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Autor: Vincent Voss

Lektorat: Jörg Löhnerz

Korrektorat: Kathrin Dodenhoeft und Giulia Pellegrino

Satz und Gestaltung: Oliver Graute

Umschlagillustration: Florian Stitz

 

© Feder & Schwert 2018

E-Book-Ausgabe 2018

ISBN 978-3-86762-330-8

 

ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-86762-329-2

 

Alles zum Schein ist ein Produkt der Feder & Schwert GmbH unter Lizenz des Uhrwerk Verlages. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck außer zu Rezensionszwecken nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Die in diesem Buch beschriebenen Charaktere und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit zwischen den Charakteren und lebenden oder toten Personen ist rein zufällig. Die Erwähnung von oder Bezugnahme auf Firmen oder Produkte auf den folgenden Seiten stellt keine Verletzung des Copyrights dar.

 

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Zeit danach …

Hagen klopfte an die Tür. Eine Frau öffnete ihm, Hagen trat einen Schritt zurück, senkte den Blick. Er räusperte sich.

„Seid Ihr … nennt man Euch die lautlose Klinge?“, flüsterte er. Kaum hatte er die Frage ausgesprochen, schoss ihre Hand vor, wollte ihn packen und ins Haus hineinziehen, aber Hagen wich blitzschnell einen Schritt zurück.

„Wer will das wissen?“, zischte sie und schüttelte irritiert den Kopf.

„Meister Vermont Kormandel empfahl Euch. Ich soll Euch das hier geben!“ Hagen hielt eine Ledertasche hoch und die Frau sah die Tasche wie einen alten Bekannten an.

„Komm rein.“ Sie öffnete ihm die Tür und ließ ihn eintreten.

„Seid Ihr es denn?“, zeigte sich Hagen hartnäckig. Sie nickte.

„Und Ihr müsst sein ehemaliger Student sein. Hagen von den Goldfelsen“, sagte sie.

„Goldquellen“, verbesserte Hagen.

„Ah“, sagte sie. „Vermont hat mir von Euch berichtet. Er sagte, Ihr hättet Talent, eine Begabung gewissermaßen.“ Ansatzlos warf sie mit etwas nach ihm und er wich aus. Ein Wurfmesser schlug in einen Holzbalken des Hauses. „Und das habt Ihr in der Tat. Wenn es Euer Wunsch ist, bilde ich Euch gerne aus. Drei Jahre lang. Dann könnt Ihr Euch gewiss zu einem der besten Kämpfer Eures Alters zählen“, bot sie ihm an. Vermont hatte ihn vorgewarnt und er hatte schon vorher entschieden.

„Ja. Ja, das will ich.“ Die lautlose Klinge lächelte und schloss die Tür hinter ihm. Wer hätte das gedacht? Statt eines Zauberers würde er nun ein Kämpfer werden, freute sich Hagen auf seine Zukunft.

 

Vermont saß vor den Zirkelräten des geheimen Sechsten Hauses des Zirkels der Zinne, die ihre Gesichter wie üblich nicht zeigten. Aber es waren weniger als sonst. Nur drei statt vormals fünf. Paravents trennten den Rat von ihm, er saß in der Mitte des Raumes und hörte sich von allen drei Zirkelräten Glückwünsche und Lob für seinen Erfolg an. Dazu die Bestätigung, dass die Kosten für die Ausbildung des Hagen von den Goldquellen zum Klingenmeister übernommen werden würde.

„Und wie seht Ihr denn Eure Zukunft?“, fragte die weibliche Stimme hinter dem mittleren Paravent. Vermont lächelte.

„Er hat viel erlebt in dieser Akademie und viele Wunden davongetragen, die immer noch nicht ganz verheilt sind. Er erinnert sich oft an die Schmerzen, träumt schlecht. Er glaubt, dass es Zeit wäre, auszusteigen. Um den Jüngeren den Vortritt zu lassen.“ Vermont ruhte gelassen und wartete eine Antwort ab, doch die Räte schwiegen lange, viel länger als sonst.

„Ihr seid einer unserer besten Agenten, Vermont Kormandel“, sagte wieder die mittlere Stimme.

„Und wir haben einen schwierigen Fall“, ergänzte die linke Kammer.

„Sehr, sehr schwierig“, pflichtete die rechte bei. „Wollt Ihr es Euch nicht zumindest anhören? Wir bitten Euch inständig!“, übernahm die mittlere Kammer wieder das Wort. Vermont seufzte und nickte.

„In Nortenheim, dem Sitz der Herzogin Daria von Leuental, gehen dunkle und bösartige Dinge vor sich, sagen unsere Informanten. Menschen verändern sich von heute auf morgen und werden zu blutrünstigen Bestien. Männer, Frauen, Kinder. Menschen, Alben, Zwerge, Gnome und Varge. Doch alle, so sagten Hinterbliebene, hätten vorher eine Gestalt gesehen. Eine Person in einem roten Umhang, die ihnen über Tage auflauerte, aber nichts unternahm. Sie stand einfach immer nur am Rande des Blickfelds. Ein Gesicht war nie zu erkennen. In Nortenheim spricht man vom roten Wahnbringer und es beginnt sich eine gefährliche Unruhe auszubreiten“, erklärte die linke Kammer, ein Mann, den Sachstand.

„Was meint Ihr?“, fragte die Frau.

„Er …“ Vermont dachte zwei, drei Augenblicke nach. Augenblicke, die er zweifelte und sich nach einem beschaulichen Lebensabend sehnte. Ruhe und Frieden. Doch dann hatte er sich entschieden.

„Er nimmt den Auftrag an. Was ist seine Identität?“

 

Er beobachtete die drei Männer und zwei Frauen eine gewisse Zeit, ehe er zu einem Urteil kam. Erstens: Er setzte sich keiner großen Gefahr aus, ohne sie zu unterschätzen. Aber selbst für den Fall, dass es hart auf hart kommen sollte, ersann er eine Taktik. Zweitens: Sie hatten Potenzial und waren dabei unverdorben. Das war genau das, wonach er suchte. Nach Gefäßen sozusagen. Er stand auf, legte großzügig Münzen für die warme Ziegenmilch mit Honig, die es hier gab, auf den Tisch und ging zu den Fünfen.

„Verzeihung“, suchte er höflich das Gespräch und die Fünf verstummten und sahen zu ihm auf. Eine junge Frau und ein jüngerer Mann kicherten und der Älteste, dessen Gesicht ein dunkler Vollbart und eine kleine, sichelförmige Narbe an der rechten Schläfe zierten, legte einen Dolch auf den Tisch und sah ihn an. Er sah zurück, lächelte und zog einen Stuhl heran, um sich neben den Vollbart zu setzen. Bevor dieser protestieren konnte, sagte er: „Mir ist zu Ohren gekommen, dass, wenn man hier in dieser Gegend Geschäfte machen möchte, man sich an euch, die wilden Wölfe, wenden sollte. Ihr Anführer heißt Gerold, der Blutbeißer, richtig?“ Der Vollbart nickte, grinste und zeigte dabei einige blutrote Zähne. Überrascht zog er eine Augenbraue hoch. Solch eine Inszenierung hatte er nicht erwartet. Gerold meinte es ernst.

