Das Buch

Er ist ein Meisterwerk der alten Elben, eine der mächtigsten Schöpfungen ihrer Magie: der singende Stein. Dass ausgerechnet Dafydd, Lehrling des Barden Palatin, der Träger des magischen Steins sein soll, um dessen Besitz Kriege geführt wurden, vermag er kaum zu glauben. Und doch findet er sich bald mit Palatin, Prinzessin Livia, einem Gnom, einem Zwerg und der schrulligen Hexe Morgat im größten Abenteuer seines Lebens wieder. Können die Gefährten verhindern, dass das Land, wie sie es kennen, vergeht? Und kann die Magie des Steins auch Dafydds persönliches Glück beeinflussen? Denn trotz aller Standesunterschiede schlägt sein Herz für Prinzessin Livia …

Der Autor

© Katja Rother

Stephan M. Rother wurde 1968 im niedersächsischen Wittingen geboren, ist studierter Historiker und stand fünfzehn Jahre lang im mittelalterlichen Gewand auf der Bühne. Seit 2000 veröffentlicht er erfolgreich Romane für jugendliche und erwachsene Leser. Der Autor ist verheiratet und lebt in einem verwinkelten Haus voller Bücher und Katzen am Rande der Lüneburger Heide.

Mehr über Stephan M. Rother: magister-rother.de

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Viel Spaß beim Lesen!

Für Tante Urmel

Rother, Stephan M.:

Die Prophezeiung des magischen Steins

ISBN 978 3 522 62164 9

Einbandgestaltung: Max Meinzold

Konvertierung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.

© 2018 Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart

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Ein nebliger Morgen lag über der Stadt der Könige.

Gespenstisch hallten die Schritte der Stahlritter in den Gängen des Palastes wider.

Vier gepanzerte Gestalten marschierten in Reih und Glied nebeneinander, wahre Riesen, wie sie nur der Menschenschlag an den südlichen Küsten des Reiches hervorbrachte.

Vor wenigen Augenblicken noch hatten Höflinge, Bedienstete und die Leibgnome seiner königlichen Hoheit diese Flure belebt. Jetzt war keine Menschen- oder Gnomenseele mehr zu sehen.

Nur noch die Stahlritter mit ihren gleichmäßigen, scheppernden Schritten und hinter ihnen ein Mann in einem bodenlangen, golddurchwirkten Gewand, der hin und wieder nachdenklich die Spitzen seines überdimensionalen Schnurrbarts zwirbelte: der Markgraf von Sanspareis, der südlichsten und reichsten Provinz des Königreiches.

Er kam zu einem offiziellen Besuch bei seinem entfernten königlichen Verwandten, und dieser Besuch war lange im Voraus angekündigt worden.

Die Menschen – und Gnome – des königlichen Hofes hatten ihre Vorbereitungen treffen können, jeder auf seine Art.

Ein Heer von Dienstboten hatte die gekachelten Böden sämtlicher Säle, Flure und Kammern gewischt – selbst in denjenigen Regionen der weitverzweigten Palastanlage, in die sich seine Hochwohlgeboren mit Sicherheit nicht verirren würde. Lange Galerien alter Gemälde waren von Staubschleiern befreit worden. Eine Schwadron der königlichen Lanzenreiter hatte der Haushofmeister mit einem ungewöhnlichen Auftrag hinaus in die Sümpfe gesandt: Blumen pflücken. Es war die Zeit des Jahres, in der das Wollgras von Güldenthal in jenen kostbaren Farben blühte, die der Stadt ihren Namen gegeben hatten. Und jetzt blühte es in mächtigen verzierten Vasen unter den Arkadenfenstern, an denen der Markgraf mit seinen Rittern vorbeimarschierte. Doch dem Pflanzenschmuck gönnte er kaum einen Blick.

Vielleicht hielt er den Aufwand um seine fürstliche Person für eine Selbstverständlichkeit. Vielleicht war er das auch – in Sanspareis.

Im Palast von Güldenthal sah das etwas anders aus.

Seufzend kratzte sich der achtundzwanzigste König von Güldenthal am unköniglichsten aller Körperteile. Es war ein halbes Leben her, dass ein offizieller Besuch ihn gezwungen hatte, sich die zeremonielle Rüstung des Herrschers anlegen zu lassen. Wer brauchte eine Rüstung, wenn ringsum Frieden herrschte? Der König am allerwenigsten. Die Lanzenreiter, natürlich, die Lanzenreiter hatte es schon immer gegeben und das Volk würde niemals auf sie verzichten, wie es auch auf seinen König nicht verzichten wollte. Aber kein Mensch …

»Kein Mensch kann mich zwingen, in dieses Kostüm zu kriechen!«, schimpfte der Herrscher. »Es ist unbequem, und es ist lächerlich und … Seht doch selbst! – Oh.« Er brach ab.

Er war nicht allein. Seit einer Viertelstunde musste sich Graf Coriolis, der Haushofmeister des Palastes, das königliche Gezeter anhören. Doch ob die Rüstung seinem Herrscher nun stand oder nicht, würde er kaum beurteilen können. Der Graf war blind.

Der König murmelte eine undeutliche Entschuldigung. Dieser verflixte Staatsbesuch würde ihn noch um den Verstand bringen! Mit einem Mal gab es tausend Dinge zu bedenken. Von der Dekoration der Residenzräume bis zur Reihenfolge, in der dem Gast die einzelnen Würdenträger des Hofes vorgestellt werden mussten, die Freiherrn und Edelherrn und Grafen und als Höhepunkt ganz zuletzt natürlich …

»Livia«, murmelte er, doch im selben Moment schüttelte er den Kopf.

Wenn er anfing, sich den Kopf zu zerbrechen, ob die Zofen seiner Tochter nun ihre Aufgaben erfüllten, konnte er sich gleich auf die so einladend gepolsterte Liege unter dem Fenster sinken lassen und einen der Diener bitten, ihm einen zwergischen Tee zu servieren, zur Entspannung des erschöpften königlichen Gemüts.

Nein, so oder so. Irgendwie würde er diesen Tag durchstehen.

Und dann auf der Polsterliege niedersinken.

»Herr«, meldete sich eine leise Stimme hinter ihm. »Wenn Ihr kurz die Luft anhalten würdet, könnte ich die letzte Schnalle schließen.«

»Noch eine?« Der Herrscher erstarrte. »Undenkbar«, flüsterte er. »Und überhaupt … Ich werde den Markgrafen empfangen und dabei sitze ich doch wohl auf dem Thron, oder? Das ist doch richtig, Coriolis? Könnt Ihr mir sagen, wer außer dem montezumaverdammten Thronkissen mitkriegen soll, ob an meinem Hintern eine Schnalle offen ist?«

Der Haushofmeister räusperte sich vernehmlich. »Zwischendurch müsstet Ihr schon mal aufstehen und huldvoll winken. Die Gebräuche verlangen …«

»Und seit wann scheren wir uns um Gebräuche

»Wir …« Unsicher drehte sich Graf Coriolis in die ungefähre Richtung seines Herrschers. »Dem Markgrafen sind sie wichtig«, wandte er schließlich ein.

