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Chase – Die Verschwörung

eISBN 978-3-96129-084-0

 

Edel:Kids Books

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

Copyright © Edel Germany GmbH,
Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

1. Auflage 2018

 

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Escape
bei Orion Children’s Books, an imprint of Hachette Children’s Group, part of Hodder and Stoughton, London.

Text © NJSB Entertainment Inc. 2018

 

Projektkoordination: Christiane Rittershausen

Lektorat: Lisa Blaser

Übersetzung: Ulrich Thiele

Covergestaltung: Geviert Grafik & Typographie

Layout und Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ePub-Konvertierung: Datagrafix GmbH, Berlin | www.datagrafix.com

 

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung
des Verlages wiedergegeben werden.

Für Neetha

01

Der VW-Bus flog.

Die Nase an die Scheibe gedrückt, starrte Jeff Conroy aus dem Fenster und schnappte nach Luft. Bis vor ein paar Sekunden hatten sie festen Boden unter den Reifen gehabt. Jetzt segelte der alte, rostige Kleinbus durch den Himmel.

Weit unter ihnen verlief die Straße, sie schien sich wie eine Schlange durch Gras zu winden. Nur waren es keine Grashalme, sondern Bäume. Und dazwischen standen keine kleinen Plastikhäuser wie auf einer Modelleisenbahn, und über den Asphalt rollten keine Spielzeugautos. Alles war echt.

Jeff befand sich in einem fliegenden Kleinbus – es war unglaublich! Doch er konnte den Flug nicht genießen. Er hatte Angst, und weil das Gefährt so stark schwankte, war ihm auch noch einigermaßen übel.

Während sie weiter anmutig geradeaus schwebten, konnte Jeff leider nicht mal richtig aus dem Fenster schauen. Ein Teil davon wurde nämlich von dicken schwarzen Magnetbändern verdeckt, die an der Karosserie des VW-Busses hafteten. Diese Streben hingen an dem mächtigen Hubschrauber über ihnen. Er hatte den Bus von der Straße gehoben.

Hinter dem Steuer, das nun zu nichts mehr nütze war, saß Harry Green. Er sah sich hilflos nach Jeff um, der neben seinem Hund Chipper auf der mittleren Sitzbank kauerte.

»Was sollen wir jetzt machen, Chipper?«, brüllte Jeff durch den ohrenbetäubenden Rotorenlärm und starrte auf den Boden tief unter ihnen.

Chipper wusste keine Antwort. Er war gerade erst aufgewacht.

Fünf Minuten zuvor, als das Institut gerade dabei gewesen war, den VW-Bus aufzuspüren, hatte Chipper noch geträumt.

Auf der Erde gab es kaum einen Hund wie Chipper, doch was eine Sache anging, war er der normalste Vierbeiner der Welt.

Immer wenn er schlief, träumte er.

Die Forscher des Instituts hatten Millionen Dollar dafür ausgegeben, einen laufenden, bellenden, schnüffelnden Supercomputer zu erschaffen und mit der vielleicht ausgeklügeltsten Software aller Zeiten auszustatten. Eines ging allerdings sogar über ihre Kräfte: Sie konnten Chipper nicht vierundzwanzig Stunden am Tag wach halten.

Chipper verstand mehrere Sprachen, konnte auf abgespeicherte Landkarten zugreifen und komplizierte Berechnungen anstellen, doch er war kein Laptop, der pausenlos in Betrieb bleiben konnte. Er musste sich auch mal aufs Ohr legen, die Augen schließen, ein Schläfchen halten. Okay, die Augen musste er nicht unbedingt zumachen, sie waren ja nicht echt. Er konnte sie auf Stand-by stellen. Aber trotzdem.

Und wenn er irgendwann einnickte, träumte er. Manchmal waren es schöne Träume. Manchmal waren es Albträume.

Der Traum, den er gehabt hatte, bevor der VW-Bus vom Boden abgehoben war, war sehr schön gewesen. Es war ein Traum von glücklicheren Zeiten.

Chipper hatte von früher geträumt, als er noch ein Welpe war.

Oh, wie himmlisch diese Zeit gewesen war! Bevor die ganzen Computerchips und Drähte, Schaltkreise und Speichermodule in seinen Körper eingebaut worden waren, hatte Chipper noch ganz andere Gedanken als heute gehabt. Heute dachte er meist in richtigen Worten, genau wie die Menschen, doch als Welpe wäre er nie auf solche Ideen gekommen. Als Welpe hatte er sich auf seine Impulse und Instinkte verlassen, auf Gefühle wie Freude, Angst und Neugier.