„Ich bin Händler. Und ich bin nicht von hier, sondern habe die letzten Jahre eher im Norden Geschäfte betrieben. Aber jetzt möchte ich hier tätig werden und suche noch nach waffenkundigen Männern und Frauen, die für mich arbeiten würden“, ließ er die Katze aus dem Sack. Wie erwartet, erstarb das Grinsen und es wurde so still in der Taverne „Zum Goldstein“, dass man die schlafende Katze unter dem leerstehenden Tisch am Tresen schnurren hören konnte.

„Für … dich arbeiten?“, fragte Gerold nach und beugte sich vor. Dabei spielte er mit den Unterarm- und Schultermuskeln, wie er erkennen konnte. Und anerkennen konnte er die Überlegenheit an Masse durchaus auch.

„Genau. Ich denke, ich habe eine gute Idee, wie meine Leute und ich hier gut zu Reichtum finden können. In den nächsten zwei, drei Jahren wird dann jeder von euch nie mehr arbeiten brauchen. Wenn er denn überlebt.“ Gerold lachte und schnaubte durch die Nase.

„Wie heißt du komischer Vogel denn? Vielleicht habe ich deinen Namen ja schon einmal gehört. Im Siechenhaus für Kriegsversehrte vielleicht.“ Gerold lachte und seine Kumpanen auch. Jetzt kam die Phase der Provokation, die Phase des lauten Gebells.

„Ich heiße Kest. Kest aus dem Wald.“ Kest aus dem Wald nickte bestätigend. Früher hatte er stets seine Namen gewechselt, sich neue Namen aufgebaut, aber diesen Namen wollte er nun tragen.

„Gut, Kest aus dem Wald, dann hör mir jetzt mal gut zu“, begann Gerold, aber Kest dachte nicht daran, sich jetzt erklären zu lassen, warum ein Gerold, der Blutbeißer, niemals für jemanden arbeiten würde.

„Hör zu!“, sagte Kest so laut, dass er Gerold übertönte und stand auf. „Du kannst zwei deiner besten Leute gegen mich kämpfen lassen. Gewinnen sie, bekommst du das.“ Er legte einen Lederbeutel auf den Tisch. Es klimperte verlockend. „Gewinne ich, arbeiten sie für mich und du kannst dann immer noch überlegen, was du machen willst“, sagte Kest bestimmt.

„Ich …“, stammelte Gerold und Kest wusste, dass er ihn spätestens jetzt hatte. Gerold sah zu seinen Leuten, zum Beutel und ging in sich. Dabei sah er nicht wie der hellste Anführer aus.

„Ich kämpfe gegen dich!“, sagte er. Anfängerfehler. Ein Anführer kämpft solche Konflikte niemals selbst aus. Kest zuckte mit den Schultern.

„Das ist mir recht“, antwortete er. „Gehen wir raus.“ Er drehte Gerold den Rücken zu, gab ihm somit seine letzte Chance auf einen Trick, einen Ausweg, aber Gerold war sich seiner Sache sicher, hatte immerhin Ehre, oder vielleicht war es auch beides. Die wilden Wölfe folgten ihm und draußen begann Kest mit dem Schuh einen Kreis in den Sand zu zeichnen.

„Wer den Kreis verlässt, hat verloren, wer aufgibt, hat verloren, wer stirbt, hat verloren“, nannte er die drei in dieser Gegend gängigen Regeln eines Duells. Gerold nickte, trat in den Kreis und zog sein Langschwert.

„Ich will sein Schwert“, sagte der junge wilde Wolf und schlug seinem Anführer auf die Schulter. Gerold spie aus, ließ sein Schwert zwei Mal in seinem Handgelenk kreisen und Kest nickte ihm anerkennend zu.

„Los!“, sagte Kest und wartete einen Angriff ab, der sogleich folgte. Ungestüm, aber nicht unerfahren. Ein durchaus fähiger Kämpfer, dem er gegenüberstand. Umso wichtiger war es, den Kampf schnell zu beenden. Kest wich aus, verzichtete auf schmutzige Tricks, sondern stach mit seiner Klinge von innen in den rechten Waffenarm des Gegners. In der Rückwärtsbewegung stach er noch einmal in dessen linken Oberschenkel und zog sich zurück. Beide Treffer hatten Wirkung gezeigt. Gerold stöhnte auf, sah auf die blutende Wunde in seinem Oberarm. Kest wartete ab.

„Wir können jetzt über das Geschäft reden“, schlug er möglichst sachlich vor. Die wilden Wölfe starrten ihren Anführer an. Von ihm hing es ab. In den meisten Fällen, wusste Kest, kämpften sie umso wilder, oft bis zu ihrem sinnlosen Tod, weiter. Kest erwartete eine ähnliche Reaktion. Aber Gerold senkte das Schwert. „Ja“, sagte er und nickte und konnte die Schmach einer Niederlage kaum verbergen. Kest indes hatte die Hoffnung, dass es eine gute Zusammenarbeit werden würde.

 

An einem kleinen Wasserfall hatte Kest ein Lagerfeuer entfacht und lud die wilden Wölfe zu einem Mahl ein, um das Geschäftliche zu besprechen. „Was … was ist dort in der Kutsche?“, fragte Gerold, während er mit einem geschnitzten Stöckchen Fleischreste zwischen seinen Zähnen herauspulte. Aus der Kutsche drangen sonderbare Geräusche und gelegentlich ruckelte sie hin und her. Kest drehte sich um.

„Das …“, antwortete er. „Das erinnert mich an mein vorheriges Leben. An den nicht so schönen Teil. Wer ich mal gewesen bin.“ Auch, wenn die Antwort selbst nichts beantwortete, wirkte es beeindruckend auf seine Zuhörer und gemeinsam sahen sie aus einer Mischung aus Ehrfurcht, Angst und Abscheu zur Kutsche.

„Und was ist dein Plan?“, fragte Gerold weiter.

„Wir werden viel Handel treiben. Handel mit Dingen, die uns nicht gehören und die wir rauben. Wir werden Handel mit Schutz treiben. Jene, die uns bezahlen, werden wir schützen, andere nicht.“ Die wilden Wölfe grinsten, Gerold sah Kest kritisch an.

„Das machen wir jetzt auch schon, das ist nichts Neues“, sagte er.

„Ja“, gestand Kest ihm zu. „Mit einem Unterschied. Ihr tyrannisiert die umliegenden Dörfer. Die Bauern, die einfachen Handwerker, die Fischer. Alle haben Angst vor euch und melden es nicht den Soldaten des Barons, vor dem sie sich auch fürchten. Aber dieser ist weiter weg. Mit mir …“ Kest ließ eine bedeutungsvolle Pause. „Mit mir wird dies ein Ende finden. Besser noch, wir werden die Armen und Gebeutelten an unseren Gewinnen beteiligen. Wir werden es den Reichen nehmen und den Armen geben“, erklärte Kest und las dabei etwas Erde auf, die er von einer in die andere Hand wandern ließ.

