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Peter Stäuber

Sackgasse Brexit

Reportagen
aus einem gespaltenen Land

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Für meine Eltern und Sheena

Mit Unterstützung von

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Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem
Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2018 Rotpunktverlag, Zürich

www.rotpunktverlag.ch

Umschlagfoto: amer ghazzal / Alamy Stock Photo

eISBN: 978-3-85869-809-4

1. Auflage 2018

Inhalt

Einführung

Kapitel 1

London: Europäische Metropole, Wiege der Brexit-Elite

Kapitel 2

Großbritannien und die EU: Eine kurze Geschichte

Kapitel 3

Great Yarmouth: Verloren an der Nordsee

Kapitel 4

Erbe des Empire: Rassismus, Nationalismus, Nostalgie

Kapitel 5

Merthyr Tydfil: Nothing to lose

Kapitel 6

Der britische Boulevard: Seichter Journalismus, beinharte Politik

Kapitel 7

Schottland: Zwischen Brexit und Unabhängigkeit

Kapitel 8

Von Derby nach London: Der Aufstieg der Labour-Partei

Schlusswort

Anmerkungen

Einführung

Brexit ist alles. Ein Triumph, eine Katastrophe, eine Befreiung, ein Fehler. Für die einen stellt er eine Rückkehr zu vergangener Größe dar, für die anderen den Anfang vom Ende. Monumental war die Abstimmung vom 23. Juni 2016, darüber ist man sich einig, aber über alles andere gehen die Meinungen weit auseinander. Manche sehen im Brexit einen nationalistischen Aufstand, während andere ihn als Hilfeschrei der Armen interpretieren – ein Signal der Globalisierungsverlierer, dass sie die Schnauze voll haben. Viele halten Rassismus für die wichtigste Triebkraft, andere die gesellschaftliche Ungleichheit, wieder andere die Nostalgie für ein früheres Zeitalter. Genauso wenig Einigkeit besteht darüber, wer überhaupt für den EU-Austritt gestimmt hat: Waren es die Engländer, die Alten oder die Bedürftigen? Die Ungebildeten oder die Arbeiterklasse? Einige Leute sind der Meinung, dass Großbritannien seit dem 24. Juni 2016 plötzlich ein ganz anderes Land ist – eines, das sie nicht wiedererkennen, obwohl sie ihr ganzes Leben darin verbracht haben. Andere Beobachter hingegen sehen im Entscheid für den EU-Austritt die Kulmination einer jahrzehntelangen Entwicklung, die man hätte sehen können, wenn man nur hingeblickt hätte. Und einige haben sogar das Gefühl, dass das Land den Brexit gar nicht wolle: Nur 26 Prozent der Gesamtbevölkerung stimmten dafür – ein demokratisches Mandat sei das nicht.

Aber auch mit solch spitzfindigen Kalkulationen kommt man nicht um die Tatsache herum, dass der Brexit da ist. Als Premierministerin Theresa May im Frühling 2017 das Austrittsgesuch in Brüssel hinterlegte, stand fest: Ab dem 30. März 2019 ist Großbritannien nicht mehr Mitglied der Europäischen Union. Dann soll eine Übergangsphase beginnen, die voraussichtlich bis Ende 2020 dauern wird. Was danach kommt, ist noch ungewiss. Die Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre geben allerdings wenig Anlass zu Zuversicht.

Voller Enthusiasmus war die Regierung in die Verhandlungen gestartet, Großes wurde versprochen: Die Briten würden ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen und ein neues Land errichten, eines, das auf »Anstand, Fairness und leiser Entschlossenheit« beruhe – eine britischere Vision gibt es nicht.1 Ungleichheit werde man bekämpfen, Steuerflüchtlinge an die Zügel nehmen, Ungerechtigkeiten ausmerzen, die gespaltene Gesellschaft zusammenfügen. Die Idee eines »globalen Großbritannien« riss manche Brexit-Anhänger zu Begeisterungsstürmen hin – befreit von den Fesseln der Europäischen Union könne man wieder zur angestammten Position zurückfinden, nämlich zum Knotenpunkt der internationalen Staatengemeinschaft.

Aber im Lauf der folgenden zwei Jahre entsagte die Regierung ihrer Visionen, ihr neuer Freund wurde der Realitätssinn. Und dieser sagt: Der Brexit wird kaum zu mehr Macht und Einfluss führen, sondern vielmehr zu einer langsamen Verkümmerung, an deren Ende Großbritannien ärmer und kleiner ist. Zumindest ist das das Szenario, dem das Land derzeit entgegenblickt. Als der Austrittsprozess erst einmal in Gang gesetzt wurde, war London klar in der schwächeren Position: Wenn innerhalb der zweijährigen Frist bis zum Austritt kein neues Abkommen ausgehandelt worden ist, würde Großbritannien ohne Nachfolgevertrag aus der EU krachen und sich von einem Tag auf den anderen als Drittstaat wiederfinden (es sei denn, die EU gewährt kurzfristig eine Verlängerung); in dem Fall wäre der wirtschaftliche Schaden für die EU zwar groß, für die Briten hingegen katastrophal. Nach und nach lernte das britische Verhandlungsteam, dass die EU überaus unflexibel ist, wenn Staaten versuchen, Rosinen zu picken. So musste eine rote Linie nach der anderen aufgegeben werden, was anfangs noch als Tabu galt, wurde plötzlich widerstandslos hingenommen – etwa die fortgesetzte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs oder die Zahlung einer »Scheidungsrechnung«: Beides hat Großbritannien mittlerweile geschluckt. »Aus der EU auszutreten, kann schnell und einfach sein – das Vereinigte Königreich hält die meisten Karten in der Hand«, sagte Brexit-Anhänger John Redwood im Juli 2016. Ein Jahr später gestand der damalige Brexit-Minister David Davis: »Niemand hat jemals so getan, als sei dies einfach. Ich habe immer gesagt, dass die Verhandlungen hart, komplex und manchmal konfrontativ sein werden.«2 Konfrontationen gab es tatsächlich, und sie endeten stets damit, dass Großbritannien zum Rückzug blies. Hoffnungslos überfordert und ohne klaren Plan manövriert die Regierung das Land aus der EU, wie ein Segel-Debütant, der sich schnell mal an einer Atlantiküberquerung versucht. Kurz bevor dieses Buch in den Druck ging, gaben Brexit-Minister David Davis und Außenminister Boris Johnson ihre Posten auf, aus Protest gegen die Kompromisse, die die Premierministerin gegenüber Brüssel gemacht hat; »der Brexit-Traum stirbt«, schrieb Johnson in seiner schwülstigen Rücktrittserklärung.