»Na also. Der kriegt die Schnalle nicht zu sehen.« Aus zusammengekniffenen Augen musterte der König ein Stück schwerer, purpurgewebter Seide, aus dem man zwei bis drei Bettlaken hätte anfertigen können. Es wurde von einem halben Dutzend Dienern in die Höhe gehalten.

»Mein Mantel?«, fragte er.

»Die Gnome werden Euch die Schleppe hinterhertragen, wenn Ihr den Saal betretet«, sagte einer der Männer und verneigte sich fast bis zum Boden.

Mit einem Schnauben ließ der König zu, dass der zeremonielle Mantel um seine Schultern gelegt wurde. Er wird mich erwürgen, bevor das alles vorbei ist, dachte er. Aber auf jeden Fall verdeckt er die Schnalle.

»Zufrieden?« Ein letzter Blick in die Runde. »Dann los!«

»Junge Herrin!« Nervös trat der Gnom von einem fellbedeckten Fuß auf den anderen. »Wir müssen jetzt wirklich …«

Prinzessin Livia befand sich nicht in ihren Gemächern, wo ihre Zofen sie in diesem Moment in einen Zustand hätten versetzen sollen, der dem strengen Auge des Markgrafen genügen würde.

Anders als ihr Vater befand sie sich bereits in unmittelbarer Nähe des Thronsaals: Direkt vor den mächtigen Flügeltüren endete die lange Galerie von Porträts längst verblichener Herrscher des Königreichs. Ungnädig blickten sie auf die scheppernde Formation der Stahlritter und den Markgrafen herab, die sich durch den Gang näherten. Stumpfe Blicke, seit Jahrhunderten erloschen – ausgenommen die Porträts des ersten und des zweiten Königs von Güldenthal.

Hinter diesen Augen war Leben.

Dafydd biss die Zähne zusammen und trat einen Schritt von den Gucklöchern zurück, die sich im Konterfei des zweiten Monarchen verbargen.

»Memphy hat recht«, sagte er leise und nickte zu der keine vier Fuß großen Fellkreatur, die zwischen ihren Füßen nervös auf und ab trippelte. »Livia, du weißt, wie unruhig dein Vater schon die ganze Woche über ist wegen dieses Besuchs. Er hat nächtelang nicht richtig geschlafen.«

»Das ist es, was er allen Leuten erzählt«, murmelte die Prinzessin, die keine Anstalten machte, ihren Beobachtungsposten zu verlassen. »Wovon er nichts erzählt, ist der zwergische Bergkäse, der letzte Woche angekommen ist, und von dem er jeden Abend futtert. Da könnte ich auch nicht schlafen hinterher.« Mit einem Seufzen zog sie sich nun ebenfalls zurück. Die Eskorte der Stahlritter hatte die Flügeltüren erreicht. Wäre nicht die Wand mit der Porträtgalerie dazwischen gewesen, hätten die beiden jungen Leute die Männer mit ausgestrecktem Arm berühren können.

»Aber wenn’s sein muss«, sagte das Mädchen leise.

Memphy – Memphistopheles mit seinem vollen stolzen Gnomennamen – griff vorsichtig nach der Öllampe, mit der er der Prinzessin und dem Jungen den Weg durch die geheimen Gänge beleuchtet hatte.

Für einen Moment fiel der Lichtschein auf Livias Züge, beleuchtete die etwas zu spitze Nase, auf der von der Berührung mit der Rückseite des Gemäldes ein deutlicher Staubfleck prangte, genauso auf der königlichen Stirn. Beleuchtete die Augen, die ganz kurz nur traurig aussahen, bevor sich Livias Miene plötzlich wieder aufhellte, als sie flüsterte: »Aber wenn sie sich nach dem Empfang in die Ratskammer zurückziehen, weiß ich schon, was wir anstellen!«

Wie hübsch sie ist, dachte Dafydd. Es war wie eine Ladung Eiswürfel, die man über seinem Nacken ausleerte, jedes Mal wieder, seit Monaten schon – oder waren es Jahre? Er wusste es selbst nicht. Wie hübsch sie ist und wie unerreichbar.

Unerreichbar, obwohl sie doch nur ein halbes Dutzend Schritte vor ihm ging, als sie jetzt einer hinter dem anderen zurück durch das Labyrinth der Geheimgänge huschten.

Sie waren zusammen aufgewachsen, die Prinzessin und der Junge, dessen Eltern einfache Diener gewesen waren, bis die große Seuche sie dahingerafft hatte, als Dafydd drei Jahre alt war. Dieselbe Seuche, gegen die alle geballte Macht der königlichen Heiler und Hofzauberer vergebens gekämpft hatte, als die Königin ebenfalls von ihr befallen wurde. Dafydd hatte keine Erinnerungen mehr an diese Zeit. Er wusste nicht, wie es gekommen war, dass von allen Waisenkindern, die es damals im Palast gegeben hatte, ausgerechnet er dieselben Lehrer wie die einzige Tochter des Königs bekommen hatte. Der Herrscher hatte jedenfalls einen Narren an ihm gefressen. Vielleicht weil ihm Dafydd irgendwie ähnlich war, sich genauso wenig aus Kriegsruhm und Waffentaten machte wie der König selbst, sondern sich für die Musik und die Geschichten der Barden begeistern konnte. Aber das konnte sich wohl kaum schon im Alter von drei Jahren abgezeichnet haben.

Dafydd seufzte. Das würde wohl auf ewig ein Geheimnis bleiben, und das war nur gut so. Gut aufgehoben bei seinem anderen Geheimnis.

»Montezumas Hinterbacken!«, wisperte er. Er wurde trübsinnig, je mehr er darüber nachdachte. Und wenn er trübsinnig wurde, würde Livia früher oder später der Spaß vergehen, zusammen etwas zu unternehmen.

Und dann würde er auch noch das verlieren, was er bis zu diesem Augenblick hatte.

Doch über kurz oder lang war das so oder so nicht zu verhindern.

Und vielleicht … Es gab keinen besonderen Grund dafür, nur ein unruhiges Kribbeln in seinem Innern. Vielleicht war der Besuch des Markgrafen aus dem Süden ein Zeichen, dass dieser Zeitpunkt nahe war.

Eine halbe Stunde später stand Dafydd im Thronsaal zwischen den Damen und Herren des königlichen Gefolges.

Der gesamte Empfang war in den letzten Tagen wieder und wieder geprobt worden. Die Leute aus Sanspareis seien fürchterlich empfindlich, hatte der König düster gemurmelt. Keine Kleinigkeit dürfe schiefgehen. Jeder Mensch – und Gnom – im Saal müsse ganz genau wissen, wo er zu welchem Zeitpunkt zu stehen habe.