„Welchen Reichen? Dem Geldwechsler Jorgold? Kamesian, dem Rinderfürsten?“, fragte Gerold. Kest schüttelte den Kopf.

„Nein. Wir werden einen Krieg gegen Baron Hagedorn von den Goldquellen selbst führen. Und am Ende werden wir ihn gewinnen“, antwortete er. Die wilden Wölfe schwiegen erst.

„Bin dabei“, sagte die junge Frau leise.

„Ich auch“, folgte ihr der Jüngling. Dann gesellten sich Gerold und der Rest der wilden Wölfe dazu. Kest lächelte. Ein Anfang der Wiedergutmachung war getan. Er freute sich auf die anstehende Zeit. Und der Name Kest aus dem Wald gefiel ihm ausgesprochen gut.

 

Endlich Winter. Endlich Schnee und nicht wieder dieses gräusliche kalte Wetter mit ständigem Nieselregen. Immerhin etwas, das ihr Gemüt aufhellte, nachdem sie auch in diesem Jahr seit über zwölf Tagen den geheimnisvollen Sängerwettstreit gesucht und bisher nicht gefunden hatte. Von hier oben auf dem Sauenkopf ragte nur noch der Keilerkopf links neben ihr etwas höher empor. Sie hatte einen wunderschönen Ausblick auf die Nebelseenplatte, die Wälder und die ehemalige Akademie, die erst letztes Jahr zusammengestürzt war und seither nicht wieder aufgebaut worden war. Man flüsterte hier in der Gegend so einiges über ihren Zusammensturz und jede Geschichte trug dazu bei, dass sie gemieden wurde. Auch sollte es dort spuken, und bei allem was Baora von Hagen, Snagga und Vermont erfahren hatte, war das durchaus vorstellbar. Sie selbst hatte die Akademie auch nicht aufsuchen wollen.

Das ganze Jahr hatte sie beinahe gebraucht, zu genesen. Ihr Bein war viel schneller verheilt als ihr Kopf. Noch immer hörte sie gelegentlich Stimmen, die zu ihr flüsterten, träumte schlecht oder bekam einen beängstigenden Heißhunger auf Fleisch, den sie bekämpfen musste.

Sie schauderte, nachdem sie die zusammengefallene Burg zu lange betrachtet hatte, und fand wieder innere Ruhe bei dem Anblick des kleinen, einsamen Fischerbootes, das seicht durch den Gutermönchsee trieb. Sie atmete tief durch, bereitete sich auf den Abschied vor und nahm den Geruch von Rauch wahr. Intensiv und aus der Nähe. Und dann sah sie jemanden auf dem Keilerkopf sich umdrehen und in den Wald gehen. Und sie sah eine Rauchsäule von dort aufsteigen. Mehrere.

Baora lachte auf. Gestern noch war sie auf dem Keilerkopf gewesen, dort auf der großen Lichtung, wo ein Sangeswettstreit gut hätte stattfinden können, aber er war verwaist gewesen. Nicht eine Spur hatte sie im Schnee finden können. Und jetzt stieg dort Rauch auf. Sie lachte laut auf und eilte den Sauenkopf hinab, um den Keilerkopf zu erklimmen.

 

Dort angekommen konnte sie es kaum fassen. Auf der Lichtung stand eine Bühne und es gab wenige Marktstände, wo es Suppe, Glühwein und warmes Brot gab. Eine Albin mit langem, schwarzen Haar kam auf sie zu. Eine Laute trug sie bei sich.

„Ich bin Isilia und Ihr seid hoffentlich Baora t'ian Tanikki?“, stellte sie sich vor und sah sie hoffnungsvoll an. Baora verschlug es die Sprache. Isilia! Isilia, die Tarsai, deren Gesang die Frostbestien bei dem Sturm auf Abhinborn aufgehalten hatte? Isilia Sternenklang, wie man sie eigentlich nannte? Baora wollte sich verbeugen, aber Isilia schüttelte den Kopf. „Wir verbeugen uns hier nicht voreinander, Baora.“ Isilia lachte, nahm Baora in den Arm und führte sie mit sich. „Dort ist Keldon vom Einsamen Weg, ein Vetter des Markgrafen von Zirnbog und er ist …“

„Keldon Tiefton“, flüsterte Baora andächtig.

„… begeistert von deiner Stimme und der Kraft, die in ihr wohnt. Er vergibt die Startplätze und ihm musst du deinen Titel sagen“, erklärte Isilia.

„Keldon Tiefton hat mich gehört?“, fragte Baora und so panisch wie jetzt hatte sie sich noch nie in ihrem Leben gefühlt.

„Gewiss!“ Isilia nickte. „Wir hören immer alle vorher, von denen wir denken, dass sie hier antreten sollten. Keldon hat dich drei Mal gesehen und gehört und war jedes Mal verzückt. Und ich freue mich schon auf dich! Herzlich Willkommen!“ Isilia umarmte Baora, während Keldon Tiefton, der zwergische Meistersänger auf sie zukam und sie herzlich mit einem brummenden Bass in Empfang nahm. Und in diesem Jahr sollte Baora an dem legendären Sängerwettstreit der Nebelseen teilnehmen.

„Hörst du mir eigentlich zu?“

„Ja, Vater!“ Snagga hatte dort oben auf dem Sauenkopf eine Gestalt gesehen und musste lächeln. Wenn das nicht eine alte Weggefährtin gewesen war …

„Die Dicklippe beißt am besten bei diesen Temperaturen“, erklärte ihr Vater und brachte eine Elle vom Haken entfernt eine mit Luft gefüllte Fischblase mit einer zweifachen Schlange im Brunnen an. „Wenn sie das Eis schon spüren, weißt du. Wenn sie da unten träge werden und etwas bräsig im Kopf, dann beißen sie am besten. Dann wittern sie Beute und haben keine Angst und weißt du, warum?“

„Nein, Vater“, antwortete Snagga und betrachtete ihren Vater, den sie schon verloren geglaubt hatte. Seit er wieder da war, war ihr Leben wieder schön.

„Warum starrst du mich so an?“, wollte er wissen.

„Weil …“

Sie fand keine Worte für ihre Gefühle, zuckte mit den Schultern. Ihr Vater sah auf den See und … war das etwa eine Träne, die er sich aus den Augen wischte?

„Ich weiß“, sagte er leise. Als Seenfischer waren sie eher schweigsam, wenn es um Gefühle ging. Snagga nickte.

„Warum beißt die Dicklippe dann am besten?“, fragte Snagga und sie widmeten sich wieder dem, dem sie sich die letzten Jahre, jetzt, und auch die kommenden Jahre widmen würden.