Unterdessen sind die Spaltungen, die sich durch die britische Gesellschaft ziehen, in aller Deutlichkeit zum Vorschein gekommen: zwischen Alten und Jungen, Armen und Reichen, prosperierenden Regionen und solchen, die mit dem wirtschaftlichen Niedergang kämpfen. Die Entschlossenheit der Brexit-Befürworter ist auch heute noch mindestens so groß wie die Enttäuschung der EU-Anhänger, und auf beiden Seiten haben sich die Haltungen seit Sommer 2016verhärtet. Nach der Abstimmung las man von Familien, deren Generationen durch einen Graben getrennt sind, so tief, dass sie kaum mehr miteinander sprechen können.3

Die zunehmend entmutigenden Brexit-Verhandlungen haben die Hoffnungen der EU-Anhänger genährt, dass die ganze Übung ganz einfach abgebrochen wird. Im Frühling 2018 wurde ihnen ein neues, schlagkräftiges Argument in die Hände gelegt – eines, das die Rechtmäßigkeit des Referendums in Zweifel zieht. Eine investigative Recherche des Guardian ergab, dass die offizielle »Leave«-Kampagne während des Abstimmungskampfs möglicherweise mehr Geld ausgab, als erlaubt ist, und danach die Beweise für den Gesetzesbruch zerstörte. Die Enthüllungen erfolgten im Zusammenhang mit dem Skandal rund um die Firma Cambridge Analytica, die sich Daten von Millionen von Facebook-Nutzern beschaffte, um Individuen gezielt mit politischer Werbung zu versorgen und so Wahlergebnisse zu beeinflussen. Laut dem Whistleblower Christopher Wylie, der früher für die Firma arbeitete, wurden die Dienste von Cambridge Analytica von vier Brexit-Kampagnen genutzt, darunter Vote Leave, als deren Galionsfiguren Boris Johnson und Michael Gove fungierten. Eine Spende von über 600 000 Pfund, die die Kampagne der unabhängigen Jugendorganisation BeLeave versprach, kam laut Insidern nie an: Stattdessen ging der Großteil des Geldes an die kanadische Firma AggregateIQ (AIQ), die eng mit Cambridge Analytica verbunden war und für Vote Leave eine wichtige Rolle spielte. Wenn die Spende über Vote Leave ausgegeben worden wäre, dann hätte die Kampagne die Obergrenze für Wahlkampfausgaben – sieben Millionen Pfund – überschritten. Der Verdacht liegt nahe, dass das Geld nur deshalb über BeLeave ging, um diese Schranke zu umgehen. Für Wylie bestehen keine Zweifel, dass die Brexit-Kampagne auf unlautere Weise gewann: »Wenn sie nicht geschwindelt hätten, hätte [die Abstimmung] anders ausgehen können.«4

Ist der ganze Brexit nichts als Betrügerei? Dass Datenanalyse in zeitgenössischen politischen Kampagnen entscheidend ist, lässt sich nicht bestreiten. (Die britische Informationskommissarin begann nach dem Referendum eine Untersuchung zu diesem Thema. Die Resultate stehen noch aus.) Ebenso ist anzunehmen, dass der Einsatz gezielter Werbung mittels komplexer Algorithmen das Resultat des EU-Referendums zu einem gewissen Grad beeinflusste. Wenn dies in großem Ausmaß geschah, und dazu noch auf betrügerische Weise, dann würde dies tatsächlich Fragen über die Funktionsweise unserer Demokratie aufwerfen. Aber aufgrund des Cambridge-Analytica-Skandals auf die Ungültigkeit des gesamten Referendums zu schließen und aus diesem Grund ein neues zu fordern, ist dennoch wenig hilfreich. Erstens haben die Briten ihre Meinung nicht in dem Maß geändert, wie es sich die EU-Anhänger wünschten: Wiederholte Umfragen in den zwei Jahren nach dem Referendum deuten auf eine geringfügige Verschiebung zu einer Ablehnung des Brexit hin, aber diese Bewegung war bislang zaghaft und verhalten. Sollte sich dies in Zukunft dramatisch ändern, müsste die Frage einer zweiten Abstimmung neu gestellt werden, aber noch ist das nicht der Fall. Und zweitens könnte der Schluss, dass das Referendum aufgrund von Unregelmäßigkeiten gegenstandslos ist, eine eingehende Auseinandersetzungen mit den Ursachen des Brexit verhindern. Das wäre überaus kontraproduktiv. Denn immerhin waren es 17,4 Millionen Menschen, die dafür stimmten. Auch wenn es einige Hunderttausend weniger gewesen wären, stellte sich dennoch die Frage nach den Gründen für diesen folgenschweren Entscheid.

