3Paul Feyerabend

Naturphilosophie

Herausgegeben und mit
einem Vorwort von Helmut Heit
und Eric Oberheim

Suhrkamp

Inhalt

Paul Feyerabend als historischer Naturphilosoph
Einführung von Helmut Heit und Eric Oberheim

Paul Feyerabend: Naturphilosophie

Vorbemerkung

1.Die Voraussetzungen des Mythos und die Kenntnisse seiner Erfinder

1.1.Steinzeitliche Kunst und Naturerkenntnis

1.2.Megalithische Astronomie (Stonehenge)

1.3.Kritik primitivistischer Deutungen der Frühzeit

1.4.Das dynamische Weltbild des Steinzeitmenschen

2.Struktur und Funktion des Mythos

2.1.Theorien des Mythos

2.2.Die Theorie des Naturmythos und der Strukturalismus

3.Das Aggregatuniversum Homers

3.1.Die parataktische Welt der archaischen Kunst

3.2.Weltbild und Wissen in den Homerischen Epen

3.3.Grundsätzliches zu Wirklichkeitsauffassungen und Wissenschaftssprache

4.Übergang zur expliziten begrifflichen Erfassung der Natur

4.1.Die neue Welt der Philosophen:
Vor- und Nachteile

4.2.Historische Umstände der Philosophieentstehung

4.3.Vorläufer in den Kosmogonien des Orients und Hesiods

5.Naturphilosophie bis Parmenides

5.1.Wechselnde Weltauffassungen:
Hesiod und Anaximander

5.2.Religionskritik und Erkenntnistheorie:
Xenophanes

5.3.Der Ursprung abendländischer Naturphilosophie: Parmenides

6.Abendländische Naturphilosophie von Aristoteles bis Bohr

6.1.Zum Forschungsprogramm des Aristoteles

6.2.Mathematische Behandlung der Natur:
Descartes

6.3.Empirismus ohne Fundament:
Galilei, Bacon, Agrippa

6.4.Bewegung der Begriffe: Hegel

6.5.Probleme des Mechanizismus:
Newton, Leibniz, Mach

6.6.Vorzeichen des Neuen: Einstein, Bohr, Bohm

7.Zusammenfassung und Ausblick

Paul Feyerabend: Nachgelassene Dokumente

Brief an Jack J. C. Smart, Dezember 1963

Preparation (Antrag auf ein Forschungsjahr, 1977)

Report on 1980 Sabbatical (Bericht über ein Forschungsjahr)

Literaturverzeichnis

Editorische Notizen

7Paul Feyerabend
als historischer Naturphilosoph

Einführung von
Helmut Heit und Eric Oberheim

»Eifriger und sehr interessierter Schüler, dessen Begabung weit über dem Durchschnitt ist. Manchmal läßt er sich zu vorlauten Bemerkungen hinreißen.« Dies trugen die Lehrer der Wiener Staatlichen Oberschule für Jungen im Schuljahr 1939/40 in Paul Feyerabends Zeugnis ein, und so mancher machte später ähnliche Erfahrungen mit ihm.[1] Feyerabend war sicher einer der bemerkenswertesten und kontroversesten Wissenschaftsphilosophen des 20. Jahrhunderts, der auch außerhalb der Universitäten Aufmerksamkeit erregte. Er war vielseitig interessiert und für viele interessant. Während seine überdurchschnittliche Begabung kaum je in Frage gestellt wurde, sind die Einschätzungen hinsichtlich seines Eifers mitunter etwas zurückhaltender. Feyerabend steht, nicht zuletzt durch eine lässige Selbstinszenierung und abfällige Bemerkungen über die gelehrte Belesenheit seiner Kollegen, in dem Ruf, kein übermäßig eifriger, fleißiger und gründlicher Forscher gewesen zu sein. Nicht wenige haben auch manchen Inhalt seiner Einlassungen, ähnlich wie schon seine Lehrer, als wenig erwünschte »vorlaute Bemerkungen« empfunden. Im Rahmen einer generellen Abrechnung mit den zum Relativismus und Skeptizismus tendierenden Entwicklungen in der Wissenschaftstheorie kürte man Feyer8abend in der Zeitschrift Nature zum »Salvador Dali of academic philosophy, and currently the worst enemy of science« (Theocharis/Psimopoulos 1987: 596). Aus der Sicht der Autoren sei er das jedoch mit nur geringem Vorsprung vor Karl Popper, Thomas Kuhn und Imre Lakatos, denn die philosophische Reflexion auf Wissenschaft befinde sich insgesamt in einer unguten Entwicklung. Insofern findet sich Feyerabend hier in der guten Gesellschaft der Klassiker post-positivistischer Wissenschaftsphilosophie. Von den genannten ›großen Vier‹ der Wissenschaftstheorie des zwanzigsten Jahrhunderts ist jedoch der Eindruck, ein Feind der Wissenschaft zu sein, vor allem an Feyerabend hängengeblieben, zunächst als mediengerechtes Label (Horgan 1993) und später, posthum, als ambivalenter Ehrentitel (Preston, Munévar et al. 2000).

