Paretsky, Sara Schadenersatz

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Übersetzt aus dem Amerikanischen von Uta Münch

 

ISBN 978-3-492-98371-6

© dieser Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2018

© Sara Paretsky 1982

Published by arrangement with Sara and Two C-Dogs Inc.

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Indemnity Only!«, The Dial Press,New York 1982

© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 1986, 1998

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Freedom Master/shutterstock

 

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Sommer

Die Nachtluft war drückend und schwül. Während ich den Michigansee entlang nach Süden fuhr, stieg mir der Geruch verwesender Maifische in die Nase, der wie ein zartes Parfüm in der schweren Luft hing. Hier und da leuchteten in den Parks nächtliche Barbecuefeuer. Auf dem Wasser suchten im Schein grüner und roter Lichterketten die Leute der Schwüle zu entgehen. Am Ufer herrschte lebhafter Verkehr; die Stadt befand sich in rastloser Bewegung – jeder wollte Atem schöpfen. Es war Juli in Chicago.

Ich verließ die Uferstraße in Höhe der Randolph Street und bog unter den Eisenträgern der Hochbahn in die Wabash Avenue ein. In der Monroe Street hielt ich an und stieg aus.

In dieser Entfernung vom See war die Stadt ruhiger. Das South Loop, wo es außer einigen Peep-Shows und dem Stadtgefängnis keine Vergnügungsmöglichkeiten gab, war menschenleer; ein Betrunkener, der auf unsicheren Beinen die Straße hinuntertorkelte, war meine einzige Gesellschaft. Ich überquerte die Wabash Avenue und betrat das Pulteney-Gebäude neben dem Tabakwarenladen in der Monroe Street. Bei Nacht wirkte es für ein Bürogebäude ziemlich scheußlich. Die Mosaikwände in der Eingangshalle waren beschädigt und schmutzig. Ich fragte mich, ob der abgetretene Linoleumfußboden jemals gereinigt wurde. Die Halle mußte auf potentielle Kunden einen äußerst vertrauenswürdigen Eindruck machen.

Ich drückte auf den Knopf für den Aufzug. Ohne Erfolg. Ich versuchte es noch einmal. Wieder umsonst. Dann schob ich die schwere Tür zum Treppenhaus auf und stieg langsam hinauf zum vierten Stock. Es war kühl im Treppenhaus, und ich trödelte einige Minuten, bevor ich den schlecht beleuchteten Gang betrat, der in den östlichen Trakt führte, in dem die Mieten günstiger sind, weil alle Fenster auf die Wabash-Hochbahn hinausgehen. In dem trüben Licht konnte ich das Türschild erkennen: »V. I. Warshawski. Privatdetektiv«.

Ich hatte den telefonischen Auftragsdienst von einer Tankstelle im Norden aus angerufen – eine reine Routineangelegenheit auf dem Weg nach Hause, wo mich eine Dusche, eine Klimaanlage und ein verspätetes Abendessen erwarteten. Ich war überrascht, als man mir sagte, es sei ein Anruf für mich gekommen, und verärgert, als ich hörte, daß der Betroffene seinen Namen nicht hatte nennen wollen. Anonyme Anrufer sind mir ein Greuel. Sie haben gewöhnlich etwas zu verbergen, häufig etwas Kriminelles, und sie hinterlassen keinen Namen, damit man nicht vorzeitig dahinterkommt.

Der Typ wollte um 21 Uhr 15 kommen, so daß mir nicht einmal Zeit blieb zum Essen. Ich hatte einen frustrierenden Nachmittag in der ozonreichen Bruthitze hinter mir, weil ich einen Druckereibesitzer ausfindig machen wollte, der mir fünfzehnhundert Dollar schuldete. Im letzten Frühjahr hatte ich sein Unternehmen davor bewahrt, von einem landesweit operierenden Unternehmensverband geschluckt zu werden, und nun bereute ich, daß ich es getan hatte. Hätte mein Konto nicht einen so verdammt schwindsüchtigen Eindruck gemacht, so hätte ich mich um den Anruf überhaupt nicht gekümmert. Aber wie die Dinge lagen, straffte ich die Schultern und schloß die Tür auf.

Im Lampenlicht sah mein Büro zwar spartanisch aus, aber keineswegs häßlich, was mich ein bißchen aufmunterte. Im Gegensatz zu meiner Wohnung, die sich stets im Zustand leichter Unordnung befindet, ist mein Büro im allgemeinen aufgeräumt. Den wuchtigen Schreibtisch aus Holz hatte ich bei einer Polizeiauktion erstanden. Die kleine Olivetti-Kofferschreibmaschine war Eigentum meiner Mutter gewesen, ebenso der Druck über meinem grünen Aktenschrank, der die Uffizien darstellte. Beides sollte meinen Besuchern den Eindruck vermitteln, daß sie bei mir in erstklassigen Händen waren. Zwei Stühle mit geraden Rückenlehnen für meine Kunden vervollständigten die Ausstattung. Da ich hier nicht sehr viel Zeit verbrachte, brauchte ich keinen weiteren Komfort.

Ich war ein paar Tage lang nicht im Büro gewesen und mußte einen ganzen Stapel Rechnungen und Reklamesendungen durchsehen. Eine Computerfirma wollte mir demonstrieren, welch enorme Hilfe mir ihre Geräte sein konnten. Ich fragte mich, ob mir ein handlicher kleiner Computer auf meinem Schreibtisch wohl lukrative Kunden besorgen würde.

Das Zimmer war stickig. Ich blätterte die Rechnungen durch, um zu sehen, ob etwas Dringendes dabei war. Autoversicherung – die müßte bezahlt werden. Die anderen sortierte ich aus; es handelte sich zumeist um Originalrechnungen, vermischt mit ein paar ersten Mahnungen. Im Regelfall zahle ich erst, wenn eine Rechnung zum drittenmal präsentiert wird. Wenn jemand mein Geld dringend braucht, wird er mich kaum vergessen. Ich stopfte die Beitragsrechnung der Versicherung in meine Umhängetasche und trat dann zum Fenster, um die Klimaanlage auf die höchste Stufe zu stellen. Im Zimmer wurde es dunkel. Durch mein Verschulden war im anfälligen elektrischen Versorgungssystem des Pulteney-Gebäudes eine Sicherung durchgebrannt. Zu dumm! In einer solchen Bruchbude konnte man eben die Klimaanlage nicht plötzlich auf »Maximum« stellen. Ich verwünschte mich und die Hausverwaltung und überlegte, ob der Kellerraum mit den Sicherungskästen wohl nachts zugänglich war. Im Laufe der Jahre hatte ich mir ohnehin angewöhnt, das meiste selbst zu reparieren – auch die regelmäßig einmal im Monat verstopfte Toilette im Bad des siebenten Stocks.

Ich tastete mich durch die Halle und die Treppe hinunter. Eine einzelne nackte Glühbirne erhellte das Untergeschoß. In ihrem Licht sah ich ein Vorhängeschloß an der Tür, hinter der sich die Sicherungskästen befanden. Tom Czarnik, der mürrische Hausmeister, traute niemandem über den Weg. Zwar kann ich Schlösser in der Regel knacken, aber für ein amerikanisches Vorhängeschloß fehlte mir jetzt die Zeit. Vielleicht ein andermal. Ich zählte auf italienisch bis zehn, bevor ich mich wieder auf den Weg nach oben machte; mein Enthusiasmus hatte inzwischen noch weiter abgenommen.