Warum taten sie es? Wer es genau wissen will, dem bleibt nichts übrig, als sich auf eingehende Gespräche mit 17 Millionen Briten einzulassen. Und auch dann bliebe möglicherweise ein gutes Stück Verwirrung zurück, denn bei der Abstimmung kamen eine ganze Reihe von Sorgen, Hoffnungen, Aspirationen und Aversionen zusammen, die sich teilweise ergänzen und oft widersprechen. Ein Grund, weshalb viele Beobachter so überrascht waren vom Ausgang der Abstimmung, liegt darin, dass sich die Medien auf die Aussagen von Brexit-Zugpferden wie Boris Johnson und Nigel Farage konzentrierten: Die Journalisten gingen davon aus, dass sich die ideologische Grundhaltung der »Leave«-Wähler mit jener dieser Politiker deckt, und hielten es für unwahrscheinlich, dass es genügend Briten mit dieser Gesinnung gibt. Diese Annahme war jedoch falsch. Auf Recherchereisen vor dem Referendum stieß ich auf viele Leute, die für den Austritt stimmen wollten, aber Johnson für den hinterletzten Taugenichts hielten und ihm kein Wort glaubten (aus guten Gründen); anderen Journalisten ging es ebenso.5

Die Motivationen der Wähler sind mittlerweile in groben Zügen bekannt, und seit dem Referendum haben Journalisten, Akademiker und Thinktanks unzählige Studien verfasst, um die unterschiedlichen Aspekte des Brexit-Entscheids zu beleuchten und die Analyse zu verfeinern. So weiß man beispielsweise, dass die Ablehnung der Einwanderung eine wichtige Rolle spielte. Ebenso die soziale und regionale Ungleichheit, die Briten am unteren Ende der Einkommensleiter gegen die Elite in London aufbrachte. Damit verknüpft sind die Folgen der Deindustrialisierung, die einst stolze Communitys in die Armut trieb: Viele Briten nutzten das Referendum als einen Protest gegen die Perspektivlosigkeit – es war eine Chance, sich endlich Gehör zu verschaffen. Eine andere Wurzel der EU-Skepsis ist ein von Nostalgie durchtränkter Nationalismus, der auf die Zeit zurückblickt, als Großbritannien noch das Zentrum eines weltumspannenden Weltreichs war; dies ist jener Aspekt, der viele Kommentatoren dazu verleitet, Brexit und Trump als zwei verwandte Phänomene zu betrachten (wie wir sehen werden, ist dieser Vergleich nur teilweise hilfreich). Ein bedeutender Teil der Wähler wünschte sich indes schlichtweg mehr nationale Souveränität. Das ist ein Punkt, der nicht oft genug erwähnt wird: Brexit ist im Kern ein demokratisches Anliegen, nämlich die Forderung, dass Gesetze nicht von EU-Institutionen gemacht werden, sondern vom britischen Souverän, und das ist das Parlament in Westminster. Verschiedene Umfragen vor und nach dem Referendum ergaben, dass dieses Anliegen mindestens so wichtig war wie die Beschränkung der Einwanderung.6

Der Brexit verdankt sich also einer breiten Koalition von Wählern, die zum Teil die unterschiedlichsten Vorstellungen davon hatten, was durch den Austritt aus der EU erreicht werden soll. Dieses Buch versucht, die verschiedenen Beweggründe und die kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Umstände, die zum Entscheid vom 23. Juni 2016 geführt haben, zu erkunden; sowohl aufseiten der EU-Befürworter als auch bei den Gegnern. Von Herbst 2017 bis Frühling 2018 unternahm ich eine Reihe von Reisen in verschiedene Landesteile, um diesem Land auf die Spur zu kommen und herauszufinden, was für Entwicklungen die Gesellschaft in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten durchgemacht hat und was sich seit dem Referendumsentscheid geändert hat. Die daraus resultierenden Reportagen bilden den Hauptteil der folgenden Kapitel. Die gewählte regionale Aufteilung ist zu einem gewissen Grad aufschlussreich, weil es doch einige Landstriche gibt, in denen die Haltung zur EU relativ klar in die eine oder andere Richtung geht. Doch in vielen anderen Gebieten halten sich »Leave«- und »Remain«-Wähler mehr oder weniger die Waage – das heißt, die Unterschiede innerhalb der einzelnen demografischen Gruppen sind größer als die regionalen.7 Die besuchten Orte sind denn auch so ausgewählt, dass ein bestimmter Aspekt des Brexit-Votums illustriert werden kann, der überall präsent war, in diesen Gebieten jedoch besonders stark zum Vorschein kommt.

Die Reise beginnt in London, das einerseits das Zentrum der EU-Anhänger ist, andererseits eine Hochburg der elitären Brexiteers*. Dann geht es an die Ostküste, nach Great Yarmouth, wo wir uns mit dem Aufstieg der rechtspopulistischen United Kingdom Independence Party (UKIP) beschäftigen, die es dort, wie in vielen anderen Küstenstädten, zu einigem Erfolg gebracht hat. Die nächste Station ist Merthyr Tydfil im südlichen Wales, das noch heute mit den Konsequenzen der Deindustrialisierung kämpft. Das wirtschaftliche Ungleichgewicht, von dem Großbritannien geprägt ist, wird am Beispiel dieser Kommune aufgezeigt. Die Reise geht weiter nach Schottland, in die Städte Glasgow und Aberdeen, die beide mehrheitlich für »Remain« gestimmt haben. Hier stehen die Entwicklungen seit dem abgelehnten Unabhängigkeitsreferendum im Zentrum und die Art und Weise, wie der Brexit-Entscheid die politische Debatte und den Drang nach Eigenständigkeit beeinflusst hat. Das letzte Kapitel beginnt in Derby und endet in London. Es befasst sich mit dem Linksrutsch der Labour-Partei, mit den Gründen, die zum Erfolg Jeremy Corbyns geführt haben, und mit den Folgen für die britische Politik.*

Drei Einschubkapitel weiten den Blick und widmen sich einigen allgemeineren Themen, um die Reportagen in einen breiteren Zusammenhang einzubetten. Zuerst bietet Kapitel 2 einen Überblick über die Geschichte der Beziehung zwischen Kontinentaleuropa und Großbritannien, einschließlich der Gründe, weshalb sich die Insel seit Beginn der europäischen Einigung bewusst auf Distanz gehalten hat. Der nächste Einschub ergründet die Wurzeln des Rassismus in Großbritannien und zeigt die Kontinuitäten seit der Nachkriegszeit auf; in engem Zusammenhang damit steht der ideologische Rückgriff auf das Empire: der zählebige Anspruch auf nationale Größe, der für die Kultur des Landes prägend ist. Der letzte Einschub schließlich dreht sich um ein Thema, ohne das Großbritannien nicht verstanden werden kann: die mächtige Boulevardpresse, die im Referendum eine späte Blüte erlebte.

