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Meinem Lehrer Christian Herfarth

Vorwort

Immer wieder beziehen wir uns in Diskussionen und allgemeinen Gesprächsrunden auf das christliche Abendland, nicht selten in Abgrenzung zu anderen Kulturen und zur Betonung eigener Wertvorstellungen. So sehr und gern wir auch dieses Argument ins Feld führen, bleiben doch die Inhalte, die mit einer solchen Feststellung zum Ausdruck kommen sollen, allzu oft verschwommen. So müssen wir uns die Frage stellen, inwieweit wir die vielen alltäglichen Probleme, die politischen, gesellschaftlichen und sozialen, im Bewusstsein christlicher Überzeugung angehen oder ob das christliche Gedankengut nur noch schmückendes Beiwerk ist, gleichsam tradiertes Brauchtum, entweder zu gelegentlichen Vorzeigezwecken oder als Rückzugsmöglichkeit in Zeiten fehlender Lebensperspektiven. So stellt sich die Frage nach der christlichen Lebensgewissheit besonders in schweren Zeiten, in Grenzsituationen, in Situationen existenzieller Not, mit denen uns das Leben konfrontiert: in Zeiten der Krankheit, des Sterbens und des Todes. In solchen Zeiten bedarf es einer gefestigten Lebenseinstellung, bedarf es einer Haltung, die zu einer Antwort auf die sich stellende Sinnfrage bereit und fähig ist. Es scheint eine Eigenschaft des Menschen zu sein, sich mit der Sinnfrage jedes einzelnen Daseins erst dann zu beschäftigen, wenn die Existenz bedroht bzw. in Gefahr geraten, wenn die Fortsetzung der gewohnten Lebensabläufe nicht mehr gewährleistet ist.

Unabhängig von der Bereitschaft eines jeden Einzelnen, sich in solchen Situationen bei der Klärung der Sinnfrage auf eine christliche Überzeugung zu beziehen, steht außer Frage, dass das abendländische Kulturbewusstsein wesentlich auf christliches Gedankengut zurückzuführen ist und verantwortlich ist für das Menschenbild, welches für unser gesellschaftliches Zusammenleben ent­scheidende Bedeutung hat. Dieses Orientierung gebende, ethisch moralische Grundverständnis der Mitmenschlichkeit droht im alltäglichen Aktionsgebaren überlagert zu werden von einer konformistischen Sach- und Zweckbezogenheit. Der Mensch droht dabei seine Individualität zu verlieren und zur Kalkulationsgröße zu verfremden. Wenn auch eine solche Entwicklung allgemein zu beklagen ist, gewinnt sie doch in der Medizin eine besondere Bedeutung, eben in jenem Bereich, in dem sich der Mensch mit existenziellen Fragen konfrontiert sieht.

Viele Probleme im Umfeld der Medizin und im Rahmen des Gesundheitswesens ließen sich nach einfachen Regeln menschlicher Vernunft lösen vor allem aus der Sicht des dort tätigen Personals, der Ärzte, der Therapeuten und der Pflegekräfte. Bedauerlicherweise haben berufsfremde Funktionäre die Ägide hinsichtlich Planung und struktureller Programmatik übernommen, so dass organisatorischer Gestaltungswillen mit der Zielsetzung reibungsloser und anonymisierter Funktionsabläufe den geistigen Nährboden verantworteter Mitmenschlichkeit mehr und mehr in den Hintergrund geraten lässt. Vor diesem Hintergrund geht es darum, das Bewusstsein des Arztes, nicht weniger das des Patienten und im Weitesten das der Funktionäre und Betreiber zu schärfen und auf die wesentlichen Grundbedingungen medizinischer Verantwortung zurückzuführen.

In allem Denken und Handeln ist der Mensch abhängig von seiner Gesinnung, von seinem Bewusstsein, aus dem sich der Wille formt und schließlich das Gedachte zur Gestalt werden lässt. So bedarf es einer Orientierung, eines Standpunktes, will man ein Bild nicht nur wahrnehmen und in seinen Zusammenhängen verstehen, sondern versuchen, Einfluss zu nehmen und an der Gestaltung mitzuwirken. Bevor man also über Menschen redet, über ihre Aufgaben und Pflichten, über Verantwortung und über ihr zwischenmenschliches Verhalten, ist es ratsam, sich über das Mensch-Sein schlechthin Klarheit zu verschaffen, über das Wesen und die Bedeutung des Menschen. Nicht zuletzt aus diesem Grund soll in einem ersten Kapitel die Position des Menschen beleuchtet und, aufbauend auf seine Möglichkeiten und seine Bestimmung, der Lebensbezug verdeutlicht werden. Aufbauend auf dieses Bewusstsein wird in den folgenden Kapiteln auf die heutigen Probleme der Medizin eingegangen. Jedes Kapitel ist in sich abgeschlossen und ermöglicht ein jeweils eigenes Verstehen. So erklären sich gelegentliche inhaltliche Wiederholungen, die jedoch dem Verständnis im Ganzen durchaus förderlich sein können.

Vom freien Willen des Menschen

Hat der Mensch die Möglichkeit, sich frei zu entscheiden oder ist der Welten Lauf, ist jedes einzelne Geschehen und jede Entscheidung des Menschen geplant, programmiert und vorbestimmt? Ist es dem Menschen möglich, auf die Geschehnisse des Alltäglichen mit seinem Willen auf der Basis seines ethisch-moralischen Bewusstseins Einfluss zu nehmen und sich gegen die Automatismen zeittypischer Entwicklungen zu behaupten?

Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde. »Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden. Und Gott der Herr sprach: Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten, aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen, denn welchen Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben.« Später dann, als Adam vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte, sprach Gott der Herr: »Siehe Adam ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nicht ausstrecke seine Hand und breche auch vom Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich! Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden.«

Der heutige Mensch liest den Schöpfungsbericht mit wissenschaftlich geschultem Intellekt und vermag sich kaum noch in frühere Sprach- und Kommunikationskulturen einzudenken. Entweder lehnt er mit seinem kritischen Verstand den ihm märchenhaft erscheinenden Inhalt ab oder er übernimmt ihn blind, ihn buchstabengetreu lesend und »glaubend« gegen jede wissenschaftliche Kritik. In beiden Fällen geht die eigentliche Information verloren. Halten wir fest: Der Mensch weiß zwischen gut und böse zu unterscheiden, nachdem er die ihm gegebene Freiheit dazu nutzte, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Der Mensch hat ein Bewusstsein für das Gute und das Böse; Gott sagt: »er ist wie unsereiner …«. Er kann sich entscheiden: Entweder sich an Gottes Gebote zu halten oder ihnen zuwider zu handeln.

Die Geschichte des Menschen zeigt, dass er zu beidem befähigt ist. Gott schuf die Welt, das Leben und schließlich den Menschen. Und Gott sah, »dass alles sehr gut war«. Dem Menschen gab er das Gebot, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen. Ein Gebot zu geben macht nur einen Sinn, wenn es die Möglichkeit beinhaltet, befolgt oder missachtet zu werden. Mit dem Gebot gab er die Freiheit und damit die Möglichkeit zur freien Entscheidung. Die Beweggründe des Adam, trotz des Gebotes vom Baum der Erkenntnis zu essen, sind zunächst von untergeordneter Bedeutung; er hat sich für diesen Schritt entschieden. Entscheidend ist, dass er die Freiheit der Entscheidung hatte. Diese Entscheidung machte ihm bewusst, was es bedeutet, ein Gebot zu befolgen oder es zu ignorieren. Er hat ein Bewusstsein von gut und böse.

Die Sonderstellung des Menschen in der Schöpfung Gottes zeigt sich in der Freiheit, zu der ihn Gott ermächtigt hat. Diese Freiheit schafft jedoch die Voraussetzung, sich verführen zu lassen; sie ermöglicht, dem Gebot Folge zu leisten oder sich denkend und handelnd gegen die Schöpfung, gegen das Leben, gegen die eigene Herkunft zu entscheiden. Die gegebene Freiheit schafft somit ein Potential an gegen die Schöpfung gerichteten Kräften; es sind Kräfte, die im Stande sind, dem Schöpfungsprozess entgegen zu wirken, ihn zu stören, ihn zu verletzen. Für die Schöpfung ist der Mensch ein Risiko; mit der ihm gegebenen Freiheit vermag er der Schöpfung zu schaden. »Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden.«

Bemerkenswert ist, dass Gott nicht die Konsequenz zieht, dem Menschen die Freiheit zu nehmen. Er zeigt dem Menschen in ganz anderer Weise die Grenzen auf, indem er ihn sterblich macht und auf diese Weise seine Handlungsmöglichkeiten zeitlich beschneidet. (»Damit er das Feld baue, von dem er genommen ist.«) Bereits im anfangs gegebenen Gebot, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen, war die Konsequenz, sterblich zu werden, enthalten (»denn welchen Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben.«). Adam entschied sich dennoch zu diesem Schritt. Es wird ausdrücklich betont, dass Gott auch weiterhin an der Sonderstellung des Menschen festhält, dass er das Sonderrecht der Freiheit und des freien Willens respektiert (»siehe, Adam ist geworden wie unsereiner und weiß was gut ist und böse.«). Diese Feststellung trifft er, nachdem Adam vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte. Gott beschneidet den Menschen nicht in seiner Freiheit, er stuft ihn nicht zurück auf die Ebene eines programmierten Instinktwesens. Gott bleibt seiner Schöpfungsidee treu.

Mag sein, dass diese Zusammenhänge des Schöpfungsberichtes nicht sogleich ins Auge springen, zumal die am Anfang der Bibel stehenden Ausführungen allzu oft für einen prähistorischen, göttlich sanktionierten Tatsachenbericht gehalten werden. Der Glaube an den Buchstaben hindert am Verstehen der Inhalte. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Text führt ebenso wenig weiter wie die naive Buchstabengläubigkeit. Für beides gilt, dass vermeintliche Richtigkeiten am Erkennen der Wahrheit hindern. Es muss einleuchten, dass es dem Verfasser der Schöpfungsgeschichte darum ging, das Wesen des Menschen im Kontext von Schöpfer und Schöpfung zu erarbeiten (»Gott schuf …«)

Unvergleichlich, beispielhaft und allgemeingültig wird die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen in allegorischen Bildern dargestellt. Jeder Mensch ist Adam! (Adam bedeutet »Erde«). Jeder Mensch ist zu jeder Zeit verführbar! Einem jeden Menschen ist der freie Wille und damit die Freiheit zur Entscheidung gegeben! Jeder Mensch weiß, was gut und böse ist! Jeder Mensch ist sterblich! Zu jedem Menschen sagt Gott: »er ist wie unsereiner!« Das Böse aber zeigt sich im Bestreben des Menschen, der eigenen Position, den eigenen Interessen vor dem Anliegen der Schöpfung Vorrang einzuräumen. Das Leben erfährt unter dieser Prämisse eine andere, eine neue Bewertung. Die eigenen Interessen relativieren bzw. entwerten das Lebensrecht Anderer. Gerade darin zeigt sich die Zuwiderhandlung gegen Gottes Schöpfungswillen.