Vor mir hörte ich schwere Tritte – vermutlich mein anonymer Besucher. Als ich oben ankam, öffnete ich leise die Tür zum Treppenhaus und beobachtete ihn in dem schwachen Licht. Er klopfte an meine Bürotür. Ich konnte ihn nicht besonders gut erkennen, doch es schien sich um einen kleinen, untersetzten Mann zu handeln. Er wirkte sehr entschlossen. Als auf sein Klopfen keine Antwort erfolgte, öffnete er ohne Zögern die Tür und ging hinein. Ich ging den Flur entlang und trat nach ihm ein.

Die zwei Meter hohe Leuchtschrift von Arnie's Steak Joynt auf der anderen Straßenseite leuchtete abwechselnd rot und gelb auf und erfüllte mein Büro mit zuckenden Lichtreflexen. Ich sah, wie es meinen Besucher beim Aufgehen der Tür herumriß. »Ich suche V. I. Warshawski«, erklärte er mit heiserer, aber selbstsicherer Stimme – der Stimme eines Mannes, der es gewohnt war, seinen Kopf durchzusetzen.

»Ja«, sagte ich, ging an ihm vorbei und ließ mich hinter meinem Schreibtisch nieder.

»Was – ja?« fragte er.

»Ja, ich bin V. I. Warshawski. Haben Sie bei meinem Auftragsdienst den Termin vereinbart?«

»Stimmt. Ich wußte allerdings nicht, daß ich vier Stockwerke bis zu einem finsteren Büro hochsteigen muß. Warum, zum Teufel, funktioniert der Aufzug nicht?«

»Die Mieter in diesem Haus sind alle sportliche Typen. Wir haben beschlossen, den Aufzug abzuschaffen; Treppensteigen ist eine anerkannte Vorbeugungsmaßnahme gegen Herzinfarkt.«

Im Neonblitz von Arnies Reklame konnte ich sehen, daß er eine ärgerliche Handbewegung machte. »Ich bin nicht hergekommen, um mir Ihre Scherze anzuhören«, sagte er mit gepreßter Stimme. »Wenn ich eine Frage stelle, erwarte ich eine vernünftige Antwort.«

»Dann stellen Sie am besten vernünftige Fragen. Also, möchten Sie mir nun erzählen, weshalb Sie einen Privatdetektiv brauchen?«

»Ich weiß nicht recht. Ich brauche zwar Hilfe, aber diese Bude hier – guter Gott! Warum ist es hier eigentlich so finster?«

»Das Licht brennt nicht«, sagte ich ärgerlich. »Wenn Ihnen meine Nase nicht gefällt, können Sie ja gehen. Im übrigen kann ich anonyme Anrufer nicht ausstehen.«

»Schon gut, schon gut«, sagte er besänftigend. »Sie brauchen nicht gleich so wütend zu werden. Aber müssen wir unbedingt im Dunkeln sitzen?«

Ich mußte lachen. »Ein paar Minuten vor Ihrem Eintreffen ist eine Sicherung durchgebrannt. Wir können ja rübergehen in Arnie's Steak Joynt, wenn Sie's hell haben wollen.« Ich hätte ihn mir auch ganz gern mal näher angesehen.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, bleiben wir hier.« Er machte noch ein paar fahrige Bewegungen, bevor er sich auf einem der Besucherstühle niederließ.

»Haben Sie auch einen Namen?« fragte ich, um die Pause zu überbrücken, bis er zur Sache kam.

»O natürlich, Verzeihung.« Er fummelte in seiner Brieftasche herum, zog eine Karte hervor und schob sie über den Schreibtisch. Ich hielt sie hoch, um sie im Lichtschein von Arnie's Steak Joynt zu entziffern. »John L. Thayer. Stellvertretender Generaldirektor, Ft. Dearborn Bank and Trust, Treuhandgesellschaft«. Ich spitzte die Lippen. Es geschieht nicht oft, daß ich in die Gegend von La Salle Street komme, doch John Thayer war unbestreitbar ein sehr einflußreicher Mann in Chicagos größter Bank. Heiliges Kanonenrohr, dachte ich. Laß diesen Fisch bloß nicht durch die Maschen schlüpfen, Vic. Hier kamen die Kohlen!

Ich steckte die Karte in die Tasche meiner Jeans. »Ja, Mr. Thayer. Wo liegt nun das Problem?«

»Es handelt sich um meinen Sohn. Das heißt, um seine Freundin. Jedenfalls ist sie diejenige, die –« Er hielt inne. Eine Menge Leute, insbesondere Männer, haben Schwierigkeiten, über ihre Probleme zu sprechen, und sie brauchen ein Weilchen, bis sie in Schwung kommen. »Hören Sie, ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es Ihnen wirklich erzählen soll. Es sei denn, Sie hätten einen Partner oder dergleichen.«

Ich schwieg.

»Haben Sie nun einen Partner?« Er war hartnäckig.

»Nein, Mr. Thayer«, sagte ich gelassen. »Ich habe keinen Partner.«

»Also, das ist bestimmt nicht der richtige Job für ein Mädchen.«

An meiner rechten Schläfe begann eine Ader zu pochen. »Nach einem langen Arbeitstag bei dieser Hitze habe ich mein Abendessen ausfallen lassen, nur um mich hier mit Ihnen zu treffen.« Meine Stimme war ganz rauh vor Wut. Ich räusperte mich und versuchte, mein inneres Gleichgewicht wiederzuerlangen. »Sie wollten mir nicht einmal sagen, wer Sie sind, bevor ich Sie dazu drängte. Mein Büro paßt Ihnen nicht, ich passe Ihnen nicht, aber Sie sind nicht einmal in der Lage, eine offene Frage zu stellen. Was wollen Sie eigentlich herausbekommen? Ob ich ehrlich bin oder reich oder hart im Nehmen oder was sonst? Wenn Sie Referenzen brauchen, dann sagen Sie es. Aber verschwenden Sie nicht auf diese Art meine Zeit. Ich habe es nicht nötig, Ihnen meine Dienste aufzudrängen – schließlich waren Sie es, der auf einem Termin mitten in der Nacht bestanden hat.«

»Ich zweifle nicht an Ihren Fähigkeiten«, entgegnete er rasch. »Glauben Sie mir, ich will Sie wirklich nicht auf die Palme bringen. Aber Sie sind nun mal ein Mädchen, und es könnte eine harte Sache werden.«

»Ich bin eine Frau, Mr. Thayer, und ich kann gut auf mich aufpassen. Könnte ich das nicht, so würde ich nicht in dieser Branche arbeiten. Wenn es Schwierigkeiten gibt, finde ich schon einen Weg, um damit fertig zu werden – oder ich versuche es zumindest. Aber das ist mein Problem, nicht Ihres. Wollen Sie mir jetzt also von Ihrem Sohn erzählen, oder kann ich nach Hause gehen und meine Klimaanlage einschalten?«

Er dachte nach, während ich einige Male tief Atem holte, um mich zu entspannen und die Beklemmung in meiner Kehle loszuwerden.