 

 

Dramatis Personae

Ariane Mondseher Albin, ehemalige Akademieverwese- rin, unter mysteriösen Umständen verstorben

Baora tian Tanikki Mensch, Sängerin auf der Suche nach einem Sangeswettbewerb

Dion Mensch, Archivar der Akademie

Dorika Dreiblatt Studentin an der Akademie

Elnias Wildwasser Studentin an der Akademie

Falinda Köchin der Akademie

Finoa Fayandel Studentin an der Akademie

Gabrier Zollenspieker Ein vor zehn Jahren verschwundener Student

Gawynn Nordhavn Mensch, eine vor zehn Jahren ver- schwundene Studentin

Gernot Blankwasser Lehrer an der Akademie

Hagen von den Mensch, Student an der Akademie

Goldquellen

Helkia Tannholz Studentin an der Akademie

Jolanka Mensch, eine Söldnerin

Jonwacht, Oberst Varg, Befehlshaber der Stadtbüttel von Ottersberg

Kest Mensch, ein Räuberhauptmann

Kesuul Feenwesen, ein dunkler Scherge

Lambdar Gnom, Kämmerer der Akademie

Larian Vesslinger Studentin an der Akademie

Nabrakk Feenwesen, ein dunkler Scherge

Ogland Zwerg, ein Söldner

Schargahrr Varg, Lehrer an der Akademie

Sieghild Kornspeich Mensch, Lehrerin an der Akademie

Silias Baumkron Alb, Student an der Akademie

Snagga Mensch, ein Fischermädchen aus Schwarzwasser

Torke Hammerschlag Schmied der Akademie

Ulbricht Graustein Mensch, Student an der Akademie

Urinda Breitaxt Zwergin, Lehrerin an der Akademie

Vermont Kormandel Mensch, Akademieverweser

Visilius Windhak Lehrer an der Akademie

Voris eine dicke Ratte mit scharfem Verstand

Wolfgar Mensch, ein Söldner

Yoris eine dünne Ratte mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne

Lorakis: Die Welt von Splittermond

Als einer der drei Monde über Lorakis barst, blickten die Menschen, Alben, Zwerge, Gnome und Varge furchtsam gen Himmel, um das unheimliche Schauspiel zu betrachten. Zu diesem Zeitpunkt ahnte noch niemand, dass unter dem Splittermond eine neue Ära anbrechen sollte, die die Völker von Lorakis von den Ketten ihrer Drachlings-Herrscher befreien und sie in ein neues Zeitalter führen sollte.

Heute, tausend Jahre nach dem Kataklysmus, beherrschen die einstigen Dienervölker den gesamten Kontinent. Mächtige Reiche sind entstanden, prachtvolle Städte wurden errichtet, Geschichte wurde geschrieben.

Aber noch immer ruhen auf Lorakis unzählige Geheimnisse. Noch immer warten in den Kristallchroniken des uralten Ioria zahlreiche Orakelsprüche auf ihre Erfüllung. Und neue Gefahren ziehen auf, lauern in der unerkundeten Wildnis, den finsteren Ruinen der alten Reiche, mitten im Trubel der Großstädte.

 

Lorakis, die Welt von Splittermond, ist ein phantastischer Kontinent, auf dem Magie alltäglich ist und von jedem gemeistert werden kann, wo ferne und exotische Orte nur eine Mondpfadreise voneinander entfernt sind und wo die Macht des geborstenen Mondes in manchem Abenteurer erwacht. Brodelnde Metropolen sind nur einige Tagesreisen von schier undurchdringlicher Wildnis entfernt, und häufig genug muss ein Abenteurer sich nicht nur wilden Monstrositäten, sondern auch verschlagenen Intriganten, mordlüsternen Blutpriestern oder finsteren Raubrittern stellen.

Lorakis ist eine riesige Welt, die von der Spitze Westergroms im äußersten Westen bis zu den Ausläufern Sadus im fernen Osten über 10.000 km misst. Zahlreiche unterschiedliche Reiche finden sich hier, deren Kulturen sich stark voneinander unterscheiden. Die dominierenden Völker sind neben den Menschen die feinsinnigen Alben, die robusten Zwerge, die vor langer Zeit aus den Anderswelten gekommenen Gnome und die wolfsartigen Varge. Sie leben teilweise in den verschiedensten Reichen einträchtig beisammen, haben mitunter aber auch gänzlich eigenständige Kulturen geschaffen.

Einen bestimmenden Einfluss auf die Welt besitzt der Splittermond, einer der drei großen Himmelskörper am Nachthimmel, der vor tausend Jahren zerbrach und seine Trümmer auf die Welt regnen ließ. Damals erlosch das mächtige Reich der geheimnisvollen Dracurier oder Drachlinge – aber auch der magische Mondstein gelangte auf die Welt. Und noch heute werden, auch wenn die meisten Leute nichts davon ahnen, Kinder geboren, die etwas von der Macht des geborstenen Mondes in sich tragen: die Splitterträger.

Die Anderswelten und die Mondpfade

Lorakis ist einer der vier Teilbereiche des Kosmos, die Domänen genannt werden. In allen vier Domänen herrschen unterschiedliche Naturgesetze, aber überall ist Magie – und ihre Manipulation durch Willen, Verstand und Gefühl – Teil dieser Gesetze. Die vier Domänen sind die magische Domäne oder Feenwelten, die mythische Domäne oder Götterwelten, die spirituelle Domäne oder Geisterwelt und die physische Domäne oder Diesseits. Die Übergänge und Passagen zwischen diesen Realitäten sind rar und meist nur zu besonderen Zeiten gangbar. Die mythischen, magischen und spirituellen Domänen werden von den Lorakiern zusammengefasst als Anderswelten bezeichnet.

Die Feenwelten sind dem Diesseits am nächsten und ihre Bewohner, gleich ob es sich um freundliche Dryaden, verspielte Tiergeister, finstere Blutrichter oder fremdartige Elementargeister handelt, sind bisweilen im Diesseits anzutreffen. Aber auch die Völker von Lorakis können die Feenwelten betreten, wenngleich die Orientierung dort schwer ist und sich die Wirklichkeit konstant zu ändern scheint.

Auch die bereits von den alten Drachlingen genutzten (aber noch viel älteren) Mondpfade führen ebenfalls durch die Feenwelten und ermöglichen es, in kürzester Zeit riesige Entfernungen zu überbrücken. Die Mondpfade haben die Welt näher zusammenrücken lassen und einen Austausch zwischen weit entfernten Kulturen ermöglicht. Rund um die wenigen Portale sind meist Städte entstanden, die als Drehscheiben des Handels fungieren. Gleichzeitig sind jedoch auch weite Wildnisgebiete erhalten geblieben, durch die nur selten eine Menschenseele reist, ist der Weg über die Mondpfade doch schneller und bequemer.

