Über das Buch:

 

Jack Griffin wollte niemals werden wie seine Eltern. Seit dreißig Jahren ist er verheiratet, hat eine wohlgeratene Tochter und wurde nach seiner Karriere als Hollywood-Drehbuchautor Professor an einem kleinen College im Nordosten. Doch nun ist er Mitte fünfzig und erkennt, dass ihn die Lebensmuster seiner wunderbar scheußlichen Eltern längst eingeholt haben.

Der Pulitzer-Preisträger Richard Russo, der in den USA schon seit Langem zu den bedeutenden Schriftstellern zählt, zeigt in seinem facettenreichen Roman, dass wir den Rollenbildern, denen wir zu entfliehen suchen, niemals ganz entkommen: Wir wiederholen sie – oder verkehren sie in ihr Gegenteil. ›Diese alte Sehnsucht‹ führt ebenso unterhaltsam wie kunstvoll vor, dass Familie dort ist, wo uns das Schlimmste, aber auch das Beste geschieht.

 

 

Über den Autor:

 

Richard Russo wurde 1949 in Johnstown, New York, geboren. Er studierte Philosophie und Creative Writing und lehrte an verschiedenen amerikanischen Universitäten. Seit der Verfilmung seines Romans ›Nobody’s Fool‹, mit dem er bekannt wurde und an dessen Fortsetzung er derzeit arbeitet, ist er freier Schriftsteller. Für ›Empire Falls‹ erhielt er 2002 den Pulitzer Prize. Russo lebt mit seiner Familie in Boston und an der Küste Maines. ›Diese alte Sehnsucht‹ ist sein achtes Buch.

 

 

Über den Übersetzer:

 

Dirk van Gunsteren studierte Amerikanistik und ist seit 1984 Übersetzer und freiberuflicher Redakteur. Er übersetzte u. a. Bücher von V. S. Naipaul, John Irving, Philip Roth und Edward St Aubyn. Er wurde mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt Preis ausgezeichnet.

Richard Russo

DIESE ALTE SEHNSUCHT

Roman

Aus dem Englischen

von Dirk van Gunsteren

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Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel  

›That Old Cape Magic‹ bei Alfred A. Knopf, New York

Copyright © 2009 by Richard Russo

eBook 2010

© 2010 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Dirk van Gunsteren

Umschlag: Zero, München

ISBN eBook: 978-3-8321-8541-1

Für Barbara, immer

Teil 1

CAPE COD

(Erste Hochzeit)

1

EIN SCHÖNERER ORT

Jack Griffin war mit einem Mal hellwach, und obwohl der Digitalwecker auf dem Nachttisch seines Hotelzimmers 5:17 zeigte, wusste er, dass er nicht wieder einschlafen würde. Er war gestern Abend zu früh zu Bett gegangen. Mit dem Erwachen, in der einsamen Finsternis vor Tagesanbruch, kam die unangenehme Erkenntnis, dass das, was er gestern nicht einmal sich selbst hatte eingestehen wollen, jetzt nur allzu klar vor ihm stand. Er hätte seinen Unwillen hinunterschlucken und den einen Tag auf Joy warten sollen.

Es war zu ihrer festen Gewohnheit geworden, sofort nach Griffins letzter Seminarsitzung vom Campus zu fliehen. Gewöhnlich nahmen sie die »Straße der Freiheit« (wie er die I-95 nannte), fuhren nach New York und gönnten sich ein gutes Hotel. Tagsüber machte er sich dann über den kleinen Stapel Portfolios seiner Studenten her, während Joy einkaufte oder sich anderweitig vergnügte, und abends sahen sie sich die Filme an, die sie zuvor verpasst hatten, und gingen in Restaurants. Es erinnerte ihn an die ersten Jahre ihrer Ehe damals in L.A. und kostete ein kleines Vermögen, aber Geld auszugeben, das sie eigentlich nicht hatten, machte ihn irgendwie optimistisch, dass noch mehr Geld hereinkommen würde – so war es in L.A. gewesen –, und es half ihm bei der Durchsicht der Portfolios.

Dieses Jahr hatte Kelseys Cape-Cod-Hochzeit ihnen einen gründlichen Strich durch die Rechnung und New York zu einem unpraktischen Umweg gemacht – allerdings hätte er sich auch mit Boston zufrieden gegeben. Aber Joy hatte angenommen, dass der übliche Zeitplan wegen der Hochzeit ohnehin nicht mehr galt, und die Dinge weiter kompliziert, indem sie einige Termine auf den Tag nach seiner letzten Seminarsitzung gelegt hatte. »Dann fahr doch einfach schon mal«, hatte sie gesagt, als er seinem Unmut darüber Luft gemacht hatte. »Mach dir einen schönen Männerabend in Boston. Wir treffen uns dann am Cape.« Er hatte diesen Vorschlag mit zusammengekniffenen Augen erwogen. Musste man für einen Männerabend nicht zu mehreren sein? Oder hatte Joy es singularisch gemeint: als Bezeichnung für einen Abend, an dem ein Mann sein Mann-Sein zelebrierte? Hatte sie diesen Ausdruck schon ihr Leben lang so – also singularisch – verstanden? Joys Beziehung zur englischen Sprache war nicht unproblematisch. Ständig vermischte sie Metaphern und behauptete etwa, jemand habe »mehrere Eisen im Ärmel«. Trümpfe im Ärmel? Eisen im Feuer? Bei ihren Schwestern Jane und June war es noch schlimmer, und wenn man sie korrigierte, machten alle drei gefährlich schmale Augen. Hätten sie so etwas wie ein Familienmotto gehabt, so hätte es gelautet: Du weißt genau, was ich meine.

Jedenfalls hatte der Vorschlag seiner Frau, er solle doch allein vorausfahren, sehr unaufrichtig geklungen, und das war dann auch der Grund gewesen, warum er ihn angenommen hatte. »Na gut«, hatte er gesagt, »das werde ich tun« und eigentlich damit gerechnet, dass sie sagen würde: Wenn es dir so viel bedeutet, verschiebe ich die Termine. Doch sie hatte es nicht gesagt, nicht einmal, als er seine Reisetasche gepackt hatte, und so hatte er eine Wahrheit entdeckt, die andere Männer vermutlich längst kannten: Wenn man erst einmal vor den Augen einer Frau eine Tasche gepackt hatte, war es weder möglich, sie wieder auszupacken, noch mitsamt der verdammten Tasche zu gehen.

Schlimmer noch: Joy, die Filme lieber auf DVD sah als im Kino – für das sie doch eigentlich gemacht waren –, hatte ihm eine Liste von Filmen mitgegeben, die er sich auf keinen Fall ohne sie ansehen durfte, und natürlich waren das die einzigen, die sich lohnten.

