Über Gerhard Henschel

Foto: Jochen Quast

Gerhard Henschel, geboren 1962, lebt als freier Schriftsteller in der Nähe von Hamburg. Sein Briefroman Die Liebenden (2002) begeisterte die Kritik ebenso wie die Abenteuer seines Erzählers Martin Schlosser: Seit dem Erscheinen des Kindheitsromans (2004) ist die am Leben seines Protagonisten entlang erzählte Chronik auf acht Bände angewachsen. Zuletzt erschienen Bildungsroman (2014), Künstlerroman (2015) und Arbeiterroman (2017). Henschel ist außerdem Autor zahlreicher Sachbücher. Er wurde 2012 mit dem Hannelore-Greve-Literaturpreis ausgezeichnet, 2013 mit dem Nicolas-Born-Preis und 2015 mit dem Georg-K.-Glaser-Preis. 2017 erhielt er gemeinsam mit dem Fotografen Gerhard Kromschröder den Ben-Witter-Preis für das Wandertagebuch Landvermessung. Durch die Lüneburger Heide von Arno Schmidt zu Walter Kempowski.

Auf der anderen Hälfte meines Gartenstücks hatte ich Rasen ausgesät. Die Halme sprossen schon.

 

2948 Schortens, Stadtteil Heidmühle, Margarethenweg 121: Irgendwann würde aus einer Gedenktafel hervorgehen, daß hier der Schriftsteller Martin Schlosser Wurzeln geschlagen hatte, als Mieter einer Vierzimmerwohnung im ersten Stock. Daß ich mir diese Bleibe mit zwei tamilischen Flüchtlingen hatte teilen müssen, nachdem ich von meiner Freundin sitzengelassen worden war, brauchte auf der Tafel nicht unbedingt draufzustehen. Das gehörte in den Fußnotenapparat, den meine Biographen anlegen würden.

In den Namensregistern kämen dann auch meine Vermieter vor: Antje und Frerk Ricklef. Und Rainer Dickhoff – der Gastwirt, in dessen Disco in Jever ich noch gelegentlich kellnerte. Und natürlich Oma Jever:

Emma Lüttjes (*1906) hatte das Glück, daß ihr Enkelsohn Martin Schlosser, nachdem er 1989 in ihre Nähe gezogen war, zweimal wöchentlich für sie einkaufen ging. Sie bewohnte damals als Witwe eine Dreizimmerwohnung im jeverschen Dannhalmsweg und mußte zwei schwere Schicksalsschläge verkraften: Im April 1989 hatte ihr ältester Enkelsohn Gustav Lüttjes sich das Leben genom

So würde es im Kürschner stehen. Oder im Munzinger-Archiv. Wo dann auch ein Eintrag über Papa fällig wäre:

Richard Schlosser (*1927), Vater von Martin Schlosser, brach nach dem Tod seiner Frau Ingeborg fast alle Kontakte zu seiner Familie ab und verschanzte sich in seinem Haus in der niedersächsischen Kleinstadt Meppen. Mit dem beruflichen Erfolg seiner Töchter, der Grundschullehrerin Renate und der NDR-Sekretärin Wiebke, konnte er zwar zufrieden sein, aber es ärgerte ihn, daß sein Sohn Volker für eine Softwarefirma arbeitete, ohne sein Maschinenbaustudium abgeschlossen zu haben, und daß sein zweiter Sohn Martin sein Germanistikstudium abgebrochen hatte und sich als freier Schriftsteller zu etablieren versuchte. »Der Leichtsinn, mit dem Du heute zu Werke gehst, wird Dir eines Tages heimgezahlt werden«, schrieb Richard Schlosser seinem Sohn im Januar 1990. »Nicht mehr von mir, sondern von der Gesellschaft, in der Du dann lebst. Gesundheit ist kein unvergänglich Gut. Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen!«

 

Nachdem wir jeder eine große Portion Seelachs mit Pellkartoffeln und Gurkensalat verputzt hatten, las ich Oma in ihrem Eßzimmer wieder ein paar Seiten aus Walter Kempowskis Roman »Tadellöser & Wolff« vor. Das hatte sich so eingebürgert.

Wie Walters Bruder Robert da im Kinderzimmer das Bild von einer Bauernstube mit Hühnern abgehängt und stattdessen Porträts von Jazzgrößen angepinnt hatte:

Warum er das tue, fragte meine Mutter.

Das begriff selbst Oma, die sonst aber treu an allem festhielt, was bei ihr seit dem Miozän an den Wänden hing: die Gemälde von Arthur Eden-Sillenstede, die kleine Trompete aus den Tagen des Weltkriegs, der Jahreskalender des Ostfriesland Magazins und das Holzdings mit der Aufschrift, über die Mama sich immer so aufgeregt hatte:

Ein guter Gast ist niemals Last!

Ich kümmerte mich dann um die Küche, während Oma ihren Mittagsschlaf hielt.

 

Tante Hanna hatte mir zweihundert Mark überwiesen. Aus lauter Liebe. Und ich brauchte jeden Pfennig, weil es mit der Zahlungsmoral des Hamburger Satiremagazins Kowalski, für das ich schrieb, nicht zum besten bestellt war. Hin und wieder kam ein Scheck hereingeflattert, aber nicht so regelmäßig, wie ich die Redaktion mit neuen Texten versorgte.

 

In einem den Äther verpestenden Schlager besangen zwei dicke Wonneproppen in Trachtenjankern ihre Unentschiedenheit zwischen Wein und Weib:

Herzilein, du mußt nicht traurig sein,

ich weiß, du bist nicht gern allein,

und schuld war doch nur der Wein …

Dafür hätten ihnen die Stimmbänder gekappt gehört.

 

Über seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg hatte der Schriftsteller Georg von der Vring in den zwanziger Jahren den Roman »Soldat Suhren« geschrieben, und zwar in Jever, wo er damals als Zeichenlehrer tätig gewesen war. Jetzt sollte der Roman neu aufgelegt werden, und weil Oma sich dafür interessierte, bestellte ich ihn bei Tolksdorf. Sonst las sie immer nur Bücher von Johannes Mario Simmel und Utta Danella und ähnlichen Schmus.

 

»Und ist Post für mich gekommen?« fragte er.

»Nein. Bloß Reklamesendungen.«

 

In Marco Ferreris Verfilmung der Storys von Charles Bukowski zeigte Ornella Muti abends auf RTL plus ihre Brüste, ihr Hinterteil und ihre Muschi vor, was zwar hübsch aussah, aber schauspielkünstlerisch auch nicht mehr hermachte als die Stripteasenummern, mit denen Helmut Kohls geliebte Privatsender die geistig-moralische Wende herbeizuzwingen versuchten.

