columbo, den er wegen seines Scharfsinns verehrte.

Bedächtig holte er eine Pinzette aus der Manteltasche hervor, klammerte das Papier mit deren Spitze fest und steckte es in einen Plastikbeutel. Den überreichte er einem Kollegen von der Spurensicherung: »Fingerabdrücke, Schrift, Papier. – Sie wissen schon. Den Bericht möchte ich morgen auf dem Schreibtisch haben.« Dann ordnete er an, dass die Leiche fortgeschafft wird, und entließ seine Mitarbeiter in den wohlverdienten Feierabend.

Ruhe kehrte wieder ein im Gottesgewölbe. Der Inspektor setzte sich auf einen staubigen, von Vogelschiet beschmutzten Mauervorsprung. Er achtete nicht darauf, so sehr war er in seine Gedanken vertieft. Ein merkwürdiger Fall, war seine Meinung. Weder Fisch noch Fleisch. – War es ein Unglück oder war es Mord?

Kroll drehte sich gemächlich eine Zigarette, kramte sein Feuerzeug hervor, von dem er wusste, dass es sowieso nicht funktionierte, und steckte die Zigarette nach mehreren Fehlzündungen einfach kalt in den Mund. Wenigstens spürte er den Tabak auf der Zunge.

Der Kriminalinspektor war in die Jahre gekommen. Das einst rebellische Haupthaar hatte einer Halbglatze weichen müssen. Seine Mitarbeiter hielten sie für sein Erkennungszeichen und nannten ihren Chef hinter vorgehaltener Hand die ›Verbrecherkrolle‹, wobei Krolle ein norddeutscher Ausdruck für Locke ist.

Keine Locke – kein Verbrecher … Sollte das eine fiese Anspielung auf die Tatsache sein, dass es dem Inspektor bisher leider nicht jedes Mal gelungen war, einen Übeltäter zu überführen?

Kroll war im Grunde genommen eher ein Romantiker als ein Mann der Tat. Und so hatten seine hinter buschigen Brauen verdeckten, tief liegenden Augen mehr den weichen Glanz eines Träumers als den harten Strahl eines Superagenten. Er versuchte, das Verbrechen mit dem Herzen, weniger mit dem Hirn aufzuklären. Das machte ihn für Außenstehende sympathisch.

Sein Gesicht sah aus, als sei es zu oft im Schleudergang gewaschen worden. Den Ansatz zum Doppelkinn konnte er auch nicht mehr durch den ungebügelten dunkelblauen Wollschal verdecken. Durch seinen Zweifingerbart erinnerte er entfernt an Charlie Chaplin. Dazu passten allerdings nicht die gut gefütterten Wangen, die, ebenso wie die auffälligen Augensäcke, den Gesetzen der Gravitation folgend nach unten strebten.

Himmelaufwärts führten dagegen die buschigen Augenbrauen, unter denen die kleinen, aber intensiv leuchtenden Augen lagen. Sein Blick war das Jugendlichste an ihm. Wenn er mit jemandem sprach, funkelten die Pupillen, als wäre er ein Maler, der in seinem Modell ein Motiv für ein Meisterwerk suchte. Er neigte dazu, beim Sprechen schnell hintereinander zu blinzeln. Gewöhnlich heftete er seinen Blick so lange auf seinen Gesprächspartner, bis dieser verlegen zur Seite schaute. Manche hatten den Eindruck, der Inspektor könne bis tief in die Seele seines Gegenübers sehen.

Sein Outfit spottete jeder Beschreibung. Der nunmehr auch noch mit Vogelschiet verunstaltete und verknitterte graue Mantel verhüllte sein Standardkostüm. Obwohl er ›in die Jahre gekommen war‹, trug er immer noch die Kleidung seiner Studentenzeit: ein Sweatshirt mit dem Aufdruck ›I have a dream‹, Bluejeans mit abgewetzten Knien und ungeputzte Turnschuhe.

Auch hier schien das Vorbild Columbo durch. Kroll liebte es, von seinen Gegnern unterschätzt zu werden. Das gab ihm die Möglichkeit, im entscheidenden Augenblick um so nachhaltiger aufzutrumpfen.

Kroll genoss seine kalte Zigarette, versuchte, die Atmosphäre des mutmaßlichen Tatortes in sich aufzunehmen und kam zu einem Entschluss.

»Ein Küster müsste doch eigentlich auf diesem gefährlichen Dachboden jeden Schritt kennen. So leicht stürzt man nicht in die Tiefe. – Und allein die Tatsache, dass der Tote einen merkwürdigen Zettel in der Tasche hatte, sollte fürs Erste ausreichen, um den Fall weiter zu verfolgen. – Vorläufige Arbeitshypothese: Mord.«