Die vorliegende Naturphilosophie ist geeignet, auch hinsichtlich einer etwaigen Wissenschaftsfeindlichkeit Feyerabends neues Licht auf sein Werk und seine philosophische Entwicklung zu werfen. Im Folgenden möchten wir in drei Schritten in die Lektüre dieses Textes einführen. Nach einer kurzen Erinnerung an die philosophische Entwicklung von Feyerabend rekonstruieren wir die Geschichte dieses Buches und die Gründe, warum es erst mit gut dreißigjähriger Verzögerung veröffentlicht wird (1). In einem zweiten Schritt soll die besondere Bedeutung des Manuskripts sowohl für die Feyerabend-Forschung wie auch für ein Verständnis der Entwicklung unserer Naturauffassungen herausgestellt werden (2). Feyerabend zeigt sich in der Naturphilosophie als Interpret frühgriechischer Geisteswelt und als Genealoge des okzidentalen Rationalismus. So eröffnet dieser Text nicht nur eine faszinierende Perspektive auf die Geschichte der Naturphilosophie, sondern auch auf bislang wenig berücksichtigte Aspekte im Denken Feyerabends. Zugleich ist diese Arbeit aus den frühen siebziger Jahren eine entscheidende Ressource zum Verständnis der Gemeinsamkeiten und Dif9ferenzen zwischen dem frühen und dem späten Feyerabend. Sie ist das missing link, um die spätere Radikalisierung, ihre Rechtfertigung und ihr Ausmaß als Kontinuum im Denken Feyerabends zu verstehen. Der abschließende, dritte Teil der Einleitung gibt eine Übersicht über den Aufbau und den Inhalt von Feyerabends Naturphilosophie (3).

1. Zur Geschichte eines unabgeschlossenen Projektes

Feyerabends Philosophie stand stets in einem engen Zusammenhang mit den wissenschaftlichen und philosophischen Diskussionen seiner Zeit, und nicht selten war er an diesen Diskussionen auch durch persönliche Kontakte unmittelbar beteiligt. In den späten 1940er Jahren, als er in Wien bei Felix Ehrenhaft und Victor Kraft studierte, erhielt er direkte Einsichten in den logischen Positivismus des Wiener Kreises und seine Probleme, die für die weitere Entwicklung der internationalen Wissenschaftsphilosophie von so grundlegender Bedeutung waren. In dieser Zeit lernte er auch Ludwig Wittgenstein kennen, der ihm eine Stelle in Cambridge anbot. Da aus dieser Offerte durch den frühen Tod Wittgensteins nichts wurde, nahm Feyerabend für eine Weile das Angebot an, mit Karl Popper in London zu arbeiten. In den frühen fünfziger Jahren traf er sich mehrfach mit Niels Bohr und wurde einer der prominentesten philosophischen Kritiker der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik. 1962 leitete er gemeinsam mit Thomas Kuhn, seinem damaligen Kollegen an der Universität Berkeley, die historische Wende in der Wissenschaftsphilosophie ein, die sich fortan verstärkt auch der Geschichte und Soziologie der Wissenschaften zuwandte, statt Wissenschaft allein als logisches System zu betrachten. Im Verlauf der 1970er Jahre wurde er zu einem entschiedenen Kritiker zunächst der Philosophie 10und der Schule Karl Poppers und später des Rationalismus in einem grundlegenderen Sinne. Das Schlagwort des ›anything goes‹ aus Wider den Methodenzwang (1975) sorgte innerhalb und außerhalb der akademischen Philosophie für Aufsehen. Die anschließenden Schriften, vor allem Erkenntnis für freie Menschen (1978), Wissenschaft als Kunst (1984) und Irrwege der Vernunft (1987), waren wichtige Elemente einer allgemeinen Diskussion um die Möglichkeiten und Grenzen der westlichen Wissenschaften, wie sie etwa in postkolonialen, postmodernistischen und ökologischen Strömungen im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts geführt wurden. Die Potentiale und Grenzen einer wissenschaftlichen Weltauffassung sind auch das Thema seines letzten, posthum veröffentlichten Buches Die Vernichtung der Vielfalt (1999). Feyerabends Autobiographie, Zeitverschwendung (1994), gibt einen sehr lesenswerten Eindruck von diesem bewegten Leben im Zentrum zeitgenössischer Diskussionen. Die Naturphilosophie eröffnet nun den Blick auf einen bislang wenig bekannten Feyerabend: den historischen Naturphilosophen und Theoretiker der antiken Philosophieentstehung.

Parallel zu seinem Hauptwerk Wider den Methodenzwang, das 1975 in der ersten Buchfassung auf englisch erschien, arbeitete Paul Feyerabend in deutscher Sprache an einer umfassend konzipierten Naturphilosophie. Sie sollte ursprünglich drei Bände umfassen und die Geschichte des menschlichen Naturverständnisses von den frühesten Spuren steinzeitlicher Höhlenmalereien bis zu den zeitgenössischen Diskussionen in der Atomphysik rekonstruieren. Der Arbeitstitel lautete Einführung in die Naturphilosophie. Da es sich jedoch bei der Arbeit nicht um einen einführenden Einstieg in das Thema handelt, sondern um einen eigenständigen Forschungsbeitrag Feyerabends, der eher eine historische Rekonstruktion der aktuellen Situation darstellt als eine Einführung, haben wir für die Veröffentlichung auf diese irreführende Einschränkung 11verzichtet. Das Projekt wurde seinerzeit nicht abgeschlossen, es war schon in den späten siebziger Jahren unbekannt und ist offenbar auch bei Feyerabend selbst in Vergessenheit geraten. Eine Weile tauchte der Titel noch in frühen Literaturlisten auf, verschwindet dann aber wieder.[2] In seiner Autobiographie erwähnt Feyerabend die Naturphilosophie mit keinem Wort. Nur an vereinzelten Stellen fanden sich später noch Hinweise auf das Projekt. So erwähnt Feyerabend seine Arbeit an einer Einführung in die Naturphilosophie in einem Brief an Hans Albert (vgl. Baum 1997: 133). Aber der Herausgeber des Briefwechsels nimmt diesen Hinweis vor allem als Indiz für die notorische Unzuverlässigkeit der biographischen und bibliographischen Angaben Feyerabends: »Viele Projekte kamen nicht zustande; und auch wenn eine Arbeit als im Druck befindliche bezeichnet wird, heißt das nicht, daß sie tatsächlich auch erschienen ist. So ist zum Beispiel ein für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft geplantes Werk über Naturphilosophie nie erschienen« (Baum 1997: 8). Von der Existenz dieses Werkes, das allerdings seinerzeit nicht in Darmstadt, sondern bei Vieweg in Braunschweig erscheinen sollte, weiß Baum offenbar nichts.