Und so vieles hatte seine Neugier geweckt. Er war auf einer Farm zur Welt gekommen, in einem Wurf mit fünf anderen Welpen, drei Brüdern und zwei Schwestern. Die Besitzer der Farm hatten ihnen allen Namen gegeben. Er hieß natürlich Chipper, seine Schwestern hießen Bonnie und Lucy, seine Brüder hießen Clyde, Scout und Wonder, und der Name seiner Mutter, einer wunderhübschen Border-Collie-Dame, war Princess.

Als junger Hund konnte man sich kein herrlicheres Zuhause vorstellen als diese Farm. Allein die vielen Gerüche! Es roch nach Heu und Gras und Bäumen und Kühen und Hühnern, es waren Millionen von Aromen! Wenn man eine feinfühlige Hundenase hatte, konnte einem das fast zu viel werden, aber zugleich bekam man nie genug davon. Außerdem erging es einem nicht wie den bemitleidenswerten Stadthunden – man musste nicht den ganzen Tag in einem Haus oder in einer Wohnung herumsitzen und aufs Herrchen oder Frauchen warten, nur damit man für ein paar Minuten die Schnauze in die echte Welt stecken durfte. Und dabei hingen die Armen auch noch an einer Leine, und irgendjemand trottete mit einem Plastikbeutel hinter ihnen her! Nein, solche Scherereien hatte man auf einer Farm nicht.

Auf einer Farm konnte man den ganzen Tag laufen, laufen und laufen, man konnte …

»Chipper!«

… die Schafe zusammentreiben oder Eichhörnchen jagen oder gemütlich zusehen, wie die Kühe gemolken wurden, oder hinten auf den Pick-up des Farmers springen und sich quer übers Gelände kutschieren lassen. Oder irgendwo in der Sonne ins Gras fallen und sich das Fell wärmen lassen.

Diese Erinnerungen erlebte Chipper im Schlaf von Neuem. Und häufig war seine Mutter bei ihm.

Im Traum konnte Chipper sprechen. Er konnte seiner Mutter sagen, wie lieb er sie hatte. Er konnte ihr sagen, wie gut es ihm auf der Farm gefiel und dass er nie, nie, nie von dort fortgehen wollte.

Doch manchmal verfinsterten sich seine Träume, wurden so düster wie der schwarze Wagen, der eines Tages gekommen war und aus dem die dunkel gekleideten Leute gestiegen waren. Die vom Institut.

Dann flehte Chipper seine Mutter jedes Mal an, ihn zu retten. Er wollte nicht mit diesen Leuten mitgehen. Er wollte für immer ein normaler Hund bleiben. Er …

»Chipper!«

Er wollte nicht aufgeschnitten werden, er wollte nicht, dass man ihm alle möglichen sündteuren Technikteile einpflanzte. Er wollte seine echten Augen behalten, er wollte keine Kameralinsen, nur damit die vom Institut sein Blickfeld überwachen konnten. Er wollte nicht, dass man ihm das Rechnen beibrachte. Er wollte gar nicht wissen, wie viel 7 mal 15 mal 11 geteilt durch 16 war.

Was interessierte ihn das? Er war doch ein Hund.

Wenn er einen solchen Traum hatte, versuchte Chipper manchmal, die Leute vom Institut wieder in ihren schwarzen Wagen steigen zu lassen. Manchmal bekam er es hin, dann wendeten sie einfach und fuhren davon. Und manchmal nicht. Sein heutiger Traum entwickelte sich nicht gerade gut, da …

»Chipper!«

Er aktivierte seine Augen.

Wo war er? Wer war dieser Junge neben ihm, und warum schrie er ihn an?

Ach, stimmt. Er war in einem alten VW-Bus. Vorne am Steuer saß Harry Green, ein Typ Ende sechzig, der in einer Hütte im Angelcamp des Jungen Urlaub gemacht hatte. Und der Junge, der hinten neben Chipper kauerte und ihn soeben aufgeweckt hatte, hieß Jeff, war zwölf Jahre alt und Chippers Freund. Gleich nachdem Chipper aus dem Institut ausgebüxt war, hatte er sich auf die Suche nach Jeff gemacht.

»Hast du geträumt, oder wie?«, rief Jeff. »Ich habe dich überhaupt nicht wachgekriegt!«

Jeff hielt ein Handy in der Hand, ein Smartphone, mit dem man normalerweise telefonieren, im Internet surfen und alles mögliche andere machen konnte. Doch Jeff benutzte es nur noch für Textnachrichten. Und er schrieb nicht mal welche. Er bekam nur welche.