Wie verfährt der Mensch mit dem Vermächtnis der Freiheit vor dem Hintergrund seines Wissens von gut und böse? Eindrucksvoll und erschreckend zugleich zeigt die Geschichte des Menschen bis zum heutigen Tag, dass der Mensch zu beidem fähig ist, zum Guten wie zum Bösen. Das Böse zeigt sich in der Herabsetzung des Anderen, in Demütigung und Diffamierung, in Ausgrenzung, Vernichtung und Tötung. Wer den freien Willen des Menschen in Frage stellt, leugnet die Menschheitsgeschichte. Die Geschichte des Menschen offenbart jedoch noch ein anderes: Während sich der Mensch durchaus mit seinen Entscheidungen für das Gute zu identifizieren versteht, sucht er Erklärungen und Ausflüchte, die es ihm erlauben, vom Bösen seines Denkens und Handelns Abstand zu gewinnen. Es ist ein Bedürfnis des Menschen, sich, wie Pilatus, die Hände in Unschuld zu waschen. Er versucht, sich aus dem Spannungsfeld von Gut und Böse zu befreien.

Wenn es um das Gute geht, weiß er sich mit Gott verbunden; für das Böse allerdings fehlt ihm der Gegenpart. Er findet (erfindet) ihn und nennt ihn Antichrist, Satan oder Teufel. Jetzt ist er es, der Mensch, nicht mehr, der Böses tut; es ist der Teufel, der ihn dazu antreibt, der ihn verführt. Der Mensch verlagert seinen Konflikt, den er mit der Freiheit hat, auf eine »höhere« Ebene. Er teilt die Welt auf in Himmel und Hölle. Der Mensch ist der Schwache, der im Widerstreit von Himmel und Hölle zum Opfer wird. Der Teufel wird dem Menschen zur diesseitigen Entlastung, zum Schuldigen, die Hölle zur Bedrohung aus dem Jenseits. Der Exorzismus folgt der widersinnigen Vorstellung, dass es Aufgabe und Pflicht ist, den Menschen von den »bösen Geistern« zu befreien. Der Mensch projiziert sein moralisches Profil auf eine Ebene jenseits seiner Freiheit; dabei gebraucht er den Teufel und missbraucht Gott. Warum kann der Mensch in Ausch­witz ausrufen: »Wo warst Du, Gott?« Es ist der Mensch, der zur Hölle auf Erden fähig ist! Wie oft kann man die Meinung hören: »Ich kann nicht an einen Gott glauben, der Auschwitz zugelassen hat.« Insgeheim, erwartet wohl der Mensch, dass Gott ihn in seiner Freiheit beschneide.

Der Mensch tut alles, um seine Freiheit abzugeben, er will sie nicht! Es ist einfacher und bequemer, ohne Freiheit zu leben, sich nicht festlegen zu müssen, sich nicht zu exponieren und denkend und handelnd einzutauchen in die Strömungen der Zeit. Der Mensch strebt nach einer ganz anderen Art von »Freiheit«; er sucht die Ungebundenheit, er sucht das Frei-Sein von Entscheidungsnotwendigkeit, von Pflicht und Verantwortung; er sucht Freizügigkeit und damit den Freiraum zur Selbstverwirklichung. Die Freiheit aber, die von ihm eine Stellungnahme zu gut und böse abverlangt, die eine Antwort gibt auf das Vermächtnis des freien Willens, die versucht er von sich fern zu halten.

Und Gott gab dem Menschen die Freiheit und der Mensch schrie: »Gott, warum strafst du mich?!« Die Freiheit der Entscheidung, die notwendig macht, eine Position zu beziehen, sich entweder in das Schöpfungsgeschehen einzubeziehen, in dem Sein Wille geschieht, oder sich willentlich gegen die Schöpfung zu stellen und seine eigenen Vorstellungen zur Geltung zu bringen, diese eigentliche und wahre Freiheit lehnt er ab. Der Mensch tut alles, um sich ihrer zu entledigen. Selbst die Wissenschaft leistet dabei ihren Beitrag. Die moderne Hirnforschung glaubt die Lokalisation von »Gott« im Gehirn gefunden zu haben, eben die Zentren, die für die Gottesprojektion und für die Steuerung seines moralischen Verhaltens verantwortlich sind. So weiß er sich gesteuert und im eigentlichen Sinn nicht schuldig zu sein. Mit allen Mitteln sucht der Mensch seine »Freiheit« an der göttlichen Freiheit vorbei.

Offensichtlich bezieht der Mensch die Frage nach dem freien Willen ausschließlich auf seine Person. Er will alles in seinem Dasein in völliger Unabhängigkeit entscheiden können. Immer häufiger wird die Meinung vertreten, dass er auch über sein Leben entscheiden könne. Die Voraussetzung zur Klärung dieser Frage kann jedoch nicht die völlige Unabhängigkeit sein, weil es sie de facto nicht gibt. Der Mensch ist Teil eines »Systems« (das Leben, die Schöpfung), aus dem er sich nicht selbst entlassen kann. Der Mensch kann entscheiden, ob er Kaffee trinkt oder Tee, ob er Urlaub macht oder nicht, ob er seinen Garten pflegt oder ihn verwildern lässt, ob er seinem Mitmenschen zur Seite steht oder ob er ihn demütigt, ausgrenzt, diffamiert und missachtet; er kann aber nicht entscheiden, wer sein Vater und seine Mutter sein soll, ob er durch die Geburt Teil dieses »Systems« wird oder ob er, vom »System« der Schöpfung unabhängig, sein Leben als frei und ungebunden beansprucht.