Dafydd war überrascht gewesen, dass man ihm einen Platz gar nicht so weit vom Thron entfernt zugewiesen hatte, doch dann hatte er sich erinnert, was der König schon mehr als einmal angedeutet hatte: Irgendwann, wenn er – der König – nicht mehr wäre, würde Dafydd zu den wichtigsten Ratgebern der neuen Herrscherin zählen. Ganz wie der König selbst heute auf den Rat des Barden Palatin vertraute.

Dafydd musste sich weit aus den Reihen der Höflinge vorbeugen, um den Barden sehen zu können, der auf der untersten Stufe des Thronpodests stand, zusammen mit Haushofmeister Coriolis und den Grafen Barras und Gerfrith, den Anführern des königlichen Heeres. Alles, was in Güldenthal Rang und Namen hatte, war um den Thron versammelt.

Doch Palatin stach schon auf den ersten Blick aus dieser Ansammlung schwerer eiserner Rüstungen und verzierter Seidenroben hervor. Dafydd wusste, dass sein Harfenlehrer darauf keinerlei Wert legte, aber es war nun einmal sein Schicksal, nicht verleugnen zu können, was er war: nicht vollständig menschlich. Die Gesichtszüge eine Idee zu schmal, auf eine schimmernde Weise zu blass, das Blond seiner Haare leuchtend wie edles Metall, aber lebendiger dabei. Doch erst wenn der Barde seine Stimme erhob, wenn er des Abends vor die königliche Tafel trat, um eine Erzählung aus fernen Zeiten anzustimmen, war jeder Zweifel behoben: Das Blut der alten Elben floss in den Adern dieses Mannes, verdünnt sicherlich im Laufe von Generationen, doch das Dorf, aus dem Palatin stammte, lag nur einen Steinwurf vom Rande des Waldes von Orden entfernt, wohin sich die letzten Überlebenden des einst so stolzen Elbenvolkes zurückgezogen hatten.

Wenn es etwas gab, auf das sich Dafydd an diesem Tag freute – die nächste Lauschaktion zusammen mit Livia einmal ausgenommen – dann war es der Liedvortrag, den sein Lehrmeister zu Ehren des markgräflichen Besuchers angekündigt hatte.

Wovon der Besucher natürlich noch nichts ahnte.

Die großen Flügeltüren waren nach wie vor geschlossen. Dafydd hätte jetzt einiges für Gucklöcher gegeben, um den hochwohlgeborenen Gast und seine Eskorte beobachten zu können, die sich draußen auf dem Gang die Beine in den Bauch standen.

Sie warteten. Und mit Sicherheit waren sie das nicht gewohnt – zumindest der Markgraf nicht.

Doch damit der Empfang im Thronsaal beginnen konnte, fehlte noch eine Kleinigkeit: der König nämlich und seine Thronerbin.

Wobei der achtundzwanzigste König mit Sicherheit längst gestiefelt und gespornt war, in seine zeremonielle Rüstung geklemmt, über die er schon Wochen im Voraus gejammert hatte. Dafydd war der Einzige im Saal, der wusste, auf wen sie wirklich warteten.

Eine Seitentür der Halle flog auf. »Jetzt aber!«

Es war ein denkwürdiger Anblick. Der Herrscher stürmte herein, hielt das verzierte Diadem auf dem Kopf fest und schleifte seinen Umhang hinter sich her. Die Handvoll Gnome, deren Aufgabe es war, den weiten Mantel besonders majestätisch über den Boden auszubreiten, hatte Mühe, ihm zu folgen.

Dafydd legte die Stirn in Falten, zählte noch einmal nach. Tatsächlich nur eine Handvoll: fünf. Es hätten sechs Gnome sein sollen. Wegen der sechs Fürstentümer des Reiches oder der sechs Farben der Magie oder weswegen auch immer.

»Los! Macht endlich auf!«, befahl der Herrscher, als er an Dafydd vorbeistapfte. Hinter ihrem Vater schlüpfte in diesem Moment Livia in den Raum, gefolgt von einem ganzen Rudel Zofen. Sie hatte eine Seidenrobe an, und natürlich war ihr Gesicht gesäubert worden. Obendrein mussten die Mägde es mit einer Art Paste belegt haben, einem kalkartigen Weiß für die vornehme Blässe, auf das sie über den Wangen wieder ein künstliches Rot gepinselt hatten. Sie sah aus wie ein Hofnarr, dachte Dafydd. Und nicht besonders glücklich. Als sie an ihm vorbeikam und ihm kurz zuzwinkerte, rechnete er fast schon damit, dass das Risse geben könnte in dieser Maske.

Doch er konnte nicht mehr erkennen, ob das geschah. Im selben Moment öffneten sich die großen Flügeltüren.

»Es tritt ein seine Hochwohlgeboren, der Markgraf von Sanspareis!«, verkündete die Stimme eines Herolds.

Zuerst waren es natürlich die Stahlritter, die in den Saal marschierten. Der Markgraf war noch unsichtbar hinter ihnen.

Und trotzdem: Sie waren zu schnell. Dafydd erkannte es sofort. Der König hatte das Kommando, die Türen zu öffnen, zu früh gegeben. Er hatte den Thron noch gar nicht erreicht, von dem aus er den Gast hätte willkommen heißen sollen.

Und das schien er jetzt auch selbst zu merken. Unwirsch wandte er sich um, schlug dramatisch seinen Mantel zurück und mit dem Mantel die Gnome, die sich am Saum des Umhangs festklammerten, trat auf die Gäste zu und …

»Wartet! Wartet, ich komm ja schon!«

Eine huschende Bewegung zu Dafydds Füßen. Ein verwirbeltes Fellbüschel. Ein Gnom, nein, nicht irgendein Gnom. Memphistopheles!

»Ich bin ja schon da! Ich bin ja schon …«

Dafydd sah es kommen, doch er war unfähig, die Augen abzuwenden.

Die Reihe der Stahlritter teilte sich. Der Markgraf von Sanspareis trat gemessenen Schrittes auf seinen Herrscher zu, die Schnurrbartspitzen absolut symmetrisch aufgezwirbelt. Er verneigte sich – nicht zu tief; schließlich war er selbst ein mächtiger Mann.

Und in diesem Moment war Memphy heran.

Der Boden des Thronsaals war frisch gebohnert und glatt wie eine Eisfläche, wenn man nicht aufpasste. Solange Dafydd zurückdenken konnte, hatte dazu kein Anlass bestanden, aber während der Vorbereitungen hatte sich mehr als eine Dienstmagd blaue Flecke geholt.

Der Gnom versuchte abzubremsen. Man sah es an seinen Bewegungen, die plötzlich hektisch wurden. Doch das kam viel zu spät. Der König vor ihm, der weit ausladende Mantel, Höflinge, die bereits die Hände vor den Mund schlugen.