Wenn es einen Impuls gibt, der die Brexit-Wähler verbindet, dann ist es der Wunsch nach mehr Kontrolle: Millionen von Briten, die für den Austritt gestimmt haben, sehnen sich danach, das eigene Leben besser steuern zu können, anstatt sich von äußeren Kräften hin- und herschubsen zu lassen. In den drei bis vier Jahrzehnten vor dem Referendum hat sich das Gefühl verstärkt, dass Entscheidungen anderswo gemacht werden und den Bürgerinnen und Bürgern jegliche Mitsprache fehlt. Diese Empfindung hat ganz unterschiedliche Ursachen: Arbeitsplätze sind unsicher geworden, Jobs garantieren kein sicheres Einkommen; Bosse haben stets die Möglichkeit, billigere Arbeitskräfte aus dem Ausland zu rekrutieren; die Parteien waren sich so ähnlich geworden, dass es kaum einen Unterschied machte, wen man wählte (bis zur Wahl Jeremy Corbyns als Labour-Chef); die Gemeindebehörden haben einen zunehmend engen Spielraum, die Lokalpolitik zu prägen; große Konzerne dominieren die Wirtschaft und beeinflussen die Politik. Im Lauf des neoliberalen Zeitalters hat sich die Kontrolle über Politik und Wirtschaft auf eine relativ kleine Gruppe von Leuten und Institutionen in London konzentriert, die sich immer weiter von den durchschnittlichen Bürgern entfernt.

Die EU hat zwar nur bedingt mit diesen Prozessen zu tun, aber das Referendum wurde als eine Chance wahrgenommen, mit dem Status quo zu brechen. So reiht sich der Brexit ein in die Serie von jüngeren Ereignissen, die den seit dreißig Jahren herrschenden politischen und wirtschaftlichen Konsens herausfordern. Die Gegenreaktion auf die neoliberale Globalisierung hat zu einer weltweiten Polarisierung geführt: Sie reicht von der Wahl Donald Trumps und dem Aufstieg rechtskonservativer Kräfte im europäischen Kerngebiet bis zum Aufstieg linker Bewegungen und Parteien in Europa und den USA; auch das Phänomen Corbyn ist Teil dieser Entwicklung, wie wir im letzten Kapitel sehen werden. Der Brexit lässt sich nicht so einfach in das Links-rechts-Schema einfügen: Er hat eine starke rechtsnationale Komponente, aber auch eine weniger regressive Dimension, nämlich der Protest gegen die antidemokratischen, wirtschaftsliberalen Tendenzen in London und Brüssel. Auf jeden Fall ist der Brexit ein Votum gegen das Establishment, das mit allen Mitteln versucht hatte, diesen Ausgang zu verhindern.

Dass die Reaktion auf das globalisierte Zeitalter gerade in Großbritannien so heftig ausgefallen ist – in einem Land, das doch für Stabilität und Moderation bekannt ist –, sollte eigentlich nicht überraschen: Der Neoliberalismus hat hier stärkere und durchgreifendere Folgen gehabt als in den meisten Ländern der westlichen Welt. Mit der Finanzkrise ab 2007 und den nachfolgenden Sparmaßnahmen im öffentlichen Sektor wurden sie noch vertieft. Jetzt haben sich deren langfristige Konsequenzen in aller Dramatik eingestellt. Sie werden das Land nachhaltig verändern. Doch wenn der Brexit auch eine Folge der profunden Probleme ist, mit denen Großbritannien hadert, stellt er kaum die Lösung dar. Wie es der Autor und Verfassungsreformer Anthony Barnett ausdrückt: Der Brexit ist wie ein »Gefängnisausbruch aus der globalen Ordnung«, der von Mafiosi, Möchtegerndiktatoren und Demagogen angeführt wird; er wird mit großer Wahrscheinlichkeit mit der erneuten Inhaftierung enden.8 Nicht nur stellt sich die Herauslösung aus dem über vierzig Jahre gewachsenen EU-Vertragswerk als verzwicktes Unterfangen heraus, das offensichtlich nicht ohne wirtschaftliche Einbußen zu bewerkstelligen ist – und die sozialen Bedingungen, die den Entscheid mitversursacht haben, noch verstärken könnte. Auch sind die meisten der Missstände in Großbritannien hausgemacht und erfordern deshalb eine hausgemachte Lösung. Doch um praktikable und sinnvolle Ansätze zu finden, wie sich das Land erneuern kann, muss man erst verstehen, wie sich Großbritannien überhaupt in eine solche Schieflage gebracht hat.

*Im Englischen werden die EU-Gegner sowohl als Brexiters als auch als Brexiteers bezeichnet, mit Doppel-e. Ich verwende in diesem Buch die zweite Form, die passender klingt, nicht zuletzt, weil darin das Wort buccaneer anklingt, Freibeuter, mit dem die Brexit-Elite einiges gemeinsam hat (oder gern hätte).