 

Die Lektüre der Meppener Tagespost glich einer Geisterbahnfahrt durch alle Schrecken der Provinz: »Blutzuckermeßgeräte vorgestellt«, »Müll brannte«, »Wochenmarkt verlegt«, »Sozialamt geschlossen«, »Frauengymnastik fällt aus«.

Say okay, I have had enough, what else can you show me?

Ich stattete Papa einen weiteren Besuch ab, bevor ich mich wieder nach Heidmühle aufmachte, mit seinem Jetta, an dessen Rückspiegel sich unten ein Schalter befand, mit dem sich der Spiegel so einstellen ließ, daß man dem Fahrer, der hinter einem fuhr, nicht in die Fresse zu kucken brauchte. Eine geniale Erfindung. Wenn mir irgendwas verhaßt war, dann die dämlichen Visagen der Autofahrer, denen ich nicht schnell genug fuhr.

 

Regnerisch war’s. Das richtige Wetter für einen Anfall von Liebeskummer. Es war mir immer noch schleierhaft, wieso Andrea sich von mir getrennt hatte. Nach fünf glücklichen Jahren. In tiefer Armut, zugegeben, aber jetzt stieg mein Glücksstern doch auf!

She let go of my hand

An’ left me here facing the wall …

Und es war weit und breit kein Ersatz in Sicht für diese blöde Pute.

 

In dem Buch »Johannes«, dem zweiten Band seiner Autobiographie, kommentierte Horst Janssen Adolf Hitlers Ausspruch, daß die deutschen Jungen flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl sein müßten:

Da die Erben solcher Dümmlichkeit »eigentlich« heut dasselbe gerne vorsichhermurmeln (NOCH bei geschlossenen Lippen), »würde« ich denen sagen: »… und wie sieht sowas IM BETT aus? (Von mir verlangte man »zu meiner Zeit«: eher seidenzart-geschmeidig wie’ne Schnecke, ebenso glitschig wie langsam und zwischendurch mal sekundenzeigerflink, und dabei bestenfalls so hart wie ein 7 Tage abgelagerter welker Rettich – für DEN, der dafür steht).

Nicht so ganz der richtige Lesestoff, wenn man gerade vor Sehnsucht verging.

 

In der DDR war der Christdemokrat Lothar de Maizière zum Ministerpräsidenten gewählt worden. Der neue DDR-Außenminister Markus Meckel sah wie ein Strauchdieb aus, und als Minister »für Abrüstung und Verteidigung« diente der einstige Pazifist Rainer Eppelmann, der zu Vorwendezeiten demonstrativ ein Schwert zu einer Pflugschar umgeschmiedet hatte. Nun amtierte er als Soldatenvater. Hatte der noch alle Latschen an der Kiefer?

 

Über Ostern kamen alle fünf Blums und auch Volker und Wiebke zu Besuch und schlugen ihr Matratzenlager bei mir auf. Da wurde es sofort so wuselig wie in der alten Fernsehserie 3 Mädchen und 3 Jungen. Die Kinder stellten alles auf den Kopf und hätten sogar meine Fotoalben zerfetzt, wenn ich nicht eingeschritten wäre.

Wiebke prunkte mit einer Frisur wie aus Miami, während Renate sich den gleichen herben Look wie die Sängerin Ina Deter

In welchem Comic war das noch, wo Dagobert Duck seine ausgefallenen Federn betrachtete und sich Gedanken darüber machte, daß die Leute zu ihm sagen könnten, er müsse sich jetzt wohl mit dem Schwamm frisieren?

Volker hatte mir seinen alten Schaukelstuhl mitgebracht. Der paßte gut in mein Arbeitszimmer.

Im Sommer wollten sie alle Mann nach Italien fahren, verkündete Renate und rannte dann auf den Balkon, um Nantje von der Brüstung zu klauben.

 

Am Ostersonntag ging in Omas Wohnzimmer eine irre Eiersuche los, bei der die Kinder um ein Haar das Büfett zum Einsturz gebracht hätten.

Austoben konnten sie sich dann im Hallenwellenbad Hooksiel. Lisa tauchte durch die Wellen, während Julius von seinen Schwimmärmelchen über Wasser gehalten wurde und Nantje von einem riesigen Reifen mit Haltegriffen.

Schon niedlich, die Kinderchen, aber auch anstrengend. Und dann gleich drei von der Sorte!

Auf der Rückfahrt steckte Julius die Nase aus dem Fenster.

Van See her bruust de Wind in’t Land …

Das war mal was anderes als Bonn-Beuel.

 

Im Schloßgarten hätte ich gern eine Pfauenfeder für Nantje aufgetrieben, doch ich fand leider keine. Stattdessen kamen wieder die giftenden Höckergänse angeschossen, als sie sahen, daß wir die Enten mit Brot fütterten. Die quäkenden Höckergänse gehörten wahrlich nicht zu meinem gefiederten Freundeskreis. Welcher Dämel hatte diese Viecher überhaupt im Schloßgarten ausgesetzt?

 

Auf dem Friedhof erklärte Renate den Kindern am Ostermontag, wer wo begraben lag: Uropa Jever, Gustav und Oma Inge. Von den älteren Vorfahren wollten sie begreiflicherweise nichts wissen.

 

Julius blieb noch ein paar Tage bei mir. Ich sollte ihn dann in Oldenburg in den Zug nach Bonn setzen.

Als er das Halmaspielen satt hatte, nahm ich ihn in die Gemeindebücherei mit, wo er sich Bilderbücher aussuchen durfte. Eins davon las ich ihm vor. Es hieß »Erwin, das abenteuerlustige Erdferkel«. Darin verschlug es den Titelhelden ins Reich der Schweine, wo er wegen seines Aussehens ausgelacht wurde. Eines der Schweine begleitete ihn sodann ins Erdferkelreich und wurde ebenfalls ausgelacht, woraufhin Erwin die Erdferkel streng zur Ordnung rief: Niemand habe das Recht, ein Schwein wegen seines Aussehens zu beleidigen.

Da schwiegen die Erdferkel beschämt.

Und die Moral von der Geschicht:

Seit diesem Tag herrscht ein reger Schiffsverkehr zwischen den beiden Reichen. Mal kommen ein paar Erdferkel zu den rosaroten Schweinen auf Besuch, und mal segelt ein Schiff voll rosaroter Schweine über den Ozean zu den Erdferkeln. Und keiner lacht mehr über den anderen.

Wie langweilig! Ich schämte mich vor dem armen Julius für diesen faden, aber pädagogisch natürlich wertvollen Plot.