Aus diesem Grund waren wir einigermaßen verblüfft, als das unvollendet gebliebene Ergebnis der Bemühungen Feyerabends bei einer Recherche im Philosophischen Archiv der 12Universität Konstanz auftauchte.[3] Daß es sich bei der 245 Seiten umfassenden Kopie eines Schreibmaschinentextes um eine wichtige Quelle für die Feyerabend-Forschung handelt, wurde schnell deutlich. Der Text behandelt in fünf Kapiteln die Entwicklung des menschlichen Verständnisses der natürlichen Welt von den frühesten Höhlenmalereien und Zeugnissen der Frühgeschichte über das homerische Aggregat-Universum bis zum Substanz-Universum der Vorsokratiker, insbesondere bei Parmenides. Damit lag erstmals eine ausführliche Erörterung des von Feyerabend wiederholt angesprochenen »Aufstiegs des Rationalismus« in der griechischen Antike vor. Eher zufällig stießen wir bald danach auf eine Referenz in einer Arbeit von Helmut Spinner, in der auf die unveröffentlichte Naturphilosophie Feyerabends verwiesen wird.[4] Wie sich herausstellte, sollte Spinner damals als Herausgeber der drei Bände fungieren und hatte bereits erhebliche Zeit und Arbeit in das Projekt investiert. Dankenswerterweise hat er uns sowohl diese Vorarbeiten wie auch eine zweite, ausführlichere Version des Typoskripts zur Verfügung gestellt, die insgesamt 305 Schreibmaschinenseiten umfaßte und insbesondere um ein sechstes Kapitel erweitert worden war. Dieses sechste Kapitel skizziert die Entwicklung der Naturphilosophie von Aristoteles bis Bohr. Die verschiedenen Kapitel sind unterschiedlich gründ13lich bearbeitet, aber sie stellen insgesamt eine kontinuierlich verlaufende und intern vernetzte Argumentation dar, die im Unterschied zu der nur fragmentarisch hinterlassenen Vernichtung der Vielfalt (1999) ein zusammenhängendes, wenn auch nicht abschließend redigiertes Buch bildet.

Die nun der Öffentlichkeit vorliegende Naturphilosophie eröffnet gerade durch ihren noch nicht ganz abgeschlossenen Zustand einen interessanten Blick in die Werkstatt dieses Philosophen. Insbesondere ist sie geeignet, das auch von Feyerabend selbst inszenierte Bild eines leichtfertigen Denkers zu korrigieren. Zwar bemüht sich Feyerabend um einen leichten Stil und läßt sich noch immer zu vorlauten, nicht in jedem Fall unabweisbar begründeten Behauptungen hinreißen. Aber er tut das ausgehend von einer umfangreichen Erörterung des einschlägigen zeitgenössischen Materials und einem hier besonders deutlich nachvollziehbaren »enormen Lesepensum« (Hoyningen-Huene 1997: 8). Feyerabend zeigt sich in diesem Buch nicht nur als Provokateur, sondern auch als ein Wissenschaftler, der hart gearbeitet und viel gelesen hat. In einem Brief an Imre Lakatos vom 5. Mai 1972 klagt er darüber.

Dear Imre, Damn the Naturphilosophie: I do not have your patience for hard work, nor do I have two secretaries, a whole mafia of assistants who bring me books, check passages, Xerox papers and so on. If anarchism loses, then this is the most important reason. The examples which I find, are in books which I have found in the stacks myself, which I have carried myself, which I have opened myself, and which I have returned myself. […] The very bloody version has been written by myself, never have I asked a secretary to do my dirty work (Lakatos/Feyerabend 1999: 274 f.).

Es bleibt zu spekulieren, ob nicht nur der Anarchismus, sondern auch die »verdammte Naturphilosophie« an einer zu hohen Arbeitsbelastung gescheitert ist. Jedenfalls hat sich Feyerabend im Laufe der späteren siebziger Jahre von diesem 14Projekt getrennt. Die Zusammenarbeit mit Helmut Spinner wurde im Frühjahr 1976 abgebrochen, als Feyerabend sich anscheinend zu einer grundlegenden Überarbeitung des bisherigen Manuskripts und der weiteren Vorgehensweisen entschließt. Hierzu könnten auch die umfangreichen Kommentare und Hinweise von Spinner beigetragen haben, die Feyerabend offenbar sehr schätzte und die ihn ermunterten, den Band insgesamt zu überarbeiten. Gleichzeitig scheint die Zusammenarbeit nicht unproblematisch gewesen zu sein, auch wenn die Vereinbarungen zwischen Feyerabend, Spinner und dem Vieweg-Verlag seinerzeit einvernehmlich aufgelöst worden sind. Recht bald danach öffentlich ausgetragene Differenzen sprechen hier für sich – so bemängelt Spinner Feyerabends »philosophischen Leerlauf« (Spinner 1977: 589), während dieser sich seinerseits über das »Analphabetentum« Spinners mokiert (Feyerabend 1978: 102). Dessenungeachtet erklärt Feyerabend jedoch 1977, er wolle sich »im Laufe der nächsten zwei Jahrzehnte« mit verschiedenen Veröffentlichungen darum bemühen, »moralischen und intellektuellen Müll beiseite zu räumen, so daß neue Formen des Lebens zum Vorschein kommen können […]. Dazu zählt auch die Einführung in die Naturphilosophie, die 1976 erscheinen sollte, die ich aber zurückgezogen habe, um einige größere Überarbeitungen vorzunehmen« (Feyerabend 1977: 181). Daß es dazu nicht gekommen ist, hat sicher auch mit den Reaktionen auf sein anderes Buch aus dieser Zeit zu tun.