*Ein Thema, das nicht zur Sprache kommt, ist Nordirland, obwohl es in den Brexit-Verhandlungen eine entscheidende Rolle spielt. Die dortige Politik wird zu einem guten Teil von Kräften beeinflusst, die sich von jenen auf dem britischen Festland unterscheiden: Die politischen Loyalitäten werden vom Erbe des Nordirland-Konflikts bestimmt, und die Dynamik auf dem britischen Festland lässt sich nur teilweise auf die irische Insel übertragen.

Kapitel 1

London: Europäische Metropole, Wiege der Brexit-Elite

Ausgerechnet Waterloo. An der hektischsten U-Bahn-Station Londons umzusteigen ist selbst zu Ebbezeiten ein Ärgernis, im Abendverkehr verdirbt es einem die beste Laune. Entkommt man dem Waggon der Jubilee Line, wird man vom Menschenstrom die Treppe hinaufbefördert, stapft dann dicht gedrängt und zügig durch den Tunnel, wie Ameisen bei der Arbeit, vorbei am Gitarristen, der tatsächlich Simon and Garfunkels Sound of Silence spielt und damit die gereizten Passanten noch verbissener marschieren lässt, und betritt dann in der Hoffnung auf etwas mehr Platz die Plattform der Northern Line, aber auch hier stehen die Passagiere schon drei Reihen tief. Als der Zug einfährt, drücke ich mich ins rappelvolle Abteil. Stockend ist die Fahrt, immer wieder halten wir mitten auf der Strecke, die Temperatur im Abteil steigt unerbittlich an. Eine Frau mit Buch in der Hand wirft wiederholt einen giftigen Blick auf den Hinterkopf eines jungen Mannes, weil sein rumwackelnder Rucksack ihr die Lektüre erschwert. Endlich fährt der Zug in Clapham North ein, und ich zwänge mich unter gemurmeltem »Excuse me, excuse me« aus dem Abteil. Nur nicht zu schnell auf die Plattform platzen: Sie ist schmal und man riskiert, auf der anderen Seite auf die Schienen zu fallen.

Diese mühselige Reise muss sein, denn in einem Pub in Clapham, einem Quartier im Süden Londons, wird der glühende Europafreund Denis MacShane heute erklären, wie der Brexit gestoppt werden kann.1 Dass dies möglich ist, behauptet er im Untertitel seines neuen Buches: Brexit, No Exit: Weshalb Großbritannien (am Ende) die EU doch nicht verlassen wird (2017). Wenige Jahre zuvor war er noch defätistischer gewesen: Sein Buch von 2015 heißt Brexit: Wie Großbritannien die EU verlassen wird. (Nach dem Referendum wurde es neu aufgelegt mit dem Titel Brexit: Wie Großbritannien die EU verlassen hat.) Kurz darauf publizierte er noch ein Buch, in dem er versuchte, genau dies zu verhindern: Bleiben wir zusammen: Ja zu Europa (2016). Europa ist MacShanes Lieblingsthema, und der Labour-Politiker kennt sich in der Materie aus.

1948 geboren als Sohn einer Irin und eines Exil-Polen, fühlte er stets eine Verbundenheit zur Welt jenseits des Ärmelkanals. Anfang der 1980er-Jahre unterstützte er in Polen die regierungskritische Gewerkschaft Solidarność, bis er an einer Demonstration verhaftet und mit einem Einreiseverbot belegt wurde. 1994 trat er ins Parlament ein, und ab 2001 hatte er eine Reihe von Posten in Tony Blairs Labour-Regierung inne, zunächst als Staatsekretär im Außenministerium, dann drei Jahre lang als Europa-Minister. Seine nachfolgende Karriere war weniger illuster. 2010 begannen Gerüchte zu zirkulieren, dass er bei der Abrechnung seiner Spesen nicht ganz redlich vorgegangen sei. Zunächst wurden die Vorwürfe von einem Parlamentsausschuss untersucht, dann von der Staatsanwaltschaft. 2013 wurde MacShane aufgrund seiner gefälschten Spesen zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, von denen er sechs Wochen absaß.2 Auch über seinen Gefängnisaufenthalt schrieb er ein Buch: Prison Diaries.

Dieser Mann also wurde heute in die Railway Tavern geladen, um seine Sicht auf die derzeitigen Brexit-Verhandlungen darzulegen. Als ich aus der U-Bahn-Station trete, ist es bereits dunkel, das Pub ist nicht auf Anhieb zu finden. An der Ampel steht ein älterer Herr mit Tragtasche und karierter Schiebermütze, der unsicher um sich schaut. Offensichtlich hat er ebenfalls die Orientierung verloren. Er überquert die Straße, bleibt stehen und konsultiert die Karte auf seinem Handy. Ich gehe zu ihm und sage: »Hallo. Sie sind Denis Mac-Shane, wir gehen zum gleichen Event.« Auf dem Weg zum Pub, das wir bald lokalisiert haben, stellt sich heraus, dass der Politiker so redselig ist, wie es sein Hang zum Schreiben vermuten lässt.

Im oberen Stock der Railway Tavern warten bereits einige Gäste. Unter ihnen findet sich noch eine Schweizer Journalistin, und Mac-Shane beginnt in flüssigem Deutsch mit uns zu plaudern. »Aber ihr seid doch Ausländer«, sagt er augenzwinkernd. »Wir wollen Ausländer nicht.« Bald ist der Raum voll, und er beginnt seinen Vortrag. Eine Stunde lang zieht er über den Wahnsinn des EU-Austritts her und warnt vor den Folgen eines Ausscheidens aus dem Binnenmarkt und der Zollunion. Er spricht von den unvermeidlichen kilometerlangen Warteschlangen an der Grenze, vom Mangel an Fachleuten in unzähligen Sektoren, von chinesischen Restaurants in Soho, die ihre Peking-Ente aus dem Angebot nehmen müssten, weil die Enten fast ausschließlich aus Irland kommen. MacShane erzählt witzig, zu jedem Punkt weiß er eine Anekdote. Gelacht wird über die Inkompetenz des Außenministers Boris Johnson und über die unrealistischen Erwartungen der Brexiteers. »Alle Träume, über die wir in der Presse lesen, sind schlichtweg nicht möglich«, sagt MacShane. Das Publikum nickt.