Er verbrachte eine Stunde damit, sich die Restaurantbroschüren durchzulesen, die in seinem Hotelzimmer lagen, konnte sich aber nicht einmal entscheiden, was er eigentlich essen wollte. Wenn Joy dabei war, bereitete Griffin diese Art von Entscheidungen keinerlei Schwierigkeiten, aber sobald es nur um ihn selbst ging, konnte er sich zu nichts entschließen. Er sagte sich zwar, daran seien eben dreißig Jahre Ehe schuld: Das Wissen, was seiner Frau gefiel, war Teil des Entscheidungsprozesses. Okay, aber er ertappte sich immer häufiger dabei, dass er entschlusslos mitten im Zimmer stand, und er wusste, dass dies die typische Pose seines Vaters gewesen war. Schließlich hatte Griffin etwas beim Zimmerservice bestellt und sich einen hirnlosen Fernsehfilm angesehen, einen von der Sorte, wie er und Tommy, sein Partner, sie in den letzten zwei Jahren in L.A. hatten schreiben müssen, bevor man Griffin diesen Collegejob angeboten hatte und er mit Joy und ihrer Tochter Laura in den Osten gezogen war. Überzeugt, dass er nicht nur das Ende des Films, sondern auch die Hälfte der Dialoge voraussagen konnte, war er noch vor der ersten Werbepause eingeschlafen.

Um die gestrigen Fehler nicht zu wiederholen, beschloss er, den Tag in Schwung zu bringen, indem er die Rezeption anrief und seinen Wagen vorfahren ließ. Zwanzig Minuten später hatte er geduscht, sich angezogen und aus dem Hotel an der Back Bay ausgecheckt. Ganz Boston hatte in seinem Rückspiegel Platz, und als die Sagamore Bridge, eine der beiden Brücken über den Cape Cod Canal, in Sicht kam, zeigte sich im Osten ein Silberstreif am Horizont. Er spürte, dass die letzten Reste seines Zögerns und Zauderns von ihm wichen wie die Nebelschwaden, durch die er gefahren war, seit er die Stadt verlassen hatte. Der Bogen der Sagamore Bridge wölbte sich in der Mitte dramatisch empor und half der Sonne über den Horizont, und obwohl es viel zu kühl war, fuhr Griffin auf den Seitenstreifen, klappte das Cabrioverdeck auf und fühlte sich zum ersten Mal, seit er in Connecticut losgefahren war, frei und ungebunden. Es war irgendwie aufregend, nicht dort zu sein, wo seine Frau ihn vermutete. Sie wusste gern, was andere vorhatten, und das galt nicht nur für ihn. Meistens rief sie morgens Laura an, die dann noch vom Schlaf umflort war, und fragte sie: »Also … was machst du heute?« Sie telefonierte auch mehrmals pro Woche mit ihren beiden Schwestern und wusste, dass June morgen zum Friseur gehen wollte und dass Jane fünf Pfund zugenommen hatte und jetzt eine Diät machte. Sie wusste sogar, was für einen Unsinn ihre beiden idiotischen Zwillingsbrüder Jared und Jason gerade wieder ausheckten. Für Griffin, ein Einzelkind, war dieses Verhalten weit jenseits der Grenze, die das lediglich Unerklärliche vom wirklich Perversen trennte.

Griffin brauste auf der Route 6 dahin und merkte, dass er »That Old Black Magic« vor sich hin summte, den Song, den seine Eltern jedes Mal, wenn sie über die Sagamore Bridge gefahren waren, voller Ironie gesungen und dabei »black« durch »Cape« ersetzt hatten – beide waren Universitätsprofessoren für englische Literatur gewesen und hatten das meiste, was sie taten und sagten, mit Ironie unterlegt. Daran, wo und wann sie Urlaub machten, hatte er immer ablesen können, wie das Jahr in finanzieller Hinsicht gewesen war. In einem besonders guten Jahr hatten sie für den ganzen August ein kleines Haus in Chatham gemietet, in einem anderen, in dem die Dozentengehälter eingefroren worden waren, hatte es nur für Sandwich im Juni gereicht. Seine Eltern waren weniger miteinander als vielmehr mit einem Gefühl der Erbitterung verheiratet gewesen, weil sie jedes Jahr elf Monate im Exil des »Scheiß-Mittelwestens« hatten verbringen müssen – ein Wort, das nicht ausgesprochen, sondern ausgespien wurde. Sie hatten gute akademische Karrieren gemacht, wenn auch nicht die kometenhaften, die man ihnen angesichts ihrer Abschlüsse an Eliteuniversitäten prophezeit hatte. Beide waren im Industriegebiet im Westen des Bundesstaates New York aufgewachsen – seine Mutter in einem Vorort von Rochester, sein Vater in Buffalo –, Kinder der unteren Mittelschicht, die Väter Angestellte. In Cornell, wo beide ein Stipendium hatten, lernten sie nicht nur einander kennen, sondern auch Freunde, die sie an Feiertagen zu ihren Familien in Westchester und Wellesley und in den Sommerferien in die Hamptons oder auf das Cape einluden. Sie sagten ihren Eltern, dass sie dort mit irgendwelchen Ferienjobs mehr Geld verdienen könnten, was ja auch stimmte, aber in Wirklichkeit hätten sie alles getan, um nicht in ihre deprimierenden Elternhäuser in der Provinz zurückkehren zu müssen. In Yale, wo sie ihr Hauptstudium absolviert hatten, waren sie zu der Überzeugung gekommen, dass sie für Forschungsprofessuren an einer der anderen berühmten Universitäten bestimmt waren. Doch dann hatte sich der Markt für Akademiker nach Süden verlagert und sie mussten nehmen, was sie kriegen konnten (wobei die Auswahl für Ehepaare noch kleiner war), und das war eine riesige staatliche Uni in Indiana gewesen.

Betrogen. So fühlten sie sich. Warum in Cornell und Yale studieren, wenn der Lohn dafür Indiana war? Es blieb ihnen nicht viel anderes übrig, als sich damit abzufinden und das Beste aus ihrem schlechten Timing zu machen, und so stürzten sie sich in Lehre und Forschung und Kommissionsarbeit, in der Hoffnung, ihre Lebensläufe zu unterfüttern, damit sie bereit wären, wenn der akademische Wind umschlug. Sie fürchteten, dass es für Princeton und Dartmouth endgültig zu spät war, aber damit blieben noch die Swartmores und Vassars dieser Welt als sichere, wenn auch nicht furchtbar aufregende Häfen. Das wenigstens stand ihnen doch wohl zu. Und tatsächlich hatten sie, bevor sie dann feste (oder vielmehr, wie sie es nannten, »lebenslängliche«) Professuren im Scheiß-Mittelwesten annahmen, Angebote bekommen – sie in Amherst, er in Bowdoin –, aber immer nur einzeln, nie gemeinsam. So verharrten sie also auf ihren Posten und in ihrer Ehe, stets in der Angst, wie Griffin inzwischen vermutete, der andere könnte, wäre er dieser Fesseln ledig, fliehen und die Art von akademischer Position (einen mit Stiftungsgeldern finanzierten Lehrstuhl!) erlangen, die das Unglück des verlassenen Partners vollkommen machen würde. Um diese unglücklichen Lebensumstände erträglicher zu machen, hatten beide Affären und taten, als wären sie zutiefst verletzt, wenn diese ans Licht kamen. Sein Vater war ein echter Serienseitenspringer gewesen, während seine Mutter sich lediglich weder in diesem noch in irgendeinem anderen Punkt hatte übertreffen lassen wollen.