»Ich bin mir nicht sicher«, meinte er schließlich. »Es ist mir zwar äußerst zuwider, aber ich muß zugeben, daß mir keine andere Wahl bleibt.« Er blickte auf, doch ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. »Alles, was Sie von mir hören, muß streng vertraulich behandelt werden.«

»Gebongt, Mr. Thayer«, sagte ich müde. »Es bleibt alles unter uns und Arnie's Steak Joynt.«

Er holte tief Luft, entsann sich aber, daß er die versöhnliche Tour draufhatte. »Eigentlich handelt es sich um Anita, die Freundin meines Sohnes. Was nicht heißen soll, daß mit meinem Sohn Pete alles in bester Ordnung ist.«

Drogen, dachte ich verdrossen. Diese Typen vom Nordufer haben doch nichts anderes im Sinn. Ginge es um eine Schwangerschaft, so würden sie einfach die Abtreibung finanzieren und fertig. Nun, ich durfte nicht wählerisch sein. Also produzierte ich ein aufmunterndes Geräusch.

»Ja, diese Anita ist keine besonders angenehme Type, und seitdem sich Pete mit ihr abgibt, hat er ganz absonderliche Ideen im Kopf.« Seine Ausdrucks weise hörte sich merkwürdig umständlich an.

»Ich fürchte, ich kann nur Tatbestände aufdecken, Mr. Thayer. Bezüglich der Einstellung Ihres Jungen kann ich nicht viel machen.«

»Nein, nein, das weiß ich. Es ist nur – habe ich Ihnen schon gesagt, daß sie beide an der Universität von Chicago studieren? Sie leben dort in irgend so einer abscheulichen Kommune zusammen. Na ja, jedenfalls spricht Pete in letzter Zeit häufig davon, Gewerkschaftsfunktionär zu werden, statt Betriebswirtschaft zu studieren, und ich bin deshalb hingefahren, um mit dem Mädchen zu sprechen.«

»Wie heißt sie mit Familiennamen, Mr. Thayer?«

»Hill. Anita Hill. Also, wie schon erwähnt, ich fuhr hin, um einiges klarzustellen. Und unmittelbar danach ist sie verschwunden.«

»Das klingt ganz so, als habe sich Ihr Problem von selbst gelöst.«

»Das würde ich mir sehr wünschen. Aber jetzt kommt Pete und sagt, ich hätte sie mir gekauft, hätte ihr Geld gegeben, damit sie verschwindet. Er droht sogar damit, einen anderen Namen anzunehmen und unterzutauchen, bis sie wieder auf der Bildfläche erscheint.«

Mir schien, ich wüßte nun alles, was ich wissen mußte. Ich wurde bezahlt, um ein Mädchen aufzuspüren, damit dessen Freund sich bereit finden würde, Betriebswirtschaft zu studieren.

»Und sind Sie an ihrem Verschwinden schuld, Mr. Thayer?«

»Ich? Wenn das der Fall wäre, könnte ich sie ja zurückholen!«

»Nicht unbedingt. Sie hätte die Möglichkeit gehabt, Sie um fünfzig Tausender zu erleichtern und sich dann mit dem Geld aus dem Staub zu machen. Oder Sie könnten zur Bedingung gemacht haben, daß sie sich nie wieder blicken läßt. Oder Sie könnten sie umgebracht haben beziehungsweise jemand zu diesem Zwecke angeheuert haben, und nun brauchen Sie einen Sündenbock. Ein Typ wie Sie hat da eine Menge Möglichkeiten.«

Er schien darüber leicht belustigt zu sein. »Hm, ja. Vermutlich könnte das alles zutreffen. Auf jeden Fall möchte ich, daß Sie sie aufspüren – daß Sie Anita finden.«

»Mr. Thayer, ich lehne ungern einen Auftrag ab – aber warum gehen Sie nicht zur Polizei? Die sind dort auf solche Fälle viel besser eingerichtet als ich.«

»Ich und die Polizei –«, fing er an und stockte. »Ich habe keine Lust, meine familiären Probleme bei der Polizei an die große Glocke zu hängen«, erklärte er dann entschieden.

Das klang zwar ganz plausibel – aber was hatte er ursprünglich sagen wollen? »Und weshalb hatten Sie solche Bedenken, daß die Sache heikel werden könnte?« überlegte ich laut.

Er rutschte ein bißchen auf seinem Stuhl herum. »Nun, diese Studenten heutzutage können ja ziemlich ausflippen«, brummte er. Ich hob skeptisch die Augenbrauen, was er allerdings in der Dunkelheit nicht bemerkte.

»Wie sind Sie an meinen Namen geraten?« fragte ich. Wie in einer Werbeumfrage: Haben Sie von uns durch Rolling Stone erfahren oder durch Freunde?

»Ich fand Sie in den Gelben Seiten. Außerdem brauchte ich jemanden im Geschäftsviertel und jemanden, der meine – Geschäftspartner nicht kennt.«

»Mr. Thayer, ich verlange hundertfünfundzwanzig Dollar pro Tag zuzüglich Spesen, Anzahlung fünfhundert Dollar. Sie erhalten von mir Zwischenberichte, aber meine Klienten machen mir keine Vorschriften, wie ich die Ermittlungen zu führen habe – genausowenig wie Ihre Witwen und Waisen sich in die Abwicklung Ihrer Treuhandgeschäfte einmischen würden.«

»Dann nehmen Sie also den Auftrag an?« fragte er.

»Ja«, erwiderte ich knapp. Wenn das Mädchen nicht tot war, dürfte es keine großen Schwierigkeiten machen, es aufzuspüren. »Ich brauche noch die Adresse Ihres Sohnes an der Universität«, fügte ich hinzu. »Und ein Foto des Mädchens, sollten Sie eins besitzen.«

Er zögerte kurz und schien etwas sagen zu wollen, gab mir aber dann die Adresse: 5462 South Harper Street. Ich hoffte, daß sie stimmte. Er zog auch ein Bild von Anita Hill hervor, doch konnte ich es in dem unregelmäßig aufflackernden Licht nicht richtig erkennen; anscheinend handelte es sich um einen Schnappschuß aus dem Jahrbuch der Uni. Mein Klient bat mich, ihn wegen der Zwischenberichte lieber zu Hause anzurufen statt im Büro. Ich kritzelte seine Privatnummer auf die Visitenkarte und schob sie wieder in meine Tasche.

»Wann rechnen Sie damit, daß Sie etwas herausbekommen haben?« wollte er wissen.

»Das kann ich Ihnen erst sagen, wenn ich mich mit der Sache befaßt habe, Mr. Thayer. Aber ich werde das morgen früh gleich als erstes tun.«

»Weshalb fahren Sie nicht noch heute abend rüber?« bohrte er weiter.

»Weil ich noch etwas anderes zu erledigen habe«, entgegnete ich kurz und bündig. Zu Abend essen und etwas trinken zum Beispiel.

Eine Zeitlang versuchte er noch, mich zu überreden, allerdings nicht unbedingt deshalb, weil er glaubte, ich würde meinen Sinn ändern, sondern eher, weil er gewohnt war, daß alles nach seinem Kopf ging. Schließlich gab er auf und überreichte mir fünf Hundert-Dollar-Scheine.