In Clapham kann sich MacShane der Zustimmung sicher sein: Das Quartier liegt im Stadtbezirk Lambeth, dem EU-freundlichsten Gebiet im ganzen Land. 78,6 Prozent der Wähler haben gegen den Brexit gestimmt; nur in Gibraltar war der Anteil mit 96 Prozent noch höher. In London insgesamt war das »Remain«-Votum etwas weniger überwältigend, aber dennoch deutlich: 60 Prozent wollen in der EU bleiben. Sieben der zehn EU-freundlichsten Wahlkreise im Land liegen in der Hauptstadt. »Es gibt keinen Grund zur Panik«, beschwichtigte der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan seine Landsleute am 24. Juni 2016. Die Stadt werde so bleiben, wie sie ist: international, boomend, ein Magnet für Leute aus Europa und Übersee.

London ist die globale Stadt schlechthin. Die Internationalität der Metropole ist mitunter das Erste, was einem bei einem Spaziergang durch die Straßen auffällt. Menschen aus aller Welt haben sich hier ihr Zuhause gemacht, dreihundert verschiedene Sprachen werden gesprochen, und manche Communitys prägen heute ganze Stadtteile – Bengalen in Whitechapel, karibischstämmige Briten in Brixton, Juden in Stamford Hill und Franzosen in South Kensington. Laut der letzten Volkszählung machen die Londoner, die sich als weiße Briten bezeichnen, nur 45 Prozent der Einwohner aus.3 Die Immigration hat eine lange Geschichte. Angefangen mit den Hugenotten, die im 18. Jahrhundert Zuflucht vor der Verfolgung in Frankreich suchten und sich im Osten der Stadt niederließen, trafen immer wieder größere Wellen von Einwanderern ein und prägten die Stadt mit: Im 19. Jahrhundert waren es vorwiegend Iren sowie Juden aus Osteuropa und Russland, nach dem Zweiten Weltkrieg Migranten aus den ehemaligen Kolonien, in den 1970er-Jahren Bangladeschis und indischstämmige Flüchtlinge aus Ostafrika. In den 1990er-Jahren folgten Menschen aus mehreren Kriegsgebieten: Afghanistan, Somalia, Ex-Jugoslawien. Eine weitere Phase der Migration begann mit der EU-Osterweiterung 2004. Die Polen wurden zur größten Einwanderergruppe – heute gibt es kaum ein Quartier, in dem kein osteuropäischer Spezialitätenladen steht. Und schließlich kamen junge Menschen aus Südeuropa, die inmitten der Eurokrise Arbeit in einer stabileren Volkswirtschaft suchten.

Die Einwanderung aus der EU erfolgte zu einem Zeitpunkt, als London in einem beispiellosen Boom schwelgte, der bis heute anhält. Die entfesselte City of London, also der Finanzdistrikt im historischen Kern der Stadt, wurde zum wichtigsten internationalen Geschäftszentrum, das Talente und Geld aus Übersee anlockte. Dieser Prozess hatte bereits in den 1980er-Jahren angefangen, erhielt jedoch gegen Ende der 1990er-Jahre einen kräftigen Schub. Geld und Menschen flossen nach London, die Stadt wuchs so schnell wie zuletzt zur Zeit von Königin Viktoria; derzeit wird die Bevölkerung auf annähernd 8,8 Millionen geschätzt. Nicht nur in den Handelsräumen der City hörte man zunehmend Englisch mit ausländischem Akzent, sondern auch hinter den Theken der Cafés, in denen sich die Finanzjongleure und Buchhalter mit Nahrung und Koffein versorgten. Fast ein Drittel der 455 000 Angestellten, die heute in der City arbeiten, wurden im Ausland geboren.4 Aber der Aufstieg Londons geht weit über das Finanzzentrum hinaus. Internationale Baufirmen butterten in den vergangenen fünfzehn Jahren Milliarden Pfund in schicke Neubauten, Start-up-Unternehmen schießen rund um die Old Street wie Pilze aus dem Asphalt, Londoner Modeunternehmen und Restaurants lassen die Pariser Bourgeoisie neidisch über den Kanal schielen, und Künstler und Architekten verleihen der Stadt ein kreatives Flair. London schafft es, Los Angeles, Washington und New York in einem zu sein, schrieb die New York Times im April 2017.5 Die unendlichen Möglichkeiten der Metropole ziehen Menschen aus Europa und ferneren Ländern wie die Schwerkraft an sich – und die Stadt brauchte sie: Ohne Arbeitskräfte aus dem Ausland würden viele Branchen schlichtweg nicht funktionieren. Zwischen 2005 und 2015 verdoppelte sich die Zahl der EU-Bürger in der Stadt, heute sind es fast eine Million. Die jüngsten Zahlen lauten wie folgt: 148 000 EU-Migranten arbeiten in der Londoner Gastronomie, 190 000 im Finanzsektor, 109 000 im Baugewerbe, 33 000 in der herstellenden Industrie und 82 000 in der Transport- und Kommunikationsbranche.6 Ein Drittel der 62 000 EU-Bürger, die im Gesundheitsdienst NHS angestellt sind, lebt und arbeitet in London.7

Tritt man aus dem Bahnhof London Bridge auf die Borough High Street, steht man mitten in diesem brummenden, lebhaften London, das aus seiner Internationalität ein gelassenes Selbstbewusstsein schöpft. Protzig sind die Hochhäuser der City auf der anderen Seite der Themse, protziger noch der »Shard« gleich neben dem Bahnhof. Ich bin zu früh für meinen Termin, also gehe ich zur Zeitungslektüre in die John Harvard Library, benannt nach dem Gründer der US-amerikanischen Hochschule, der hier geboren wurde. Ein halbes Dutzend Sprachen höre ich auf dem Weg, und in der Bibliothek werde ich von einer lateinamerikanischen Großmutter in unwirschem Spanisch von meinem Platz vertrieben, weil ihre Tochter bald mit ihrem niño auftauchen werde. Wenig später schnappt sie sich den Platz eines Mannes, der kurz aufstand und sich einen Kaffee holte. »Die macht es einem nicht einfach«, meint er lapidar, als er sich gegenüber von mir hinsetzt. Gelassen muss man bleiben.