Und zwar von Chipper.

Obwohl so viel raffinierte Technik in ihm steckte, konnte Chipper nicht sprechen. Er konnte aber denken – und diese Gedanken wurden in Wörter übersetzt, die als Nachrichten an Jeffs Handy übertragen wurden. Darauf war Jeffs Freundin Emily gekommen, ein richtig kluges Köpfchen.

Jeff musste Chipper keine Nachrichten schreiben. Er konnte ganz normal mit ihm reden, denn Chipper verstand jedes Wort.

Jetzt antwortete Chipper ihm.

Ja. Ich habe geträumt.

Als Jeff die Antwort vom Display ablas, fiel Chipper auf, wie angespannt der Junge war. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, wie schnell der Bus unterwegs war. Sehr schnell. Er hüpfte auf den Sitz am kleinen Esstisch. Hinten in dem alten verbeulten Bus befanden sich außerdem ein Bett mit Stauraum darunter, ein winziger Herd, ein Minikühlschrank und ein schmaler Schrank für den üblichen Kleinkram.

Sie fuhren auf einer Landstraße. Chipper warf rasch einen Blick nach vorne und einen nach hinten – kein anderes Fahrzeug in Sicht. Trotzdem war nicht nur der ächzende Busmotor zu hören. Da war etwas über ihnen.

Was ist los?

»Sie haben uns gefunden.«

Chipper musste nicht erst nachfragen, wer sie waren. Das Institut hatte sie also gefunden. Aber soweit Chipper die Lage überblicken konnte, wurden sie nicht verfolgt.

Wo sind sie?

Jeff deutete nach oben.

Da steckte Chipper den Kopf aus dem offenen Fenster. Sein schwarz-weißes Fell flatterte im pfeifenden Wind. Er verrenkte den Hals und spähte in die Höhe.

Ein Hubschrauber jagte ihnen hinterher.

»Hat er das Ding endlich bemerkt?«, brüllte Harry.

Nachdem Jeff und Chipper in dem Angelcamp, das Jeffs Tante gehörte, vom Institut aufgespürt worden waren, hatte Harry ihnen geholfen zu fliehen.

»Er hat’s bemerkt«, antwortete Jeff.

»Und? Hat er irgendeine geniale Idee?«

»Hast du eine Idee?«, wandte Jeff sich an Chipper.

Chipper dachte nach. Er hatte keine. Jedenfalls noch nicht.

Ich arbeite daran.

Während seine Antwort an Jeffs Handy übertragen wurde, schwangen breite schwarze Bänder von oben herab und baumelten rechts und links neben dem Bus.

Sie erinnerten Jeff an die großen Bürsten von Autowaschanlagen. Früher, als er noch bei seinen Eltern gewohnt hatte, das heißt, bevor ihr Flugzeug abgestürzt war, waren sie öfter mit ihm zur Waschanlage gefahren. Jeff hatte es einfach nur großartig gefunden, wie die Bürsten gegen den Wagen patschten und klatschten.

Aber das da draußen, das waren keine Bürsten. Die Bänder schlenkerten und schlackerten wie dunkle Riesenbandnudeln – bis sie plötzlich am Wagen kleben blieben. Ob sie wohl magnetisch waren? An der rechten Seite hafteten fünf Bänder, an der linken ebenfalls.

»Was in aller Welt ist das?«, rief Harry.

Er riss das Steuer scharf in die eine Richtung und sofort in die andere. Mit fast 120 Stundenkilometern schlingerten sie über die Landstraße, erst nach links, dann nach rechts. Harry wollte die seltsamen Bänder irgendwie abschütteln.

Ich glaube, wir stecken in Schwierigkeiten.

»Was sagt er?«, schrie Harry.

»Dass wir wahrscheinlich in Schwierigkeiten stecken!«, antwortete Jeff.

»Danke auch, Lassie, darauf wäre ich nie gekommen!«

Harry riss das Lenkrad weiter hin und her, auch wenn der Wagen wie wild über die Fahrbahn schlidderte.

Doch als er wieder einmal in die Gegenrichtung steuern wollte, reagierte der Bus nicht. Er gehorchte Harry nicht mehr.

»Was zur –«, murmelte Harry.

Die schwarzen Bänder an den Seiten des Busses versteiften sich. Jeff blickte aus dem rechten Fenster auf die Straße, Chipper aus dem linken.

»Oh nein«, sagte Jeff.

Du nimmst mir die Worte aus dem Maul.