Ungebremst schleuderte der Gnom in die Wolke aus purpurfarbenem Seidenstoff. Eine unwillkürliche Bewegung ging durch den König, als der Umhang ihn an der Gurgel nach hinten zerrte – dann riss mit einem Ruck der Stoff um den herrscherlichen Hals, der König taumelte nach vorn, beschrieb eine halbe Pirouette, gar nicht mal unelegant, und …

Ein Raunen ging durch die Menge.

Dafydd sah, wie sich die Augenbrauen des Markgrafen in dieselbe Richtung bewegten wie seine Schnurrbartspitzen.

Der König hatte sich schnell wieder in der Gewalt, das musste man ihm lassen. Die Gnome wichen zurück, und er schritt über den am Boden liegenden Mantel auf seinen Thron zu wie über einen purpurnen Teppich, den man zu seinen Ehren ausgebreitet hatte.

Erst als er an der Reihe der Höflinge vorüberkam, sah Dafydd die blendend weiße königliche Unterhose, die aus der zeremoniellen Rüstung hervorschaute.

»Montezumaverdammter Gnom«, hörte er den Herrscher murmeln. »Montezumaverdammte Schnalle.«

Dafydd saß allein auf seinem Zimmer in einem Seitenflügel des Palastes. Seine Finger strichen über die Saiten seiner kleinen Harfe.

Der Abend hatte sich über die Königsstadt gesenkt, vor den Fenstern tauchte ein fahles Rot die wollgrasbedeckte Ebene in ein trügerisches Licht.

Der Empfang war vorüber, der König und seine Berater hatten sich mit dem Gast aus dem Süden in die Ratskammer zurückgezogen.

Auch diese Kammer war durch das verzweigte Netz der Geheimgänge erreichbar, und genau das war Livias Plan gewesen, ihr Versprechen an Dafydd.

Doch sie war nicht gekommen.

Er hatte es gewusst. Er hatte gewusst, dass die Ankunft des Markgrafen und seiner Stahlritter eine besondere Bedeutung hatte. Nicht allein für den König, der tagelang wie ein aufgescheuchtes Huhn herumgelaufen war und für die Bediensteten, für die der Besuch eine Menge zusätzlicher Arbeit bedeutete, sondern auch für ihn, Dafydd, selbst.

Er würde Livia verlieren.

Wie das geschehen würde und warum, das wusste er nicht, aber es war schon im Gange. Er spürte es.

Es wird etwas geschehen, dachte er.

Aber was das sein würde …

Ein Klopfen an der Tür. Er zuckte zusammen.

Nein, es war nicht Livia. Ihr Klopfen war ganz anders, irgendwie verschwörerisch jedes Mal – und vor allem kam es niemals von der Tür, sondern aus einer unauffälligen Wandfläche schräg hinter Dafydds Bett. Ein Geheimgang, natürlich.

Doch auch das Klopfen, das jetzt zu hören war, war ihm vertraut.

»Palatin?« Der Junge stand auf, legte die Harfe vorsichtig auf den Decken seines Lagers ab.

Die Tür öffnete sich, und schon an der Miene des Barden erkannte Dafydd, dass er sich nicht getäuscht hatte. Sein Lehrmeister brachte Nachrichten, und so wie er aussah, konnten es keine guten Nachrichten sein.

»Du hast geübt?«, erkundigte sich Palatin mit einem Seitenblick auf das kleine Instrument.

Dafydd hob die Schultern. »Ich grüble über einem Lied, aber ein Barde wie Ihr werde ich sowieso niemals werden.«

Er bemerkte, wie sich die Schatten unter den Augen des blonden Mannes vertieften.

Der Junge wusste nicht, wie viele Jahre Palatin eigentlich zählte. Solange Dafydd zurückdenken konnte, war ihm der Barde auf eine seltsame Weise alterslos vorgekommen. Nein, kein junger Mann mehr natürlich, das sah man schon an den Augen. Wenn an der abendlichen Tafel die Flammen im Kamin loderten und Palatin seine Gesänge anstimmte, schien ein geheimnisvolles Licht in diesen Augen zu erwachen, und dann waren es nicht mehr allein die Worte, die über die Lippen des Barden kamen, die Klänge seiner Harfe, sondern eben auch diese Augen selbst, die Geschichten erzählten. Wundersame, aber auch düstere Dinge, die diese Augen erblickt hatten.

Und genau dieser Blick lag auch jetzt auf Palatins Zügen, als sich der Barde in einen Stuhl sinken ließ.

»Es gibt Menschen, die sich ihr Leben lang im Harfespiel üben, und die es darin doch niemals zur Meisterschaft bringen«, sagte er leise. »Andere wiederum legen zum ersten Mal ihre Finger auf die Saiten und mit einem Mal ist es …« Er zögerte. »Als ob du deine Haare dein Leben lang auf eine bestimmte Weise gekämmt hast«, murmelte er. »Und auf einmal kommt von irgendwoher ein Windstoß, weht sie dir durcheinander und plötzlich … Plötzlich weißt du: So, genau so soll es sein.«

Dafydd spürte einen Kloß in der Kehle. Er war sich nicht sicher, worüber der ältere Mann sprach, doch die Worte klangen ernst. Warum kam Palatin zu ihm? Hätte er nicht auf der Ratsversammlung sein müssen? War sie bereits vorüber?

»Ist es ein Lied für die Prinzessin?«, fragte der Barde übergangslos.

»Was?« Dafydd starrte ihn an. Er spürte, wie eine brennende Röte sein Gesicht zu überziehen begann. Ja, es war ein Lied für Livia gewesen. Aber er hätte es niemals gewagt, es dem Mädchen vorzutragen. Aus Angst zu verlieren, was er doch nicht behalten konnte.

Palatin nickte nachdenklich. Eine Antwort schien er gar nicht zu brauchen. Dafydd erlebte das immer wieder bei ihm. Es gab wenig, das man diesem Mann vorenthalten konnte.

»Es war ein merkwürdiger Tag«, murmelte der Barde und trat ans Fenster, um auf das Rot über den Dächern der Stadt und den fernen Wollgrasfeldern zu blicken, in das sich jetzt rasch das Grau der Dämmerung mischte. Schon hatte der Sommer seinen Höhepunkt überschritten. Die Nacht kam schnell zu dieser Zeit des Jahres.

Dafydd hatte sich zu ihm umgedreht, sagte aber kein Wort. Sein Lehrmeister war in einer seltsamen Stimmung heute Abend, noch seltsamer als sonst. Doch der Junge spürte, dass er von selbst auf die Dinge kommen würde, um deretwillen er hier war.

»Kein guter Tag für Güldenthal, denke ich«, sagte Palatin leise. »Kein guter Tag für das Reich. – Wie klar die Luft ist heute Abend. Keine Brise scheint das Gras zu bewegen, und doch erwacht gerade jetzt irgendwo dort draußen ein Sturm, in Gegenden der Welt, die du nicht einmal dem Namen nach kennst.«

Dafydd hatte mittlerweile eine Gänsehaut bekommen, und die hatte mit Sicherheit nichts mit der klaren Luft zu tun. Er lauschte den Worten des Barden nach. Vielleicht war es Palatins im Singen und Erzählen geübte Stimme: Der Junge glaubte ein fernes Flüstern zu hören, Vorboten des nahenden Sturms.