Auch Terroranschläge stecken die Londoner weg. Am 3. Juni 2017 rannten drei Männer in einem Mordrausch die Borough High Street runter, nachdem sie zunächst mit einem Kleinlaster die Brücke überquert hatten, dabei auf den Gehsteig fuhren und drei Menschen tödlich verletzten. In den Händen hielten sie lange Küchenmesser, befestigt an den Handgelenken, mit denen sie auf Passanten einstachen und in den Borough Market vordrangen. Wenige Minuten später wurden sie von der Polizei erschossen. Acht Menschen starben bei dem Anschlag, dem zweiten in London innerhalb von wenigen Monaten. Doch die Großstadt ging schnell wieder zum Alltag über. Der Borough Market ist an diesem kalten Novembertag so belebt wie immer um die Mittagszeit. Touristen und Angestellte beim Lunch gehen zwischen den Spezialitätenläden hindurch, von deren erlesenem Angebot sie gern kosten, weniger gern kaufen: Fleur de Sel aus der Camargue, handgezogener Büffelmozzarella aus Kampanien, kroatischer Salami, Cinta-Senese-Schinken, alles teuer. Für Eis ist es zu kalt, aber die Gelateria gegenüber vom Pub macht auch guten Kaffee.

Heather Glass nippt von ihrem Cappuccino. Die 38-Jährige, die für ein Londoner Energieunternehmen arbeitet, engagierte sich in der Kampagne für den Verbleib in der EU und koordiniert heute die Gruppe »Lambeth for Europe«. Diese Kampagne war es, die in der Woche zuvor Denis MacShane nach Clapham eingeladen hatte. »Nach dem verlorenen Referendum wollten wir irgendetwas tun – was, das wussten wir noch nicht«, sagt Glass.8 Doch dass sich die Pro-Europäer jetzt einfach aus der Debatte zurückziehen und den Brexit akzeptieren sollten, das war ausgeschlossen. Ob sie dadurch denn nicht den Volkswillen ignoriere, gar die Demokratie verachte, wie es manche Brexiteers den Remainers vorwerfen? »Blödsinn. Undemokratisch ist es vielmehr, eine extrem eng definierte Version des Brexit durchzudrücken, die im Prinzip von einer Mischung aus Pressebaronen, Desaster-Kapitalisten und Politikern ohne Rückgrat vorangetrieben wird.« Das heißt nicht, dass das Votum einfach missachtet werden sollte – das wäre tatsächlich nicht demokratisch. »Aber man hätte die Leute zunächst fragen sollen, was sie sich denn vom Leben außerhalb der EU wünschen – man hätte Workshops machen können, Konsultationen abhalten und so weiter. So hätten die Leute gesehen, was sich ändern würde und was für Optionen es gäbe.« Aber so, wie die Verhandlungen in den vergangenen achtzehn Monaten gelaufen sind, werde der Brexit eine »gigantische Shit-Show«, meint Glass.

Früher, als Teenager, war auch sie viel EU-kritischer als heute. Damals lebte sie noch in Reading, einer Stadt im Themsetal, westlich von London. »Es hatte etwas mit Souveränität zu tun – ich sah die EU als ein gesichtsloses Gebilde, das uns Entscheidungen aufzwängt. Ich glaubte, sie raube uns unsere Individualität und unsere Tradition.« Als sie erwachsen wurde, änderte sie ihre Meinung um 180 Grad. Der wichtigste Faktor für diesen Umschwung war, dass sie jetzt in London lebte: »Städte zwingen dich, mit anderen Leuten in Kontakt zu treten. Wenn man in einer Stadt wohnt und all diese Leute trifft, merkt man, dass der isolierte Blickwinkel, den man vorher hatte – etwa meine frühere Xenophobie –, recht dumm ist.« Verantwortlich für ihre ausgesprochene Brexit-Ablehnung ist ein eher diffuses Gefühl, dass Zusammensein besser ist als Trennung: »Ich hasse Streit. Ich kann nicht ins Bett gehen, wenn eine Auseinandersetzung schwelt. Ich versuche stets, die Wogen zu glätten. Dasselbe empfinde ich auch in Bezug auf die Beziehungen zwischen Ländern.«

Unter Leuten wie Glass war das »Remain«-Votum überwältigend: relativ junge, gut ausgebildete und ordentlich verdienende Berufstätige. Sie fühlen sich in der multikulturellen Stadt rundum wohl und sehen die Vorteile der EU-Mitgliedschaft jeden Tag. Sie sind jene Weltbürger, die Theresa May abschätzig als »Bürger von nirgendwo« bezeichnet hat.9 Ähnlich wie May äußert sich David Goodhart, Journalist und Kritiker des Multikulturalismus. Er beschreibt diese Leute als Teil jener Elite, die in den vergangenen dreißig Jahren zur dominanten gesellschaftlichen Gruppe aufgestiegen sei: erfolgreiche, sozialliberale Individualisten mit Universitätsausbildung, die gern mal eine Zeit lang im Ausland arbeiten und Migration im Allgemeinen begrüßen – die Nutznießer der Globalisierung. Goodhart fasst sie unter der Bezeichnung »Anywheres« zusammen. Er stellt ihnen die »Somewheres« gegenüber, denen Tradition, Nation und Familie viel wichtiger sind. Diese zweite Gruppe sei es, die in den vergangenen Jahrzehnten an gesellschaftlichem Einfluss verloren habe – und der Brexit sei ihre Rache.10 Wenig überraschend ist London für ihn der Inbegriff des Weltbürgertums: Er bezeichnet die Stadt als »Anywhereville«, die Stadt der Entwurzelten. Dies sind die Einwohner, die vom London-Boom der vergangenen zwei Jahrzehnte profitiert haben.