Im Licht von Arnies Reklame warf ich einen schrägen Blick darauf. »Ich nehme auch Schecks, Mr. Thayer.«

»Mein Besuch bei Ihnen soll im Büro nicht publik werden. Meine Sekretärin heftet die Kontoauszüge ab.«

Ich war befremdet, jedoch nicht überrascht. Eine erstaunliche Anzahl von Männern in leitender Position überließ diese Angelegenheit ihren Sekretärinnen. Ich dagegen vertrat die Ansicht, daß außer Gott, dem Finanzamt und meiner Bank niemand Einblick in meine finanziellen Transaktionen haben sollte.

Er stand auf, und ich geleitete ihn hinaus. Bis ich die Tür abgeschlossen hatte, war er bereits im Treppenhaus. Weil ich ihn mir etwas genauer ansehen wollte, lief ich schnell hinterher. Ich war nicht scharf darauf, jeden Mann in Chicago unter flackerndem Neonlicht betrachten zu müssen, nur um meinen Klienten wiederzuerkennen. Die Treppenhausbeleuchtung war nicht besonders gut; in diesem Licht erschien mir sein Kopf jedoch hart und kantig – irisch, hätte ich getippt, und keineswegs so, wie ich mir einen Vize bei der Fort Dearborn vorgestellt hätte. Sein Anzug war zwar teuer und gut geschnitten, doch er machte mehr den Eindruck, als sei er direkt von der Leinwand eines Edward-Robinson-Films herabgestiegen und nicht aus den oberen Etagen der achtgrößten Bank des ganzen Landes. Andererseits sah man mir die Detektivin auch nicht gerade an. Eigentlich versuchen die Leute selten, vom Aussehen einer Frau auf ihren Beruf zu schließen; trotzdem sind sie meist perplex, wenn sie erfahren, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene.

Mein Mandant wandte sich nach Osten, Richtung Michigan Avenue. Mit einem Achselzucken ging ich hinüber zu Arnie's Joynt. Der Besitzer servierte mir einen doppelten Johnnie Walker Black und ein Lendensteak aus seiner privaten Schatzkammer.

Universitätsabschluß

Ich erwachte sehr zeitig am nächsten Morgen. Der Tag schien wieder genauso schwül und heiß wie der Vortag werden zu wollen. Viermal in der Woche zwinge ich mich zu irgendeiner Form von Fitneßtraining. In der Hoffnung auf ein Ende der Hitzewelle hatte ich an den beiden vergangenen Tagen pausiert, aber heute mußte ich mich wohl oder übel aufraffen. Ist der dreißigste Geburtstag nur noch eine zärtliche Erinnerung, dann muß man für jeden Tag ohne Training büßen, sobald man wieder damit beginnt. Im übrigen fällt mir körperliches Training leichter als Diät, und das Laufen hilft mir, mein Gewicht in Grenzen zu halten. Was nicht heißen soll, daß ich mich darum reiße, noch dazu an einem Morgen wie diesem.

Die fünfhundert Dollar, die mir John Thayer am Abend vorher gegeben hatte, hoben meine Stimmung beträchtlich, und ich fühlte mich sehr wohl, als ich Shorts und ein T-Shirt anzog. Das Geld lenkte mich auch von der drückenden Luft draußen ab. Ich schaffte lockere acht Kilometer – hinüber zum See, einmal rund um den Belmont-Hafen und wieder zurück zu meiner geräumigen, billigen Wohnung in der Halsted Street. Es war erst halb neun, aber das Laufen in der Hitze hatte mich bereits stark ins Schwitzen gebracht. Ich trank ein großes Glas Orangensaft und machte Kaffee, bevor ich unter die Dusche ging. Meine Joggingsachen ließ ich auf dem Stuhl liegen; auch um das Bett kümmerte ich mich nicht. Schließlich steckte ich ja mitten in der Arbeit und hatte keine Zeit, und außerdem würde es keiner sehen.

Bei Kaffee und Räucherfisch versuchte ich mir klarzuwerden, auf welche Weise ich bei Peter Thayer das Thema seiner verschwundenen Freundin anschneiden könnte. Da sie von seiner Familie abgelehnt wurde, verübelte er es seinem Vater wahrscheinlich, daß er einen Privatdetektiv beauftragt hatte, um die Hintergründe ihres Verschwindens aufzuklären. Ich würde mich also als jemand ausgeben müssen, der mit der Universität in Zusammenhang stand – vielleicht als eine ihrer Kommilitoninnen, die sich ein paar Notizen borgen wollte? Für eine Studentin sah ich allerdings reichlich alt aus. Und was dann, wenn sie sich im Sommersemester überhaupt nicht eingeschrieben hatte? Vielleicht war es besser, ich tat so, als hätte ich etwas mit einer alternativen Zeitschrift zu tun, für die sie einen Artikel schreiben sollte. Etwas über Gewerkschaften; Thayer hatte ja erwähnt, daß sie daran interessiert war, Peter zu einem Gewerkschaftler zu machen.

Ich stapelte mein Geschirr neben dem Ausguß auf und betrachtete die Ansammlung gedankenverloren. Ein Tag noch, dann war der Abwasch fällig. Den Müll brachte ich aber hinunter – ich bin zwar unordentlich, aber noch lange kein Ferkel. Es hatten sich auch ganze Stöße von Zeitungen angesammelt, und ich nahm mir einige Minuten Zeit, um sie draußen neben den Mülltonnen aufzuschichten. Der Sohn des Hausmeisters verdiente sich ein paar Pfennige mit dem Altpapier.

Ich zog Jeans und ein gelbes Baumwolltop an und besah mich mit kritischem Wohlwollen im Spiegel. Im Sommer sehe ich am besten aus. Von meiner italienischen Mutter habe ich den olivenfarbenen Teint geerbt, der so wundervoll bräunt. Ich grinste mir zu. Ich konnte sie förmlich hören: »Ja, Vic, du bist hübsch – doch hübsch ist nicht genug. Hübsch sein kann jede. Aber wenn du im Leben zurechtkommen willst, brauchst du Grips. Du brauchst eine Beschäftigung, einen Beruf. Du mußt arbeiten.« Sie hatte gehofft, ich würde Sängerin werden, und mit mir in nimmermüdem Eifer geübt; als Detektivin hätte ich ihr bestimmt nicht gefallen. Das galt auch für meinen Vater. Er war selbst Polizist gewesen, ein Pole mitten unter Iren. Weiter als zum Sergeant hatte er es nie gebracht, was teils seinem Mangel an Ehrgeiz zuzuschreiben war, teils aber auch – dessen war ich mir sicher – seiner Herkunft. Von mir hatte er allerdings große Dinge erwartet … Mein Lächeln im Spiegel wurde ein wenig schief, und ich wandte mich ruckartig ab.

Bevor ich mich in Richtung Süden auf den Weg machte, marschierte ich zu meiner Bank und zahlte die fünf Hunderter ein. Alles hübsch der Reihe nach. Der Kassierer nahm sie entgegen, ohne mit der Wimper zu zucken; schließlich konnte ich nicht erwarten, daß jeder davon so beeindruckt war wie ich.