Erschienen war das Buch im Nord-Süd-Verlag. Nieder mit ihm! Und nieder mit allen Kinderbüchern, die sich als Abenteuerromane ausgaben, obwohl sie nur dazu dienten, kleine Kinder, die etwas Spannendes lesen wollten, mit dem Nord-Süd-Dialog zu belemmern!

 

Um Julius in eine andere Welt zu versetzen, kaufte ich eine CD, auf der Hermann Prey einige von Beethoven vertonte Gedichte von Goethe interpretierte.

Tiefe Stille herrscht im Wasser,

Ohne Regung ruht das Meer,

Glatte Fläche ringsumher.

Julius hörte ergriffen zu.

Keine Luft von keiner Seite!

Todesstille fürchterlich!

In der ungeheuern Weite

Reget keine Welle sich.

Das sei ihm unheimlich, sagte Julius. »Ist der Mann ertrunken?«

 

Für Eis und Pommes war der Junge immer zu haben, und wenn ich mal Ruhe brauchte, konnte ich ihn bei Oma parken. Wegen einer Kreislaufstörung mußte sie dann jedoch ins Sophienstift eingeliefert werden. Da kam sie in ein Zimmer mit Blick auf den Schloßturm und fühlte sich pudelwohl.

 

Lothar de Maizière rauchte auch vor laufender Fernsehkamera. Das tat sonst nicht mal mehr Fidel Castro. Das waren noch Zeiten gewesen, als Ludwig Erhard die Zigarre zu seinem Markenzeichen erkoren hatte!

 

Wo der Roman »Soldat Suhren« blieb, konnten sie mir bei Tolksdorf nicht sagen. »Wenn Sie möchten, rufen wir Sie an, wenn das Buch gekommen ist …«

 

Die Tulpen- und die Krokuszwiebeln, die ich gesetzt hatte, schienen unterirdisch verfault zu sein. Die ließen sich einfach nicht blicken, und ich beäugte auch meinen künftigen Blumengarten mit Argwohn. Das bißchen, was da keimte, wies nur wenig Ähnlichkeit mit einem Bewuchs auf, der zu großen Hoffnungen berechtigt hätte.

 

In seinem Werk »Irischer Lebenslauf« schilderte Flann O’Brien das Dasein bitterarmer Kleinbauern aus der Sicht eines kummergewohnten Kindes.

Bei Sonnenuntergang wurden Binsen über den ganzen Fußboden gebreitet, und der Haushalt legte sich zur Ruhe auf ihnen nieder.

In diesem Haus verrottete dann ein riesenhaftes Schwein. Ein Nachbar glaubte, das Haus stehe in Flammen, doch es stiegen nur »Schwaden von Schweinedampf« auf, worüber ich so lachen mußte, daß Julius wach wurde.

Übersetzt hatte das Buch Harry Rowohlt, und zwar sehr gut, wie mir schien.

 

Im Waldschlößchen konnte Julius nach Herzenslust rutschen und karussellfahren, wovon er allerdings schon nach zehn Minuten die Nase voll hatte.

Ein Toto-Lotto-Reklameplakat hing dort aus, mit zwei Gedankenblasen über einem Selbstporträt von Wilhelm Busch:

Noch mehr Videorecorder

und

Jede Menge Geld!

Womit hatte Busch das verdient?

 

Nachdem wir eine Zeitlang im Forst Upjever herumspaziert waren, spielten wir wieder Halma, und dann gingen mir allmählich die Ideen aus, zumal ich mir eine Erkältung eingefangen hatte. Zum Glück war Julius dazu bereit, sich im Vorabendprogramm irgendeine amerikanische Arztfilmserie anzusehen. Danach füllte ich ihn mit Hähnchen und Pommes ab, gab ihm ein Asterixheft mit ins Bett und bestellte uns ein Taxi für den nächsten Morgen, denn wir mußten bereits um kurz nach sieben im Zug sitzen, und ich wollte nicht mit Julius zu Fuß zum Bahnhof krautern.

 

Ich verarztete mich mit einem Grippemittel namens Wick MediNait und arbeitete noch bis halb zwei Uhr morgens an einer Re

Wer bis hierhin durchgehalten hat, wird sicherlich auch verrückt genug sein, der eigenen Betroffenheit durch eine starke Überweisung auf das von mir geführte »Notkonto für Meppengeschädigte«, Oldenburgische Landesbank, Kontonummer 938 25362 00, Bankleitzahl 282 222 08, den angemessenen Ausdruck zu verleihen.

Versuchen konnte man’s ja mal.

 

Als der Taxifahrer unten hupte, wurde mir klar, daß ich den Wecker im Halbschlaf ausgemacht haben mußte. Gottverdammich!

Ich rief dem Taxifahrer vom Balkon aus zu, daß wir gleich runterkämen, weckte Julius, raste zur Toilette, zog mich in Weltrekordgeschwindigkeit an, raffte die Klamotten zusammen, mit denen mein kleiner Gast die Bude übersät hatte, und sank eine Viertelstunde später schweißüberströmt neben ihm auf die Abteilbank. Und als wir hinter Sande im Anschlußzug saßen und mein Schweiß getrocknet war, dachte ich, als nächstes komme bereits Oldenburg, und scheuchte Julius hoch, obwohl wir, wie ich dann merkte, erst in Rastede einrollten …

»Was ist denn los mit dir?« fragte Julius, der sich sehr über seinen hektischen Onkel wunderte.

 

Nachdem ich den lieben Jungen in Oldenburg in den richtigen Zug gesetzt hatte, kaufte ich mir zwei, drei Zeitungen und tuckerte gemächlich und allein zurück ins Jeverland.

In der Süddeutschen berichtete der Literaturkritiker und Arno-Schmidt-Forscher Jörg Drews, daß er sich bei einem Besuch in Oshos Ashram in Poona »sympathetischen Träumereien« hingegeben und festgestellt habe, »daß der Laden da drüben gar keinen so hanebüchen verrückten Eindruck« mache. Der Drang, »sich über das Ganze möglichst heftig und naseweis lustig zu machen«, lasse schnell nach.

Nein, so gemein und besserwisserisch will ich nicht schreiben über den Osho. Ein Photo von ihm habe ich mir aus dem Ashram-Bookshop mitgenommen; darauf sieht er ganz frech und gerieben

Und ich hatte mich für den weltweit einzigen Arno-Schmidt-Leser gehalten, der auch Osho etwas abgewinnen konnte.

 

Zuhause lag ich dann wieder mit laufender Nase im Bett und versuchte, nicht an Andrea zu denken.