Die Global Villagers, wie Goodhart den harten Kern der Weltbürger nennt, zeichnen sich in erster Linie durch ihre gute Ausbildung aus – eine Bevölkerungsgruppe, die in London überdurchschnittlich vertreten ist. Ein Viertel der Absolventen britischer Universitäten arbeiten in der Hauptstadt, deutlich mehr als der Londoner Anteil an der Gesamtbeschäftigung im Land; unter den besten Abgängern der führenden Universitäten im Land arbeiten sogar 38 Prozent in London.11 Im Jahr 2014 wurden 45 Prozent aller freien Stellen für Hochschulabgänger in der Hauptstadt ausgeschrieben.12 Laut der Statistikbehörde der EU-Kommission ist London die Stadt mit der höchsten Konzentration an Uni-Absolventen in Europa: Im westlichen Zentrum haben fast 70 Prozent der berufstätigen Erwachsenen einen Universitätsabschluss.13

In den Sektoren, in denen diese Leute arbeiten – darunter Finanzdienstleistungen, Medien, Recht, Kultur –, hat die Immigration keine negativen Auswirkungen auf die Beschäftigungsaussichten der Briten, im Gegenteil. Ein Grund hierfür ist, dass die Fertigkeiten der Migranten jene der Einheimischen in der Regel nicht ersetzen, sondern ergänzen. Ein Beispiel: Als ich vor einigen Jahren in einem Unternehmen für Medienbeobachtung arbeitete, waren Sprachkenntnisse erforderlich, über die nur wenige Briten verfügten; weit mehr als die Hälfte unseres Teams bestand aus EU-Migranten, alle gut qualifiziert und mehrsprachig, deren Jobs kaum von einem Briten hätten erledigt werden können und die deshalb für einheimische Arbeitnehmer keine Konkurrenz darstellten. Solche Unternehmen profitieren von der Mitgliedschaft im Binnenmarkt und von der Personenfreizügigkeit: Sie bietet ihnen einen größeren Topf an Kunden und Fachkräften, aus denen sie auswählen können.

Auch wenn man den Blick von einzelnen Unternehmen auf die ganze Wirtschaft ausweitet, ist die Migration positiv, insbesondere in London: Laut einer Studie des Wirtschaftsprüfers PricewaterhouseCoopers sind die 1,8 Millionen Migranten für 22 Prozent der jährlichen Bruttowertschöpfung der städtischen Wirtschaft verantwortlich und kommen für 4,5 Prozent der gesamten Steuereinnahmen des britischen Fiskus auf.14 Andere Erhebungen kommen zum Schluss, dass der Beitrag, den EU-Migranten dem Staat zahlen, weit größer ist als die Summe der staatlichen Leistungen, die sie beziehen (in erster Linie ist das der Tatsache geschuldet, dass viele von ihnen jung und gesund sind). Mehrere Studien haben zudem ergeben, dass die Löhne durch die Einwanderung kaum nach unten gedrückt werden. Nur in den gering qualifizierten Sektoren hat Immigration negative Folgen für die Einkommen der Angestellten; besser qualifizierte Arbeiter hingegen profitieren in puncto Einkommen von der Einwanderung.15 Das ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass Einwanderer nicht nur bestehende Arbeitsplätze füllen, sondern auch neue schaffen: Migranten benutzen Dienstleistungen und konsumieren Güter, was zu einer Steigerung der Nachfrage führt; auch können qualifizierte Migranten die Produktivität einer Firma erhöhen. Beide Effekte haben zur Folge, dass die Löhne steigen.16

Kaum verwunderlich also, dass die kosmopolitischen Londoner mit Uni-Ausbildung die britische EU-Mitgliedschaft mitsamt der Personenfreizügigkeit beibehalten wollen. Tatsächlich ist das Bildungsniveau der deutlichste Indikator dafür, auf welcher Seite in der Brexit-Debatte jemand steht: 68 Prozent der Hochschulabsolventen stimmten für »Remain«, wohingegen 70 Prozent der Wähler mit einem Real- beziehungsweise Sekundarschulabschluss (oder darunter) für »Leave« stimmten.17 Teilweise ist dies eine Frage des Einkommens: Zwar ist eine Universitätsausbildung keine Garantie, dass jemand auch einen guten Job hat – das Einkommen von Studienabgängern stagniert seit vielen Jahren. Dennoch verdienen sie besser als Berufstätige, die nicht auf die Hochschule gingen.18 Und das Einkommen spielte im Brexit-Votum eine fast ebenso wichtige Rolle wie die Ausbildung: 58 Prozent der Leute, die in Haushalten mit einem Einkommen von weniger als 20 000 Pfund leben, stimmten für den Brexit, während es in Familien mit Einkommen von über 60 000 Pfund lediglich 35 Prozent waren.19 Aber das Bildungsniveau hat auch eine andere, nicht materielle Dimension. An der Universität, Dies war nicht nur bei vielen Wählern in London der Fall, sondern auch in anderen Universitätsstädten im Land: Newcastle, Nottingham, York, Oxford, Warwick Reading, Bristol, Cardiff, Norwich – alles EU-freundliche Inseln inmitten des Brexit-Meeres.21