Als Kind und unfreiwilliger Zeuge der zahllosen Zankereien seiner Eltern hatte Griffin gedacht, er sei der Grund, warum sie zusammenblieben. Es war seine Mutter, die ihn schließlich von dieser bizarren Vorstellung befreite. Übrigens auf der Hochzeit von ihm und Joy. Bis dahin hatten sich die beiden endlich scheiden lassen – auch Gehässigkeit hielt offenbar nicht ewig –, und seine Mutter hatte das Wettrennen zur Wiederverheiratung knapp gewonnen. In einer ökumenischen Anwandlung hatte sie sich außerhalb des Lehrstuhls für Englisch nach ihrem zweiten Mann umgesehen, einem Philosophieprofessor namens Bart, den sie binnen Kurzem in »Bartleby« umtaufte. Während des Empfangs hatte sie Griffin, schon etwas angetrunken, versichert: »Du lieber Himmel, nein, das warst nicht du. Was uns zusammengehalten hat, war der Zauber von Cape Cod. ›That Old Cape Magic‹ – weißt du noch, wie wir das jedes Jahr auf der Sagamore gesungen haben?« Sie hatte sich an Bartleby gewandt. »Ein herrlicher Monat, jeden Sommer. Sonne. Sand. Wasser. Gin. Gefolgt von elf Monaten Elend.« Dann wieder zu Griffin: »Aber das gilt für die meisten Ehen, wie du wohl feststellen wirst.« Der letzte Halbsatz sollte natürlich vermitteln, dass seine eigene Ehearithmetik in ihren Augen etwa genauso aussehen würde. Einen Augenblick lang schien es, als wollte Bartleby eine eigene Meinung äußern, doch dann entschloss er sich offenbar, es lieber nicht zu tun und nur bedeutungsvoll zu seufzen.

Griffin war im Begriff, etwas zu antworten, als sein Vater mit Claudia, seiner ehemaligen Studentin und neuen Frau, zurückkehrte. Die beiden waren nach der Trauung kurz verschwunden, um zu streiten oder zu vögeln – Griffin wusste es nicht. »Ich schwöre bei Gott«, sagte seine Mutter, »wenn er diesem Miezlein ein Haus auf dem Cape – und ich meine irgendwo auf dem Cape – kauft, werde ich ihn umbringen müssen.« Bei diesem angenehmen Gedanken hellte ihr Gesicht sich auf. »Da könntest du dich als nützlich erweisen«, sagte sie zu Bartleby und wandte sich dann wieder an Griffin. »Dein Stiefvater sammelt Geschichten über Mordfälle in verschlossenen Räumen. Tod durch Curare und so weiter. Da fällt dir doch bestimmt was ein, oder? Du musst es nur so einrichten, dass ich für alle im Wohnzimmer gut zu sehen bin, wenn die fette Kuh umfällt und sich in unaussprechlichen Schmerzen windet.« Sie wusste natürlich genau, dass Griffins Vater nicht das Geld hatte, um Claudia (die eher mollig als fett war) oder irgendjemand anderem ein Haus auf dem Cape zu kaufen. Dafür hatte sie mit einer Scheidungsvereinbarung gesorgt, die ihm das Fell über die Ohren gezogen hatte, doch allein schon die Möglichkeit – etwa ein Lottogewinn? – bereitete ihr offenbar Sorgen.

Griffin war jetzt fünfundfünfzig, etwa so alt wie seine Eltern waren, als er und Joy geheiratet hatten, und die Namen der Orte auf dem Cape hatten noch immer etwas Verzauberndes: Falmouth, Woods Hole, Barnstable, Dennis, Orleans, Harwich. Sie machten ihn wieder zu einem Jungen und setzten ihn auf den Rücksitz des elterlichen Wagens, wo er einen großen Teil seiner Kindheit verbracht hatte: nicht angeschnallt, die Unterarme auf die Rückenlehne der Vordersitze gelegt, bestrebt zu hören, was sie, die nie den Versuch machten, ihn in ihre Gespräche einzubeziehen, sagten. Er interessierte sich eigentlich gar nicht für das, was sie besprachen, spürte aber, dass dort vorn Entscheidungen getroffen wurden, die ihn betrafen, und er, wenn er von den im Entstehen begriffenen Plänen wusste, eine Meinung äußern konnte. Leider schien die Tatsache, dass er das Kinn auf seine Hände legte, eben dies zu verhindern. Das meiste von dem, was er hörte, war ohnehin nicht der Mühe wert. »Wellfleet«, sagte seine Mutter und sah in den Straßenatlas. »Warum haben wir es da noch nie probiert?« Als Griffin im ersten Jahr auf der High School war und sie ihren letzten gemeinsamen Sommerurlaub dort verbrachten, hatten sie schon praktisch überall auf dem Cape gewohnt. Jedes Mal, wenn sie dem Makler am Ende ihres Aufenthaltes den Schlüssel zurückgaben und er sie fragte, ob sie das Haus für den nächsten Sommer reservieren wollten, antworteten sie mit Nein, weswegen Griffin sich manchmal fragte, ob das ideale Haus, das sie suchten, überhaupt existierte. Vielleicht, schloss er, ging es ihnen um das Suchen an sich.

Während er frei und unbeaufsichtigt, voll jugendlichen Bewegungsdrangs, am Strand herumtollte, verbrachten seine Eltern sonnige Nachmittage damit, im Sand zu liegen und sich ihren »verbotenen Freuden« zu widmen – Büchern, deren bloße Titel zu kennen sie ihren Kollegen gegenüber nie zugegeben hätten. Schließlich, behaupteten sie, hatten sie Urlaub, nicht nur vom Scheiß-Mittelwesten, sondern auch vom literarischen Kanon, den zu ehren sie geschworen hatten. Seine Mutter bevorzugte düstere, bedrückende Kriminalromane und zynische Agentengeschichten. »Das«, sagte sie, wenn sie mit offensichtlicher Befriedigung die letzte Seite umblätterte, »war richtig schräg.« Sein Vater wechselte zwischen literarischer Pornografie und P. G. Wodehouse, als gehörten Naked Lunch und Ein Lord in Nöten zusammen.

Das Einzige, was beide lasen – ja sie studierten die Broschüre so intensiv wie die jährliche Auflistung der Stellenangebote der Modern Language Association –, war der örtliche Immobilienanzeiger. Da bei der Lektüre keiner dem anderen den Vortritt lassen wollte, nahmen sie sich gleich nach der Ankunft zwei Exemplare und schrieben ihre Namen auf das Titelblatt, damit man wusste, wem das Heft gehörte und wer schuld war, wenn es verloren ging. Ein Haus auf dem Cape gehörte zu dem langfristigen Zweistufenplan für ihre Flucht aus dem Scheiß-Mittelwesten. Zunächst würden sie richtige Stellen an der Ostküste ergattern und eine passende Wohnung mieten. Das würde es ihnen ermöglichen, Geld für ein Haus auf dem Cape zu sparen, wo sie die Sommer, die Feiertage und gelegentlich ein langes Wochenende verbringen könnten, bis sie in den Ruhestand – wenn irgend möglich den Vorruhestand – treten und ständig dort leben würden. Dann würden sie lesen, Artikel schreiben und sich vielleicht sogar an einem Roman versuchen.