War Feyerabend bis Mitte der siebziger Jahre vor allem ein erfolgreicher, streitbarer und angesehener Wissenschaftsphilosoph, so geriet er durch sein Hauptwerk Against Method unversehens ins Zentrum der allgemeinen intellektuellen und kulturellen Diskussion. Der Effekt, den die vorwiegend negativen Reaktionen auf Wider den Methodenzwang bei Feyerabend hatten, dürfte für die Arbeit an der Naturphi15losophie durchaus ambivalent gewesen sein. So könnten dadurch seine Ansprüche an die Qualität und Eindeutigkeit des Textes gestiegen sein, um weiteren Mißverständnissen vorzubeugen. Denn Feyerabend mochte zwar über »Sonntagsleser, Analphabeten und Propagandisten« schimpfen (1978: 100 ff.), ganz frei von der Verantwortung für diese Fehldeutungen wird er sich doch nicht gefühlt haben. Darauf deuten auch die umfangreichen Überarbeitungen, die er immer wieder an dem Text vorgenommen hat. Against Method ist ursprünglich 1970 als längeres Essay in den Minnesota Studies in the Philosophy of Science veröffentlicht worden. 1975 erscheint die erste englische Buchfassung. Da Feyerabend jedoch in den folgenden Jahren die beiden Neuauflagen (1988, 1993) und auch die beiden deutschen Übersetzungen (1976, 1983) zum Anlaß umfassender Revisionen und Überarbeitungen nimmt, liegen heute zumindest sechs Fassungen von Wider den Methodenzwang vor, die in Inhalt, Umfang und Teilen der Argumentation mitunter erheblich voneinander abweichen. Noch in seiner Autobiographie schreibt er rückblickend: »WM ist kein Buch, sondern eine Collage« (1994: 189). Diese Collage hat zwar seinen internationalen Ruhm begründet, aber seiner Stimmung und seinem Selbstwertgefühl offenbar nicht unbedingt genützt. »Einige Zeit, nachdem sich der Entrüstungssturm erhoben hatte, verfiel ich in Depressionen, die über ein Jahr lang anhielten. […] Ich habe oft gewünscht, daß ich dieses idiotische Buch nie geschrieben hätte« (1994: 199 f.). Feyerabend war viele Jahre damit beschäftigt, Wider den Methodenzwang zu explizieren. Vielleicht wäre die Naturphilosophie eine bessere Antwort auf Kritiker gewesen, als es Erkenntnis für freie Menschen war.[5] 16Wie dem auch sei, die Auseinandersetzungen um Wider den Methodenzwang und die damit verbundenen beruflichen und privaten Belastungen dürften jedenfalls eine wichtige Rolle für die Nicht-Veröffentlichung dieses immerhin fast vollständig abgeschlossenen Buches gespielt haben.

Dem nun vorliegenden Band sind einige zusätzliche Dokumente beigefügt, die über das weitere Schicksal der Naturphilosophie und über Feyerabends eigene Einschätzung seiner wissenschaftlichen Entwicklungen, Leistungen und Ziele Aufschluß geben können. Eine besonders interessante Quelle für die Vorgeschichte der Naturphilosophie stellt ein längerer und gehaltvoller Brief dar, den Feyerabend im Dezember 1963 an Jack Smart geschrieben hat. Feyerabend betont darin gegenüber seinem australischen Kollegen, er habe schon immer eine Arbeit über die Natur der Mythen schreiben wollen, um zu zeigen, daß sie vollentwickelte alternative Weltauffassungen seien. Dazu verbindet er verschiedene sprachphilosophische und kantische Überlegungen, wonach unsere Weltauffassung stets durch begriffliche Schemata mitkonstituiert werde, mit dem Gedanken, daß diese Schemata weder eingeboren noch historisch unveränderlich seien. Vielmehr belege die historische Forschung und der Kulturvergleich die Existenz alternativer Weltauffassungen, die ihrerseits voll entwickelt, eigenständig und funktional erfolgreich seien. Diese Überlegung illustriert Feyerabend am Beispiel der Lebendigkeit und Vollständigkeit des griechischen Mythos durch ein Zitat aus Nietzsches Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. Dasselbe Zitat und denselben Gedanken greift er nicht nur in der Naturphilosophie (s. u., Kap. 3.3), sondern auch zwanzig Jahre später in Wissenschaft als Kunst (1984a: 51) wieder auf. Der Brief an Smart eröffnet zudem eine spezifische Perspektive auf Feyerabend, die in der später veröffentlichten Antwort an Kritiker: Bemerkungen zu Smart, Sellars und Putnam (1965) in der Fülle der behandelten Punkte leicht übersehen wird. 17Die grundlegende Tendenz Feyerabends, die wissenschaftliche Naturauffassung mit mythischen und ethnologischen Alternativen zu vergleichen, wurde bereits Anfang der sechziger Jahre gelegt, wenn auch mit zunächst weniger radikalen Konsequenzen. Dieser Umstand wird auch aus zwei autobiographisch und programmatisch sehr aufschlußreichen, bislang unveröffentlichten Texten ersichtlich.