In diesem Moment hob der Bus von der Straße ab und begann seinen Flug über die Landschaft.

Und so stellte Jeff seinem Freund bald die alles entscheidende Frage: »Was sollen wir jetzt machen, Chipper?«

Leider hatte Chipper keine gute Antwort parat.

VIER TAGE ZUVOR

02

Sie waren seit Stunden unterwegs. Jeff hatte keine Ahnung, wo sie gerade entlangfuhren. Das sei die beste Taktik, hatte Harry Green gesagt – immer in Bewegung zu bleiben.

»Wir suchen uns jeden Abend eine andere Unterkunft«, hatte er Jeff und Chipper erklärt, als sie Flo’s Cabins, das Angelcamp am Pickerel Lake, gerade hinter sich gelassen hatten. Dort, bei seiner Tante Florence Beaumont, hatte Jeff zuletzt gewohnt.

Wieso sie fliehen mussten? Weil sie von einem Agententrupp des Instituts ausfindig gemacht worden waren. Ihr gefährlichster Verfolger hieß Daggert – der hatte Jeff und Chipper sogar schon mit einem Boot entführt gehabt, und erst in letzter Sekunde waren sie von Jeffs guter Freundin Emily Winslow gerettet worden. Daggerts Boot war explodiert. Aber deswegen war Jeff noch lange nicht alle Sorgen los. Das Institut würde nicht ruhen, bis es seinen Computerhund zurückerobert hatte.

Aus Sicht des Instituts durfte dieses technische Wunderding niemals einer anderen Organisation oder Regierung in die Hände fallen. Um das zu verhindern, würde es den Hund notfalls sogar zerstören.

Deshalb hatte Harry angeboten, Jeff und Chipper zu verstecken, bis sie einen neuen Plan geschmiedet hatten. Nach ein paar Stunden auf der Straße hatte er mit einem Schraubenzieher aus dem Handschuhfach seines Vans ihre Nummernschilder ausgetauscht. Die neuen hatte er von einem hinter einem Restaurant geparkten Wagen stibitzt.

»Hier wimmelt’s nur so von Kameras«, sagte er zu Jeff, der auf dem Beifahrersitz saß. »Wir wollen doch nicht, dass die unser Kennzeichen identifizieren, oder? Und für alle Fälle halten wir uns lieber von Interstates und Mautstraßen fern. Überhaupt schlagen wir keine bestimmte Richtung ein. Wir fahren einen Tag lang in Richtung Osten, am nächsten nach Süden und am übernächsten nach Westen. Sollte uns irgendwer hinterherspionieren, machen wir’s ihnen auf die Art nicht so leicht, unsere Fährte aufzunehmen. Sonst sagen die sich noch: ›Oh, klasse, die wollen da und da hin. Dann warten wir einfach dort auf sie.‹ Nicht mit mir.«

»Was denkst du?«, erkundigte Jeff sich bei Chipper, der den Kopf zwischen ihre Sitze gesteckt hatte. Seine Vorderpfoten ruhten auf der Mittelkonsole, die Hinterbeine hatte er auf der Sitzbank angewinkelt. Von diesem Posten aus konnte er durch die Windschutzscheibe spähen.

Auf Jeffs Handy erschien ein einziges Wort:

Abwarten.

Damit das Handy nicht geortet werden konnte, waren alle anderen Funktionen abgeschaltet. Jeff konnte mit seinem Smartphone nicht mehr telefonieren oder im Internet surfen. Es war nur noch dazu da, sich mit Chipper zu unterhalten. Ein Glück, dass Emily herausgefunden hatte, wie man es genau so einstellen konnte.

»Wie meinst du das?«, fragte Jeff.

Wir können nicht ewig so weitermachen.

»Was sagt er?«, wollte Harry wissen.

Jeff berichtete es ihm.

»Von immer und ewig war auch nie die Rede«, meinte Harry. »Nur bis wir einen Plan haben.«

»Warum machen Sie das eigentlich?«, fragte Jeff. »Warum helfen Sie uns?«

Harry warf ihm einen Blick zu. Er wirkte ehrlich überrascht. »Wieso fragst du das? Wieso sollte ich nicht?«

»Sie kennen mich kaum«, sagte Jeff. »Sie sind bloß Gast bei meiner Tante. Sie haben sich eine Hütte gemietet, damit Sie sich einen schönen Sommer machen und jeden Tag angeln gehen können. Aber davon wollen Sie auf einmal nichts mehr wissen. Sie riskieren lieber, dass Sie wegen irgendeinem Jungen und seinem Hund draufgehen. Warum?«

Harry zuckte die Achseln. »Also erstens ist das Kerlchen da kein normaler Köter. Zweitens bin ich Rentner und habe deshalb nicht gerade viele Termine. Und drittens …« Er sah Jeff an. »… konnte ich vielleicht einfach nicht anders. Weil da ein Junge war, der Hilfe braucht. Wie hätte ich da weitermachen sollen, als wäre nichts gewesen?«

»Es tut mir leid«, sagte Jeff.