Most of the time

She ain’t even in my mind

I wouldn’t know her if I saw her

She’s that far behind …

In ein paar Jahren würde sie es bereuen, daß sie mir abtrünnig geworden war. Diese hohle Nuß. Aber da hätte sie halt früher drüber nachdenken sollen.

 

Als ich wieder auf dem Damm war und mich endlich des verranzten, seit drei Tagen liegengebliebenen Küchengeschirrs angenommen hatte, schrieb ich für Kowalski einen Aufsatz über die leidigen nahöstlichen Scharmützel zwischen Christenmilizen, Schiiten, Sunniten, Prozyprioten, Falangisten, Jesiden, Maroniten, Alawiten, Sadduzäern und Hirnanhangdrusen, die alle zu dumm waren, Frieden miteinander zu halten. Sich in eine Hängematte legen, unter Palmen, Tee trinken und Kempowski lesen, das hätten sie doch auch mal tun können, anstatt immer wieder aufeinander einzudreschen.

 

Nach ihrer Entlassung aus dem Sophienstift mußte Oma eine Serie von Niederlagen im Malefizspiel verarbeiten, weil sie nicht einmal dann gewann, wenn ich sie siegen lassen wollte. Sie tölpelte mit ihren Männchen auf dem Brett herum, als hätte sie erst fünf Minuten vorher die Regeln gelernt, und blieb blind für sämtliche goldenen Brücken, die ich ihr baute.

Aber dafür war sie eine begnadete Köchin. Das mußte man ihr lassen.

 

Eine kleine, dicke Frau in weißem Kleid. Mit einem irren Blick.

Die armen Psychiater, die sich mit der jetzt abgeben mußten. Was die wohl für einen Quatsch erzählte, um ihre Tat zu rechtfertigen?

 

Dann kam mal wieder ein Brief meiner alten Mitschülerin Astrid Kohler:

Ich wohne jetzt in ’ner vornehmen Gegend, glücklicherweise aber in einer weniger bürgerlichen Ecke von Hamburg-Eimsbüttel, Nähe U-Bahnhof Schlump. Das sollte übrigens ein diskreter Hinweis auf die Haltestelle sein, an der Du aussteigen mußt, wenn Du mich mal besuchen willst …

Ich würde sehr gerne mal wieder mit Dir reden, weiß aber nicht, ob ich in nächster Zeit im Emsland auftauche. Vielleicht machst Du ja mal aus »beruflichen Gründen« Station in Hamburg?

Diese Einladung behielt ich im Hinterkopf.

 

Papa lag noch immer im Krankenhaus. Seine Wunden wollten nicht heilen, sagte er mir am Telefon.

Nachdem ich ihm mitgeteilt hatte, daß Oma Jever wohlauf sei, fiel mir nichts mehr ein, was ich ihm noch hätte erzählen können, und ich wünschte ihm gute Besserung.

 

In seiner Titanic-Kolumne widmete Max Goldt sich Österreichs Mitgliedschaft in der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA):

Allerdings wird über die Existenz der EFTA außerhalb ihrer selbst nur wenig Wind gemacht; ich habe von ihr bislang nur selten vernommen, und ich wußte auch nicht, wer außer Österreich da noch Mitglied sein soll – neutrale Mauerblümchen-Staaten vermutlich, Länder, die keiner kennt oder haben will, solche, die abseits im Schatten stehen, Kinder von schlagenden Eltern, schorfige Lippen, Tristesse.

 

Zu meinem 28. Geburtstag erhielt ich Post von meinen beiden Patentanten: ein Oberhemd von Dagmar und einen Kartengruß der in Bad Pyrmont kurenden Gertrud. Und der Kowalski-Redakteur Günther Willen schrieb mir, daß ihnen in Hamburg meine Reportage über Meppen und die Analyse der Lage im Nahen Osten gerade noch gefehlt hätten.

Eine »Nickligkeit« (Marcel Reif) fällt mir dazu noch ein: Nachdem Harald »Toni« Schumacher den SV Meppen seinerzeit angepfiffen hatte und vielviel lieber mit Kamerad Türk spielen wollte (als in der zwoten Liga gegen die van der Püttens, Thobens und Rusches anzutreten), stellten ihm gute Anhänger des SV Meppen einen Möbelwagen vor seine Kölner Wohnung, um damit auf die schreiende Ungerechtigkeit dieser modernen Welt aufmerksam zu machen … was weiß ich.

Und ich solle ihm mal meine Telefonnummer mitteilen.

 

Oma Jever schenkte mir zwanzig Mark. »Und denk mal an, wer heute kommt! Gisela und Egon!«

Als kinderreiche Mutter kriegte Oma oft Besuch, obwohl es nach Jever für alle ihre Nachfahren außer mir eine halbe Weltreise war.

Gisela und Egon brachten jedenfalls Leben in die Bude, und am Abend kamen sie sogar auf einen Schoppen mit in Rainer Dickhoffs anrüchige Discothek Na Nu, um mir beim Kellnern zuzusehen.

»Du machst das ja, als hättest du das von der Pike auf gelernt!« rief Egon, als er mich an den kopfüber aufgehängten Spirituosen hantieren sah, und Gisela sagte, daß die Jugend hier ja ganz schön am Bechern sei.

Als die Feierlichkeiten ihren Höhepunkt erreichten, waren Gisela und Egon aber längst gegangen: Um halb eins trugen untereinander verfeindete Bauernsöhne auf der Herrentoilette eine

Mien Jeverland, wo leev ik di …

Nach diesem Zwischenfall spendierte Rainer dem Thekenpersonal, das nur noch aus der Fachkraft Steffi, mir und ihm selbst bestand, eine Runde Sambuca-Baileys, wobei ich erfuhr, daß unsere Ex-Kollegin Moni, die auch schon viele Schlachten im Na Nu überstanden hatte, von einem gesunden Jungen entbunden worden sei, und darauf tranken wir so viel, daß ich erst um halb acht Uhr morgens zum Dannhalmsweg und ins Kellerbett torkelte.

 

Oskar Lafontaine befand sich inzwischen außer Lebensgefahr. Von Adelheid Streidel, der Frau, die das Attentat auf ihn verübt hatte, las man, daß sie an Wahnvorstellungen leide. Es gebe, habe sie erklärt, »in Europa Menschenfabriken und unterirdische Operationssäle, wo Leute aus der Bevölkerung körperlich und geistig umfunktioniert werden«.

Nach allem, was ich in den Nachrichten von Adelheid Streidel gesehen hatte, sah sie nicht so aus, als ob sich jemals irgendwer für sie interessiert haben könnte. Weder ein seiner Sinne mächtiger Privatmann noch ein Konsortium böser Menschenfabrikanten.