Die Regionen der Welt

Lorakis besteht aus mehreren großen Regionen, die durch natürliche Grenzen voneinander abgetrennt sind. Innerhalb dieser großen Regionen besitzen die Völker kulturelle Gemeinsamkeiten, während der Rest der Welt ihnen oft fremd erscheint. Im Folgenden konzentrieren wir den Blick auf den Nordwesten:

Dragorea umfasst das einstige Kernland der Drachlinge, das heute von ihren ehemaligen Sklavenvölkern bewohnt wird. Nach dem Fall ihrer einstigen Herren haben sie eigene Reiche gegründet, in denen heute Könige über ihre feudalen Vasallen und das einfache Volk herrschen. Tapfere Ritter sind das Idealbild eines Kriegers in diesen Landen, in denen die Wildnis oft schon außerhalb der großen Städte beginnt. Die einzelnen Reiche teilen viele Vorstellungen und Lebensweisen, gleich ob es sich um Wintholt im wilden Norden, das aufstrebende Kaiserreich Selenia oder Zwingard, das Bollwerk gegen die Orks der Blutgrasweite handelt. Dennoch gibt es immer wieder Streitigkeiten zwischen den einzelnen Reichen, etwa durch die Intrigen der Königsdrillinge auf dem patalischen Thron oder durch den Bürgerkrieg, der das einst mächtige Dalmarische Reich erschüttert.

Dragorea grenzt an die Drei Meere, die es als große Binnenmeere von anderen Regionen trennen und gleichzeitig doch durch Handel und Seefahrt verbinden. Hier bestehen diverse Reiche mit langer Geschichte, zum Beispiel der Albische Seebund, dessen grazile und schlanke Schiffe das gesamte Meer durchfahren, aber auch der Mertalische Städtebund mit seinen mächtigen Handelsmetropolen. Die wichtigste und größte Stadt im Binnenmeer (und vielleicht der ganzen Welt) ist jedoch Ioria auf der Insel Galonea. In dieser Metropole, einst ein wichtiger Kultplatz der Drachlinge, befindet sich an der Spitze der Himmelstreppe das große Orakel der Götter, dessen Ratschlüsse in den Kristallchroniken festgehalten werden. Unmengen an Pilgern suchen jedes Jahr die Stadt in der Hoffnung auf, hier einen Fingerzeig für ihr Schicksal zu erhalten.

Am südöstlichen Ufer der Kristallsee liegt Pash Anar. Unter sengender Sonne erheben sich hier prächtige Paläste und düstere Grabmäler in den Himmel, während Karawanen voller Kostbarkeiten durch das Land ziehen und mächtige Zauberer Djinne beschwören. Das mit Abstand größte Reich Pash Anars ist das altehrwürdige Farukan, eines der ältesten Menschenreiche. Hier herrscht der gottgleiche Padishah, dessen Provinzherren ihm nur Lippenbekenntnisse schulden und in Wahrheit wie Könige herrschen. Die Farukanis folgen einem rigiden Ehrenkodex, der ihre soziale Stellung und ihr Ansehen bestimmt. Ihre Nachbarn sind unter anderem die Tarr der lebensfeindlichen Wüste Surmakar. Dieses vargische Nomadenvolk nimmt eine wichtige Stellung im Handel der gesamten Region ein.

Südlich von Pash Anar liegt das tropische und dschungelreiche Arakea. Himmelstrebende Baumriesen beherbergen hier die Dörfer der Dämmeralben, die sich auf die magische Beeinflussung der Umwelt und das Zusammenleben mit wilden Tieren verstehen. Dies ist in ihrer Heimat auch bitter nötig, denn nicht nur gefährliche Raubtiere und missgünstige Anderswesen machen ihnen das Leben schwer, sondern auch geheimnisvolle und aus den Schatten zuschlagende Blutgötzen-Diener aus den weiter südlich gelegenen Dschungeln. Noch weiter östlich gehen die Dschungel mit den eher anarchischen Regionen von Gotor, Marakatam und Kutakina in die Smaragdküste über. Hier, an der Küste des Schimmermeers im Südosten von Lorakis liegen nicht nur Kleinstaaten, deren Bewohner in den Dschungeln nach exotischen Gewürzen und plünderwürdigen Ruinen suchen, sondern auch Piratennester, die vom Handel zwischen den Stromlandinseln profitieren, und deren Schiffe immer wieder von den Flotten der mächtigen Handelsrepublik Kungaitan aufgebracht werden.

Im äußersten Osten des Kontinents liegt Takasadu, das von zwei Großreichen dominiert wird. In Zhoujiang herrscht die junge Kaiserin bislang nur nominell, denn nach einem Umsturzversuch der Kriegsfürsten ist das Land zwischen altem Adel, Bürokraten und Kaufleuten sowie dem Militär hin und her gerissen, und manch einer hofft darauf, dass die weisen Mönche der Berge einen offenen Bürgerkrieg verhindern können. Südlich des Jadebands, des mächtigsten Stroms Takasadus, liegt das von den Schwertalben beherrschte Reich des himmlischen Kranichs, auf dessen Thron eine leibhaftige Göttin sitzt und dessen Krieger einen strengen Ehrenkodex mit unbedingter Gefolgschaft verbinden.

Nordwestlich von Zhoujiang beginnen mit den Steppen der Jogai-Reiterbarbaren die Frostlande, die im Süden von den mysteriösen Wandernden Wäldern bedeckt sind, im Norden von der Tundra Gontcharias. Beide Gebiete ziehen sich weit nach Westen und grenzen dort wieder an den Norden Dragoreas.

Glossar

Alben: Volk schlanker, intelligenter Zweibeiner mit spitzen Ohren, bekannt für ihre Ausstrahlung und feinen Sinne

Dragorea: nordwestlicher Teilkontinent von Lorakis, auf dem unter anderem die Reiche von Selenia, Patalis und die Stadt Herathis liegen

Dreimond: Konstellation der drei Monde, bei der alle drei nah beieinander in einer Linie zu sehen sind

Dreybar: zweitgrößte Stadt in der Dreybarer Mark

Dreybarer Mark: Markgrafschaft in Selenia; beheimatet das Seenland, in dem die Akademie Splitter und Geist liegt

Düstermond: kleinster der drei Monde, von dunkelroter Farbe, benötigt 44 Tage für einen Umlauf, auch: Blutmond

Feenwelt: ein abgegrenzter Teil der Anderswelten, jeweils durch einen gottgleichen Herrscher – einen „Feenfürsten“ – und einen sogenannten Wesenskern gekennzeichnet; in Feenwelten unterliegen Zeit und Raum oft gänzlich anderen Gesetzen als im Diesseits

Fruchtmond: Neunter Monat in der dragoreischen Jahreszählung

Gnome: Volk intelligenter Zweibeiner mit Hörnern auf dem Kopf und etwa 1,20 Metern Größe, bekannt für Flinkheit, einen schnellen Verstand und Nähe zu den Feenwelten

Großer Mond: größter der drei Monde, gelblich bis silberfarben, benötigt 28 Tage für einen Umlauf, auch: Silberlicht

Gunwar: selenischer Gott des Todes und der Geburt

Gutermönchsee: See im Seenland der Dreybarer Mark

Herathis: große Hafen- und Handelsstadt, seit zwei Generationen Teil des Kaiserreichs Selenia, davor zu Patalis gehörig, regiert von einem weitgehend unabhängigen Magistrat

Herz des Mondes: Geheimer Zirkel der älteren Studenten der Akademie Splitter und Geist

Lichtsteine: magische aufgeladene Artefakte, die in der Zauberschule Splitter und Geist gefertigt werden

Lorakis: die bekannte Welt unter den drei Monden, ein von Ozeanen umgebener Kontinent etwa von der Größe Eurasiens

Lunar: Silbermünze mit dem Wert von 100 Telaren

LZ: Abkürzung für Lunare Zeitrechnung, der Jahreszählung seit dem Mondfall. Derzeit schreibt man das Jahr 991 LZ.