Schon im sozialen und gesellschaftlichen Zusammenleben wird dem Menschen bewusst, dass er nicht unabhängig agieren und entscheiden kann. In seinem Denken und Handeln stößt er an die Grenzen des Gemeinwohls. Dabei wird deutlich, dass ihm das Wissen von Gut und Böse in jedem Augenblick seines Tuns seine Abhängigkeit nicht weniger aber seine Verantwortung vor Augen führt.

Dem Menschen ist das Leben gegeben; er hat es nicht aus sich selbst. Die Bedingungen, die das Leben vorgibt, kann der Mensch nutzen, sein Dasein zu pflegen und zu gestalten; er kann sich ihnen jedoch nicht entziehen. In dem Augenblick, in dem er das will, in dem er seinen Eigenwillen gegen den Willen des Lebens, der Schöpfung stellt, entfernt er sich von der Schöpfung, entfernt er sich von Gott. Die Konsequenz ist, dass er die Last seines Daseins allein zu tragen hat. (»Verflucht sei der Acker um deinetwillen; mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang.«) Weil der Mensch die Bedingungen, die das Leben vorgibt (Unfall, Krankheit, Tod), nicht ändern kann, fällt es ihm schwer, sie zu akzeptieren. Versucht er es dennoch, dann läuft er Gefahr, an diesen Unausweichlichkeiten zu zerbrechen. Der Eigenwille führt zwangsläufig in die Vereinsamung.

Der Mensch vergisst, dass die Schöpfung Eigentum Gottes ist (»Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf.«) Er vergisst, dass er in dieser Schöpfung seinen Platz hat, dass für ihn gesorgt, dass er gehalten ist (»Sehet die Vögel unter dem Himmel …«), dass schließlich in dieser Schöpfung sein Lebenssinn enthalten ist. Außerhalb der Schöpfung gewinnen die Maßstäbe, die Vorstellungen und Wünsche des Menschen an Bedeutung, sie werden vorrangig. Die Maßstäbe des Menschen orientieren sich an den Koordinaten des Vergänglichen, von Raum und Zeit. Der Mensch will lange und unbeschwert leben, er weiß mit dem Schicksal nicht umzugehen, er will über Raum und Zeit selbst verfügen.

Die einzige Frage, die sich mit dem heute immer mehr in den Vordergrund drängenden Problem des freien Willens stellt, zielt auf die Entscheidung: Den Schwerpunkt zu suchen in oder außerhalb der Schöpfung; Pflege ausschließlich des individuellen Daseins oder Pflege des Lebens; ich oder Gott; Eigenwille oder »Dein Wille geschehe«.

Freiheit ist ein zentraler Begriff der menschlichen Existenz. Nie wurde er in seiner ganzen Tragweite besser beschrieben als im biblischen Schöpfungsbericht. Es ist der Mensch, der mit seiner Entscheidung und seinem freien Willen sein »Schicksal« selbst herbeiführt. Er kann entscheiden, ob er sein Dasein in die Hände seines Schöpfers legt oder ob er sein Vaterhaus verlässt und nach Selbstverwirklichung trachtet. Die heutigen Diskussionen über die Freiheit und über den freien Willen erschöpfen sich in dem Versuch, der Selbstverwirklichung zu frönen und sie ins Grenzenlose zu weiten. Zugleich aber will sich der Mensch der Verantwortung entziehen, die aus der wahren Freiheit resultiert.

Die häufig empfundene Sinnlosigkeit angesichts der irregeleiteten Geschehnisse in der Welt, nicht weniger aber angesichts persönlicher Schicksalsschläge und einer immer wieder zu beobachtenden Rat- und Hilflosigkeit angesichts unerwarteter Grenzerfahrungen von Krankheit, Sterben und Tod, wird in der Vergegenwärtigung eines christlichen Lebensverständnisses, welches allumfassend die Zusage an das Leben beinhaltet, von der Letztgültigkeit eines übergeordneten Sinngefüges aufgefangen werden. Aus der wahren Freiheit resultiert jene Verantwortung, die nicht zuletzt in der Medizin vorbildhaft und sinnerfüllend zu ihrer eigenen Bedeutung finden muss. Freiheit ist Tätig-Sein in der Verantwortung gegenüber dem Leben. Der Mensch verfügt über den freien Willen, sich zu entscheiden.

Die Konsequenz aus der gegebenen Freiheit ist die Verantwortung dem Leben und dem Mitmenschen gegenüber. Auch und gerade in der Medizin bewahrheitet sich die Unmittelbarkeit des zwischenmenschlichen Agierens. Dieser Aspekt der Mitmenschlichkeit und des humanen Gestaltungswillens darf nicht verlorengehen. Es darf nicht an ein System bürokratischer Selbsterfüllung abgetreten werden. Jeder einzelne, in der Medizin Tätige trägt eine Mitverantwortung für die Gewähr­leistung einer humanitären Medizinpraxis.