Gewöhnlich dauerte es nur einen Tag, bis sie die Hunderte von Anzeigen durchgeackert und in zwei Kategorien eingeteilt hatten: »Können wir uns nicht leisten« und »Möchte ich nicht geschenkt haben«. Dann warfen sie die Broschüren angewidert in eine Ecke, weil alles noch teurer geworden war als im letzten Jahr. Doch schon am nächsten Tag legte Griffins Vater seinen Jeeves beiseite und riskierte einen zweiten Blick. »Seite siebenundzwanzig«, sagte er dann, und Griffins Mutter klappte ihren Ripley zu und kramte in ihrer Strandtasche nach dem Heft. »Lass mich erklären«, fuhr er fort oder: »Da müsste vorher natürlich noch einiges klappen« – womit er einen saftigen Bonus oder einen neuen Buchvertrag meinte –, »aber …« Und dann führte er aus, warum einige der Angebote, die sie am Tag zuvor so rasch verworfen hatten, vielleicht doch nicht so schlecht waren. Später, an einem Regentag, gingen sie vielleicht sogar so weit, sich ein, zwei Häuser vom unteren Ende der Können-wir-uns-nicht-leisten-Kategorie anzusehen, doch die Makler sahen immer schon auf den ersten Blick, dass Griffins Eltern keine ernsthaften Interessenten waren. Das Haus, das sie sich wünschten, lag in einer Zukunft, die nur sie zu sehen vermochten. Für Leute, die hauptsächlich mit Träumen handelten, bemerkte sein Vater gern, waren Immobilienmakler erstaunlich unromantisch – wie Croupiers in einem der Casinos von Las Vegas.

Die Rückfahrt in den Scheiß-Mittelwesten war immer brutal. Seine Eltern sprachen kaum miteinander, als wären ihnen plötzlich die Seitensprünge des vergangenen Jahres wieder eingefallen oder als dächten sie darüber nach, mit wem sie es in diesem Jahr treiben sollten. Bei Griffins Eltern standen Immobilien auf der Skala der Leidenschaften deutlich höher als Sex.

Griffin beschloss, der Route 6 bis Provincetown zu folgen, dort ein spätes Frühstück einzunehmen und dann auf der gewundenen 28 zum anderen Ende des Capes zu fahren. Er fragte sich, ob diese Straße noch immer von Flohmärkten gesäumt sein würde wie in seiner Kindheit. Sein Vater, ein überzeugter Anhänger der Demokraten und eifriger Sammler von Wahlkampfbuttons, konnte nie an einem vorbeifahren, ohne anzuhalten und nachzusehen, ob er nicht vielleicht tief in irgendeiner Pappschachtel einen alten Wendell-Wilkie-Anstecker fand, dessen wahren Wert sein Besitzer nicht kannte. Buttons und Aufkleber der Republikaner waren eine weitere verbotene Freude. »Alle Freuden deines Vaters sind verboten«, behauptete seine Mutter, »und das mit Recht.« Auf der Route 28 würde Griffin natürlich doppelt so lange brauchen, aber er hatte es ja nicht eilig. Joy würde erst am Abend, wahrscheinlich am späten Abend, kommen, und je früher er in der Frühstückspension eintraf, wo sie ein Zimmer reserviert hatte, desto früher würde er sich verpflichtet fühlen, den Kofferraum des Cabrios zu öffnen, der nicht nur seinen Koffer und die prall gefüllte Aktentasche enthielt, sondern auch eine Urne mit der Asche seines Vaters, die er an diesem Wochenende versprochen hatte zu verstreuen. Er war sich nicht sicher, ob es erlaubt war, kremierte mittelwestliche Akademiker an der Küste von Massachusetts zu entsorgen, und hätte gern Joy zur moralischen Unterstützung (und zum Schmierestehen) dabeigehabt. Aber wenn er zufällig eine hübsche, ruhige, abgelegene Stelle fand, würde er es vielleicht auch allein tun. Verdammt, vielleicht würde er die Portfolios gleich hinterherwerfen – der Gedanke ließ ihn lächeln.

Am Horizont erschien gerade das Pilgrim Monument, als sein Handy im Getränkehalter vibrierte. Er fuhr auf den Seitenstreifen, um den Anruf anzunehmen. Seit dem Tod seines Vaters vor neun Monaten hatte er mehrere kleine, aber teure Blechschäden gehabt, und so erschien es ihm sicherer, anzuhalten, anstatt zu fahren und gleichzeitig zu telefonieren, auch wenn der Seitenstreifen schmaler war, als er gehofft hatte. Ein Lastwagen donnerte bedrohlich nah vorbei, aber danach kam kein Fahrzeug mehr. Er würde sich eben kurz fassen müssen.

Er nahm an, dass es Joy war, die ihn um diese Zeit anrief, doch er täuschte sich. »Wo bist du?«, wollte seine Mutter wissen. In letzter Zeit machte sie sich nicht mehr die Mühe, ihn zu begrüßen oder ihren Namen zu sagen. Ihrer Meinung nach hatte er gefälligst zu wissen, wer da am Apparat war, und da sie stets verärgert klang und auf jede Einleitung verzichtete, wusste er es meist auch.

»Mom«, sagte er, keineswegs darauf erpicht, seinen gegenwärtigen Aufenthaltsort zu offenbaren. »Ich hab gerade an dich gedacht.« Eine einzelne Möwe, die vielleicht glaubte, er habe angehalten, um etwas zu essen, kreiste über ihm und stieß einen durchdringenden Schrei aus. »Eigentlich an euch beide, dich und Dad.«

»Ach«, sagte sie, »an ihn.«

»Soll ich nicht an Dad denken?«

»Denk doch, an wen du willst«, sagte sie. »Wann hab ich je versucht, in deinen Gedanken herumzuschnüffeln? Dein Vater und ich waren uns vielleicht über nicht viel einig, aber wir haben deine intellektuelle und emotionale Privatsphäre immer respektiert.«

Griffin seufzte. Inzwischen kam seine Mutter selbst bei seinen freundlichsten Bemerkungen in Fahrt, und dann war es das Beste, sie einfach ausreden zu lassen. Ihr angeblicher Respekt vor seiner Privatsphäre war, wie er nur zu gut wusste, in erster Linie Desinteresse gewesen, aber es lohnte nicht, sich darüber zu streiten.