»Ein Sturm?« Seine Kehle war rau.

»Der Markgraf hat den weiten Weg von Sanspareis nicht ohne Grund auf sich genommen. Er hatte den Wunsch, sich mit dem König zu beraten, und wie es scheint, war das allerhöchste Zeit. Seit Monaten schon herrscht eine rätselhafte Unruhe an den Grenzen zu den Völkern des Südens. Selbst hier in der Stadt haben wir bereits Berichte darüber gehört, und schon beginnen wir die Folgen zu spüren, ohne dass uns das recht klar ist.«

»Die Folgen?«

Palatin seufzte. »Kannst du dich erinnern, dass es in den letzten Wochen an der Tafel Traumbeeren gegeben hätte?«

»Traumbeeren …« Dafydd überlegte. An der königlichen Tafel gab es jeden Tag die sonderbarsten Gerichte. Er war niemals ein großer Freund der süßen Beeren aus dem Süden gewesen, doch jetzt, wo der Barde es sagte …

»Nein«, murmelte Dafydd. »Ich dachte, sie passen einfach nicht zu dem Zwergenkäse, den der König neuerdings …«

»Es kommen keine Traumbeeren mehr in die Stadt«, sagte Palatin. »Die Handelswege sind unterbrochen. Das Pferdevolk jenseits der Grenzen regt sich, wie es das seit der Zeit des vierundzwanzigsten Königs nicht mehr getan hat, und es hat mehrere Überfälle auf die markgräflichen Zollposten gegeben. Unsicherheit macht sich breit in den südlichen Provinzen. Noch nichts Bedrohliches, wie es auf den ersten Blick erscheinen könnte, wenn da nicht andere Geschichten wären, aus anderen Teilen der Welt, den Grenzprovinzen zum Osten hin und aus dem Westen, vom Meer. Und auch …« Er zögerte einen Moment. »Auch aus dem Norden«, sagte er leise. »Gerade aus dem Norden.«

Aus dem Norden. Der Kloß in Dafydds Kehle schien mit jedem Wort des Barden anzuwachsen. Man sprach nicht viel über den Norden in der Königsstadt. Der Norden war eine raue, fast menschenleere Gegend, die von der mächtigen Feste Moldivia beherrscht wurde, an der Küste, wo ein Vetter des Königs als Großherzog regierte. Bis heute gab es Gerüchte, der Vater des jetzigen Herrschers habe ihn damals wegen einer inzwischen längst vergessenen Familienstreitigkeit dorthin abgeschoben.

Kein Mensch begab sich freiwillig in den Norden. Die weiten Steppen und schroffen Gebirgszüge waren wild, nahezu unbesiedelt – und sie waren gefährlich. Im Norden endete das Gebiet, das zum Königreich Güldenthal gehörte, aber jenseits der Grenzen lebten nicht andere menschliche Völker wie in den restlichen Himmelsrichtungen, sondern es schlossen sich Gegenden an, die nur aus alten Geschichten bekannt waren. Geschichten voller tödlicher Gefahren und unheimlicher Kreaturen, die dem dunklen Montezuma selbst gehuldigt hatten, bis der erste König von Güldenthal an der Spitze seines Heeres in jenes gefährliche Land gezogen war zu der alles entscheidenden letzten Schlacht, die dem Herzen des Reiches schließlich den Frieden gebracht hatte.

»Ihr meint«, flüsterte Dafydd, »Nachrichten wie in der bösen alten Zeit?«

Palatin schüttelte den Kopf. Er wandte dem Jungen noch immer den Rücken zu. »Ich bin mir selbst nicht sicher, was ich meine. Niemand ist sich sicher, auch der König und der Markgraf nicht. Doch wie die Dinge liegen, sind die Nachrichten alarmierend genug, dass wir beginnen müssen, darüber nachzudenken, ob vielleicht ein Zusammenhang besteht zwischen den Ereignissen in so unterschiedlichen Teilen der Welt.«

Dafydd schluckte. Der durch das Fenster sichtbare Ausschnitt des Himmels schien sich von Sekunde zu Sekunde zu verdüstern. Es war, als wäre ein Schatten – ein ferner Schatten noch – auf den Palast und die friedliche Königsstadt gefallen.

Aber das war noch nicht alles. Es war wie ein Flüstern in Dafydds Kopf. Das war noch nicht der Grund, aus dem Palatin hier war. Doch jetzt sagte der Barde kein Wort mehr. Er schien zu warten.

»Und warum erzählt Ihr mir das?«, fragte der Junge unsicher.

Jetzt erst drehte sich der blonde Mann wieder zu ihm um. »Der Rat ist übereingekommen, Boten zu entsenden, die in den entfernten Teilen des Reiches Erkundigungen einziehen sollen über die Wahrheit hinter diesen Geschichten und Andeutungen. – Oder ihren Mangel an Wahrheit«, fügte er leiser hinzu. »Worum wir beten sollten.«

Schweigen, zwei, drei Atemzüge lang, dann richteten sich die bernsteinfarbenen Augen des Sängers voll auf den Jungen. »Nach dem Willen unseres Königs werde ich selbst einer dieser Boten sein. Und du wirst mich begleiten.«

Dafydd stierte ihn an. Er hatte die Worte gehört, doch ihre Bedeutung wollte nicht bei ihm ankommen. Ein Bote? Der Begleiter eines Boten? Er? Die Königsstadt verlassen? In seinem gesamten Leben hatte er sich noch nie außer Sichtweite der Mauern von Güldenthal begeben. Im Sommer war er einige Male mit seinem Onkel, einem Bruder seiner verstorbenen Mutter, zum Fischen auf den großen See zwischen den Wollgrasfeldern hinausgefahren, aber alles andere …

Der Junge wusste nicht, was er erwidern sollte. Die Welt da draußen war ein Geheimnis, ein aufregendes, gefährliches Geheimnis, und Dafydd liebte Geheimnisse. Solange er denken konnte, träumte er von der Welt jenseits von Güldenthal, die er einzig aus den Erzählungen des Mannes, der jetzt vor ihm stand, kannte. Von den wilden Gegenden an der Küste mit ihren kleinen Städten, den unendlichen Steppen des Ostens – und den fernen Schatten aus dem Norden, dem Hintergrund der aufregenden Geschichten, die die Barden zu berichten wussten.

Er träumte davon oder hatte davon geträumt. Hatte sich vorgestellt, all das einmal mit eigenen Augen zu sehen und war schon fast in Sorge gewesen, die Wirklichkeit werde nicht einlösen können, was er sich in seinen Träumereien ausgemalt hatte.