 

»Eventuell rutscht in das Juniheft die Drusensache noch mit rein«, berichtete Günther Willen mir telefonisch. »Das wird dann ein richtiges Schlosserfestival …«

Außerdem fragte er nach Fußballtexten zur WM, und ich bot ihm einen über den Verfall der Jubelkultur an. Dafür mußte ich nur einen Text, den Michael Rutschkys Alltag ignoriert hatte, etwas umformulieren.

 

Einer von Omas Vettern war gestorben, Tjako Rickels, und sie wollte gern an seiner Beerdigung in Rastede teilnehmen.

Um bei der Trauerfeier gut dazustehen, borgte ich mir von meinen Vermietern ein Dampfbügeleisen aus. Das Ding hieß Siemens Portatronic 2000 oder so ähnlich, und es tropfte und zischte und stank, aber bügeln ließ sich damit absolut nichts.

 

Ich kannte dort niemanden, aber Oma unterhielt sich nach der Beisetzung noch äußerst angeregt mit Kusinen und Nichten und Neffen ersten oder zweiten Grades. Um da durchzublicken, hätte man ein zweihundertseitiges Personenstandsbuch mit sich führen müssen.

 

Mein Rasen war gut gediehen, doch mit den Blumen sah es mau aus. Wollten sie nicht? Oder konnten sie nicht? Ich hatte ihnen alle Freiheiten gelassen, und jetzt hätten sie mal zeigen können, was sie draufhatten, aber sie kriegten es nicht hin.

 

In der FAZ schrieb der Literaturkritiker Michael Maar:

Daß Eckhard Henscheid ein außerordentlicher Schriftsteller sei, einer der wenigen wirklich bedeutenden unserer Zeit, ist eine Auffassung, die noch weit davon entfernt, verbreitet Anerkennung zu finden, heute immerhin weniger sektiererisch anmutet als noch vor einigen Jahren.

Sie würden es schon noch begreifen, die Leute, daß es auf die Dauer keinen Spaß machte, auf dem alten Graubrot der Gruppe 47 herumzukauen.

 

Die Außenminister der Bundesrepublik, der DDR, der UDSSR, der USA, Großbritanniens und Frankreichs trafen sich in Bonn zu »Zwei-plus-Vier-Verhandlungen« über die deutsche Frage. Mit einem Kometenschweif aus Diplomaten, Staatssekretären, Dolmetschern und Bodyguards. Da klingelten sicherlich auch die Kassen der Bonner Edelprostituierten.

Wenn es nach Günter Grass gegangen wäre, hätten es wahrscheinlich Zwei-plus-Fünf-Verhandlungen sein müssen, mit ihm selbst als eigenständiger Supermacht.

 

 

Post von Günther Willen:

Bravo! Ihre Geschichte des Torjubels können wir vielleicht noch in der Rubrik Lötzinn unterkriegen, so daß Sie in der nächsten Nummer – wenn’s hochkommt – mit drei Beiträgen vertreten sind. Ist es da ein Wunder, wenn wir das Juni-Heft einfach »Martin Schlossers interessantes Magazin« nennen wollen? Ich bitte Sie. Der anschließende Jubel in und um Jever ist natürlich unbeschreiblich. Oder?

 

Im Na Nu bediente jetzt auch eine sehr resolute Frau namens Sabine, die sofort zuschlug, wenn ihr einer blöd kam, und das hatten die Gäste von der ersten Minute an begriffen. Selbst die aus der Zone, die immer noch in Scharen mit ihren saudummen Reichskriegsflaggen in den Laden hereingeschwappt kamen.

 

Nachdem ich die Einkäufe in Omas Küche abgestellt hatte, setzte ich mich im Wohnzimmer zum Zeitunglesen hin.

Zwar gebe es auch Schattenseiten, doch alles in allem gäben die Entdeckung, die Eroberung und die Christianisierung der Neuen Welt ein strahlendes Bild ab, sagte der Papst am zweiten Tag seines Mexiko-Besuchs in der Hafenstadt Veracruz.

Ihre Ahnen waren von den katholischen Eroberern gekillt worden, und nun huldigten diese Esel einem Pfaffen, der ihnen lauter Lügen erzählte. Ein strahlendes Bild!

 

Bei meiner nächsten Visite hatte Papa noch immer keinen Entlassungstermin in Aussicht. Er dämmerte im Ludmillenstift vor sich hin und musterte mit gerunzelter Stirn die Kontoauszüge, die ich mitgebracht hatte.

 

Im Ali-Baba-Grill hätte ich ein mit Knoblauchwurst, Schafskäse und Salat gefülltes Fladenbrot namens Meppburger bestellen können, aber ich entschied mich für zwei Schaschlikspieße.

 

»Und wie geht’s dem Meister?« fragte Herr Lohmann und stellte zwei Flaschen Bier auf den Tisch.

Der Armbruch sei noch nicht verheilt, sagte ich.

Frau Lohmann, die beim Weißwein blieb, fragte mich auch nach Renates, Volkers und Wiebkes Ergehen, und sie sprach davon, wie wundervoll es 1977 in Venezuela gewesen sei, »mit deiner Mutter – die ist da richtig aufgeblüht!«

Wäre sie dort mal geblieben, dachte ich.

 

Weil im Fernsehen später wieder nur Mist lief, setzte ich mich in der Dammstraße mit einem weiteren Bier auf die Gartenterrasse und dachte an die Zeiten, in denen ich dort mit Andrea gesessen hatte. Wie lange lag das alles schon zurück.

And the crickets are breaking

His heart with their song

As the day caves in

And the night is all wrong …

Warum hatte sie mich verlassen?

 

Am Samstag stieg ich früh genug in den Zug nach Hannover, um noch auf den Flohmarkt gehen zu können. Ich kaufte mir einen Gedichtband von Leonard Cohen und ein Bootleg von Dylans 1966er Englandtournee – von dem Luxemburger Label Swingin’ Pig Records –, und dann ließ ich mir von Dagmar in der Baumstraße Spaghetti bolognese vorsetzen und ging abends ins Kino und sah mir den lustigen Film »Kuck’ mal, wer da spricht!« an. Wie die Spermien plappernd durch den Geburtskanal rauschen und wie die schöne Kirstie Alley sich vorstellt, daß John Travolta ihren Kindern irgendeinen Drecksfraß von der Müllkippe als Abendessen hinknallt …

 

Auf der Zugfahrt nach Meppen las ich am Sonntag Cohen.

I am almost 90

Everyone I know has died off

except Leonard

hobbling with his love.