Um halb elf bog ich mit meinem Chevy Monza in Höhe der Belmont Avenue in den Lake Shore Drive ein. Der Himmel war bereits weiß vor Hitze, und die Wellen glänzten kupfern. Zu dieser Tageszeit waren nur Hausfrauen, Kinder und Detektive unterwegs; ich spurtete in dreiundzwanzig Minuten nach Hyde Park und hielt auf der mittleren Zufahrt.

Seit zehn Jahren hatte ich das Universitätsgelände nicht mehr betreten, doch es hatte sich kaum verändert, weniger jedenfalls als ich. Irgendwo hatte ich gelesen, daß das schmuddelige, ärmliche Erscheinungsbild des Studenten im Wandel begriffen war und allmählich von der klaren Frische der fünfziger Jahre verdrängt wurde. Dieser Wandel war ganz eindeutig an Chicago vorübergegangen. Junge Leute undefinierbaren Geschlechts schlenderten händchenhaltend oder in Gruppen vorbei, mit Punkfrisuren, ausgefransten Shorts und löcherigen Arbeitshemden – höchstwahrscheinlich der einzigen Verbindung zur Arbeitswelt, die sie samt und sonders vorzuweisen hatten. Annähernd ein Fünftel der Studentenschaft stammte aus Familien mit einem Jahreseinkommen von fünfzigtausend Dollar oder darüber, aber ich würde mich nicht darum reißen, dieses Fünftel nur nach der äußeren Erscheinung bestimmen zu müssen.

Aus der flimmernden Hitze trat ich in die kühlen Hallen aus Stein. Von einer Telefonzelle aus rief ich die Universitätsverwaltung an. »Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich eine Ihrer Studentinnen, eine gewisse Miss Anita Hill, finden kann?« Vom anderen Ende kam – von einer alten und brüchigen Stimme – die Aufforderung zu warten. Papiergeraschel im Hintergrund. »Könnten Sie den Namen buchstabieren?« Natürlich. Erneutes Geraschel. Die brüchige Stimme verkündete, daß es keine Studentin dieses Namens gebe. Hieß das, daß sie für das Sommersemester nicht eingeschrieben war? Es hieß, daß es keine Studentin dieses Namens gab. Ich fragte nach Peter Thayer und war etwas überrascht, als sie die Harper-Adresse vorlas. Wenn Anita nicht existierte, wieso dann der junge Mann?

»Tut mir leid, daß ich Ihnen so viel Mühe mache, aber ich bin seine Tante. Könnten Sie mir sagen, in welchen Vorlesungen er heute stecken mag? Er ist nicht zu Hause, und ich bin nur heute in dieser Gegend.« Es mußte sich sehr liebevoll angehört haben, denn Miss Brüchig ließ sich dazu herbei, mich davon in Kenntnis zu setzen, daß Peter im laufenden Semester nicht eingeschrieben war, daß mir jedoch die Fachabteilung Politische Wissenschaften unter Umständen weiterhelfen könne. Ich dankte ihr verbindlich und empfahl mich.

Stirnrunzelnd betrachtete ich das Telefon und überlegte den nächsten Schritt. Wenn es keine Anita Hill gab, wie sollte ich sie dann finden? Und wenn es keine Anita Hill gab, weshalb erteilte mir jemand den Auftrag, sie zu finden? Und weshalb hatte mir dieser Jemand erklärt, beide wären Studenten dieser Universität, wenn in der Verwaltung keinerlei Unterlagen über das Mädchen vorhanden waren? Möglicherweise täuschte er sich auch; sie besuchte vielleicht nicht die Universität von Chicago, sondern die Roosevelt-Universität, und lebte nur in Hyde Park. Ich beschloß, zu dem Apartment zu gehen und nachzusehen, ob jemand zu Hause war.

Also kehrte ich zurück zu meinem Wagen. Im Innern war es erstickend heiß, und ich verbrannte mir die Finger am Lenkrad. Zwischen dem Papierkram auf dem Rücksitz lag noch ein Handtuch, das ich vor einigen Wochen mit an den Strand genommen hatte. Ich zog es hervor und legte es über das Lenkrad. Da ich lange nicht in dieser Gegend gewesen war, hatte ich gewisse Schwierigkeiten mit den Einbahnstraßen, doch schließlich und endlich fand ich die Harper Street. Nummer 5462 war ein einstmals gelbes dreistöckiges Ziegelgebäude. In der Eingangspassage roch es wie in einem Bahnhof der Hochbahn – stickig und ein bißchen nach Urin. Eine Tüte mit der Aufschrift »Harolds Hühnerstall« lag zerknittert in einer Ecke, daneben ein paar abgenagte Knochen. Die innere Tür hing lose in den Angeln. Das Schloß fehlte anscheinend schon seit geraumer Zeit. Die vormals braune Farbe war überall abgesplittert. Ich rümpfte die Nase. Den Thayers war sicherlich nicht zu verübeln, daß sie an der Unterkunft ihres Sohnes keinen allzu großen Geschmack fanden.

Es gab kein Klingelschild. Die Namen waren in Blockschrift auf Karteikarten geschrieben und mit Klebestreifen an der Wand befestigt. Thayer, Berne, Steiner, McGraw und Harata bewohnten ein Apartment im dritten Stock. Das mußte wohl die abscheuliche Kommune sein, über die sich mein Mandant so aufgeregt hatte. Von Hill keine Spur. Ich fragte mich, ob er Anitas Familiennamen verwechselt hatte oder ob sie unter falschem Namen lebte. Ich drückte auf die Klingel und wartete. Keine Reaktion. Ich klingelte erneut. Wieder nichts.

Inzwischen war es Mittag geworden, und ich entschloß mich, eine Pause zu machen. Wimpy's Snack Bar im nahegelegenen Einkaufszentrum, an die ich mich erinnerte, hatte einem hübschen, klimatisierten Restaurant im griechischen Stil Platz gemacht. Ich aß dort einen hervorragenden Krabbensalat, trank dazu ein Glas Chablis und kehrte danach wieder zur Wohnung zurück. Vermutlich hatten die jungen Leute Ferienjobs und würden nicht vor fünf Uhr eintreffen, doch ich hatte am Nachmittag nichts weiter vor, als diesen Gauner von Druckereibesitzer aufzuspüren.

Es meldete sich immer noch niemand, aber während ich läutete, trat ein zerknautscht aussehender junger Mann aus der Tür. »Wissen Sie, ob in der Wohnung von Thayer-Berne jemand zu Hause ist?« erkundigte ich mich. Er sah mich mit leicht glasigen Augen an und murmelte, er habe schon tagelang keinen von ihnen zu Gesicht bekommen. Ich zog Anitas Bild aus der Tasche und erklärte ihm, daß ich bemüht war, meine Nichte zu erreichen. »Sie müßte jetzt eigentlich zu Hause sein, aber mir kommen langsam Zweifel, ob ich die richtige Adresse habe«, fügte ich noch hinzu.

Er bedachte mich mit einem gelangweilten Blick. »Ja, ich glaube, sie wohnt hier. Ich weiß nicht, wie sie heißt.«

»Anita«, sagte ich, aber er war bereits nach draußen geschlurft. Ich lehnte mich gegen die Wand und dachte ein paar Minuten nach. Natürlich konnte ich bis heute abend warten, um zu sehen, wer auftauchen würde. Ging ich allerdings gleich hinein, so hatte ich die Chance, eventuell mehr herauszufinden als durch Herumfragen.