»Muss es nicht.«

»Doch. Ich komme mir so blöd vor. Sie helfen uns, und ich mache Sie auch noch dumm an. Meine Mom hat immer gesagt, ich tue oft, als wäre es total selbstverständlich, was andere alles für mich machen.«

»Glaube kaum, dass sie das wirklich böse gemeint hat«, sagte Harry. »In deinem Alter kapiert man eben manchmal nicht so richtig, wie sich die Eltern für einen abmühen. Das ist ganz normal. Ich wette, wenn sich deine Mom wieder eingekriegt hatte, hat sie dir irgendeine Freude gemacht.«

Jeff spürte, wie seine Augen feucht wurden. »Wir sind dann meistens Eis essen gegangen«, erinnerte er sich.

»Na siehst du.«

Chipper kuschelte sich an Jeff und leckte ihm die Wange. Jeff legte ihm einen Arm um den Hals und drückte ihn sanft. »Ich glaube, meine Mom und mein Dad hätten Sie gemocht«, sagte er zu Harry.

»Mir wären sie sicher auch sehr sympathisch gewesen«, meinte Harry. »Aber weißt du, was wir jetzt erst mal erledigen müssen? Wir müssen uns ein bisschen Bargeld besorgen. Wir können schlecht alles mit Kreditkarte zahlen – nur damit die auch ja darauf kommen, wo wir sind! Da vorne ist eine kleine Stadt, da ist bestimmt was zu holen.«

»Wo genau?«, fragte Jeff.

»Na, am Geldautomaten. Wo sonst? Vielleicht gibt’s da eine Bank. Oder einen kleinen Supermarkt mit Automat. Wäre doch nicht so ungewöhnlich.«

Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.

»Harry«, fing Jeff vorsichtig an. »Ich kenne mich damit nicht so gut aus, aber wenn Sie an einem Automaten Geld holen, können die uns dann nicht genauso auf die Spur kommen wie über die Kreditkarte?«

»Wie meinen?«

»Die kriegen es doch mit, wenn Sie mit Ihrer Bankkarte Geld ziehen. Das Institut behält das bestimmt alles genau im Auge. Und viele Automaten sind doch mit Kameras ausgestattet, die jeden ablichten, oder?«

»Da mach dir mal keinen Kopf«, erwiderte Harry. »Für den Fall werde ich vorsorgen.«

Chipper und Jeff blickten sich verwundert an. Was meinte Harry nur?

Als sie die kleine Stadt erreicht hatten, bremste Harry. »Da vorne kommen ein Haufen Läden und so. Haltet die Augen nach einer Bank offen …«

»Da ist eine.« Jeff zeigte mit dem Finger. »Gleich an der ersten Ecke.«

»Perfekt.« Harry lenkte den Wagen auf einen freien Platz am Straßenrand. »Chipper, kannst du mir kurz den grünen Rucksack hinter der Rückbank nach vorne reichen?«

Chipper sprang nach hinten, fand den Rucksack und kletterte wieder nach vorne, die Gurte zwischen den Zähnen eingeklemmt.

»Schönen Dank«, sagte Harry, öffnete den Reißverschluss und kramte ein merkwürdiges Knäuel hervor. Es sah nach lauter losen Haarbüscheln aus.

»Was«, wunderte Jeff sich laut, »was ist –«

»Wart’s nur ab.« Harry stellte den Rückspiegel so ein, dass er darin sein Gesicht betrachten konnte, und klebte sich die Büschel vorsichtig auf die Haut. So wuchsen ihm erst ein Oberlippenbart und dann ein Vollbart.

Danach grinste er Jeff an. »Schick, oder?«

»Harry …«, sagte Jeff. »Warum haben Sie eine Verkleidung im Rucksack?« Da ging ihm ein Licht auf. »Wollen … wollen Sie die Bank etwa ausrauben!?«

»Wie bitte?« Harry strich sich den Bart glatt, griff noch mal in den Rucksack und angelte eine Perücke heraus.