Menschen: vorherrschendes Volk intelligenter Zweibeiner in vielen Ländern von Lorakis, bekannt für ihre große Zahl und Anpassungsfähigkeit

Mondfall: weltweite Katastrophe vor knapp 1.000 Jahren, bei dem der Blaue Mond zersplitterte (seitdem: Splittermond) und Trümmerteile auf Lorakis niedergingen

Morkai: selenischer Gott des Wissens und der Neugier

Nebelmond: Zwölfter Monat in der dragoreischen Jahreszählung

Ottersberg: Kleinstadt am Gutermönchsee im Seenland

Schwarzwasser: Fischerdorf im Seenland

Selenia: großes Kaiserreich im Herzen Dragoreas, des nord-westlichen Teilkontinents von Lorakis

Sinbara: Göttin des Meeres, der Fischer und Seefahrer

Solar: Goldmünze mit dem Wert von 100 Lunaren

Splittermond: einer der drei Monde, blau glosend, ein Teilstück zertrümmert, benötigt 20 Tage für einen Umlauf, vor dem Mondfall als Blauer Mond bekannt

Telar: Kupfermünze, 100 Telare haben den Wert von einem Lunar

Thaumarium: Ein kostbares, tiefblaues Erz, welches sich besonders gut zur Herstellung magischer Artefakte eignet

Varge: Volk wolfsartiger, intelligenter Zweibeiner von 2,20 Metern Größe, bekannt für ihre Kraft und Ausdauer

Yonnus: Gott der Monde, der Nacht, des Himmels und der Schöpfung, Schutzgottheit von Selenia mit straff organisierter Staatskirche

Zirkel der Zinne: Zusammenschluss angesehener Zauberer in Selenia, die gemeinsam forschen und Wissen austauschen

Zwerge: Volk gedrungener, intelligenter Zweibeiner von etwa 1,40 Metern Größe, bekannt für ihre Sturheit und prächtigen Bärte


 

Baora schob dem Mann, der auf dem Bauch lag, den Arm auf dessen Rücken weiter hoch bis zum Kopf und drückte ihm ihr Knie in den Rücken. Er schrie wieder wie Schlachtvieh.

„Wo? Wo finde ich es?“, zischte sie ihm ins Ohr. Langsam war sie es leid. An diesem Tag hatte sie den Gutermönchsee zur Hälfte umrundet, hatte die Dörfer Nebelfurt, Sandbank, Uluhr und Heulbucht passiert, mit den wenigen Menschen gesprochen, die ihr begegnet waren, aber die Menschen hatten große Angst. Angst, zu verschwinden, so wie die Pilzfrau aus dem Schemenwald, der Kaufmann aus Sandbank, der samt Pferd und Wagen verschwunden war, die beiden Tagelöhner aus Ottersberg selbst. Niemand glaubte mehr daran, dass sie zu betrunken zum Schwimmen in den See gefallen waren, der Seefischer vom Trollzahn, die reisende Kriegerin aus Zwingard. Wahrscheinlich gab es noch viel mehr Vermisste, aber das waren nur jene, von denen ihr in den anderthalb Tagen berichtet wurde. Erklärungen hatte es derer viele gegeben. Der Nebel hat sie zu sich geholt, ein Seeungeheuer war es, eine Räuberbande oder – und das wisperten die meisten hinter vorgehaltener Hand – ein grausamer Hobgoblin-Hauptmann hole sich Seelen für ein blutiges Ritual. Er würde die Knochen seiner Opfer als Kette tragen und mit ihnen flüstern.

„Ich weiß es nicht! Ich weiß es wirklich nicht!“, jammerte er. Sie belastete den Hebelgriff noch stärker. Er trat mit den Füßen um sich, schrie und mit einem Ruck sprengte das Ellenbogengelenk auseinander, etwas riss in seinem Arm und er erschlaffte vor Ohnmacht. Baora glaubte ihm. Er wusste wirklich nichts. Sie zog ihn runter von dem Weg in das Dickicht und schnitt ihm hinter mehreren knorrigen Holunderbüschen mit einem sauberen Schnitt die Kehle durch. Seine Leiche bedeckte sie mit Laub, die wenigen Habseligkeiten ließ sie ihm, nichts davon hatte einen Wert für sie. Sie trat wieder auf den Weg rund um den Gutermönchsee, blickte nach rechts und nach links, aber sie entdeckte niemanden, der sie beobachtet hatte. Sie ging weiter. Das kleine Fischernest Schwarzwasser direkt hinter dem Trollzahn wollte sie noch vor der Dunkelheit erreichen, um dort ein Zimmer für die Nacht zu bekommen.

 

Wie die letzten Tage zog Nebel seeseits und von den dichten Wäldern an den Hängen auf. Es dämmerte bereits und der Nebel tauchte das Sonnenlicht in ein unwirkliches Zwielicht. Die letzten beiden Stunden war Baora niemandem auf dem Weg um den See nach Schwarzwasser begegnet und sie ließ sich von dieser um sich greifenden Furcht anstecken. Auch sie fühlte sich beobachtet. Vom Wald und vom See aus. Sie versuchte das Gefühl abzuschütteln, aber es gelang ihr nicht. Es war still. Nicht ein Vogel war aus dem Geäst zu hören. Nur das stete Tropfen von den Bäumen, an denen noch das braune und rote Laub hing. Oder war es ihre Intuition, die sie warnen wollte? Sie legte eine Hand auf den Knauf ihres Kurzschwertes und schritt weiter voran. Im dichter werdenden Nebel sah sie vor sich den Trollzahn, wie er sich herausschälte und weit in den See hineinragte. Ein Felsen, der bestimmt 60, 70 Meter aufragte, von Kiefern, Fichten und Farnen bewachsen. Und Stimmen, die von seeseits erklangen. Und ein Geräusch, von Rudern, die ins Wasser ein- und wieder auftauchten. Kinderstimmen?! Das waren Kinderstimmen. Ein Ruderboot, das von der Mitte des Sees auf das Ufer hinter dem Trollzahn zufuhr. Baora lief los, folgte dem Boot vom Weg aus.