Wesen und Bedeutung der Krankheit

Es ist charakteristisch für die heutige, vom wissenschaftlichen Denken geprägte Zeit, dass der Einstieg in ein Thema mit dem Versuch beginnt, eine treffende Definition des im Mittelpunkt stehenden Begriffes zu geben. Es sollen jedoch nicht die Krankheit bzw. die Krankheiten aus der Sicht der medizinischen Fachlichkeit erörtert werden, vielmehr soll uns im Folgenden das Krank-Sein als subjektive Erfahrung des Menschen beschäftigen. Ausgangspunkt ist ein Zustand, der durch das Fehlen irgendwelcher körperlicher oder psychischer Einschränkungen an sich nicht wahrgenommen wird. Gesundheit ist ein nicht bewusst werdender Zustand. Er ist deshalb selbstverständlich, weil er sich aus sich selbst heraus versteht, weil er da ist, präsent, gegenwärtig, verfügbar. Verfügbar ist er, weil er uns zur Verfügung steht für alles, was im Außen zu tun und zu verrichten ist. Trotz seiner Abhängigkeit von Schlaf, Ernährung und sozialer Eingebundenheit erweist sich dieser Zustand als äußerst stabil. Lange Zeit vermag der Mensch auftretende Defizite zu kompensieren, auch dies, ohne dass es ihm bewusst würde und ohne dass sich daraus zwangsläufig schwer wiegende Folgen ergeben müssten. Soweit also die ersten Feststellungen: Gesundheit ist ein Zustand, der nicht bewusst wird, ein Zustand, der a priori gegeben ist und ein Zustand großer Stabilität, mit weitreichenden Kompensationsmöglichkeiten. Gesundheit ist Ausdruck und Beleg dafür, dass das Leben geschenktes Leben ist.

Nachdem Gesundheit, solange sie gegeben ist, nicht ins Bewusstsein tritt, wird sie kaum oder gar nicht auf ihr Zustandekommen hin reflektiert. Gerade aus der Erfahrung des Kindesalters wissen wir, dass jedem Menschen mit seinem Eintreten in die Welt eine ihm eigene Lebensausstattung zur Verfügung steht. Das Kind nimmt die Außenwelt, nicht aber sich selbst wahr; es hinterfragt seine Lebensausstattung nicht, unabhängig davon, wie sie sich aus der Sicht des Erwachsenen, das heißt von außen darstellt. Einen evtl. bestehenden Mangel stellt das Kind nicht fest, auch wenn er de facto gegeben sein sollte. Das Kind folgt demnach ausschließlich seinem inneren Drang, der ihm sagt: Lebe! Nach seiner Gesundheit befragt, wüsste es nichts zu antworten. Die Frage stellt sich ihm nicht. Die Antwort, gäbe es eine, könnte nur lauten: Ich bin, wie ich bin. Die Augen sind wach, frei und aufnahmefähig für die Welt; das Kind folgt einem inneren Drang, der ihm ein Leben aus sich selbst ermöglicht! Mit der Entdeckung des »ich« und dem reifenden Selbstbewusstsein gerät die Lebensausstattung zunehmend ins Blickfeld aufmerksamer Beobachtung. Das Eigene wird mit den gewonnenen Erfahrungen verglichen, die aus Elternhaus, Schule und dem sich ständig weitenden Umfeld immer konkretere Formen annehmen. Es ist in vieler Hinsicht eine Zeit intensiver Prägungen. Erst jetzt fallen durch vergleichende Beobachtungen dem Kind evtl. bestehende oder empfundene Mängel, Störungen oder Defektbildungen auf, doch auch unabhängig von solchen Feststellungen entscheidet sich in diesen frühen Jahren, wann und ob etwas als gesund oder krank eingeschätzt wird, wann Stärke gefühlt und wann Schwäche empfunden wird. Es bildet sich gleichsam der Bewertungsmaßstab für das Gefühl von »gesund« oder »krank«, von stark und schwach, von Selbstsicherheit und Abhängigkeit, ein Vorgang, der stark von äußeren Einflüssen abhängig ist. In den frühen Entwicklungsjahren entscheidet sich, inwieweit das kindliche Urvertrauen auch in der weiteren rationalisierten Lebenswahrnehmung Bestand hat oder ob es sich mit ständigen ängstlichen und zweifelnden Selbstbeob­achtungen auseinandersetzt.

Im Tarieren, Ausloten und Vergleichen zwischen dem, was Gabe und Begabung ist und dem, was der junge Mensch im Außen wahrnimmt, spielen Verhaltensweisen im Elternhaus, im Bekanntenkreis und im vertrauten Umfeld eine maßgebliche Rolle für sein eigenes späteres Verhalten. Ist etwa ein Elternteil oder sind gar beide Eltern hypochondrisch veranlagt und pflegen ständig über Krankheiten zu sprechen, dann wird dies in der entstehenden Bewertungsskala des Jungen seinen entsprechenden Niederschlag finden. Eine solche Form von larvierter Ängstlichkeit vermag das gesunde Lebensvertrauen eines jungen Menschen ebenso zu beeinträchtigen, wie ein unbeirrt vorgelebter Heroismus und eine lebensfremde, gefühllose Selbstdisziplinierung. So ist ein Kind schon frühzeitig Prägungen ausgesetzt, die sein Verständnis von Gesundheit maßgebend beeinflussen. Auch die Medizin hat in vergangener Zeit nicht selten dazu beigetragen, ein gestörtes Gesundheitsempfinden entstehen zu lassen. Wurde etwa ein Kind wegen häufig beobachteter Tachykardien (schneller Puls) dem Arzt vorgestellt, dann waren es oft unbedachte, beiläufige Bemerkungen des Arztes (»das Herz ist wohl eine Schwachstelle; man muss das sorgfältig beobachten« oder »das muss unbedingt kontrolliert werden«), die bei einem solchen, für das jugendliche Alter durchaus normalen Befund, lebenslange Fixierungen bewirken können. Das Kind oder der Jugendliche geht davon aus, ein schwaches Herz zu haben, zumindest aber dort einen bleibenden Schwachpunkt vermuten zu müssen. Eine derartige Fixierung kann in gleicher Weise durch verunsicherte und überängstliche Eltern entstehen. Dies zeigt wie empfindsam ein Kind in der frühen Prägephase des Lebens ist und wie sehr es abhängig ist von den unmittelbaren Eindrücken und Einflüssen vonseiten seiner Umwelt. Diese aber vermittelt nicht nur Fakten, Befunde und Tatbestände sondern auch die Art und Weise, wie mit ihnen umzugehen ist. Diese Überlegungen zeigen, wie wichtig es ist, bei Kindern und Jugendlichen das ursprüngliche Vertrauen in das Leben zu erhalten und es zu stärken. Dies gilt besonders in Situationen auftretender Krankheit oder anderweitiger Beeinträchtigungen. Es ist ihnen zu vermitteln, dass das Leben bei richtigem Verständnis Kräfte freisetzt, die einerseits zum Erhalt des Lebens beitragen, zum anderen, dass es sinnvoll und lohnend sein kann, sich trotz einstellender Beeinträchtigungen dem Leben anzuvertrauen und es sich mutig und zuversichtlich zu eigen zu machen. So bilden sich früh schon Eigenschaften und Haltungen, die für das spätere Verhalten gegenüber Krankheit und auftretenden Gesundheitsstörungen von großer Bedeutung sind. Denken wir an den tragischen Fall einer erlittenen Querschnittslähmung. Ein solches Schicksal kann dazu führen, sich völlig aufzugeben und sich vollständig dem Leben zu entziehen. Es gibt aber auch Menschen, denen es gelingt, ein solches Schicksal zu akzeptieren, dem inneren Drang folgend, der ihm sagt: Lebe! Was würde er als Gewinner einer Goldmedaille bei den paralympischen Spielen antworten, wenn man ihn fragte, ob er sich gut fühle, ob er gesund sei? Dieses Beispiel zeigt, dass sich Gesundheit nicht nur als Summe erhobener Normalbefunde definieren lässt sondern im Wesentlichen Ausdruck ist einer geistigen Haltung, Ausdruck einer Lebenskultur.