In einem Antrag auf ein Forschungsjahr aus dem Jahre 1977 beschreibt Feyerabend die zunehmende Radikalisierung seiner Skepsis gegenüber der wissenschaftlichen Rationalität. Ausgehend von historischen Untersuchungen der tatsächlichen Wissenschaftspraxis habe er zunächst die beschränkte Geltung methodologischer Regeln erkannt, um dann zu einer grundsätzlichen Kritik von validen Abgrenzungskriterien zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft zu kommen. Aber erst durch eine Untersuchung von Mythen und frühgriechischer Kunst habe er die These entwickelt, daß es voll entwickelte Alternativen zu einer wissenschaftlichen Weltauffassung geben kann, die sich zugleich nicht nach wissenschaftlichen Kriterien evaluieren lassen, sondern nur nach ihren jeweils eigenen. Schließlich habe er eingesehen, daß sich nicht einmal die mutmaßlichen Regeln der Vernunft zu einer essentiellen Diskriminierung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft eigneten. Daher wolle er im Rahmen eines langfristigen Projekts an einer neuartigen Theorie des Wissens arbeiten, die diese Situation in Rechnung stellt. Ein erster Schritt in diese Richtung, sein »short range plan«, ist die Überarbeitung und Vervollständigung seiner Naturphilosophie. Der hinterher, im Jahre 1985 verfaßte Bericht über ein Forschungsjahr erwähnt zwar noch das lang- und das kurzfristige Projekt, aber von der Naturphilosophie ist nicht mehr die Rede. Teile der angesprochenen Themen tauchen wieder auf, insbesondere zur antiken Mythologie und Weltauffassung, auch die in dem 18Arbeitsbericht aufgeführte Liste der Diskussionspartner ist aufschlußreich. Aber es wird doch deutlich, daß Feyerabend sein größeres und auch sein kleineres Projekt nicht verwirklicht hat. Dieser Ausgang ist jedoch nach Einschätzung der Herausgeber nicht so zu verstehen, daß Feyerabend – wie vielleicht im Rahmen von Anträgen auf Freisemester nicht völlig ausgeschlossen – ohnehin von vorneherein nicht ernsthaft an eine Umsetzung der Vorhaben gedacht hat. Vielmehr zeugt die nun vorliegende Naturphilosophie, aller anarchistischen Selbstinszenierung Feyerabends zum Trotz, von der Ernsthaftigkeit seiner Arbeit und seines Anliegens. Soweit dieser Text Aufschluß über die Motive und Fragen Feyerabends in den 1970er Jahren gibt, schließt er auch die Lücke zwischen einem etwaigen früheren, naturwissenschaftlich orientierten, seriösen Wissenschaftstheoretiker und einem späteren, allgemein kulturphilosophisch interessierten und gesellschaftskritischen enfant terrible.

2. Die Naturphilosophie im Kontext von Feyerabends philosophischer Entwicklung

Die besondere Bedeutung der Naturphilosophie für das Verhältnis von Kontinuität und Wandel im Denken Feyerabends ist nur vor dem Hintergrund seiner früheren Arbeiten verständlich. Auf den ersten Blick machen Feyerabends Arbeiten in den 1950er und 1960er Jahren einen höchst heterogenen Eindruck, ein gemeinsames, organisierendes Zentrum scheint es nicht zu geben. Man kommt leicht zu der Vorstellung einer Reihe unverbundener kritischer Essays, die zum Teil widerstreitende Ideen in unterschiedliche Richtungen entwickeln, ohne systematisch verbunden zu sein. Nicht wenige sehen darin keinen Grund zur Verwunderung, immerhin bezeichnete sich Feyerabend selbst als epistemischen Anarchisten. Dar19über hinaus hat Feyerabend oft zum Mittel der immanenten Kritik gegriffen und dazu bestimmte Überzeugungen anderer Autoren übernommen, um ihre internen Probleme herauszuarbeiten. Dadurch blieb sein eigener Standpunkt, sofern er einen vertrat, oftmals im verborgenen. Ein genauerer Blick auf Feyerabends frühere Arbeiten zeigt jedoch die erstaunlich konsistente Wiederkehr einer bestimmten Denkfigur, die aus zwei Elementen besteht: Die ansonsten unterschiedlichen Gegenstände seiner Kritik erscheinen alle als verschiedene Formen des begrifflichen Konservatismus, und Feyerabends Kritik daran beruht stets auf der Annahme bisher nicht beachteter inkommensurabler Alternativen zu den vorherrschenden Ideen. Schon in seiner Dissertation Zur Theorie der Basissätze verwendet Feyerabend den Gedanken der Inkommensurabilität, freilich nicht den Begriff, zur Kritik eines begrifflichen Konservatismus in Heisenbergs Konzept einer geschlossenen Theorie. Die konservative und exklusive Verwendung etablierter und erfolgreicher Begriffe und Theorien hält Feyerabend für problematisch, denn sie bevorzugt unzulässigerweise die bestehenden Theorien gegenüber potentiellen Verbesserungen und behindert so den wissenschaftlichen Fortschritt. Dieser Impuls zieht sich durch fast alle damaligen Texte. Feyerabends frühe Philosophie kann als eine Folge von unterschiedlichen Angriffen auf jegliche Form des begrifflichen Konservatismus verstanden werden.[6] Anstelle des begrifflichen Konservatismus plädiert er für Pluralismus und Theorienproliferation, besonders deutlich in seiner bereits erwähnten Antwort an Kritiker wie Smart oder Putnam:

Die Hauptkonsequenz ist das Prinzip des Pluralismus: Man erfinde und entwickle Theorien, die der gängigen Auffassung widersprechen, auch wenn diese sehr gut bestätigt und allgemein anerkannt 20ist. Die Theorien die man nach diesem Prinzip neben der gängigen Auffassung verwenden soll, nenne ich Alternativen dieser Auffassung (1965a: 128 f.).