„Du bist so was von gemein! Hätte ich das vorher gewusst, wäre ich gar nicht erst mitgekommen!“

„Du wärst sonst NIEMALS mitgekommen, Zeven. Und jetzt? Jetzt siehst du, dass es gar kein Seeungeheuer gibt“, widersprach eine andere Kinderstimme.

„Nein. Wir wissen nur, dass es heute in der Zeit von Mittag bis jetzt kein Seeungeheuer in der Nähe des Trollzahns gegeben hat“, antwortete die erste Stimme. Baora sah ein kleines Fischersegelboot von vielleicht vier Metern Länge, auf dem vier Kinder oder Jugendliche fuhren. Zwei ruderten, ein rothaariges Mädchen stand vorne, ein schwarzhaariger Junge hinten. Baora umrundete den Trollzahn und der Weg verjüngte sich in Ufernähe unter dem Felsen so, dass nur noch Platz für ein Pferdegespann war. Ein schmaler Wasserfall kam hier hernieder. Dahinter konnte sie eine kleine Anlegestelle für das Boot ausmachen: Ein Baumstamm, der so ins Wasser ragte, dass man daran festmachen konnte, und das Ruderboot steuerte darauf zu. Baora blieb im Schatten einiger Schlehen stehen und beobachtete weiter. Das Boot legte an, das rothaarige Mädchen legte ein Tau um einen Ast, zog das Boot an den Stamm und der Junge vertäute es heckwärts. Das Mädchen kletterte auf den Baumstamm, lief zwei, drei Schritte und sprang auf den kleinen Strandabschnitt. Dort stieß sie ihre Fäuste in die Hüften und erwartete die anderen. Die folgten ihr, langsamer und so, als würden sie eine Strafe erwarten.

„Hört zu, Leute, es wird ja noch nicht mal dunkel. Wir hätten noch weiter bis zum Biberdamm fahren können. Und ihr wollt umkehren, weil Nebel aufzieht!“, schimpfte sie.

„Snagga“, erhob ein zweiter Junge das Wort. „Menschen verschwinden einfach und wir wissen nicht, warum. Dein Vater, der alte Javen, Karan. Was, wenn alle anderen Recht haben, und es doch ein Seeungeheuer war?“ Snagga sah auf den See und überlegte.

„Ich glaube das nicht. Ich war täglich mit Vater draußen. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Und manchmal hat er mich zum Nachtfischen mitgenommen“, erklärte sie nicht ohne Stolz. „Und nie, nicht einmal, haben wir eine Spur von einem Seeungeheuer gesehen. Und wir heute auch nicht, obwohl jeder gesagt hat, heute sei ein verdammt guter Tag für ein Seeungeheuer!“

„Ja, wegen der Monde. Wie sie so stehen. Das lockt die Seeungeheuer hervor“, pflichtete das andere Mädchen Snagga bei. Snagga nickte.

„Und? Wo war es dann?“, fragte sie in die Runde. Der schwarzhaarige Junge zuckte mit den Schultern, der andere zeichnete einen Halbkreis mit seinem Stiefel in den Sand.

„Dann ist es vielleicht doch das Ungeheuer mit den tausend Augen, das im Wald hausen soll!“, meldete dieser sich zu Wort und suchte sofort an den steilen Waldhängen nach etwas. Das andere Mädchen ließ sich anstecken und sofort spürte Baora Angst bei den Kindern. Und auch bei sich. Irgendetwas war hier seltsam. Die Kinder unterhielten sich weiter und Baora trat langsam aus ihrem Versteck und näherte sich der Gruppe. Der schwarzhaarige Junge stieß einen Pfiff aus und sofort hatte das rothaarige Mädchen eine Zwille gezogen und zielte auf sie. Baora hob ihre Hände. „Keine Sorge. Ich komme in friedlicher Absicht. Mein Name ist Baora t'ian Tanikki, ich bin Bardin und mich hat es hierher verschlagen, um neue Lieder und neue Melodien zu entdecken“, stellte sie sich den Kindern vor.

„Bleib da stehen! Was willst du?“ Snagga zielte weiterhin auf sie und Baora musste sich eingestehen, den Mut und die Entschlossenheit des Mädchens unterschätzt zu haben. Sie würde nicht zögern zu schießen und mit ihrer Art zog sie ihre Kumpanen mit, die nun ebenfalls mit ihren Zwillen auf sie zielten.

„In Ordnung“, sagte sie und blieb stehen. „Ich suche einen Platz zum Schlafen. Die Nacht bricht bald herein und … mir ist schon lange nicht mehr wohl hier.“ Sie drehte sich um, nickte zum Weg und zu den Hängen. „Da vorne muss irgendwo Schwarzwasser sein. Wenn es dort Menschen gibt, die ein gut vorgetragenes Lied zu schätzen wissen, dann kehre ich dort gerne ein und hoffe auf einen Teller warme Suppe und einen Krug Bier.“ Sie lächelte den Kindern zu, ließ immer noch ihre Hände oben. Snagga senkte die Zwille, nickte ihr zu.

„Gut, Baora, dann geh“, sagte sie.

„Eine Frage noch“, hakte Baora nach und trat einen Schritt vor. Snagga hob ihre Zwille ein kleines Stück an. „Auf dem Weg hierher … also, eigentlich suche ich nach einem geheimnisvollen Sängerwettstreit, der hier in einem der Dörfer stattfinden soll und … auf dem Weg hierher hatten viele Menschen Angst und sagten mir, dass Leute verschwinden und niemand weiß, was mit ihnen geschieht. Warum treibt ihr euch also alleine hier herum? Habt ihr keine Angst?“

„Doch“, antwortete der schwarzhaarige Junge, sah dann zu Snagga. „Nur sie nicht. Snagga hat keine Angst. Nie“, ergänzte er voller Bewunderung und das Mädchen und der andere Junge nickten.

„Außer vor großen Spinnen“, schränkte das Mädchen die Aussage etwas ein und Snagga rümpfte die Nase.

„Und dann sind wir mitgekommen“, sagte sie weiter. „Deshalb.“ So endete die Erklärung der Kinder und Baora schätzte das rothaarige Mädchen ab. Dreizehn, vielleicht vierzehn Sommer alt. Behände und geschickt und vor allem mutig. Aber konnte sie wirklich mit einer Waffe umgehen? Baora sah ein Fischermesser in der Gürtelscheide des Mädchens.

„Dein Vater ist verschwunden?“, wollte Baora von Snagga wissen. Snagga betrachtete sie und schätzte sie nun ebenso ein. Sie senkte daraufhin die Zwille.

„Ja, vor drei Tagen. Er war fischen. Sein Boot haben wir später gefunden. Es lag mit einem Leck drüben auf der anderen Seite, wo wir ein paar Reusen liegen haben. Ein Loch, wie von einer Axt geschlagen“, antwortete sie.

„Du hast das Loch gesehen?“, fragte Baora.