Dies ist nun auch der Grund dafür, dass es keine Definition von Gesundheit geben kann. Gesundheit ist nicht nur ein Raster von Objektivierbarem, von Befunden und einfachen Feststellungen, vielmehr Ausdruck von Positivität, Lebensbejahung und Lebensvertrauen, von einer Einstellung, die sich dem Leben zugehörig weiß – dem Leben als Glaubensgewissheit, nicht nur dem Leben als Realität! Es ist unzweifelhaft, dass sich das moderne Leben im Wesentlichen auf die Realität konzentriert, dass das Realitätsbewusstsein geradezu als ein Wesensmerkmal der Moderne gelten kann. Das Leben wird reduziert auf das Sichtbare, das Gegenständliche, auf Beschreibungen von Zuständen und Abfolgen, auf messbare und beweisbare Werte. Im Sichtbaren erschöpft sich das Denken der Lebensverneinenden. Es ist, als wollte man die Großartigkeit einer Mozart-Symphonie allein mit mathematischen und physikalischen Parametern erfassen. Es ist, als wollte man den Schmerz einer krebskranken Frau mit Scores (Schweregraden) verstehbar machen. Es ist, als wollte man die Liebe zwischen zwei Menschen allein hormonell bzw. mit Vorgängen im Zentralnervensystem erklären. (Einstein: »Der Geist ist wichtiger als das Wissen, denn das Wissen ist begrenzt.«)

Das Leben beschränkt sich nicht auf die Realität, nicht allein auf das Sichtbare und Verstehbare, es folgt vielmehr einer Idee, einem geistigen Überbau, einer Zusage, einem Versprechen und eben dieses Versprechen ist es, auf das sich Vertrauen gründet, welches allein Vertrauen rechtfertigt. Die Realität erschöpft sich in den vergänglichen Erscheinungsformen von Materie und Zeit. Für diese sichtbaren und verstehbaren Erscheinungsformen hat der Mensch Kriterien ersonnen, die ihm die Möglichkeit geben zu messen, zu definieren und zu vergleichen. Weil nun der Geist nicht sichtbar und wissenschaftlichen Methoden nicht zugänglich ist, gerät der Mensch in Entscheidungsnot: Entweder den Geist, der das Leben ausmacht, als solchen zu erkennen und sich einzufügen in seine Ordnungen, oder aber sein Leben ausschließlich von eigenen Vorstellungen, vom Wollen und Wünschen auf der Ebene realitätsbezogener Parameter abhängig zu machen. Im letzteren Fall begibt sich der Mensch in die Situation, zwar vom Geist des Lebens zu leben, ihn aber nicht als solchen anzuerkennen und schließlich das Leben in den Kategorien des Messbaren, des Verstehbaren, des Machbaren und schließlich als Besitz zu betrachten. Das Leben wird zum Produkt der eigenen Vorstellungen, der eigenen Fähigkeiten und Gestaltungsmöglichkeiten. Das Leben folgt auf diese Weise allein materiellen und zeitlichen Zielsetzungen. Der Mensch frönt dem Ziel, möglichst lange und uneingeschränkt funktionieren zu können. Die Vergänglichkeit, die dem Leben immanent ist, führt dazu, dass sich der Mensch umso intensiver dieser Zielsetzung verschreibt, je ausschließlicher sein Bewusstsein von der Vergänglichkeit beherrscht wird und je vorbehaltloser er sich in die Abhängigkeit von vergänglichen Werten begibt (Zeit, Besitz, Macht, Einfluss etc.) Er entfernt sich auf diese Weise vom »Paradies« des Lebens, das er nicht als Gabe oder Geschenk begreift und begibt sich auf den steinigen Weg der eigenen Lebensgestaltung. Steinig deshalb, weil er bei seinem Unterfangen lediglich das Sichtbare und Messbare gelten lässt und den Sinn seines Lebens dort sucht, wo er ihn nicht finden kann. Er versteht sich als Realist, macht er doch die Realität zu seinem eigentlichen Aktionsforum. Kaum wird ihm dabei bewusst, dass er sich damit dem Leben verschließt, indem er es ausschließlich auf sich, auf seine Vorstellungen und seine eigenen Gestaltungsmöglichkeiten beschränkt. Ein solches Lebensverständnis reduziert das Leben auf die eigenen Ansprüche.