An dieser Stelle sind verschiedene Punkte bemerkenswert, die über die philosophische Entwicklung Feyerabends und die Rolle der Naturphilosophie dabei Aufschluß geben können. Zunächst ist hervorzuheben, daß Feyerabend sogleich in einer Fußnote präzisiert, »wenn ich von Theorien spreche, so meine ich auch Mythen, politische Ideen, religiöse Systeme« (1965a: 128). Sein Begriff der Theorien und damit der diskussionswürdigen Alternativen beschränkt sich nicht auf wissenschaftliche Satzsysteme. Vielmehr geht es ihm um Gedankengebäude grundlegender Tragweite, um universale ›Theorien‹, die »mindestens auf einige Aspekte alles Daseienden anwendbar« sind. So schließt er Schöpfungserzählungen oder spekulative Metaphysiken explizit mit ein. Zweitens ist beachtlich, daß Feyerabend die Antwort an Kritiker (Reply to Critics) in seinem hier erstmals abgedruckten Antrag auf ein Forschungsjahr (1977) als Zusammenfassung der Überlegungen aus Explanation, Reduction, and Empiricism (1962), Problems of Empiricism (1965b) und Von der beschränkten Gültigkeit methodologischer Regel (1972) bezeichnet. Diese Texte sind seine wichtigsten philosophischen Arbeiten dieser Zeit, in denen er den Begriff der Inkommensurabilität in die wissenschaftstheoretische Debatte einführt (1962, zeitgleich mit Kuhn) und grundlegende Argumente für seine Kritik des Methodenzwangs vorbringt. Inwiefern ein Mythos als echte, gegebenenfalls inkommensurable Alternative einer wissenschaftlichen Theorie in Frage kommt, ist ein zentraler Gegenstand der Naturphilosophie. Während und durch die Arbeit an dieser Frage radikalisiert sich Feyerabends Einschätzung der Wissenschaften. War 1965 noch der wissenschaftliche Fortschritt das Ziel, dem der Theorienpluralismus dienen sollte, so zeigt sich der spätere Feyerabend 21weniger überzeugt davon, daß wissenschaftlicher Fortschritt in jedem Fall erstrebenswert ist. In einem rückblickenden Nachtrag zu seiner Antwort an Kritiker schreibt er 1980:

Ganz überrascht bin ich heute, wenn ich diese militant szientistische Abhandlung lese. Sie wendet sich zwar gegen gewisse Auffassungen von den Wissenschaften, wie einen extremen Empirismus und Monismus, aber eine pluralistisch geläuterte Wissenschaft gilt doch noch immer als die Grundlage unserer Einstellung zur Welt (1965a: 160).

Der Sinneswandel, den Feyerabend im Rückblick selbst deutlich wahrnimmt, ist gelegentlich als fundamentaler Bruch in seinem Denken und als Wende zum Irrationalismus verstanden worden.[7] Nicht zuletzt durch Feyerabend selbst ist zudem der Eindruck entstanden, dieser Schritt zu einer radikaleren Relativierung der westlich-wissenschaftlichen Weltauffassung sei vor allem die Konsequenz seiner sogenannten Berkeley-Erfahrung. Feyerabend verweist in seiner Autobiographie auf die Studentenrevolte und die Öffnung der Universitäten für Studierende mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, insbesondere für Afro-Amerikaner: »Sollte ich sie weiterhin mit intellektuellen Delikatessen füttern, die ein Teil der weißen Kultur waren?« (1994: 168)[8] So könnte der nachhaltige Zweifel an der wissenschaftlichen Weltauffassung als soziokulturell motivierte Idiosynkrasie Feyerabends erscheinen. Fügt man jedoch die Naturphilosophie dem Gesamtbild der Entwicklung Feyerabends hinzu, 22so wird deutlich, daß er nicht nur Gründe für seine Skepsis vorbringt, sondern auch daß diese Gründe als konsequente Erweiterung, als Radikalisierung seiner früheren Philosophie zu verstehen sind. Indem Feyerabend umsetzt, was er in dem Brief an Smart ankündigte, nämlich eine Arbeit über das Phänomen der Mythen als voll entwickelte Weltauffassungen, als universale Theorien im oben ausgeführten Sinne zu schreiben, bekommt er die wissenschaftliche Weltauffassung als Ganzes in den Blick und stellt ihr eine Alternative, die Welt Homers, gegenüber. Getreu seinem Prinzip des Pluralismus besteht nur im Vergleich mit solchen alternativen Auffassungen die Möglichkeit zu einem ernsthaften Test und einer fairen Evaluation der wissenschaftlichen Weltauffassung selbst. Der Schritt zur grundlegenden (und mitunter als Irrationalismus mißverstandenen) Wissenschaftskritik Feyerabends kann als Verbindung des Proliferationsprinzips und der Inkommensurabilitätsthese mit seinen Forschungen zur Antike verstanden werden. Diese allgemeine Radikalisierung läßt sich auch außerhalb der Naturphilosophie an seiner Deutung der Antike nachvollziehen.