»Sind Sie ein … Bankräuber im Ruhestand!?«

Als Harry sich die Perücke aufsetzte, verwandelte sich seine Beinahe-Glatze in einen wuscheligen grauen Schopf.

Das sieht gar nicht so schlecht aus.

»Ich bin natürlich kein Bankräuber«, erklärte Harry. »Ich habe früher bei einer Laientheatergruppe mitgemacht. Da mussten wir in die irrsten Kostüme schlüpfen.«

Trotzdem wunderte Jeff sich noch. »Aber wieso fahren Sie den ganzen Kram im Auto herum?«

Nun zog Harry auch noch eine Blue-Jays-Baseballkappe aus dem Rucksack und setzte sie auf. »Na, weil ich so gut wie alles im Auto herumfahre, was ich habe. Bevor ich mich den Sommer über bei deiner Tante eingemietet habe, dachte ich mir, hey, könnte doch sein, dass es in der Gegend eine Theatergruppe gibt? Nicht wahr? Auf die Art hätte ich gleich mitmachen können.«

Jeff sah ihn ungläubig an.

»So war’s nun mal, ich kann es auch nicht ändern«, sagte Harry. »Bin in fünf Minuten wieder da.«

Damit stieg er aus. Jeff und Chipper sahen zu, wie Harry über den Bürgersteig lief und die Bank betrat.

»Schon irgendwie verdächtig, oder?«, fragte Jeff.

Was ist eine Laientheatergruppe?

Ein paar Wissenslücken hatte Chipper offensichtlich doch, überlegte Jeff. »Das ist, wenn ein paar Leute in ihrer Freizeit schauspielern. Verstehst du?«

Ja.

»Kommt Harry dir nicht auch ein bisschen komisch vor?«

Erst nach einer kurzen Denkpause wurde Chippers Antwort auf Jeffs Handy übertragen.

Du meinst lustig komisch?

»Nein, verdächtig komisch. Als hätte er etwas zu verbergen.«

Doch dazu konnte Chipper nichts mehr sagen, denn Harry hatte die Bank schon wieder verlassen und kam zurück zum Van.

Beim Einsteigen wedelte er mit einem dünnen Bündel Geldscheine. »Fünfhundert Mäuse. Damit sollten wir eine Weile über die Runden kommen. Hunger auf Mittagessen? Ihr seid eingeladen.«

03

Madam Director hatte Daggert, den Sicherheitschef des Instituts, mit voller Absicht warten lassen. Einerseits war sie neugierig darauf, welche Fortschritte er vorzuweisen hatte, andererseits wollte sie ihn aber ein wenig quälen, und so ließ sie ihn fast eine halbe Stunde lang im Vorzimmer herumstehen. Endlich drückte sie einen Knopf auf ihrem Schreibtisch. »Schicken Sie ihn herein.«

Die Tür glitt beiseite, Daggert trat ein. Wie immer trug er einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte. In die Brusttasche des Jacketts hatte er seine Sonnenbrille geklemmt.

Weder erhob Madam Director sich von ihrem Chefsessel, noch bat sie ihn, Platz zu nehmen. Er stand kerzengerade vor ihr, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

»Daggert«, sagte sie und nahm ihre übergroße Brille ab, um ihn genauer zu mustern. Dabei strich sie sich eine lange rote Haarsträhne aus der Stirn.

Er nickte. »Madam Director.«

»Ist doch sicher ein gutes Gefühl, wieder trockene Klamotten anzuhaben? Wenn ich richtig gehört habe, haben Sie gestern gewissermaßen Schiffbruch erlitten.«

Daggert räusperte sich. »Das ist korrekt.«

»Sagen Sie mal, wie alt ist diese Emily Winslow noch mal, von der Sie sich haben ausmanövrieren lassen? Also das Mädchen, das Ihnen den Hund und den Jungen unter der Nase weggeschnappt hat …«

»Sie ist dreizehn«, antwortete Daggert. »Aber offenbar kennt sie sich bestens auf dem See aus. Sie hat uns auf eine Felskante knapp unter der Oberfläche gelockt und –«

»Kommen Sie mir jetzt ernsthaft mit Ausreden? Sie, der Sie seit acht Jahren für uns arbeiten und früher in Diensten der CIA und der Sondereinsatzkräfte standen?«

»Ich wollte Ihnen nur darlegen, wie –«

»Wie Sie sich von einem Kind haben vorführen lassen?«

Daggert war verstummt.