»Ich mache mir meine eigenen Gedanken, darauf kannst du dich verlassen«, fuhr sie fort und deutete, wenn er sich nicht täuschte, an, dass er lieber gar nicht wissen wollte, wie diese aussahen. »Und die reichen mir voll und ganz. Ich kann mir nicht vorstellen, wieso dein Vater in deinen Gedanken vorkommen sollte, aber wenn er es tut, will ich mich nicht einmischen.«

Die kreisende Möwe schrie abermals, diesmal noch lauter, und Griffin deckte das Mikrofon kurz mit der Hand ab. »Rufst du aus einem bestimmten Grund an, Mom?«

Doch sie musste den blöden Vogel gehört haben, denn sie sagte mit einer Stimme, die von Missmut und Vorwürfen nur so triefte: »Bist du etwa auf dem Cape

»Ja, Mom«, gestand er. »Wir sind hier morgen zu einer Hochzeit eingeladen. Warum? Sollte ich dir Bescheid gesagt haben? Dich um Erlaubnis gebeten haben?«

»Wo?«, fragte sie. »In welchem Teil?«

»In der Nähe von Falmouth«, konnte er zu seiner Erleichterung antworten. Das obere Ende des Capes war in ihren Augen ausschließlich für Leute, die es nicht besser wussten. Ebenso gut konnte man in Buzzards Bay wohnen, Gokart fahren, Minigolf spielen, mit Mehl gebundene Muschelsuppe essen und eine Red-Sox-Mütze tragen.

»Eine Hochzeit«, knurrte sie. Offenbar war das, was er gesagt hatte, gerade erst zu ihr durchgedrungen. »Wie töricht.«

»Du warst doch selbst zweimal verheiratet, Mom.«

Als Bartleby vor einigen Jahren gestorben war, hatte sie gehofft, es könnte etwas für sie herausspringen, vielleicht wenigstens genug, um ein Häuschen in der Nähe der Dennisses zu kaufen. Doch eine unwiderrufliche Treuhandverfügung ermöglichte es seinen gierigen Kindern, alles unter sich aufzuteilen, was sie dann auch schamlos getan hatten.

Eines von ihnen hatte die Stirn gehabt, zu ihr zu sagen: »Du hast unserem Vater seine letzten Jahre zur Hölle gemacht.« Worauf sie Griffin gefragt hatte: »Hast du je einen solchen Unsinn gehört? Haben die diesen Mann überhaupt gekannt? Glauben die vielleicht, er ist je glücklich gewesen? Gab es jemals einen Philosophen, der nicht verdrießlich und deprimiert war?«

»Die Braut ist Kelsey«, sagte Griffin. »Aus L.A., du erinnerst dich?«

»Warum sollte ich eure Freundinnen aus Kalifornien kennen?« Das war keine unschuldige Frage. Sie gab es nicht zu, aber sie war noch immer verärgert, weil er und Joy und dann Laura jahrelang an der Westküste gelebt hatten, außerhalb ihres Gravitationsfeldes. Und dass er Drehbücher schrieb, hatte sie immer als einen Verrat an seinen ererbten Begabungen betrachtet.

»Nicht unsere Freundin. Lauras Freundin.« Obgleich es, wenn er darüber nachdachte, durchaus möglich war, dass die beiden sich nie begegnet waren. Griffins Grundsatz war schon immer gewesen, weder seine Frau noch seine Tochter mit seinen Eltern zu behelligen – Laura hatte ihre Großmutter eigentlich erst kennengelernt, als die Familie zurück in den Osten gezogen war.

»Wie sieht es aus?«

»Wie sieht was aus?«

»Das Cape. Du hast mir doch gerade gesagt, du bist auf dem Cape, also frage ich dich, wie es da aussieht.«

»Wie immer wahrscheinlich«, sagte er und hatte nicht vor, ihr zu verraten, dass sein Herz beim Anblick der Sagamore Bridge schneller geschlagen hatte und dass er noch immer etwas liebte, das sie und ihr verhasster Mann ebenfalls liebten.

»Wie ich höre, ist es inzwischen viel zu überlaufen. Ich glaube, wir haben es in der besten Zeit erlebt. Du und ich und der Mann, der in deinen Gedanken vorkommt.«

»Weswegen rufst du noch mal an, Mom?«

»Na gut«, sagte sie, »wechseln wir das Thema. Du musst mir ein paar Bücher bringen, die Titel schicke ich dir per E-Mail. Du wirst mich doch irgendwann mal besuchen? Oder ist es damit jetzt vorbei?«

»Sind das Bücher, die ich irgendwo auftreiben kann? Sind sie zum Beispiel lieferbar, oder schickst du mich wieder mal umsonst los?« Seit Bartlebys Tod war Griffin der Mann im Leben seiner Mutter geworden, und nichts bereitete ihr mehr Vergnügen, als ihn vor unmögliche Aufgaben, vorzugsweise akademischer Art, zu stellen, die er mit Leichtigkeit hätte lösen können, wenn er nur den Weg eingeschlagen hätte, den sie ihm vorgezeichnet hatte, anstatt das zu tun, was er selbst sich in den Kopf gesetzt hatte.

»Wenn du etwas nicht finden kannst, um das ich dich gebeten habe, heißt das doch nicht, dass ich dich umsonst losgeschickt habe. Du gehörst zu einer Generation, die nicht mal die Grundlagen der Kunst des Recherchierens gelernt hat und sogar mit einem Kartenkatalog überfordert ist.«

»Die gibt’s gar nicht mehr«, sagte er, nur um zu hören, wie sie erschauerte.

Doch das verkniff sie sich. »Du denkst, recherchieren heißt, dass man ein Wort bei Google eingibt und ›Suche‹ drückt.«

Es war etwas Wahres daran, das musste er zugeben. Als er noch Drehbücher geschrieben hatte, waren Recherchen immer an Tommy hängen geblieben, der ein durch und durch neugieriger Mensch war, wenn auch leicht abzulenken. Mit seinem eigenen Unwissen konfrontiert, neigte Griffin dazu, sich einfach etwas auszudenken und weiterzumachen, wogegen sein Partner es vernünftigerweise vorzog, ihre Geschichte auf eine solide, durch Fakten abgesicherte Basis zu stellen. »Du weißt doch: Wenn die Kameras laufen, müssen sie auf etwas gerichtet sein, das in der wirklichen Welt tatsächlich existiert«, hatte er gesagt. Worauf Griffin gewöhnlich erwidert hatte, dass die Kameras nie auf etwas gerichtet sein würden, wenn sie sich weiter mit dem ganzen Hintergrundzeug herumschlagen müssten.

»Die Bücher, die ich brauche, sind in der Sterling Library«, fuhr seine Mutter fort. »Dort genieße ich ja noch immer gewisse Privilegien.«

Es war, wie Griffin wusste, durchaus möglich, dass dies der eigentliche Grund ihres Anrufs war: ihn daran zu erinnern, wer sie war, wer sie gewesen war und dass sie in der Bibliothek von Yale noch immer gewisse Privilegien genoss. Eigentlich brauchte sie diese Bücher vielleicht gar nicht.

»Und dann wären da noch ein paar Artikel aus Zeitschriften. Die kannst du ja einfach fotokopieren. Die Bibliothek bietet zwar einen Fotokopierdienst an, aber es ist billiger, wenn du das erledigst. Ich habe schließlich keinen Geldbaum, wie du weißt.«

Wie er allen Grund hatte zu wissen. Ihre Pension und die von der Universität finanzierte Lebensversicherung deckten nur einen großen Teil der Kosten für das Heim und die Betreuung ab – den Rest bezahlte Griffin.