Ich öffnete die innere Tür, bei der das Schloß fehlte, wie ich schon morgens festgestellt hatte, und stieg rasch hinauf in den dritten Stock. Ich hämmerte gegen die Tür des Thayer-Berne-Apartments. Keine Antwort. Ich preßte mein Ohr dagegen und vernahm das leise Summen einer Klimaanlage. Daraufhin zog ich einen Schlüsselbund aus der Tasche, und nach einigen vergeblichen Versuchen hatte ich Erfolg.

Ich trat ein und schloß die Tür sacht hinter mir. Ein enger Korridor führte direkt ins Wohnzimmer, das äußerst dürftig mit ein paar Baumwollkissen auf dem blanken Fußboden sowie einer Stereoanlage möbliert war. Die sah ich mir genauer an: ein Kenwood-Plattenspieler mit JBL-Lautsprecher. Hier hatte jemand Geld. Zweifellos der Sohn meines Mandanten.

Aus dem Wohnzimmer gelangte man in einen Gang mit Zimmern zu beiden Seiten; man kam sich vor wie in einem Güterwagen. Als ich den Flur entlangging, stieg mir ein widerwärtiger Geruch in die Nase, der an fauligen Abfall oder eine tote Maus denken ließ. Ich steckte meinen Kopf in jedes Zimmer, konnte aber nichts entdecken. Der Gang mündete in eine Küche. Hier war der Gestank am intensivsten, aber ich brauchte eine volle Minute, um seine Ursache festzustellen: Ein junger Mann lag zusammengesunken über dem Tisch. Ich ging zu ihm hinüber. Trotz der Klimaanlage im Fenster befand sich der Körper bereits im ersten Stadium der Auflösung.

Der Geruch war scharf, süßlich und ekelerregend. Der Krabbensalat und der Chablis veranstalteten einen Protestmarsch in meinem Magen, doch ich überwand meine Übelkeit und hob den Jungen vorsichtig an den Schultern hoch. Mitten in seiner Stirn befand sich ein kleines Loch. Ein dünnes Rinnsal von Blut war daraus hervorgesickert und auf seinem Gesicht getrocknet, das Gesicht selbst jedoch war unverletzt. Der Hinterkopf dagegen bot einen gräßlichen Anblick.

Ganz behutsam ließ ich ihn wieder auf den Tisch zurückgleiten. Irgend etwas – nennen wir es getrost weibliche Intuition – sagte mir, daß ich es hier mit den sterblichen Überresten von Peter Thayer zu tun hatte. Mir war klar, daß ich die Wohnung schleunigst verlassen und die Polizei rufen mußte, aber andererseits bekam ich vielleicht nie mehr die Möglichkeit, mich hier umzusehen. Der junge Mann war unzweifelhaft schon eine ganze Weile tot, so daß die Polizei ruhig noch ein paar Minuten warten konnte.

Ich wusch mir über dem Ausguß die Hände und begab mich wieder in den Gang, um von dort aus die einzelnen Zimmer zu inspizieren. In Gedanken beschäftigte mich die Frage, wie lange die Leiche wohl schon so gelegen haben mochte und weshalb keiner der Mitbewohner die Polizei gerufen hatte. Die zweite Frage beantwortete sich teilweise von selbst durch eine neben das Telefon geklebte Liste, auf der Bernes, Steiners und Haratas Ferienanschriften verzeichnet waren. Zwei der Räume, in denen sich Bücher und Papierkram befanden, jedoch keine Kleidung, wurden offenbar von irgendeiner Kombination dieser drei bewohnt.

Das dritte Zimmer hatte dem Toten und einem Mädchen namens Anita McGraw gehört. Ihr Name zierte in großzügigen, schwungvollen Lettern die Vorsatzblätter zahlreicher Bücher. Auf dem schäbigen Holzschreibtisch lag ein ungerahmtes Foto, das den toten Jungen und ein Mädchen draußen am Strand zeigte. Das Mädchen hatte leicht gelocktes kastanienbraunes Haar und strahlte so viel Vitalität und Gefühlsüberschwang aus, daß das Bild fast zu leben schien. Es war eine weit bessere Aufnahme als der Schnappschuß aus dem Uni-Jahrbuch, den mir mein Mandant am Vorabend überlassen hatte. Ein junger Mann war sicher bereit, für ein Mädchen wie dieses noch mehr aufzugeben als ein betriebswirtschaftliches Studium. Ich mußte Anita McGraw unbedingt kennenlernen.

Ich blätterte die Papiere durch, fand aber nichts Persönliches darunter – nur Handzettel mit der Aufforderung zum Boykott aller Druckschriften, die nicht von der Gewerkschaft herausgegeben wurden, ein wenig marxistische Literatur sowie die in einer Studentenbehausung zu erwartende Masse von Notizbüchern und Kollegheften. In einer Schublade entdeckte ich einige Zahlungsanweisungen neueren Datums, ausgestellt von der Ajax-Versicherungsgesellschaft auf den Namen Peter Thayer. Ganz offensichtlich hatte der junge Mann einen Ferienjob gehabt. Ich hielt die Abschnitte ein Weilchen unschlüssig in der Hand, dann schob ich sie in die Gesäßtasche meiner Jeans. Hinter den Abschnitten waren noch ein paar andere Papiere hervorgequollen, darunter ein Wahlschein, versehen mit einer Anschrift in Winnetka. Den nahm ich ebenfalls an mich. Man weiß nie, wozu etwas noch nütze sein kann. Ich steckte die Fotografie ein und verließ das Apartment.

Im Freien atmete ich in tiefen Zügen die benzingeschwängerte Luft ein. Ich hätte nie gedacht, daß ich ihren Geruch einmal so schätzen würde. Ich lief zurück zum Einkaufszentrum und rief das einundzwanzigste Polizeirevier an. Mein Vater war zwar schon seit zehn Jahren tot, doch ich kannte die Nummer immer noch auswendig.

»Drucker, Morddezernat«, knurrte eine Stimme.

»In der South Harper Street Nummer fünf-vier-sechs-zwei, Apartment drei, liegt ein Toter«, erklärte ich.

»Wer sind Sie überhaupt?« raunzte er mich an.

»South Harper Nummer fünf-vier-sechs-zwei, Apartment drei«, wiederholte ich. »Haben Sie das notiert?« Ich legte auf.