Doch inzwischen … Sein Leben schien vorgezeichnet. Ein Barde am königlichen Hofe, niemals so gut wie Palatin natürlich, aber immerhin. Livias Berater, ihr Vertrauter.

»Livia.« Er sprach den Namen aus, ohne es zu wollen.

Der Bernsteinton in den Augen des Barden vertiefte sich noch einmal. »Es war kein guter Tag für Güldenthal«, wiederholte er die Worte, die er am Anfang gesprochen hatte. »Und kein guter Tag für unseren König. Ich weiß, du glaubst unseren König zu kennen, als einen gemütlichen, freundlichen Mann, der sich in den letzten Tagen ein wenig hat aus der Ruhe bringen lassen. Aber täusche dich nicht: Es ist nicht einfach, König zu sein in den Zeiten, die uns möglicherweise bevorstehen. Zeiten, die vielleicht nach einem gewaltigen Kriegsherrn auf dem Thron verlangen werden. Er weiß, dass er das niemals sein kann. Und es gibt keinen Prinzen, keinen Thronfolger, der die Heere des Reiches führen könnte, wenn die Stunde der Not es gebieten sollte. Einzig eine Tochter, Livia. Was glaubst du: Ist unser König der Mann, zu dem die Menschen im Osten und Westen, im wilden Norden und im reichen Süden aufsehen werden, wenn Not über das Land kommt? Die Menschen von Sanspareis? Und doch weiß er, dass es keine andere Möglichkeit gibt, wenn wir diese Zeiten bestehen wollen. Und darum, weil er König ist, ist er gezwungen, Entscheidungen zu treffen: harte und bittere Entscheidungen. Entscheidungen, die gegen sein eigenes Herz sind.«

Die Augen lösten sich von Dafydd.

Der Junge nickte. Palatin sprach es nicht aus, doch das, was er nicht aussprach, war deutlich genug.

Es war der eigentliche Grund, aus dem Dafydd die Königsstadt verlassen sollte.

»Oh grausames Schicksal! Oh beißende, eisige Kälte! Oh ungnädiger Herrscher, der den treuesten seiner Diener hinausjagt in Not und Elend, um in Eis und Schnee zu sterben, wenn die erschöpften Füße nachgeben unter dem Leibe des stolzen Gnomen!«

»Hattet Ihr nicht gesagt, der König wünscht, dass wir unauffällig reisen?«, wandte sich Dafydd leise an den Barden.

Die große Handelsstraße, die vom nördlichen Stadttor Güldenthals schnurgerade auf einen Pass in den fernen Hügeln zuführte, war eine der wichtigsten Verbindungsrouten innerhalb des Reiches.

Langsam schleppten sich die schwer beladenen Karren eines Handelszuges dahin. Schimpfende Fuhrknechte trieben die Ochsengespanne vor sich her. Eine Stafette königlicher Reiter hatte vor einer Weile den Zug überholt – Verstärkung für die unruhige Grenze im Norden vermutlich. Aus der Gegenrichtung näherte sich jetzt ein Zug gedrungener, bärtiger Gesellen: Zwerge, auf dem Weg von ihren Erz- und Silberminen in die Königsstadt, um das kostbare Metall auf dem Markt feilzubieten.

Die Straße war belebt, und am Himmel stand eine freundliche Spätsommervormittagssonne. Eben kam ein kleines Dorf in Sicht, in dem die Bewohner bereits den Erntekranz aufgerichtet hatten, dessen bunte Bänder fröhlich in der sanften Brise wehten.

Es war ein Tag, der wie geschaffen schien für eine Wanderung oder einen langen Ausflug. Ein Tag, an dem jeder Reisende sich einfach über das freundliche Wetter freute und Besseres zu tun hatte, als nach königlichen Kundschaftern Ausschau zu halten, die möglicherweise in geheimer Mission unterwegs waren. Für Palatins Auftrag hätte keinerlei Gefahr bestanden, wenn nicht …

»Oh Schmach und unverdiente Schande für den Sohn und Enkel königlicher Leibgnomen, dem es bestimmt ist, im eisigen Ödland des Hungers zu sterben!«

»Memphistopheles«, wandte sich Palatin freundlich an ihren Reisebegleiter. »Du erinnerst dich aber, dass unsere letzte Rast kaum eine Stunde her ist?«

Dafydd wollte etwas anfügen, nickte dann aber nur bekräftigend. Sie hatten das Stadttor gerade hinter sich gelassen, als der augenscheinlich vollständig entkräftete Gnom auf dieser Rast bestanden hatte.

»Gewiss, Herr«, versicherte Memphy voller Eifer. »Aber wir müssen uns die Rastpausen sorgfältig einteilen. Seht selbst, wie hoch die Sonne schon steht! Wenn wir jetzt das zweite Frühstück einlegen würden, wären wir pünktlich zum dritten Frühstück in dem Dorf da vorn, und zum Mittag …«

Dafydd verdrehte die Augen.

Was hatte sich der König dabei gedacht? Der Junge konnte verstehen, dass Livias Vater ihn aus dem Weg haben wollte, wenn es galt, die Prinzessin auf jene Rolle vorzubereiten, die sie als Erbin des Throns erwartete, aber ihm war nicht klar gewesen, dass der Herrscher ihn hatte bestrafen wollen. Bis zu dem Augenblick, in dem am Palasttor nicht allein Palatin auf ihn gewartet hatte, sondern auch der Gnom, dem seine Hoheit den unglücklichen Auftritt bei der Begrüßung des Markgrafen verdankte.

Wahrscheinlich hatte der König zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen wollen, dachte Dafydd bitter. Weder der Sohn von Dienern noch einer der unzuverlässigsten Hofgnome waren ein passender Umgang für die künftige Herrscherin von Güldenthal.

Die Reisenden hatten sich der Geschwindigkeit des Handelszuges angepasst. Noch spiele das keine Rolle, so nahe an der Königsstadt, hatte Palatin erklärt. Doch je weiter sie in den Norden kämen, desto gefährlicher würden die Pfade. Die bewaffnete Eskorte des Zuges würde Wegelagerer abschrecken.

Dafydd widerstand dem Drang, sich in den Arm zu kneifen. Noch immer war es unvorstellbar: Er befand sich auf der Reise. Aus dem Augenwinkel erhaschte er gerade noch einen letzten Blick auf die spiegelglatte Fläche des Sees, wo seine Verwandten lebten. Er hatte seinem Onkel Nachricht zukommen lassen, dass er für eine Weile fort sein würde.

Mehr wollte er nicht verraten, und viel mehr konnte er auch gar nicht verraten. Am Abend würden der Barde und seine Begleiter Thalhang erreichen, eine kleine Stadt, die den Pass über die Hügel sicherte. Dort teilte sich die große Handelsstraße. Eine viel genutzte Route wandte sich nach Westen, zu den Häfen an der Küste, während ein weniger bedeutender Pfad weiter nach Norden führte. Welche Richtung sie einschlagen würden, hatte Palatin noch nicht entschieden.