»Du kannst sie auf dem Weg hierher abholen. Wäre das dann im Juni? Dein bevorstehender Besuch, meine ich«, sagte sie. Offenbar war jeder Widerstand zwecklos.

»Ich kann gegen Ende des Monats für ein paar Tage kommen, wenn du mich brauchst.«

»Vorher nicht?«

»Ich habe noch nicht mal die Semesternoten geschrieben. Mein Kofferraum ist voller Portfolios.« Von Dads Asche ganz zu schweigen, hätte er beinahe hinzugefügt.

»Du liest sie tatsächlich?«

»Hast du deine denn nicht gelesen?«

»Wir hatten keine ›Portfolios‹, dein Vater und ich«, erinnerte sie ihn. »Wir hatten Seminararbeiten. Unsere Studenten haben wissenschaftliche Arbeiten mit Fußnoten geschrieben. Wir haben echte Seminare mit echten Inhalten veranstaltet.« Mit anderen Worten: Ihre metaphorische Kamera war auf etwas gerichtet gewesen, das tatsächlich existierte. »Wir hatten Lektürelisten. Wissenschaftliche Strenge.«

Ein Wagen rauschte vorbei, seine dopplernde Hupe ließ Griffin zusammenzucken. »Bist du sicher, dass ich qualifiziert bin, die Fotokopien zu machen? Was, wenn ich es vermassele?«

»Also, was hast du gedacht … über deinen Vater und mich?«

Für einen Augenblick erwog er ihr zu sagen, er fürchte, wie sein Vater zu werden – das sei es, was hinter den Blechschäden und den Anfällen von Unentschlossenheit steckte. Aber natürlich würde es seine Mutter wütend machen und das Gespräch verlängern, wenn er andeutete, dass er mehr Ähnlichkeit mit seinem Vater habe als mit ihr. »Ich dachte, du wolltest nicht in meinen Gedanken herumschnüffeln, Mom. Hast du nicht eben gesagt, dass meine Gedanken allein meine Sache sind?«

»Das sind sie natürlich. Könntest du es vielleicht trotzdem, als einen persönlichen Gefallen, so einrichten, dass du an deinen Vater und mich separate Gedanken hast?«

»Ich habe nur daran gedacht, wie glücklich ihr immer wart, wenn wir über die Sagamore Bridge gefahren sind, und dass ihr dann ›That Old Cape Magic‹ gesungen habt.« Und wie unglücklich ihr jedes Mal an dieser Stelle wart, wenn wir in die andere Richtung gefahren sind. »Als wäre das Glück mit einem bestimmten Ort verbunden.«

Doch sie hatte keine Interesse an einem Spaziergang durch Erinnerungen. »Da wir gerade von Orten des Unglücks sprechen: Wenn du hier bist, möchte ich, dass du dir den ansiehst, an dem ich neuerdings bin.« Es war das dritte Heim für betreutes Wohnen in ebenso vielen Jahren. Das erste hatte zur Universität gehört und war voller Menschen gewesen, denen sie hatte entkommen wollen. Das zweite war bevölkert mit Bauersfrauen aus dem Scheiß-Mittelwesten, die Agatha Christie lasen und nicht verstehen konnten, warum sie über den Miss-Marple-Krimi, den sie ihr mit den Worten »Das wird Ihnen gefallen – wahnsinnig spannend« anboten, die Nase rümpfte.

»Und ich meine: wirklich ansehen«, fuhr seine Mutter fort. »Es ist jedenfalls nicht das, was wir gedacht hatten.«

»Was hatten wir denn gedacht, Mom?«

»Dass es nett ist«, sagte sie. »Wir hatten gedacht, es würde nett sein.«

Sie verstummte, und die Leitung war tot. Aus Erfahrung wusste er, dass dieses Gespräch ein Schuss vor den Bug gewesen war. Und seine Mutter war auf ihre Weise rücksichtsvoll. Sie hatte ihn noch nie im letzten Monat des Semesters behelligt. Als altgediente Akademikerin wusste sie, wie diese letzten Wochen waren, und verschonte ihn. Danach aber war alles wie sonst. Vermutlich hatte sie – das Timing ihres heutigen Anrufs deutete darauf hin – die Website seines Colleges besucht und wusste, dass sein letztes Seminar vorüber war. Dass es ein Fehler war, ihr zum Geburtstag einen Laptop zu schenken, hatte er schon beim Kauf gewusst, aber im vorigen Heim hatte man ihr vorgeworfen, sie habe ständig den Computer mit Beschlag belegt. Sowie auch einige der männlichen Senioren, eine Behauptung, die sie vom Tisch wischte. »Sieh dir die doch an«, schnaubte sie. »So viel Viagra gibt’s in ganz Kanada nicht.« Obgleich sie, als wollte sie einer intensiven Befragung zu diesem Thema zuvorkommen, zugab, dass es in diesen Altersheimen mehr Sex gab, als man dachte. Viel mehr Sex.

Es war möglich, dass sie tatsächlich Bücher aus der Sterling Library brauchte. Sie war dreiundachtzig und ließ körperlich nach, doch ihr Geist war noch immer klar und wach, und sie behauptete, Recherchen für ein Buch über eine der Brontë-Schwestern anzustellen. (»Du erinnerst dich doch an Bücher? Gebundenes Papier? Viele, viele Seiten? Und Zeilen, die bis an den Rand gehen?«) Er nahm sich vor, ihre Liste durchzugehen und nachzusehen, was es in der Bibliothek seines eigenen Colleges gab.

Als ein Sattelschlepper vorbeidonnerte, bemerkte Griffin einen üblen Geruch und fragte sich, was da durch die Gegend gefahren wurde. Erst als er den Zündschlüssel drehte, sah er den dickflüssigen weißen Fleck auf seinem Hemdärmel. Die Möwe hatte auf ihn geschissen!

Seine Mutter hatte ihn zu einem unbewegten Ziel gemacht, und das war dabei herausgekommen.