Feyerabend war zeitlebens an Themen der griechischen Antike interessiert. Das gilt schon für seine auch naturphilosophisch interessante frühe Arbeit Physik und Ontologie, in der er bereits »das mythologische Stadium, das metaphysische Stadium und das naturwissenschaftliche Stadium« erklärender Weltbilder unterscheidet (1954: 464), bis hin zu seiner noch auf dem Sterbebett bearbeiteten Vernichtung der Vielfalt. Der Transformation des Denkens in der frühgriechischen Antike hat er ausgedehnte, wenn auch leider wenig beachtete Passagen seines Hauptwerkes gewidmet (1975: 303-356) und in vielen anderen Schriften antike Quellen erörtert. Das grundlegende Motiv dafür hat er einmal in Wissenschaft als Kunst wie folgt benannt: »Die Einführung abstrakter Begriffe im griechischen Abendland ist eines der merkwürdig23sten Kapitel in der Geschichte unserer Kultur« (1984a: 50). Die Transformation des Denkens in der griechischen Antike ist für Feyerabend vielleicht zunächst nur eine besonders faszinierende historische Fallstudie, aber darüber hinaus erscheint sie als Grundlegung einiger zentraler Elemente der abendländischen Naturauffassung. Aus diesem Grund widmet sich Feyerabend immer wieder der frühgriechischen Geisteswelt. Allerdings hat seine Auffassung vom Denken der Antike im Laufe der sechziger Jahre eine grundlegende Veränderung erfahren, die mit seiner allgemeinen Entwicklung korrespondiert und am ehesten als Radikalisierung zu verstehen ist. In seinen früheren Texten war Feyerabend hinsichtlich der vorsokratischen Philosophie offenbar stark von Karl Popper beeinflußt. In Knowledge without Foundations (1961) geht er noch davon aus, das wissenschaftliche Wissen sei durch einen Prozeß von Vermutungen und Widerlegungen entstanden: »by a process of rational criticism which relentlessly investigates every aspect of the theory and changes it in case it is found to be unsatisfactory. The attitude towards a generally accepted point of view such as a cosmological theory or a social system will therefore be an attitude of criticism« (1961: 48). Diese Auffassung reproduziert im wesentlichen Poppers Zurück zu den Vorsokratikern (1958). Im Zusammenhang mit seiner partiellen Abkehr von Popper ändert sich auch seine Einschätzung der Transformation des Denkens in der griechischen Antike. Nun erscheint der Schritt vom Mythos zum Logos nicht länger als Episode in einer allgemeinen Fortschrittsgeschichte, deren Motor die vernünftige Kritik früherer Positionen ist. In seiner Autobiographie macht er für diesen Sinneswandel insbesondere die Lektüre von Bruno Snell geltend.

Das lange Kapitel über Inkommensurabilität [in Wider den Methodenzwang] war das Ergebnis ausgedehnter Studien, die sich vor allem auf drei Bücher bezogen: Bruno Snells Die Entdeckung des 24Geistes, Heinrich Schäfers Von ägyptischer Kunst und Vasco Ronchis Optics. Ich erinnere mich noch an meine Aufregung, als ich bei Snell über den homerischen Begriff des Menschen las (1994: 190).

Bislang war diese Selbstbeschreibung Feyerabends insoweit nicht recht nachvollziehbar, als er seine Argumente gegen den begrifflichen Konservatismus und gegen die zwanghafte Anwendung einer fragwürdigen wissenschaftlichen Methode vor allem mit Beispielen aus der neuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte erläutert hat. Dementsprechend wußte die Feyerabend-Forschung bislang wenig mit dieser Stelle anzufangen.[9] Vor dem Hintergrund unserer Edition läßt sich dieser Rückblick als Ergebnis seiner Arbeiten an der Naturphilosophie verstehen, die in rudimentärer und wenig beachteter Form auch Eingang in Wider den Methodenzwang (und spätere Werke) gefunden haben. Feyerabend legt sich in der Naturphilosophie die Frage nach den Anfängen der abendländisch-wissenschaftlichen Naturauffassung vor.[10] Und er ist bereits hier der Überzeugung, nicht Argumente, sondern die Geschichte habe die homerisch-mythische Weltauffassung widerlegt. Auf diese Weise erschließen sich auch andere Verweise auf die besondere Bedeutung der antiken Transformation des Denkens für Feyerabends Einstellung zur Wissenschaft. In der überarbeiteten deutschen Fassung von Erkenntnis für freie Menschen erläutert Feyerabend, er habe in Wider den Methodenzwang drei historische Beispiele erörtert, um die Schwierigkeiten wissenschaftstheoretischer Methodologien aufzuzeigen, wie sie etwa von Popper oder 25Lakatos vorgelegt worden waren. Neben Einsteins Ersetzung der klassischen Mechanik und Galileios Verteidigung des kopernikanischen Systems war »das dritte Beispiel […] der Übergang vom Aggregatuniversum Homers zum Substanzuniversum der Vorsokratiker« (1978: 30). Zwar gehöre dieses Beispiel nicht zur Geschichte der Wissenschaft, sondern vielmehr zu ihrem vorgeschichtlichen Anfang, aber »die Erklärung der Inkommensurabilität, die aus ihm hervorgeht, paßt genau« (1978: 30). Die grundlegenden Konzepte der Welt Homers und der Welt der Vorsokratiker seien inkommensurabel, denn »sie lassen sich nicht gleichzeitig verwenden, und man kann keine logischen oder wahrnehmungsmäßigen Verbindungen zwischen ihnen herstellen« (1975: 301).[11]

Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, daß Inkommensurabilität für Feyerabend nicht Unvergleichbarkeit bedeutet, sondern nur auf das Fehlen eines gemeinsamen Maßstabs verweist. Inkommensurable Theorien lassen sich nicht intern zueinander in Beziehung setzen, sondern nur von einem bestimmten Standpunkt aus vergleichen, der nicht automatisch als überlegen aufgefaßt werden darf, da dessen Vergleichs- und Bewertungsstandards ihrerseits immer Teil einer Weltauffassung sind. Um in diesem Sinne inkommensurabel zu sein, müssen die homerische und die vorsokratische Weltauffassung als vollständige und funktionale Begriffs- und Wahrnehmungswelten aufgefaßt werden können. So wird verständlich, warum Feyerabend in der Naturphilosophie eine Deutung der homerischen Epen und der archaischen Kunst und Religion im Sinne einer universalen und empirisch ge26haltvollen Theorie liefert. Der naturalistischen Metaphysik und der logozentrischen Beweisführung der Vorsokratiker stellt er die ganzheitliche und kontextsensitive Weltauffassung der homerischen Religion gegenüber. Besondere Bedeutung erwächst diesem historischen Fall auch dadurch, daß er gerade nicht zur Geschichte der Wissenschaften gehört, sondern einen wichtigen Anfang derselben markiert. Dadurch eröffnet er die Möglichkeit, der Wissenschaft selbst eine Alternative gegenüberzustellen. Gleichzeitig ist es unter dem Gesichtspunkt der Inkommensurabilität nicht legitim, nichtwissenschaftliche Theorien nach wissenschaftlichen Standards zu beurteilen. Die besondere Qualität der wissenschaftlichen Standards müßte auf anderem Wege gezeigt werden. Nur auf der Basis solcher Überlegungen kann der spätere Feyerabend den Glauben an Atome mit dem Glauben an Götter parallelisieren (cf. 1987a: 128 f.) und eine bislang ausgebliebene faire Evaluation der wissenschaftlichen Weltauffassung einfordern (cf. 1978: 113; 1999: 30).