Aus dem Norden war die größte Gefahr für das Reich zu erwarten, doch nirgendwo traf mehr Volk aus aller Herren Länder aufeinander als in den Hafenstädten. Wenn sich irgendwo eine Gelegenheit ergab, den beunruhigenden Gerüchten auf den Grund zu gehen, dann dort.

Wie auch immer sie das unauffällig anstellen wollten in Memphys Begleitung.

Der Gnom überlebte die Strapazen ihres ersten Reisetages – ohne zweites oder gar drittes Frühstück. Lediglich eine kurze Mittagsrast legten die Gefährten ein, als auch der Handelszug an einer Wasserstelle haltmachte.

Für Palatin war es die erste Gelegenheit, mit den Handelsleuten ein unverfängliches Gespräch zu suchen. Dafydd hatte er eingeschärft, aufzupassen, dass der Gnom keine Dummheiten machte.

Der Junge kam sich abgeschoben vor. So hatte er sich den Beginn der Reise nicht vorgestellt. Memphy saß am Boden und massierte sich die haarigen Füße, während er mit vollem Mund seinen bevorstehenden Tod durch Hunger und Entkräftung beklagte. Und die Kälte, die schreckliche beißende Kälte …

Dafydd hörte kaum richtig hin. Er selbst hatte seinen Reisemantel abgelegt und genoss die wärmenden Strahlen der Mittagssonne. Neugierig beobachtete er dabei, wie der Barde sich mit zweien der Trossknechte unterhielt. Palatins Miene war aufmerksam, doch selbst aus hundert Schritt Entfernung glaubte der Junge zu erkennen, wie sich die Falten auf seiner Stirn vertieften, während er den Berichten der Männer lauschte und selbst nur hin und wieder ein Wort einwarf. Am Ende verabschiedete er sich mit einem Handschlag von den beiden – eine ungewöhnliche Geste in Güldenthal, die man eigentlich nur am Ende eines erfolgreichen Geschäftsabschlusses hätte erwarten sollen.

Als sich die Reisegruppe wieder in Bewegung setzte, Palatin und seine Begleiter nach wie vor am Ende des Zuges, sagte der Barde zunächst kein Wort. Seine düstere Miene war geblieben. Die Sonne war bereits weit nach Westen gewandert, als er schließlich zu sprechen begann.

»Wir haben eine Vereinbarung geschlossen«, erklärte er leise. »Wir dürfen den Zug der Handelsleute begleiten, und ihre Eskorte wird uns beschützen. Dafür soll ich abends in den Schenken für sie spielen, wenn wir haltmachen.«

»Dann wird es schwierig werden, sie zum Sprechen zu bringen«, wandte Dafydd ein. »Herauszufinden, was sie gehört haben aus dem Süden, dem Osten, von der Küste …«

»Und aus dem Norden.« Palatin nickte nachdenklich. »Und natürlich hast du recht. Doch oft liegt in einem scheinbaren Nachteil in Wahrheit ein verborgener Vorteil. Wenn man an Orten wie jenen, an die uns unsere Reise möglicherweise führen wird, überleben will, kann es wichtig sein, eine Sache von mehr als einer Seite zu betrachten.« Er warf dem Jungen einen prüfenden Blick zu.

Dafydd verstand nicht, worauf der Barde hinauswollte. Doch es war deutlich, dass er sich diesen Satz merken sollte.

»Wenn ich für sie singe«, fuhr Palatin fort, »und ihnen Geschichten erzähle, wird sie das davon abhalten, allzu neugierig nach unserer Geschichte zu fragen, wo wir herkommen, warum wir auf der Reise sind.«

»Wir könnten uns einfach etwas ausdenken.«

Der Barde schüttelte den Kopf. »Wir müssten unsere Geschichten sehr sorgfältig aufeinander abstimmen, und selbst dann ist die Gefahr groß, dass wir Schaden anrichten. Stell dir vor, du erzählst ihnen, du seist der Sohn eines Hufschmieds – und dann versucht dich jemand, der sich selbst auf die Schmiedekunst versteht, in ein Gespräch zu verwickeln. Oder du sprichst davon, wir kämen aus Vangerholm, an der Küste – und einer von ihnen hat zufällig Verwandte dort. Zu gefährlich. Wer schweigt, Dafydd, kann nichts Falsches sagen. Nicht zum Reden haben wir uns auf den Weg gemacht, sondern zum Zuhören. Und schon jetzt …«

Der Barde verstummte. Wie zufällig sah er über die Schulter, doch die Gefährten bildeten nach wie vor das Ende des Zuges. Vor ihnen war der Pass in den Hügeln sichtbar näher gerückt, und links von ihnen, nach Westen hin, schien sich im Dunst eine Reihe höherer Gipfel abzuzeichnen, Ausläufer der Küstenkette, die von der Königsstadt aus unsichtbar waren.

»Natürlich können wir nicht erwarten, ausgerechnet von diesen Leuten Auskunft über die Geschehnisse im Norden zu erhalten«, sagte Palatin leise. »Schließlich kommen sie aus derselben Richtung wie wir: von Süden. Doch das Gerede auf den Märkten und in den Stallungen ist oftmals schneller als königliche Boten und Lanzenreiter.« Sein Mundwinkel zuckte. »Und zuverlässiger obendrein.« Doch er wurde sofort wieder ernst. »Aber die wichtigsten Rückschlüsse gewinnt man selten aus dem, was einem die Leute offen sagen. Eine viel deutlichere Sprache sprechen die Dinge, die sie tun. – Du siehst die großen Fässer auf dem hintersten Karren? Sie haben Südwein geladen, aus Sanspareis, und er ist für den Hof des Großherzogs bestimmt, auf Burg Moldivia. Solange ich denken kann, sind die Handelszüge nach Moldivia der alten Nordstraße gefolgt, durch das Hügelland zunächst und dann, jenseits von Mormur, der Feste der Zauberer, durch die weiten Nadelforsten, in denen heute niemand mehr lebt. Keine Menschen, aber auch nichts anderes. Nichts … Gefährlicheres.«

Es war die winzige Pause vor dem letzten Wort, die um eine Winzigkeit zu beiläufige Betonung, mit der er es aussprach, die Dafydd aufhorchen ließ.

Und er war nicht der Einzige, der lauschte. Erst jetzt merkte er, dass Memphy sein Jammern eingestellt hatte. Mit kugelrunden Augen sah ihr fellbedeckter Begleiter zu den beiden Menschen empor.