„Ja. Die Erwachsenen sagen, das war ein Ungeheuer. Ich nicht. Ich sage, das Loch hat jemand mit einer Axt geschlagen. Und mein Vater ist entführt worden. Und die anderen vielleicht auch.“

„Wir haben es auch gesehen. Eben gerade. Das Schiff liegt da immer noch. Snagga hat es uns gezeigt“, ergänzte das andere Mädchen.

„Was glaubst du, wer war es dann?“, wollte Baora wissen. Snagga überlegte eine Zeit lang, musterte sie dabei unablässig.

„Hier hat sich in der letzten Zeit einiges verändert“, meinte das rothaarige Mädchen dann und rümpfte die Nase. „Früher sind auch immer mal wieder Leute verschwunden oder einfach nicht zurückgekehrt, aber in der letzten Zeit sind es sehr viele geworden. Und dann sehe ich immer mal wieder Fremde. Bewaffnete Fremde, die ihre Waffen zu tarnen versuchen, aber Schwerter lassen sich nicht so leicht verbergen. Sie geben sich als Händler und harmlose Wanderer aus, aber es ist und bleibt Soldvolk“, sagte Snagga. Baora nickte anerkennend.

„Wie alt bist du?“, fragte sie.

„Das sage ich dir nicht“, antwortete Snagga augenblicklich. „Aber warte“, sagte sie dann und Baora schwieg. „Noch etwas hat sich hier verändert und zwar alles. Der Wald, der See, die Wiesen und vor allem … die Schatten.“ Die drei Kinder hinter Snagga nickten, offenbar hatten sie sich schon oft darüber unterhalten, schlussfolgerte Baora.

„Was meinst du damit? Die Schatten?“, fragte Baora nach.

„Es ist so, als ob etwas in den Schatten lauern und einen beobachten würde. So, als hätte etwas tausend Augen. Hast du davon schon gehört?“, antwortete Snagga und Baora nickte.

„Von dem tausendäugigen Ungeheuer hörte ich. Aber wie passt das? Ein Ungeheuer und solch ein Soldvolk von dem du sprachst?“ Snagga hob den Kopf.

„Das werde ich schon herausfinden, aber warum interessiert dich das?“ Baora musste lachen. Das Mädchen war wirklich besonders.

„Vielleicht, weil ich dir helfen kann“, antwortete Baora und suchte den Blickkontakt zu dem Mädchen. Beide sahen sich an.

„Sei in drei Tagen um diese Zeit wieder hier. Alleine“, sagte Snagga und drehte sich zu ihren Freunden um. „Wir fahren zurück und reden da weiter“, kommandierte sie und zusammen legten sie ab und ruderten nahe am Ufer aus Baoras Blickfeld in den Nebel hinein.

„Ich werde da sein, verlass dich drauf“, rief Baora ihr hinterher und setzte ihren Weg fort. Eine Nacht würde sie in Schwarzwasser verbringen, dann würde sie nach Ottersberg zurückkehren, um in drei Tagen rechtzeitig wieder hier zu sein. Sie hatte noch einiges zu tun.

 

Hagen spürte eine wachsende Anspannung in sich. Was war das für ein Geheimnis, das Larian ihm anvertrauen wollte? Es klopfte an seiner Tür und er öffnete. Larian, die sich draußen auf dem Gang sorgfältig umsah und noch nicht eintrat.

„Komm rein“, begrüßte er sie. Sie hob eine Hand und spähte weiter in den dunklen Gang.

„Irgendetwas ist da“, flüsterte sie und bei Hagen stellten sich die Nackenhaare auf. Er reckte seinen Kopf aus der Tür und sah ebenfalls den Korridor in beide Richtungen entlang. Das Licht der drei Monde drang milchig durch die Fenster, es hatte sich ein Kranz aus Dunst um ihren Schein gelegt. Unbehagen beschlich ihn, doch erkennen konnte er in der Dunkelheit nichts, was dafür verantwortlich sein konnte. Es sei denn, etwas verbarg sich darin und lauerte. Larian schüttelte den Kopf und Hagen verschloss schnell die Tür hinter ihr.

„Da war etwas. Ich bin mir sicher. Direkt auf dem Gang, als ich aus meinem Zimmer gekommen bin. Wir müssen aufpassen, Hagen. Komm, wir setzen uns an den Tisch und ich erzähle dir, worum es geht.“ Sie legte eine Tasche ab, zog ihn zum Tisch, setzte sich auf die Kante und Hagen nahm auf dem Stuhl Platz. „Komm näher!“, forderte sie ihn auf und beugte sich zu ihm. „Also, du kennst doch Vermont, richtig?“, flüsterte sie. Hagen nickte. „Er ist der Akademieverweser. Die Akademie selbst wird von einigen Gelehrten, Adligen und Händlern gefördert. Alle sind sehr wohlhabend und über ihre Interessen weiß ich wenig. Ich schätze mal, dass sie sich einen Nutzen von den ausgebildeten Meistern erhoffen. Vor Vermont war Ariane Mondseher die Akademieverweserin und ich habe sie noch kennenlernen dürfen. Und sie hat mir ein Geheimnis anvertraut, kurz bevor sie … auf diese seltsame Art ums Leben gekommen ist.“

„Ein Geheimnis?“ Hagen bekam einen trockenen Mund. Larian nickte.

„Ja. Die Akademie ist vor über einhundert Jahren hier erbaut worden. Es gibt keine Pläne von den Erbauern, keine, die im Archiv zu finden sind. Meister Dion war der erste, der einen Grundriss und Ansichtszeichnungen dazu erstellt hat. Sonderbar, oder? Aber weißt du was? Es gibt hier Geheimgänge in der Akademie. Etliche, und sie sind sehr verzweigt.“ Geheimgänge waren Hagen nicht fremd. Auch das Anwesen seiner Familie hatte zwei Geheimgänge, einen, der über vierzig Meter zu einem Weiher führte, das war ihr Fluchttunnel, und einen, der in Vaters Refugium führte. Hagen wusste bis heute nicht, was sein alter Herr dort trieb. Dennoch … hier in der Akademie waren Studenten verschwunden und bisher wusste niemand, wo sie geblieben waren. Vielleicht gab es eine Antwort, dort unten in den Katakomben. Das hieße aber …

„Du weißt, wo ein Geheimgang ist?“, fragte er und hielt den Atem an. Larian nickte.

„Ariane Mondseher hat mir einen Geheimgang kurz vor ihrem Tod gezeigt und gesagt, dass den niemand anderes kennen würde. Und ich sollte es bloß nicht den Lehrern und anderen Studenten verraten“, antwortete sie. Hagen atmete aus.

„Warum? Warum solltest du es niemandem verraten?“ Larian zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht, Hagen. Bis heute nicht. Ich glaube aber, dass sie einem Geheimnis auf der Spur war und sie sich verfolgt gefühlt hat.“ Hagen schluckte. In was war er da bloß hineingeraten?

„Du meinst, sie wusste, warum die Studenten verschwunden sind?“

„Vielleicht“, antwortete sie. Ihre Gesichter berührten sich beinahe, sie waren immer leiser geworden.