Die Konsequenzen für das sich daraus ableitende Gesundheitsempfinden sind unschwer zu erkennen. Die zunehmende Materialisierung der Lebensinhalte und der kaum mehr zu übersehende Verlust an Lebensvertrauen bewirken zwangsläufig eine Haltung, die darauf abzielt, die Regie über das Leben an sich zu nehmen. Gesundheit, als ursprüngliches Empfinden bzw. als ein aus sich selbst generierendes Gut wird immer weniger wahrgenommen, vielmehr sind es Parameter aus dem realen Umfeld des Messens und Wägens, die über gesund oder nicht gesund entscheiden. Die eigentliche Bedeutung der Gesundheit als ein Potential, das dem Leben in der Welt zur Verfügung steht, hat sich gewandelt zu einem Eigenwert, den es mit großer Mühe zu erhalten und zu verteidigen gilt. Gesundheit wird so zum Selbstzweck. Es ist nicht mehr die Frage, wem die Gesundheit dienen soll, es geht allein darum, sie zu erhalten. In dieser vom Leben entkoppelten und ihrer Bedeutung nach isolierten Funktion wird Gesundheit nicht mehr gelebt sondern als eigenständiger Wert verwaltet. Gesundheit hat den Bezug zur Wahrheit verloren; sie wird entwahrheitet.

Dieser Bedeutungswandel beschränkt sich keineswegs nur auf das, was heute als Gesundheit verstanden wird, in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens hat sich das Wertempfinden grundsätzlich verändert. Schon lange haben sich diese Veränderungen angekündigt; ihre langsam voranschreitende doch nicht weniger konsequente Umsetzung ließ ihre Entwicklung unmerklich und abseits jeder Bewusstwerdung geschehen. Nur ein dumpfes und ungewisses Gefühl sagt uns, dass die Beständigkeit der Lebensarchitektur rissig geworden ist, dass ihre Tragfähigkeit und Verlässlichkeit mehr und mehr schwindet. Es sind nicht mehr der Bezug zur Wahrheit, nicht mehr die Glaubens- und Lebensgewissheit, aus denen Kräfte und Aktivitäten freigesetzt werden für Wissenschaft und Kultur, für Kunst, Bildung und moralischen Anspruch. Heute glaubt und vertraut der Mensch nicht mehr dem Leben sondern er glaubt an die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten, die ihm helfen, sein Dasein sicherer zu gestalten und die ihn Glauben machen, sich gegen die Attribute des Zeitlichen aus eigener Kraft behaupten zu können. Er glaubt an die Kultur, die, sich selbst überlassen, der Beliebigkeit anheimfällt; er glaubt an die Kunst, die Gefahr läuft, zum Forum der Selbstdarstellung zu verfremden und sich mehr und mehr im Oberflächlichen zu verzehren; der Mensch spricht viel von Moral und sozialen Verpflichtungen; da ihm aber die Orientierung abhandengekommen ist, gelangen seine Bemühungen schnell in den Fokus eigener Interessen. Vermutlich begann der Kollaps des Wertesystems mit der Entwertung und Entwürdigung der Arbeit. Ihre ursprüngliche Bindung an eine Sinn vermittelnde Lebensgestaltung löste sich auf und zunehmend geriet sie in die Knechtschaft anonymer, quantitativer, nach Stunden berechneter Planbarkeit. Mühsam und wenig erfolgreich sind die Versuche von überhandnehmenden Psychologen und Wahrheit beanspruchenden Glaubensmagnaten, das verlorengegangene Lebensvertrauen zu retten, es zu festigen und zu stützen, doch das Haus ist mit dem Verlust seiner Basis brüchig geworden.

Es konnte nicht ausbleiben, dass sich in diesem Umfeld auch der Stellenwert der Gesundheit verändert hat. Man kann die Gesundheit mit einem Gefährt vergleichen, das sich nach Art und Ausstattung von Mensch zu Mensch unterscheidet. Jeder Mensch bringt sein eigenes Gefährt, seine eigene Ausstattung, seine eigenen Fähigkeiten und Begabungen mit in diese Welt. Dabei ist zu bedenken, dass nicht der Wunsch nach mehr oder Anderem im Menschen Glück und Zufriedenheit auslöst, sondern die Fähigkeit, das Eigene zu erkennen und die Bereitschaft es zu akzeptieren. Sinn und Zweck des Gefährtes ist es, das Leben zu erfahren und sich mit diesem Gefährt in das Leben einzubringen. So vernünftig, wichtig und geboten es ist, dieses Gefährt zu pflegen und für seinen Erhalt Sorge zu tragen, so unsinnig und zweckentfremdend ist es, dieses Gefährt in der Garage zu halten, es ständig auf seine Sicherheit hin zu überprüfen – ohne zu fahren –, es unentwegt zu polieren und mit seinem Aussehen zu kokettieren. Der Wert des Gefährtes verliert sich in dem Maß, wie er zum Eigenwert und Selbstzweck wird. Nicht anders verhält es sich mit der Gesundheit. Je mehr sie in den Mittelpunkt des Bewusstseins gerät, desto schwerer fällt es, ihr Vertrauen entgegenzubringen, desto intensiver sind die Bemühungen, sie mit eigenem Zutun zu erhalten, desto größer die Angst, sie zu verlieren. Doch, Gesundheit um der Gesundheit willen ist sinnlos. Es wundert nicht, dass in Zeiten zunehmender Orientierungslosigkeit und bedrückender Sinnverlorenheit die Gesundheit zum einzigen und wichtigsten Lebensinhalt erhoben wird.