»Oh, Kummer, Not und Elend!«, japste der Gnom. »Ihr sprecht von …«

»Wovon auch immer wir sprechen«, zischte Palatin. »Wir sprechen leise darüber!«

»Oh Kummer, Not und Elend!«, hauchte der Gnom. »Ihr sprecht von …«

»Der Norden ist ein weites Land«, murmelte der Barde. »Und Moldivia kann in unserer Zeit kaum mehr als den Küstenstreifen sichern. In der alten Zeit mussten wir uns keine Sorgen machen deswegen. Zu Füßen der Silberberge lag das mächtige Elbenreich von Erand’Or, das sich selbst dem Zugriff des dunklen Montezuma entzogen hatte. Das Herz von Güldenthal war wirksam geschützt, ohne dass unsere Herrscher auch nur einen Finger rühren mussten – bis in die Zeit des vierzehnten Königs. Doch heute … Es scheint tatsächlich Gerede zu geben. Die Wege jenseits von Burg Mormur sind nicht mehr sicher, heißt es. Die Zauberer bleiben unsichtbar. Wenn nicht das magische Licht über ihrer Burg leuchtete, könnte man glauben, sie seien fortgegangen. Fort wie die Elben. Doch es sind andere Kreaturen gesehen worden, Wesen der Schatten, die aus den Silberbergen hinabsteigen und im Schutze der Nacht das Versehrte Land durchqueren, in den Nadelforst hinein. Keiner der Männer, die diesen Zug begleiten, hat sie mit eigenen Augen erblickt, aber sie haben mit jemandem gesprochen, der mit jemand anderem gesprochen hat … Ihr könnt es euch vorstellen. Noch halten diese Wesen sich von den Städten an der Küste fern, so stark sind sie noch nicht, doch nach allem, was erzählt wird, könnte es sich tatsächlich …«

»Ihr sprecht von Trollen!« Der Gnom kreischte in einer Lautstärke los, dass die Zugtiere des hintersten Fuhrwerks ein verängstigtes Muhen ausstießen und Dafydd einen raschen Schritt zur Seite machen musste, als eines von ihnen vor Schreck etwas fallen ließ.

Doch auch dem Jungen standen unvermittelt die Haare zu Berge. Trolle, Elben, die Zauberer von Mormur: Wesen, die Palatins Erzählungen bevölkerten. Selbst im königlichen Kaminzimmer trat den Zuhörern ein Schauer auf den Rücken, wenn die Lieder des Barden auf diese Geschöpfe kamen. Doch dort konnte man sich darauf verlassen, dass diese Wesen weit weg waren, wenn es sie heute überhaupt noch gab. Überreste der bösen alten Zeit. Zauberer, Elben und …

»Trolle«, bestätigte der Barde. »Und vielleicht gelingt es Memphistopheles beim nächsten Mal ja, eine Winzigkeit leiser zu brüllen

Dafydd konnte nicht sagen, wie der blonde Mann das anstellte: Palatin selbst sprach leise, doch das Wort brüllen kam in einem Ton, bei dem seine Begleiter zusammenzuckten.

»Sie waren immer dort«, murmelte Dafydds Lehrmeister. »Weit draußen, in der unwirtlichen Wildnis der Berge. Die Zwerge wussten zu jeder Zeit von ihnen zu berichten. Doch die meisten Trollstämme haben sich seit der Regentschaft des vierzehnten Königs vom besiedelten Land ferngehalten. Bösartig wie ehedem fehlte ihnen doch die ordnende Hand, der dämonische Geist, der sie unter seinem Banner einigte wie in Montezumas Zeiten. Und genau das … Das Pferdevolk im Osten, die Überfälle auf die Grenzposten in Sanspareis – und nun die Trolle.«

Rasch sank die Sonne dem Horizont entgegen. Scharf und bedrohlich standen die Grate der Küstenkette gegen den rötlichen Himmel.

»Es könnte sein, dass unsere Mission dringlicher ist, als wir bis zu diesem Zeitpunkt geahnt haben«, murmelte Palatin.

Das Städtchen Thalhang bestand aus wenig mehr als einer Straßenkreuzung, an der sich die Routen aus den unterschiedlichen Himmelsrichtungen begegneten. Es gab ein Rathaus, einen kleinen Schrein, an dem die Herrin der Winde verehrt wurde – und ein halbes Dutzend Herbergen. Eine Tagesreise von der Hauptstadt entfernt ergab es sich fast von selbst, dass Reisende in der kleinen Stadt die Nacht über haltmachten.

Palatin war immer stiller geworden, während sich der Abend über die Nordstraße senkte. Vielleicht dachte er über die Geschichten nach, die er heute Abend erzählen würde. Doch als sie das Stadttor durchquerten, entgingen dem Jungen nicht die prüfenden Blicke, mit denen er die Stadtmauer musterte. Wenn man diese Ruinen als Stadtmauer bezeichnen wollte. Offenbar wurden die Reste der Befestigung seit längerer Zeit für die Anpflanzung von Rebstöcken genutzt.

Dafydd sah den älteren Mann fragend an. »Nicht gut, wenn die bösen Zeiten wiederkommen?«

Palatin schüttelte stumm den Kopf.

Über der Herberge, die der Handelszug ansteuerte, war ein ausladendes Schild befestigt, das einen bärtigen Kopf zeigte und daneben den Schriftzug: Zum Zwergenwirt. Der Name musste sich auf einen früheren Inhaber beziehen. Der Mann, der die Reisenden erfreut zu sich winkte, überragte selbst den hochgewachsenen Palatin.

»Erblicke ich wahrhaftig einen Mann der Geschichten und Gesänge vor mir, der das Ohr der durstigen Gäste erquickt, ihre Augen zu Tränen und ihre Kehlen zum Trinken rührt?«

Unübersehbar war es vor allem die Aussicht auf die durstigen Kehlen, die den geschäftstüchtigen Mann solche Lobeshymnen anstimmen ließ. Jedenfalls zerrte er Palatin und Dafydd mehr oder weniger in seine Taverne. Memphy forderte er lediglich mit einem matten Nicken auf. Der Appetit der Gnome war gefürchtet, und es verstand sich von selbst, dass der Barde – und seine Begleiter – Gäste des Hauses waren. Memphistopheles verschwand dann auch sogleich in Richtung Küche. Dafydd rechnete nicht damit, ihn in den nächsten Stunden zu Gesicht zu bekommen.

Während sich Palatin auf einem kleinen Hocker vor dem Kamin niederließ und vorsichtig seine mächtige Harfe vom Rücken schnallte, sah sich der Junge unauffällig in der Wirtsstube um. Besonders weit sehen konnte er allerdings nicht. An einem grob gezimmerten Tisch vor dem Fenster hatte sich eine Gruppe von Zwergen versammelt, die aus langstieligen Tonpfeifen ein übel riechendes Kraut in die Luft pusteten. Dafydd beneidete den Barden nicht. Er selbst hatte hier schon Mühe mit dem Atmen. Er mochte sich gar nicht vorstellen, wie es sein musste, an einem solchen Ort auch noch zu singen. Es war nicht mal der Rauch allein, auch die Wortfetzen in mehreren verschiedenen Sprachen, dazwischen Gegröle, wenn jemand ein Trinklied anstimmte.