Daraufhin ging ich zurück zu meinem Wagen und verließ die Szene. Die Polypen würden mir vielleicht später die Hölle heiß machen, weil ich nicht gewartet hatte, aber im Augenblick hatte ich ausschließlich das dringende Bedürfnis, meine Gedanken zu ordnen. In einundzwanzig Minuten schaffte ich es bis zu meiner Haustür. Als erstes duschte ich ausgiebig, um den Anblick von Peter Thayers Hinterkopf aus meinem Gedächtnis zu waschen. Dann schlüpfte ich in weiße Leinenhosen und eine schwarze Seidenbluse – saubere, elegante Kleidung, die mir das Gefühl gab, fest in der Welt der Lebenden verankert zu sein. Ich angelte das Sortiment gestohlener Unterlagen aus der hinteren Tasche meiner Jeans und stopfte sie zusammen mit der Fotografie in eine große Umhängetasche. Sodann machte ich mich auf in mein Büro, verschloß die Beweisstücke in meinem Wandsafe und meldete mich anschließend beim telefonischen Auftragsdienst. Niemand hatte für mich angerufen; ich versuchte es also unter der Nummer, die mir Thayer gegeben hatte. Nach dem dritten Läuten verkündete eine Frauenstimme: »Kein Anschluß unter dieser Nummer. Bitte rufen Sie die Auskunft an und wählen Sie neu.« Die monotone Stimme zerstörte den letzten Rest von Vertrauen in die Identität meines nächtlichen Besuchers, der mir noch verblieben war. Ich kam zu der Überzeugung, daß er jedenfalls nicht John Thayer hieß. Aber wer war er dann, und weshalb hatte er mich dazu ausersehen, die Leiche zu finden? Weshalb hatte er das Mädchen mit hineingezogen, noch dazu unter falschem Namen?

Ein nicht identifizierter Klient und eine identifizierte Leiche stellten mich vor das Rätsel, worin wohl meine Aufgabe bestehen sollte; zweifellos hatte man einen Dummen gebraucht, der den Toten entdeckte. Aber trotz allem … Miss McGraw war tagelang nicht gesehen worden. Mein Mandant mochte zwar nur daran interessiert sein, daß ich die Leiche fand, mich aber interessierte vor allem das Mädchen.

Es gehörte wohl kaum zu meinen Aufgaben, Peters Vater von seinem Tod zu unterrichten – falls er nicht bereits Bescheid wußte. Bevor ich jedoch meinen Besucher vom Vorabend endgültig als John Thayer abschrieb, mußte ich ein Bild von ihm haben. »Schaffe stets klare Verhältnisse« – das war schon von jeher mein Motto. Ich zupfte ein Weilchen an meiner Unterlippe und zermarterte mir dabei das Gehirn, bis mir schließlich einfiel, wo ich ein Bild des Mannes bekommen konnte, ohne daß es jemand erfuhr – und zudem mit einem Minimum an Aufwand und Aufsehen.

Nachdem ich mein Büro abgeschlossen hatte, begab ich mich durch das Geschäftsviertel hinüber zur Monroe und zur La Salle Street. Die Fort Dearborn Trust war auf vier mächtige Gebäude verteilt, an jeder Ecke der Kreuzung eines. Ich suchte mir das mit dem goldenen Schriftzug über dem Portal aus und erkundigte mich beim Portier nach der PR-Abteilung.

»Zweiunddreißigster Stock«, nuschelte er. »Haben Sie einen Termin?« Ich gönnte ihm ein engelhaftes Lächeln, sagte »ja« und schwebte zweiunddreißig Stockwerke hinauf, während er an seinem Zigarrenstummel weiterkaute.

PR-Empfangsdamen sind stets wohlproportioniert, gut gelackt und überaus modisch gekleidet. Der enganliegende lavendelfarbene Overall dieser Dame stellte vermutlich das ausgefallenste Kleidungsstück in der gesamten Bank dar. Sie bedachte mich mit einem Plastiklächeln und überreichte mir huldvoll ein Exemplar des neuesten Geschäftsberichts. Ich setzte mein eigenes Plastiklächeln auf und ging zum Aufzug zurück, nickte dem Portier unten wohlwollend zu und schlenderte davon.

Mein Magen war noch etwas instabil; ich begab mich also mitsamt meinem Bericht zu Rosie's Deli, um ihn bei Kaffee und Eisbecher zu lesen. John L. Thayer, Stellvertretender Generaldirektor der Treuhandgesellschaft, war an einer auffälligen Stelle zusammen mit ein paar anderen hohen Tieren innen auf der Umschlagseite abgebildet. Er war schlank, sonnengebräunt und in grauen Flanell gekleidet, und ich brauchte ihn nicht unters Neonlicht zu halten, um zu erkennen, daß er keinerlei Ähnlichkeit mit meinem Besucher vom Vorabend aufwies.

Wieder zupfte ich an meiner Lippe. Die Polizei würde sicher sämtliche Nachbarn befragen. Einen Anhaltspunkt hatte ich ihr voraus, weil ich ihn mitgenommen hatte: die Zahlungsanweisungen für den jungen Mann. Die Zentrale der Ajax-Versicherungsgesellschaft befand sich im Geschäftsviertel, nicht weit von meinem gegenwärtigen Standort entfernt. Es war drei Uhr nachmittags, noch nicht zu spät für Geschäftsbesprechungen.

Die Ajax hatte ihre Zelte in einem modernen sechzigstöckigen Wolkenkratzer aus Glas und Stahl aufgeschlagen, den sie ganz für sich beanspruchte. Von jeher galt er für mich als das häßlichste Bauwerk in der ganzen Innenstadt, obwohl ich ihn nur von außen kannte. Die ebenerdige Eingangshalle machte einen düsteren Eindruck, und ich sah mich durch das Interieur keineswegs veranlaßt, meine ursprüngliche Ansicht zu revidieren. Der Wachmann hier war aggressiver als der Bankportier; er weigerte sich, mich ohne Passierschein überhaupt einzulassen. Ich gab vor, einen Termin bei Peter Thayer zu haben, und erkundigte mich nach dem Stockwerk.

»Nicht so hastig, Gnädigste«, raunzte er mich an. »Wir rufen erst mal oben an, und wenn dieser Herr in seinem Büro ist, wird er Ihnen die Berechtigung erteilen.«

»Mir die Berechtigung erteilen? Sie meinen wohl, er wird mir die Berechtigung zum Betreten des Gebäudes erteilen. Hinsichtlich meiner Existenzberechtigung ist er dazu nämlich nicht befugt.«

Der Portier stapfte hinüber zu seiner Zelle und telefonierte. Es überraschte mich nicht zu hören, daß Mr. Thayer nicht im Hause war. Ich verlangte, jemanden aus seiner Abteilung zu sprechen. Ich hatte es gründlich satt, feminin und konziliant zu sein und erreichte durch mein energisches Auftreten, daß ich mit einer der Sekretärinnen sprechen durfte.

»Ich bin V. I. Warshawski«, erklärte ich frostig. »Mr. Thayer erwartet mich.«

Die sanfte weibliche Stimme am anderen Ende entschuldigte sich. »Mr. Thayer ist die ganze Woche nicht erschienen. Wir haben schon versucht, ihn zu Hause zu erreichen, aber es geht niemand ans Telefon.«

»Ich glaube, dann sollte ich mich mit jemand anderem in Ihrer Abteilung unterhalten.« Ich gab mich weiterhin sehr energisch. Sie wollte wissen, worum es ging.

»Ich bin Detektivin«, erklärte ich. »Hier ist etwas Oberfaules im Gange, von dem der junge Thayer mir erzählen wollte. Wenn er nicht im Büro ist, spreche ich eben mit jemand anderem, der über Thayers Arbeit informiert ist.« Was ich da vorbrachte, klang ziemlich fadenscheinig, aber sie bat mich zu warten, während sie Rücksprache nehmen wollte. Der Wachmann starrte mich immer noch an und fummelte an seiner Pistole herum. Fünf Minuten später war die Dame mit der sanften Stimme wieder in der Leitung, diesmal ein wenig atemlos. Mr. Masters, der stellvertretende Chef der Schadensabteilung, war bereit, mich zu empfangen.