»Wie gehen wir weiter gegen das Mädchen vor?«

»Gar nicht. Zumindest vorerst nicht. Ihr Vater war bei der Polizei, daher dürfen wir nichts überstürzen. Aber wir überwachen ihre Telefone, ihre E-Mails, das volle Programm. Sie wissen nicht, wo der Junge und der Hund sind. Wir haben alle Orte im Blick, an denen sie auftauchen könnten.«

»Erzählen Sie mir von dem Jungen«, sagte Madam Director. »Er wurde da nicht zufällig hineingezogen, oder? Der Hund hat gezielt nach dem jungen Mann gesucht.«

»Das stimmt. Bei dem Jungen handelt es sich um Jeff Conroy, den Sohn von Edwin und Patricia Conroy.«

»Unserer einstigen Mitarbeiter.«

»Genau.«

»Die leider bei einem schrecklichen Flugzeugunglück ums Leben gekommen sind.«

»Genau.«

»Das aber tatsächlich kein Unglück war.«

Daggerts Brust plusterte sich unmerklich auf. »Das stimmt. Sie waren nicht einverstanden mit der Zielrichtung unserer Forschung. Es bestand Grund zur Annahme, sie könnten Informationen weitergeben, zur Presse gehen –«

»Ja, ja«, winkte Madam Director ab. »Darüber bin ich im Bilde. Aber was hatten sie mit Tier H-1094 zu tun?«

H-1094 war Chippers Identifikationsnummer.

»Mr und Mrs Conroy hatten sich intensiv mit dem Tier beschäftigt«, erwiderte Daggert.

Madam Director nickte. Im Forschungsteam hatten die Conroys eine wichtige Rolle gespielt. Sie waren vom Start weg an der Entwicklung der Hundehybriden beteiligt gewesen – der Mischwesen aus Tier und Computer, die in feindliches Gebiet geschickt werden sollten, um dort Aufnahmen anzufertigen und Informationen zu sammeln. Ein menschlicher Spion, der zu viele Fragen stellte, zog unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich. Einen Hund beachtete niemand. Er konnte sich einschleichen, wo kein Mensch hingelangte.

Bei Chipper gab es allerdings ein Problem: Seine starken natürlichen Instinkte hätten die Missionsziele gefährdet. Hätte er beispielsweise während der Jagd auf eine Person unter Terrorismusverdacht ein Eichhörnchen entdeckt, wäre er einfach spontan dem Nager hinterhergerannt. Aus diesem Grund war das Institut zu der Entscheidung gelangt, ihn stillzulegen. Einzuschläfern. Doch Madam Directors Mitarbeiter hatten sich von dem Tier überlisten lassen, und so war es ihnen entwischt.

Mr und Mrs Conroy hatten sich also intensiv mit dem Hund beschäftigt – und sobald er aus dem Institut entkommen war, hatte er sich auf die Suche nach ihrem Sohn gemacht.

Wieso?

Diese Frage richtete Madam Director an Daggert.

»Ich hätte da eine Vermutung«, erwiderte er.

»Ich bin ganz Ohr.«

»Während der Arbeiten an H-1094 haben sie vermutlich über den Jungen gesprochen – woran sich der Hund nach seiner Flucht offensichtlich erinnert hat. Er ging vielleicht davon aus, der junge Conroy würde sich um ihn kümmern und ihm sozusagen einen sicheren Hafen bieten. Außerdem glaubt er womöglich, den Jungen beschützen zu müssen, wo seine Eltern doch nicht mehr am Leben sind.«

»Denkbar«, sagte Madam Director. »Und was wissen wir über diesen Harry Green?«

»Er hat früher als Fischer gearbeitet und bei Flo’s Cabins Urlaub gemacht.«

»Und was konnten Sie sonst in Erfahrung bringen? Was ist das für ein Typ?«

Daggert zögerte. »Die Schwierigkeit ist … nun ja, Harry Green ist kein besonders ungewöhnlicher Name. Davon gibt es Tausende.«

»Ja. Und?«

»Wir durchleuchten derzeit alle Harry Greens, die zu seinem Profil passen, aber …«

»Aber was?«

»Über diesen einen Harry Green sind kaum Informationen aufzutreiben«, gestand Daggert. »Fast als hätte es den Mann nie gegeben.«

Madam Director fixierte ihn streng. »Wie lang hat er schon in der Hütte gewohnt?«

»Den ganzen Sommer schon.«

»Und wie sieht es mit den vergangenen Jahren aus?«

»Soweit wir wissen, war er zum ersten Mal dort. Und vorläufigen Informationen zufolge hat er – allein – in der Nachbarstadt gewohnt, bevor er sich die Hütte gemietet hat.«

»Seine Ankunft im Angelcamp fällt zeitlich also grob mit der des Jungen zusammen?«

Daggert nickte stumm.