Nachdem nun Gesundheit immer mehr der Eigenregie des Menschen unterstellt ist und sie von der Ideologie des Machbaren und Beeinflussbaren beherrscht wird, gerät die Medizin mehr und mehr in die Abhängigkeit normativer Direktiven und vergleichender Implikationen. Das Gefühl, gesund zu sein, ist demzufolge abhängig von der Bestätigung durch objektivierbare Daten. Gesundheit bedeutet somit Übereinstimmung mit dem Allgemeinen. In die Doktrin des Allgemeinen mischen sich zeittypische Vorstellungen und Träume, die die Gesundheit zum Altarbild überhöhen. Es ist die Vorstellung von ewiger Jugend und bleibender Schönheit. Dies ist dann der letzte Beleg dafür, dass sich aus der Lebenssinnlosigkeit Verhaltenszwänge generieren, die über die entstandene Leere hinwegtäuschen sollen. Sinnlosigkeit sucht immer den Schutz im Allgemeingültigen. Konsequenterweise gerät die individuelle, die sprechende Medizin gegenüber der sprachlosen, normativen Verwaltungsmedizin zunehmend ins Hintertreffen.

Das Beispiel des Gefährtes sollte die Bedeutung und die Funktion der Gesundheit für den Menschen verdeutlichen und nicht zuletzt auf den Tatbestand der jeweils von Mensch zu Mensch unterschiedlichen Ausstattung aufmerksam machen. Dieser Vergleich beinhaltet jedoch auch den Umstand, dass dieses Gefährt trotz Fürsorge und Pflege zeitlich nicht unbegrenzt zur Verfügung steht. Wie lange es der Mensch zur Verfügung hat, weiß er nicht. Dass das Leben begrenzt und jeweils von unterschiedlicher Dauer ist, entspricht dem Lebensgesetzt der Realität, der die Vergänglichkeit immanent ist. Schöpfung aber, als Idee und Sinn des Lebens, ist mehr als nur Realität, mehr als nur ein Komplex aus Zeit und Materie. Es macht wenig Sinn, die Gesetze des Lebens zu hinterfragen und Überlegungen über das Zeitliche hinaus anzustellen. Es wird notwendig sein, mit dem Geheimnis zu leben, die Gesetze zu akzeptieren und dem Leben zu vertrauen. Dies allein schon aus der Erfahrung, dass es immer wieder dem Bedürfnis des Menschen entspricht, die sich hinter der Realität verbergende Wahrheit zu deuten und zu definieren, dass es aber für die Welt keineswegs von Vorteil ist, wenn sich einzelne Menschen im Besitz der Wahrheit wähnen. In der Hand des Menschen wird Wahrheit zur Unwahrheit. Es ist keineswegs gerechtfertigt, das Gesetz von der Vergänglichkeit in der Realität auf die Idee des Lebens als das Gesamtwerk der Schöpfung zu übertragen. Eben dies aber ist der Entscheidung jedes Menschen vorbehalten, sich ausschließlich in der Realität aufzuhalten oder aber, sich dem Leben anzuvertrauen. Eines jedoch wird dem Realisten nicht gelingen, die Gesetze der Realität außer Kraft zu setzen. So sind der Machbarkeit des Menschen Grenzen gesetzt und kein Mensch ist nur deshalb älter geworden, weil er es sich vorgenommen hat.

Denkt man an das Leben in der Schöpfung, dann ist die Länge des Aufenthaltes in der Realität nicht von oberster Wichtigkeit. Für den Realisten hingegen bedeutet die Realität alles, obwohl er weiß, dass sein Dasein begrenzt ist. Es wird deutlich, dass der Sinn und die Erfüllung des menschlichen Daseins wesentlich von der Einstellung zum Leben als der eigentlichen treibenden und tragenden Kraft abhängen. So wird die inhaltliche Gestaltung wichtiger als die Dauer, die Akzeptanz wichtiger als die Flucht in die Illusion, die Wahrnehmung der Pflicht wichtiger als die Verliebtheit in das eigene Wollen. Einen Baum zu pflanzen ist wichtiger als die Früchte von zwei Bäumen zu ernten. Die Gefahr des Menschen ist die, dass er sich als unabhängig Denkender und Handelnder nicht als Teil des Lebens betrachtet sondern als Souverän, als unabhängiger Verwalter seines Daseins. Statt seine Fähigkeiten in den Fortgang des Lebens einzubringen und sich auf die Erfordernisse des gemeinschaftlichen Lebens einzustellen, nützt und organisiert er die Verhältnisse seines zeitlich begrenzten Daseins nach seinem Dafürhalten und zu seinen Gunsten. Dabei bedient er sich derjenigen Mittel, die ihm die Realität zur Verfügung gestellt hat. Der Mensch verlässt die Einheit des Lebens und macht sich zum Organisationsmittelpunkt. Dadurch, dass er sich bei seinem Streben ausschließlich auf die Realität bezieht, konzentriert sich sein Denken so sehr auf sie, dass ihm seine Vergänglichkeit zur einzigen Wahrheit werden muss, Es ist der Mensch selbst, der sich schließlich gegen die Kontinuität des Lebens für die Vergänglichkeit seines eigenen Daseins entscheidet.