Dem Wachmann ging es gegen den Strich, mich hinauffahren zu lassen. In der Hoffnung, daß ich gelogen hatte, fragte er sogar bei Miss Samtstimme nach. Aber schließlich erreichte ich doch den vierzigsten Stock. Beim Verlassen des Fahrstuhls sanken meine Füße tief in grünen Velours. Ich durchpflügte ihn in Richtung Empfang am südlichen Ende der Halle. Eine gelangweilte Empfangsdame riß sich von ihrem Roman los und reichte mich an die junge Frau mit der sanften Stimme weiter. Sie saß an einem Schreibtisch aus Teakholz, eine Schreibmaschine an ihrer Seite, und führte mich nun in Masters' Büro.

Der Raum war so groß wie ein Tennisplatz und bot eine überwältigende Aussicht über den See. Masters Gesicht hatte das für gewisse erfolgreiche Geschäftsleute über fünfundvierzig typische wohlgenährte und leicht rosig angehauchte Aussehen, und es strahlte mich über einem gutgeschnittenen grauen Sommeranzug an. »Keine Gespräche durchstellen, Ellen«, wies er die Sekretärin an, als sie das Zimmer verließ.

Nach einem kräftigen Händedruck überreichte ich ihm meine Karte.

»Nun, was haben Sie denn für ein Anliegen, Miss – äh –?« Er lächelte gönnerhaft.

»Warshawski. Ich möchte Peter Thayer sprechen, Mr. Masters. Nachdem er jedoch offenbar nicht im Hause ist und Sie sich bereitgefunden haben, mich zu empfangen, hätte ich gern gewußt, weshalb der junge Mann das Gefühl hatte, einen Privatdetektiv zu benötigen.«

»Das kann ich Ihnen nun wirklich nicht sagen, Miss – äh – macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie mit Ihrem Vornamen anrede?« Er sah auf meine Visitenkarte. »Was bedeutet das V?«

»Es ist die Abkürzung meines Vornamens, Mr. Masters. Wären Sie so freundlich, mir zu sagen, mit welchen Arbeiten Mr. Thayer hier befaßt ist?«

»Er ist mein Assistent«, erwiderte Masters mit verbindlicher Freundlichkeit. »Ich bin mit Jack Thayer gut befreundet, und als sein Sohn, der an der Universität von Chicago studiert, einen Ferienjob suchte, war ich froh, ihm behilflich sein zu können.« Er zwang einen Ausdruck der Besorgnis in seine Gesichtszüge. »Sollte sich der Junge tatsächlich in solchen Schwierigkeiten befinden, daß er die Hilfe eines Detektivs benötigt, dann wüßte ich sicherlich davon.«

»Mit welchen Aufgaben ist Mr. Thayer in seiner Eigenschaft als Ihr Assistent betraut? Bearbeitet er Schadensfälle?«

»Aber nein!« Masters strahlte. »Solche Sachen werden bei unseren Niederlassungen erledigt. Nein, wir befassen uns hier mit der unternehmerischen Seite des Geschäfts – Etatfragen und dergleichen. Der Junge stellt mir die Zahlen zusammen. Außerdem leistet er gute Routinearbeit; er überarbeitet Berichte und so weiter. Ein prima Kerl. Ich hoffe, er ist nicht durch diese Hippies in Schwierigkeiten geraten, mit denen er sich da drüben abgibt.« Er senkte die Stimme. »Unter uns gesagt: Jack meint, sie hätten seine Vorstellungen hinsichtlich der Geschäftswelt sehr negativ beeinflußt. Der eigentliche Sinn und Zweck dieses Ferienjobs war nämlich, ihm praxisnah einen positiveren Eindruck vom Geschäftsleben zu vermitteln.«

»Und ist das gelungen?« erkundigte ich mich.

»Ich hoffe es, Miss – äh – ich hoffe es.« Er rieb sich die Hände. »Ich wünschte natürlich, ich könnte Ihnen helfen … Könnten Sie mir vielleicht einen Anhaltspunkt geben, was den Jungen bedrückte?«

Ich schüttelte den Kopf. »Er hat nichts verlauten lassen … Rief einfach an und fragte, ob ich heute nachmittag vorbeikommen könnte. Bestünde die Möglichkeit, daß hier im Hause etwas im Gange ist, bei dem ein Detektiv nach seiner Meinung recht nützlich wäre?«

»Nun, oft weiß ein Abteilungsleiter nicht, was sich unter seinen Augen tut.« Masters legte seine Stirn in gewichtige Falten. »Man steht so hoch über den Dingen; die Leute ziehen einen nicht ins Vertrauen.« Wieder lächelte er. »Aber es würde mich schon sehr wundern.«

»Weshalb wollten Sie mit mir sprechen?« fragte ich.

»Oh, wissen Sie, ich hatte Jack Thayer versprochen, mich um seinen Sohn zu kümmern. Und wenn ein Privatdetektiv auftaucht, sieht das nach einer ernsten Sache aus. Trotzdem, Miss – äh –, an Ihrer Stelle würde ich mir keine allzu großen Gedanken machen. Wir könnten allerdings unter Umständen Ihre Dienste in Anspruch nehmen, um herauszufinden, wo Peter steckt.« Er lachte über seinen Scherz. »Er ist nämlich schon die ganze Woche nicht dagewesen, und zu Hause können wir ihn auch nicht erreichen. Ich habe es Jack noch gar nicht erzählt – er ist sowieso schon enttäuscht von seinem Sohn.«

Er begleitete mich durch die Halle zum Lift. Ich fuhr hinunter bis zum zweiunddreißigsten Stockwerk, stieg dort aus, fuhr wieder nach oben und schlenderte erneut hinüber zum Empfang. »Ich hätte gern den Arbeitsplatz des jungen Thayer gesehen«, erklärte ich Ellen. Sie blickte hilfesuchend auf Masters' Tür, doch die war geschlossen.

»Ich glaube nicht, daß –«

»Nein, vermutlich nicht«, unterbrach ich. »Aber ich werde mich auf jeden Fall auf seinem Schreibtisch umschauen. Ich kann auch jemand anderen fragen, wo er steht.«

Sie machte ein unglückliches Gesicht, führte mich aber zu einem abgetrennten kleinen Raum. »Ich kriege Schwierigkeiten, wenn Mr. Masters herauskommt und Sie hier sieht«, meinte sie.

»Ich wüßte nicht, weshalb«, beruhigte ich sie. »Sie können doch nichts dafür. Ich werde ihm erklären, daß Sie Ihr Bestes getan haben, mich abzuwimmeln.«

Peter Thayers Schreibtisch war unverschlossen. Ellen stand dabei und sah mir einige Minuten lang zu, während ich Schubladen öffnete und Papiere durchblätterte. »Wenn ich gehe, können Sie mich durchsuchen, damit ich nichts mitnehme«, sagte ich, ohne aufzublicken. Sie gab einen verächtlichen Laut von sich, kehrte aber zu ihrem eigenen Schreibtisch zurück.