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SCHIEFE EBENE

Als seine Eltern sich scheiden ließen und beide behaupteten, sie hätten einander schon zu lange unglücklich gemacht und sich schon viel früher trennen sollen, war Griffin auf der Filmhochschule im Westen und dachte, es sei wahrscheinlich am besten so. Aber keiner von beiden war in der zweiten Ehe aufgeblüht, und auch ihre Karrieren nahmen Schaden. Geeint – jedenfalls im Abstimmungsverhalten – waren sie am Lehrstuhl für Englisch eine nicht zu unterschätzende Größe gewesen, doch getrennt und oft gegeneinander stimmend durfte man sie getrost ignorieren, und ihre schlimmsten Feinde konnten sie ungestraft aufs Korn nehmen. Seiner Mutter schien es anfangs besser zu gehen als seinem Vater. Während ihrer Ehe war sie den jungen Literaturtheoretikern und Kulturkritikern mit unverhohlener Verachtung begegnet, doch nun erfand sie sich neu, wurde Spezialistin für Geschlechterforschung und war eine Zeit lang der Liebling der nachrückenden Generation. Patricia Highsmith, eine ihrer »verbotenen Freuden«, war inzwischen geachtet, und seine Mutter veröffentlichte einige gut platzierte Artikel über sie und zwei, drei andere schwule oder lesbische Autoren und Autorinnen. Podiumsdiskussionen zu Geschlechterfragen waren mit einem Mal große Mode, und in einigen davon führte sie bei regionalen Konferenzen den Vorsitz, wobei sie ihrem großen und größtenteils lesbischen Publikum zu verstehen gab, sie selbst sei, was ihre Sexualität betreffe, ihr Leben lang in Theorie und Praxis nach allen Seiten offen gewesen. Und vielleicht, dachte er, stimmte das ja auch. Bartleby, der zu Beginn ihrer Ehe lieber nicht mit ihr stritt und gegen Ende lieber gar nichts mehr sagte, bewahrte, als man ihm diese Anspielungen hinterbrachte, seine philosophische Ruhe. Griffin hatte angenommen, dass seine Mutter die Abkehr ihres zweiten Mannes von der gesprochenen Sprache übertrieben hatte, doch einige Monate vor seinem unerwarteten Tod (auch zum Arzt zu gehen, war etwas, das Bartleby lieber nicht tat) stattete er den beiden einen kurzen Besuch ab und führte sie zum Essen aus, und die ganze Zeit über sagte der Mann kein einziges Wort. Er schien nicht schlecht gelaunt und lächelte gelegentlich wehmütig über irgendetwas, das seine Frau oder Griffin sagten, aber seine einzige Äußerung, wenn man so wollte, bestand darin, dass er, weil er sich an einem Stück Fleisch verschluckt hatte, dunkelrot anlief, bis ein Ober seine Not bemerkte und ihn per Heimlich-Manöver davon befreite.

Die Neuerfindung seiner Mutter, ein kühner und für eine Weile erfolgreicher Schritt, war allerdings letztlich zum Scheitern verurteilt. Als die Universität, hauptsächlich auf ihr Betreiben hin, eine Abteilung für Geschlechterforschung einrichtete, nahm sie natürlich an, dass man ihr die Leitung übertragen würde, doch stattdessen entschied man sich für eine transsexuelle Professorin, ausgerechnet aus Utah, und das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Fortan unterrichtete sie noch, beteiligte sich jedoch nicht mehr an irgendwelchen Sitzungen und nahm keinerlei Anteil mehr an den Entscheidungen in ihrem Fachbereich. Wenn Griffin sich nicht täuschte, hoffte sie im Stillen, dass die Kollegen ihr Fehlen bemerken und sie bitten würden, doch wieder am akademischen Leben teilzunehmen, doch das geschah nicht. Selbst Bartlebys Tod rief wenig Mitgefühl hervor. Sie publizierte weiterhin, veranstaltete Podiumsdiskussionen und bewarb sich um die Leitung diverser Lehrstühle für Englisch, aber ihre Akte enthielt inzwischen einige Briefe des Inhalts, sie sei zwar eine gute Dozentin und ausgezeichnete Gelehrte, allerdings auch polarisierend und streitlustig. Mit einem Wort: eine Zicke.

Als seine Mutter pensioniert wurde, nahm Griffin trotz schwerer Bedenken die Einladung der Universität zu einem Abschiedsdiner an. (Joy bot sich an, ihn zu begleiten, doch er bestand darauf, ihr das zu ersparen.) In jenem Jahr gab es außergewöhnlich viele Professoren, die in den Ruhestand traten, und jeder bekam Gelegenheit, sich über seine vielen Jahre im Dienste dieser Institution zu verbreiten. Griffin fand es besonders beunruhigend, dass seine Mutter die letzte Rednerin war. Möglicherweise hatten die Planer dieses Diners die besten, renommiertesten Emeritierten ans Ende der Rednerliste gesetzt, doch wahrscheinlicher war, dass sie seine dunklen Vorahnungen geteilt hatten und diese Maßnahme eine Art Schadensbegrenzung darstellte. Als sie schließlich an der Reihe war, erhob seine Mutter sich unter höflichem Applaus und trat ans Rednerpult. Dass sie ein teures, gut geschnittenes Kostüm trug, vergrößerte die allgemeine Besorgnis. »Im Gegensatz zu meinen Kolleginnen und Kollegen«, sagte sie in das Mikrofon und war die Einzige an diesem Abend, die die Notwendigkeit dieses Hilfsmittels erkannte, »werde ich mich kurz fassen und aufrichtig sein. Ich wollte, ich könnte etwas Nettes über Sie und diese Universität sagen, wirklich. Doch die Wahrheit, die wir nicht auszusprechen wagen, ist, dass diese Hochschule ebenso eindeutig zweitrangig ist wie die überwältigende Mehrheit ihrer Studenten und wir selbst.« Und damit kehrte sie zu ihrem Platz zurück und tätschelte Griffins Hand, als wollte sie sagen: Na bitte, das war doch gar nicht so schlimm, oder? Was sie dann in die verblüffte Stille hinein tatsächlich sagte, war: »Seltsam – zum ersten Mal seit über zehn Jahren wünschte ich, dein Vater wäre hier. Das hätte ihm gefallen.«

Seinem Vater erging es nach der Scheidung noch schlechter. Auch er versuchte, sich neu zu erfinden, und widmete sich dem neuen Studiengang für Amerikanistik. Er hatte sich schon immer mindestens ebenso sehr für Politik und Geschichte wie für Literatur interessiert, und die Universität war bereit, ihn zur Hälfte an die Amerikanisten auszuleihen, vorausgesetzt, seine Kollegen vom Lehrstuhl für Englisch hatten keine Einwände (die hatten sie allerdings nicht). Sein neues Büro befand sich eine Etage tiefer im Gebäude für moderne und klassische Philologie, und Claudia, eine dralle, großbusige Studentin, hatte sich erboten ihm zu helfen, die etwa siebzig Kartons voller Bücher und Zeitschriften dorthinzutragen. Das erforderte häufiges Bücken, und sie trug keinen BH. Zuvor hatte er sie kaum bemerkt, doch das änderte sich jetzt, und seine Kollegen bemerkten, dass er sie bemerkte, und tuschelten, es sei offensichtlich, welche Hälfte von ihm bei den Amerikanisten sei und welche bei den Philologen. Griffin war ziemlich sicher, dass sein Vater wenig Lust verspürte, noch einmal zu heiraten, und es wohl nicht getan hätte, wären Beziehungen zwischen Dozenten und Studenten nicht streng verboten gewesen. Was wirklich absurd war. Immerhin war Claudia keine Studienanfängerin. Sie war neunundzwanzig, erwachsen (selbst nach den Maßstäben einer amerikanischen Universität) und brauchte ganz sicher nicht den Schutz der Institution – wogegen sich einige ihrer Professoren fragten, wer sie vor ihr beschützen würde. Was Claudia nach Meinung vieler aber tatsächlich brauchte, war Hilfe, viel Hilfe bei ihrem Abschluss. Sie bestand die Vorprüfung nur knapp im zweiten und letzten Anlauf – einer der Prüfer enthielt sich der Stimme –, und dann brauchte sie ein ganzes Studienjahr, um ein akzeptables Dissertationsthema vorzulegen. Wie eine Färse auf einer Landwirtschaftsausstellung wurde sie (von Griffins Vater) Schritt für Schritt durch diese Prozedur geführt. Irgendetwas an ihr erinnerte Griffin tatsächlich an eine Kuh. Sie war einen ganzen Kopf größer als sein Vater, hatte breite Hüften und volle Brüste, die unter den von ihr bevorzugten weiten Blusen stets in Bewegung zu sein schienen.