Womit man bei Papa nicht rechnen konnte. Er war erst 62, aber schon beinahe greisenhaft hinfällig. Und aus welchem Born hätte er in Meppen neuen Lebensmut schöpfen können?

 

Bevor ich mit dem Jetta wieder nach Heidmühle fuhr, besuchte ich Papa noch einmal in seinem Krankenzimmer.

»Nächste Woche lassen sie mich vielleicht raus«, sagte er. »Dann wär’s gut, wenn du kommen könntest. Für die nötigsten Besorgungen.«

 

In Papenburg stand eine Tramperin, und ich hielt an und fragte sie, als sie die Beifahrertür öffnete, wo’s denn hingehen solle, wobei ich jedoch nicht bedacht hatte, wie ungut es aussehen mußte, daß zwischen meinen Oberschenkeln eine Literflasche Cola stand.

»Egal«, sagte die Frau und warf die Tür wieder zu.

Dann halt nicht, dachte ich und fuhr weiter. Und da erst ging mir auf, daß es ja auch närrisch von mir gewesen war, die Frau nach ihrem Reiseziel zu fragen. Normalerweise fragten Tramper den Autofahrer, wohin er fahre.

Ich mußte der Frau verdächtig vorgekommen sein. Ein Sittenstrolch, der durch die Lande kurvt und Mädchen abzuschleppen versucht …

 

In Heidmühle konnte ich bei den niedersächsischen Landtagswahlen gerade noch meine Stimme für die Grünen abgeben, bevor das Wahllokal im Bürgerhaus schloß.

Die Tamilen entfernten sich augenblicklich aus der Küche, als ich ankam, und ich briet mir vier Spiegeleier und verfolgte die Hochrechnungen: Die SPD und die Grünen schienen eine knappe Mehrheit gewonnen zu haben und konnten sofort mit den Koalitionsgesprächen beginnen.

Endlich kein Ernst Albrecht mehr! Dessen Glommse hatte mich durch mein Leben begleitet, seit ich mit vierzehn zum Spiegel-Leser geworden war.

Auch in Nordrhein-Westfalen war gewählt worden. Dort hatte die SPD sogar fünfzig Prozent geholt, und die Grünen konnten in den Landtag einziehen.

 

Auf der Bootleg-CD war zu hören, wie Bob Dylan »Judas!« zugeschrien wurde, weil er mit elektrisch verstärkten Instrumenten auftrat. »I don’t believe you«, sagte Dylan. »You’re a liar!« Seiner Band rief er zu: »Play fucking loud!« Und dann spielten sie »Like a Rolling Stone«.

In dem Set hatte Dylan auch »One Too Many Mornings« gesungen. Atemberaubend. Aber dem Zwischenrufer und denen, die ihm Beifall gespendet hatten, wäre es lieber gewesen, wenn Dylan sein Leben lang nur »Blowin’ in the Wind« gesungen hätte. Zur Wandergitarre.

 

Wollte man bei Harms Pfandflaschen zurückgeben, stand man sich jedesmal die Beine in den Bauch, bis da jemand kam.

Dafür überraschte mich meine Stammbäckerei in Heidmühle mit einer Novität namens »AOK-Aktivbrot« (»aktiv gekaut, aktiv verdaut«). Wer mochte diesen Buchstabenmüll ausgebrütet haben?

 

Post von Andrea. Aus Oldenburg.

Nachdem ich heute im Supermarkt, als ich neugierig in »Kowalski« blätterte, wieder mal einen Artikel von Dir fand, beschloß ich, Dir endlich zu schreiben.

Ich hoffe, Du wirst Dir überhaupt die Mühe machen, meinen Brief zu lesen. Daß Du Dich mir gegenüber erst einmal völlig verschließen würdest, habe ich nicht anders erwartet, dazu kenne ich Dich zu gut. Aber ich würde es sehr schade finden, wenn nun ewig die absolute Funkstille zwischen uns bliebe. Ich weiß, ich habe Dich sehr verletzt, aber meine Entscheidung war ehrlich, und ich hätte Dir und mir nichts Gutes getan, wenn ich halb

Sondern?

Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn die Zeit irgendwann vorbei wäre, wo Du Dich völlig von mir zurückziehen mußt, und wenn Du danach nicht einfach aus Sturheit dabei bliebest, Dich in eisiges Schweigen zu hüllen. Die Entscheidung liegt ganz bei Dir.

Ob Du Dich mal wieder meldest oder nicht – ich wünsche Dir wirklich von Herzen alles Gute.

Sollten wir jetzt »Freunde sein« oder wie? Und Nettigkeiten austauschen? Und wer hatte sich denn bitteschön zurückgezogen – sie oder ich?

 

Von Zeit zu Zeit konnte ich meiner Sammlung sonderbarer Nachrichten aus dem Jeverschen Wochenblatt ein neues Fundstück zuführen:

Heißes Bett in

Wilhelmshaven

Fürwahr eine die Wißbegierde weckende Überschrift.

Wilhelmshaven. Die Feuerwehr wurde gestern um 11.35 Uhr in die Gökerstraße gerufen. In einem unbewohnten Haus standen ein Bettgestell und angrenzende Stellwände in Flammen. Ein ordentlicher Wasserstrahl löschte das heiße Bett.

Schon allein für diese erzählerische Antiklimax hätte das Wochenblatt mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor ausgezeichnet werden müssen.

 

 

Ab Wiesmoor gurkte ich auf der Autofahrt nach Meppen hinter einem LKW her, auf dessen Heckklappe die Worte standen:

KitKat – die superleichte Schokopause

In Brinkum bog er endlich ab.

 

Die Ärzte hatten Papa aus ihrer Obhut entlassen, und er brauchte dringend neue Lebensmittel und natürlich Wein und Sekt und Zigaretten.

Ich mußte viermal zu Aldi dackeln, bis ihn die Vorratsmenge zufriedenstellte. Und den Rasen mähen.

 

Nachdem wir die üblichen Salamibaguettes aus der Mikrowelle gegessen hatten, dozierte Papa im Wohnzimmer über den Wissenschaftsjournalisten Hoimar von Ditfurth. Das sei ein Geist gewesen, der sich über das Niveau der Masse der uns umgebenden Holzköpfe erhoben habe. »Den schätze ich hoch. Aber nicht seine Tochter!«

Er meinte die Grüne Jutta Ditfurth, die gern Provokantes von sich gab.