»Man könnte meinen, er hätte dort auf den Hund gewartet – nur für den Fall, dass dieser flieht. Als hätte er geahnt, dass H-1094 sich zu dem Jungen aufmachen würde.« Madam Director legte eine Pause ein. »Was denken Sie, wie viele Konkurrenzorganisationen und ausländische Regierungen sich die Finger nach einem unserer Tiere lecken?«

»Die Liste nähme kein Ende«, meinte Daggert.

»Sie sagen es. Da frage ich mich doch, für wen dieser Harry Green wohl arbeitet.«

»Könnte es nicht sein, dass er für uns arbeitet? Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Organisation mehrere Mitarbeiter auf ein und dasselbe Ziel ansetzt, um die Erfolgsaussichten zu erhöhen.«

Madam Director lächelte. »Es schmeichelt mir, dass Sie mir so viel Verschlagenheit zutrauen.« Sie trommelte mit den Fingernägeln auf den Tisch. »Da kommt mir eine Idee.«

»Ja?«

»Was wäre, wenn die örtlichen Gesetzeshüter Wind davon bekämen, dass ein Junge mitsamt seinem Hund von einem Mann entführt wurde, der diesem Harry Green ähnelt? Und wenn man sie anweisen würde, es einer unserer Tarnorganisationen zu melden, sollte das Trio gesichtet werden?«

Daggert nickte langsam. »Gute Idee. Mehr Augen sehen mehr.«

»Selbstverständlich ist es eine gute Idee«, erwiderte Madam Director. »Sie stammt schließlich von mir.«

04

»Wie lange bleibt ihr weg?«, fragte Jeff seine Mutter.

Er stand in der Schlafzimmertür seiner Eltern und sah zu, wie sie ihren kleinen Rollkoffer packte.

»Nur zwei Tage«, sagte Patricia, faltete eine Bluse zusammen und schob sie seitlich hinein. »Du übernachtest doch bei deinem Freund. Das wird lustig.«

»Und was machen wir mit Pepper?«

Kaum hatte Jeff ihren Namen gesagt, tapste seine Hündin auch schon ins Zimmer. Den Kopf aufs Bett gelegt, beobachtete sie Patricia ebenfalls beim Packen.

»Pepper kommt mit dir mit. Alle freuen sich auf euch. Die ganze Familie Thomas liebt Hunde. Und Kevin hat Pepper doch besonders gern, oder?«

Jeff nickte betrübt. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn seine Eltern überhaupt nie verreist wären.

»Und warum müsst ihr noch mal weg?«, fragte er.

»Wir müssen zu einer Konferenz«, antwortete seine Mutter. »In der Arzneimittelindustrie gibt es andauernd Konferenzen. Irgendwo muss man ja über die ganzen neuen Medikamente reden, die sich die Leute so ausdenken.«

»Damit alle Menschen länger leben können?«

»Nicht nur länger, sondern auch gesünder.«

»Aber wenn niemand mehr krank wird und niemand mehr stirbt, quillt die Erde irgendwann vor Menschen über.«

Patricia hörte auf zu packen und sah ihren Sohn lächelnd an. »Na, ich glaube, irgendwann muss jeder an irgendetwas sterben. Aber bis dahin sollte es uns doch so gut wie möglich gehen. Damit wir das Beste aus unserer Zeit machen können.«

»Ja, schon«, meinte Jeff. Wirklich überzeugt war er allerdings nicht. »Aber was, wenn –«

»Patsy!«

Jeffs Vater eilte ins Zimmer. Er wirkte ziemlich gestresst.

»Das Taxi ist da«, sagte er und strubbelte Jeff durch die Haare. »Ich dachte, du wärst längst fertig mit Packen!?«

»Bin ich auch, Edwin. Ich habe nur noch ein paar Kleinigkeiten reingequetscht.«

»Dann mach das Ding lieber schnell zu, sonst fliegt der Flieger ohne uns!«

Kurze Zeit später ging Jeff mit Pepper quer über die Straße zu dem Haus, in dem sein Freund Kevin wohnte. Doch statt gleich zu klingeln, sah er noch zu, wie das Taxi mit seinen Eltern davonfuhr und um die Ecke verschwand.

Auf der Rückbank des Taxis griff Patricia nach Edwins Hand.

»Ich habe Angst«, flüsterte sie.

»Ich weiß«, sagte er. »Ich auch.«

»Was, wenn uns etwas zustößt? Wenn sie –«