All dies zeigt, daß die Naturphilosophie zentral für die philosophische Entwicklung Feyerabends war. Feyerabend forderte in den 1950er und 1960er Jahren durch die Entwicklung inkommensurabler Alternativen die unterschiedlichsten Formen des begrifflichen Konservatismus heraus. Basis und Ziel der Kritik war dabei die wissenschaftstheoretisch begründete Überzeugung, daß nur ein Pluralismus von Theorien den wissenschaftlichen Fortschritt nicht behindern würde. Bei der Auseinandersetzung mit der antiken Transformation vom Mythos zum Logos, die im Zentrum der Naturphilosophie steht, widmete er sich einem spezifischen Fall inkommensurabler Weltbilder. Dieser historische Fall ist insofern besonders beachtlich, weil er die Entstehung einiger allgemeiner Standards, Auffassungen und Werte der abendländisch-wissenschaftlichen Weltauffassung markiert. Namentlich die Präferenz für begrifflich-beweisende Metho27den, abstraktes und kontextunabhängiges Denken sowie eine naturalistische Metaphysik unterscheiden wissenschaftliche Theorien gemeinschaftlich von ihren nichtwissenschaftlichen Alternativen. Im Verlauf der Arbeit an der Naturphilosophie stellt sich Feyerabend die Frage nach Nutzen und Nachteil dieser Standards für ein glückliches Leben. Die Verbindung von Pluralismus und Fortschritt bleibt dabei tragend, aber wissenschaftlicher Fortschritt und kultureller und sozialer Fortschritt fallen für den späteren Feyerabend nicht mehr notwendig zusammen. Mit dem Ziel, zu einer fairen vergleichenden Bewertung der wissenschaftlichen Weltauffassung beizutragen, arbeitet er Mythos und Kunst als starke Alternativen zu dieser Auffassung heraus. Die spätere kritische Haltung gegenüber der abendländischen Wissenschaft erweist sich so als Ausweitung seiner Kritik des begrifflichen Konservatismus durch die Entwicklung inkommensurabler Alternativen; sie ist orientiert am Ideal menschlichen Fortschritts.

3. Übersicht über den Argumentationsgang der Naturphilosophie

Feyerabend zeigt sich in seiner Einführung in die Naturphilosophie als kritischer Historiker des abendländischen Naturdenkens, der für einen pragmatischen Gebrauch der menschlichen Vernunft plädiert. Er verstand seine Arbeit als ›Einführung‹ in dem Sinne, daß sie historisch auf die heutige Situation hinführt, sie ist eine Genealogie der modernen Naturauffassung vor dem Hintergrund vergangener und vielleicht auch zukünftiger Alternativen. Es gab funktional erfolgreiche Alternativen zu der modernen, wissenschaftlichen Lebensform, die geradeso wie unsere über eine Reihe von Vor- und Nachteilen verfügen. Mit dem Ziel, die Schwächen 28der abstrakt-wissenschaftlichen und die Stärken von alternativen Naturauffassungen herauszuarbeiten, erweitert er den üblichen Horizont historisch und interdisziplinär beträchtlich, indem er vor allem drei weitere Aspekte mit einbezieht: Das ist erstens die Ur- und Frühgeschichte, die in Forschungen zur Eiszeitkunst, zur Steinzeitwissenschaft, zu altägyptischer und babylonischer Kunst und Wissenschaft sowie zur Welt Homers ihren Ausdruck findet. Zweitens diskutiert er ethnographische und sozialanthropologische Studien zu indigenen Völkern, wobei er sich vor allem gegen die eurozentrische These vom anfänglichen und primitiven Denken wendet, um ein angemesseneres Bild mythischen Denkens zu entwickeln. Drittens bezieht er die klassische Kunstgeschichte in seine Naturphilosophie mit ein. Damit setzt sich Feyerabend trotz seiner umfassenden Lektüre der Gefahr gelegentlichen Dilettierens aus. Manche seiner Thesen, etwa über den fragmentarischen psychologischen Zustand des homerischen Menschen, werden heute unter Fachwissenschaftlern mehrheitlich in Frage gestellt.[12] Aber zugleich erweitert er auf überaus inspirierende Weise den klassischen Horizont historischer Untersuchungen. Darin ist durchaus ein Vorzug gegenüber anderen Einführungen in die Naturphilosophie zu sehen, die zumeist nicht hinter die vorsokratische Philosophie oder gar auf außereuropäische Kulturen zurückgreifen.[13]

Dieser umfassenden Programmatik entsprechend widmet sich Feyerabend in den ersten beiden Kapiteln den frühesten 29Zeugnissen menschlicher Naturforschung. Mit Hilfe archäologischer und kulturhistorischer Forschungen sowie durch sozialanthropologische Vergleiche bemüht er sich um eine Rekonstruktion der steinzeitlichen Naturauffassung. Bei den Thesen zu Stonehenge als frühem Astronomiezentrum und zu einer dynamischen Naturauffassung der Steinzeitkultur stützt sich Feyerabend insbesondere auf eine nicht-primitivistische Deutung der frühen Kulturen.[14]homo sapiens