»Erkenntnisgewinne kann man sich jedenfalls nur von Naturwissenschaftlern versprechen«, sagte Papa. »Und nicht von Politikern. Und schon gar nicht von Juristen! Wenn die Menschen sich an die Zehn Gebote hielten, wäre dieser Berufsstand überhaupt nicht mehr nötig …«

Dagegen brachte ich den Einwand vor, daß ein moderner Industriestaat sich nicht auf der überholten Rechtsgrundlage der Zehn Gebote verwalten lasse.

»Und was ist daran überholt?« fragte Papa. »Wenn die Leute ihren Vater und ihre Mutter ehren und nicht lügen und nicht stehlen und nicht töten und nicht ihres Nächsten Weib begehren würden, dann könnten die Juristen ihre Kanzleien allesamt dichtmachen!«

»Aber so ist es eben nicht. Und in den Zehn Geboten steht auch

Er bleibe dabei, sagte Papa. »Aber die Menschheit ist eben verrückt geworden. Alle versuchen sich gegenseitig aufs Kreuz zu legen. Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Im Grunde kannst du mich als Aussteiger betrachten. Ich hab hier mein Haus und keinen Pfennig Schulden mehr darauf, und jetzt können mich alle mal am Arsch lecken. Die Juristen, die Politiker, die Politologen, die Nachbarn … und die Emanzen. Die erst recht!«

Ich solle ihm mal das Buch »Laßt endlich die Männer in Ruhe« besorgen, sagte er. Das würde er gern lesen.

 

Nach dem Frühstück chauffierte ich Papa nach Lingen zum Finanzamt, wo er sich anderthalb Stunden lang mit einem Sachbearbeiter herumstritt, während draußen die Sonne auf Gerechte und Ungerechte herabschien, auf eisschleckende Kinder, hüftkranke Gemüsehändler, verrentete Kieferorthopäden, katholische Dixielandfans, CDU-wählende Hausfrauen und irgendwo auch auf Andrea.

Don’t even remember what her lips felt like on mine …

»Die Sorge, wie man Nahrung findet, ist letztlich nicht ganz unbegründet«, sagte Papa, als er sich nach geschlagener Schlacht auf den Beifahrersitz setzte.

 

Den Jetta ließ ich Papa da und fuhr mit dem Zug wieder nachhause, voller Hoffnung auf den einen oder anderen Scheck, aber in meinem Briefkasten gammelte nur Reklame für Grillfleisch, Planschbecken und elektrische Zahnbürsten herum.

Ich mahnte bei der Redaktionssekretärin der Zeitschrift Der Alltag das seit Monaten ausstehende Honorar für meine Kohlfahrtreportage an, und im Vertrauen auf neue Honorarschecks überwies ich dem münsterländischen Lotus-Hof 1200 Mark für meine Teilnahme an einem zehntägigen Tantra-Workshop, der Ende Juli stattfinden sollte. Mit Vollpension.

 

Die Sowjetunion löste sich auf, und der sogenannte Radikalreformer Boris Jelzin war zum russischen Parlamentspräsidenten ernannt worden. Ein schwammiger und selbstverliebter Autokrat, wie man auf den ersten Blick erkennen konnte. Armes Rußland! Als ob da nicht schon genügend Miesnickel herumregiert hätten.

 

Anläßlich des achtzigsten Geburtstags der Schauspielerin Inge Meysel ingemeyselte es auf allen Fernsehkanälen, und sie wurde einem als »Mutter der Nation« aufgeschwatzt, obwohl oder weil sie immer nur Inge Meysel gespielt hatte, die burschikose Putzfrau, die ihr Herz auf der Zunge trägt. Miss Dicke Lippe. Eine schaurige Person.

 

Probehalber stellte ich einen geliehenen Gartenstuhl auf meinen Rasen und versuchte da ein Buch zu lesen. Doch wie sollte man sich konzentrieren, wenn einem ständig Fliegen oder Käfer um die Nase surrten?

In meinem Blumenbeet hatte sich irgendeine Kletter- oder Schlingpflanze breitgemacht und alles andere überwuchert und erstickt. Von wegen Blumenmeer! Todtraurig sah’s da aus.

Wozu hätte ich dieses behämmerte Gartenstück noch weiter pflegen sollen?

Ich trat es an meine Vermieter ab und war sehr froh, dieses Kapitel abhaken zu können.

 

Michael Rutschky, dem ich schon vor längerer Zeit einen Bericht über meine Selbsterfahrungsworkshops angeboten hatte, antwortete mir, daß er das gern läse. Die Sache sei bloß die, daß er zu viele von meinen Sachen angenommen habe:

»Der Alltag« kommt mit dem Abdruck nicht mehr nach, Sie werden auch nicht Jahre darauf warten wollen, daß eine Geschichte endlich erscheint, deshalb sage ich besser nein.

Andererseits habe ich mit Kurt Scheel, dem Redakteur des be

Ich schrieb noch am selben Tag nach München.

 

In der Juninummer von Kowalski erschien meine Reportage über Meppen, und in der Titanic glänzte Achim Greser mit einem Cartoon: Ein Mann meldet sich bei der Reparaturannahme einer Werkstatt. Neben ihm steht eine dicke alte Frau mit Hängeschultern und schlaffem Gesicht. Der Mann sagt: »Sie läßt in letzter Zeit sehr in ihrer Waschleistung nach.« Und im benachbarten »Prüfzentrum« leuchtet ein Techniker einer anderen alten Frau mit einer Taschenlampe unter den Rock.

 

»Stell dir vor – ich werde wieder Urgroßmutter!« rief Oma Jever. »Dein Vetter Norman und seine Frau Maxine erwarten ein Kind!«

Von mir selbst hatte Oma keinen Nachwuchs zu erwarten, wie sie wußte. Wozu hätte ich mir Neugeborene aufhalsen sollen, die mich beim Lesen, Schreiben oder Musikhören störten?

 

Bei meinem nächsten Meppenbesuch mußte ich mich einer Schwadron Wespen erwehren, als ich die Flaschen in den Altglascontainer schmeißen wollte. Die Wespen kamen von überallher angebraust, auch aus dem Inneren des Containers. Sie schienen in mir einen Aggressor zu wittern, und ich machte, daß ich wegkam.

Die neuen Wein- und Sektflaschen reihte ich in einem Kellerregal auf. Aus Papas Sicht waren es noch nicht genug.

 

Der Jetta hatte jetzt einen Knauf am Lenkrad. Der war von Herrn Lohmann dort angebracht worden, damit Papa das Herumkurbeln leichter fiel. Sein lädierter rechter Arm bereitete ihm Probleme, auch nach der langen Behandlung im Ludmillenstift.

 

Er stellte dann die These auf, daß Frauen von Natur aus weniger Interesse am Sex hätten als Männer.