Und so geschah es, dass dieser hervorragende Professor eines Morgens erwachte und erkannte, dass seine Exfrau sich in eine abenteuerlustige Geschlechterspezialistin verwandelt hatte, während aus ihm selbst ein Narr geworden war. Naked Lunch, bemerkte Griffins Mutter, hatte schließlich gesiegt und den armen Jeeves vor die Tür gesetzt. Vielleicht war das der Grund, warum Griffins Vater freudig zusagte, als ein alter Studienfreund, mittlerweile Dekan der Universität von Massachusetts, ihn anrief und fragte, ob er daran interessiert sei, für ein Jahr die Vertretung eines kranken Kollegen zu übernehmen. Griffins Mutter schäumte natürlich vor Wut, als sie das hörte. Immerhin brauchte man von Amherst zum Cape nur etwa zwei Stunden. Er und die fette Kuh würden die Wochenenden dort verbringen können, vielleicht sogar in Vineyard oder Nantucket, während sie in Gesellschaft eines Stummen im Scheiß-Mittelwesten saß. Aber sie konnte es nicht verhindern, was sie allerdings erst merkte, nachdem sie es, laut seinem Vater, sehr intensiv versucht hatte.

Er und Claudia blieben ein ganzes Jahr im Osten und kehrten erst im allerletzten Moment, nämlich am ersten Wochenende im September, an die Universität zurück. Griffin steckte gerade zwischen zwei Drehbüchern und flog für ein paar Tage nach Indiana. Er hatte seinen Vater nicht in Amherst besucht und stellte fest, dass dieser aussah, als hätte er die ganze Zeit auf einer Station für Tuberkulosekranke verbracht. Er schien um gut zehn Jahre gealtert. Er war immer schlank und schmalbrüstig gewesen, doch jetzt war er mager, seine Wangen waren eingefallen, und sein Haar war schütter. Anscheinend als Ausgleich trug er es an den Seiten und hinten lang, was ihm das Aussehen eines Totengräbers aus einem Dickens-Roman verlieh. Im Gegensatz zu ihm war Claudia eher noch draller geworden. Während Griffins kurzem Aufenthalt fand sie des öfteren Gelegenheit, ihren üppigen Körper in seiner unmittelbaren Nähe zu platzieren und die frei schwingenden Brüste an seinen Arm oder, wenn er gerade saß, an seinen Hinterkopf zu legen – Gesten, die sein Vater nicht zu bemerken schien.

Sie seien mit großartigen Neuigkeiten zurückgekehrt, verkündete sein Vater. Claudia habe ihre Dissertation abgeschlossen, und zur Feier hätten sie geheiratet. Dabei lächelte er tapfer, während Claudias Lächeln eher etwas Träges hatte. Diese Eheschließung müsse im Augenblick noch geheim gehalten werden, erklärte sein Vater, bis sie das Rigorosum überstanden und man ihr die Promotionsurkunde überreicht habe. Griffin war nicht sicher, ob er die hier waltende Logik verstand, doch da ihn das alles nichts anging, versprach er, niemandem etwas zu sagen, vor allem seiner Mutter nicht. Weswegen er recht überrascht war, als er sich mit ihr und Bart zum Mittagessen im Speisesaal der Fakultätsmitglieder traf und sie als Erstes sagte: »Und? Hat dein Vater dir erzählt, dass er geheiratet hat?«

Tatsächlich war sie voller Informationen. Nein, sein Vater sei nicht krank, auch wenn er aussehe wie sein eigener Tod. Er sei vielmehr erschöpft, behauptete sie, und wer wäre das nicht? In dem Jahr an der Universität von Massachusetts habe er nicht nur alle möglichen Vorlesungen und Seminare gehalten, sondern auch für Claudias Dissertation geforscht und sie – man stelle sich vor – geschrieben. Als Griffin sie fragte, wie sie das wissen könne, da doch wohl weder sein Vater noch Claudia es irgendjemandem gesagt hätten, bedachte sie ihn nur mit einem mitleidigen Blick. »Und das ist noch nicht das Beste«, fuhr sie fort. »Sie war nicht mal mit deinem Vater zusammen.« Als seine Mutter diese Bombe zündete, sah Griffin kurz zu Bartleby, der, obgleich noch nicht vollkommen verstummt, nur die Schultern zuckte, als wollte er sagen: Sieh mich nicht so an – ich lebe bloß hier.

Claudia, berichtete seine Mutter, war mit seinem Vater nach Amherst gezogen, das stimmte. Doch sie war nicht lange geblieben. Das winzige Haus, das sie gemietet hatten, lag beinahe dreißig Kilometer von der Universität entfernt, und da sie nur einen Wagen hatten, musste Claudia entweder seinen Vater zur Uni begleiten oder aber im Hinterwald bleiben, bis er zurückkehrte. »Arbeite an deiner Dissertation«, hatte sein Vater vorgeschlagen. Tatsächlich hatte er dieses abgelegene Haus vielleicht gerade deshalb gemietet, weil ihr dort wenig anderes übrig blieb, als sich an die Arbeit zu machen. Ihre Antwort, blasiert und mit breitestem Südstaatenakzent, hatte angeblich gelautet: »Den ganzen Tag?«

Mitte Oktober gab es einen Kälteeinbruch, und nach mehreren eisigen Regentagen verkündete sie eines Morgens, sie wolle für eine Weile nach Atlanta fahren und eine Freundin besuchen. Hier sei es so kalt, dass sogar ihre Muschi schon ganz eingefroren sei, worauf Griffins Vater erwiderte, das könne er nicht beurteilen. Warum sie das nicht am Abend noch einmal besprächen, wenn er von der Uni zurück sei? Aber da war sie schon weg.

Seine Mutter gab zu, nicht genau zu wissen, wann er herausgefunden hatte, dass diese »Freundin« tatsächlich ein Freund war und nicht in Atlanta, sondern in Charleston lebte. Offenbar hatte Claudia versucht, eine falsche Spur zu legen, als stammte Griffins Vater – und hier schnaubte seine Mutter verächtlich – aus einer Familie von hartgesottenen Bullen und Privatschnüfflern und wäre ein Mann, der sogleich die Verfolgung aufnehmen und niemals aufgeben würde, während er doch in Wirklichkeit nur tief seufzte und dachte: Tja … nun ist sie also fort.