»Und auf welche empirischen Erhebungen stützt du diese These?«

Das sei nun mal so, sagte Papa. »Die Frauen sind da anders.«

Ach? Und wie viele Frauen hatte Papa herangezogen, um die Stichhaltigkeit seines Befunds zu überprüfen? Auf der Erde lebten rund 2,5 Milliarden Frauen, und zu den wenigsten davon hatte Papa eine nähere Beziehung unterhalten, die es ihm erlaubt hätte, einen solchen Generalverdacht zu erheben.

 

In einem Zeitschriftenkiosk fragte ich nach Kowalski und bekam zur Antwort: »Ausverkauft! Restlos in ganz Meppen ausverkauft! Ausverkauft bis runter nach Lingen! Aber ich hab schon fünfzig Stück nachbestellt!«

»Da steht was über Meppen drin, hab ich gehört …«

»Aber was für’n Ding!«

»Was steht denn drin?«

»Fußgängerzone, Fußballverein, Katholiken – alles! Morgen hab ich wieder welche! Morgen!«

So machte es doch Spaß, das Leben. Selbst in Meppen.

 

Ich versprach Papa, schon in einer Woche wiederzukommen. Dann fuhr ich mit dem Jetta gen Heidmühle und ließ unterwegs eine Kassette mit Songs von Elvis Presley laufen, die ich in einem der Geschäfte in der Meppener City entdeckt hatte.

A rose grows wild in the country …

Im Emsland war »the country« natürlich nicht das gleiche wie in Amerika.

A tree grows tall as the sky …

Was freilich auch in Papenburg vorkommen konnte.

The wind blows wild in the country,

Das glaubte ich Elvis nicht. So gut es auch klang. Sonst hätte er sich nicht von der amerikanischen Plattenindustrie domestizieren lassen.

 

Was ich nicht verstand: Wieso wurden die Spione aus der DDR nicht amnestiert? Von denen ging doch überhaupt keine Gefahr mehr aus? Und der BND hatte seinerseits ja auch Spione in die DDR entsandt. Hätte man die dann nicht ebenfalls verknacken müssen?

 

Endlich trudelte mal wieder ein Scheck von Kowalski ein (über 1190 Mark). Und dazu ein an mich weitergeleiteter Leserbrief:

Betr.: Ausgabe 6/1990, »Wer kennt eigentlich Meppen?«

Da war ich gespannt.

Was meinte der Autor obiger Stadtbeschreibung bei der Erläuterung der sieben Errungenschaften Meppens eigentlich mit dem hier auszugsweise zitierten Wortlaut »Dank der ungebührlich recklinghausenhaften Umgehungsstraße …«?

Meine Geburtsstadt Recklinghausen verfügt tatsächlich über einige sehr hübsche Umgehungsstraßen, deren Asphaltbelag übrigens leidlich zu ertragen ist und recht zügig befahren werden kann, es sei denn, er wird mal grad eben wieder frisch erneuert.

Sorgen hatten die Leute!

 

Zwischen den Tamilen und mir gab es keine Probleme. Die wisperten und knusperten in ihrem Teil der Wohnung, und wenn sie etwas kochten, machten sie hinterher alles penibel sauber.

 

Aus der Buchfassung der Titanic- und dann Kowalski-Kolumne »Teddy’s Trends«, die im Haffmans Verlag erschienen war, erfuhr man endlich auch offiziell, daß Teddy Hecht ein Pseudonym von Richard Kähler war. Eckhard Henscheid hatte ein Vorwort geschrieben, in dem es hieß:

Auch wenn unserem Teddy Hecht nichts ferner gelegen haben sollte, so behaupte ich meinerseits doch nahezu ungescheut dies,

Das war ein Ritterschlag.

 

Den Mittelfeldkicker Lothar Matthäus konnte ich nicht leiden, aber als er in dem WM-Spiel gegen Jugoslawien alle ausdribbelte und ein Tor schoß, stellten sich mir die Nackenhaare auf.

In der Halbzeitpause rief Dagmar an und sagte, daß ich doch mal was für den NDR schreiben könne.

Wieso nicht? Ich verfaßte drei lobende Seiten über »Teddy’s Trends« und schickte das Ganze los, und dann fuhr ich wieder nach Meppen.

Wild, wild, like the deer and the dove

Wild and free is this land that I love …

Nur daß ich das Land desto weniger liebte, je näher ich Meppen kam.

 

Nachdem ich den Kühlschrank, die Gefriertruhe und das Flaschenregal im Keller wieder aufgefüllt hatte, spielte Papa im Wohnzimmer die mir schon hinlänglich bekannte Volkerplatte ab: »Der hat sich mit seiner Computerwirtschaft benebelt, und jetzt glaubt er, daß er ohne Diplom durchs Leben kommt! Aber irgendwann bin ich nicht mehr da, um diesem Bruder Leichtfuß aus der Klemme zu helfen, wenn ihm die Rechnung für seine Fahrlässigkeit präsentiert wird. Dann muß er selber zusehen, wo er die Moneten herkriegt, um sich sattfressen zu können. Völlig zu schweigen von irgendeiner Form der Alterssicherung. Der drömelt einfach vor sich hin und glaubt, daß ihn der himmlische Vater schon irgendwie ernähren wird. Aber wenn man mit dem Kopf in den Wolken lebt, dann bringt man’s zu nix …«

Was natürlich auch für mich galt.

 

Laut Spiegel hatte der vom Pazifisten zum Verteidigungsminister aufgeschossene Pfarrer Eppelmann auf einer Kommandeurstagung erklärt, daß die Nationale Volksarmee der DDR »weiterhin« zum europäischen Frieden beitragen werde.

Bei jenen Bürgern, die das anders sähen, sei Großzügigkeit fortan fehl am Platze, verkündete der Minister. Zivildienstleistende dürften gegenüber Wehrdienstleistenden nicht bevorzugt werden. Und die Möglichkeit, »ohne weiteres aus dem aktiven Wehrdienst heraus in den Zivildienst« zu wechseln, müsse ausgeschlossen werden.

Aber Schwerter zu Pflugscharen umschmieden! Was ritt diesen Mann? Die blanke Machtgier?

 

Die Zeit verging mit Rasenmähen, Einkäufen, Haushaltsgeprüttjer und dem Verspeisen von Mikrowellengerichten. Aber eigentlich verging sie gar nicht. In Meppen stand sie still. Jedenfalls in der Dammstraße 43.

Meinen Vorschlag, eine Putzfrau anzuheuern, wies Papa zurück: Das fehle ihm noch, daß irgendso’n Weibsbild hier herumzufuhrwerken beginne!

 

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