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Jenny Colgan studierte an der Universität von Edinburgh und arbeitete sechs Jahre lang im Gesundheitswesen, ehe sie sich ganz dem Schreiben widmete. Mit dem Marineingenieur Andrew hat sie drei Kinder, und die Familie lebt etwa die Hälfte des Jahres in Frankreich. Jenny mag unter anderem: Kuchen, endlose Folgen von »Doctor Who« und ihre Sneakers von Converse, von denen sie durch tägliches Tragen jetzt Plattfüße hat, Badewasser mit einer Temperatur nur knapp unter dem Siedepunkt und richtig dicke Bücher, je dicker, desto besser. Wer mehr über Jenny wissen will, kann ihre Homepage oder Facebookseite besuchen oder ihr auf Twitter unter @jennycolgan folgen. Ihre drei Romane um Polly Waterford und der Bäckerei am Strandweg standen wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste. »Die kleine Sommerküche am Meer« wurde von der Romantic Novelists’ Association zur besten romantischen Komödie des Jahres gekürt.

 

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Übersetzung aus dem Englischen von Sonja Hagemann

 

ISBN: 978-3-492-98486-7
© dieser Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2018
Titel der englischen Originalausgabe: »A very distant shore«
Redaktion: Kerstin Kubitz
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic®, München
Datenkonvertierung: Piper Verlag

 

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Kapitel 1

»Name?«

»Den hab ich Ihnen doch gesagt!«, antwortete Saif. »Den hab ich Ihnen schon so oft gesagt!«

Er wusste, dass es überhaupt nichts brachte, ungeduldig oder wütend zu werden. In dem Fall wurde man nämlich wieder ans Ende der Schlange geschickt, was eine weitere Nacht im Freien bedeutete. Und der Frühling stand zwar bereits vor der Tür, wirklich da war er aber noch nicht.

Inzwischen schien ihm die Kälte sowieso längst in den Knochen zu stecken. Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wie es sich eigentlich anfühlte, wenn einem warm war – so richtig warm.

»Saif Hassan. Aus Damaskus.«

»Auf welche Schule sind Sie gegangen? Wer ist in der Stadt Bürgermeister? Wie heißt die wichtigste Einkaufsstraße?«

Durch diese ganzen Fragen wollte man ihn überrumpeln, ihn in die Falle locken und die hoffnungsfrohen, aber chancenlosen Somalier und Tunesier aussortieren. Saif hatte sogar mal einen Mann aus Haiti getroffen, ein seltsamerer Flüchtling aus dem Mittleren Osten war ihm noch nie über den Weg gelaufen. Andere stammten aus Ländern, von denen er vorher noch nie gehört hatte – und dabei kannte sich Saif in der Welt aus.

Wieder und wieder beantwortete er die Fragen, während er hinter seinem Rücken die jungen Männer in der Schlange flüstern hörte: »Was hat er gesagt? Was fragen die da? Schreib das alles auf!«

Geduldig stand er da und wartete, während er sich an seine schwarze Tasche klammerte, das Einzige, was er vom Schiff hatte retten können.

Das Einzige.

Kapitel 2

Lorna war mal wieder spät dran. Sie stellte das Autoradio aus, weil es ja doch nur schreckliche Ereignisse aus aller Welt verkündete. Natürlich wusste sie, dass es weitaus Schlimmeres gab als ihre Verspätung, aber das half ihr im Moment nicht weiter.

»Na los, Dad«, sagte sie beim Aussteigen.

Dann griff sie nach dem Arm ihres alten Vaters, der sich langsam aus dem Auto schob, und schaute ungeduldig auf die Uhr. Ja, sie würde eindeutig zu spät kommen. Als sie auch noch eine lange Schlange vor der Tür der Arztpraxis erblickte, sank ihr Mut vollends.

Der Wind sauste von Westen her über sie hinweg und brachte ein oder zwei Tropfen mit, die sich eigentlich eher wie Hagel anfühlten. Oh nein, bitte kein Hagelschauer! Einen 74 Jahre alten Mann mit Migräne draußen im Frühlingshagel warten zu lassen, war wirklich nicht in Ordnung. Aber vor der Praxis des einzigen verbliebenen Arztes auf der abgelegenen schottischen Insel Mure standen nun mal jede Menge Patienten an.

»Du kannst ruhig schon fahren«, murmelte ihr Vater, wie jedes Mal.

»Jetzt sei doch nicht albern«, knurrte Lorna.

Angus hörte bei Weitem nicht so gut, wie er vorgab, und würde deshalb überhaupt nicht mitkriegen, was ihm der Arzt gleich sagte. Leider hatte Lorna keine Ahnung, wann ihr Vater drankommen würde, wenn überhaupt. Sie hatten mindestens noch zehn andere Patienten vor sich – Mütter mit weinenden Babys, alte Damen, für die der Arzttermin eine Art Ausflug zu sein schien, und Arbeiter, die genervt auf ihr Handy starrten.

»Das wird wohl noch dauern«, sagte Lorna, »aber ich warte, bis du dran bist.«

Damit würde sie wohl wieder den Morgenkreis der Kinder verpassen, den dann eben ihre Kollegin Mrs Cook übernehmen musste. Aber Lorna wusste natürlich, dass es den Kleinen in der Schule – und ihren Eltern – wichtig war, die Rektorin dabeizuhaben. Sie hätte vor Frust schreien können. Wütend schob sie sich die rotbraunen Locken hinter die Ohren.

»Als ich klein war, hatten wir hier auf der Insel auch nur einen Arzt«, gab Angus zu bedenken.

»Ja, als du klein warst, haben hier aber auch weniger Menschen gelebt«, entgegnete Lorna. »Und die sind entweder irgendwann auf dem Feld unter eine Maschine geraten oder haben sich mit 55 einfach hingelegt und sind gestorben. Da hatte der Arzt nicht so viel Arbeit.«

»Hm, das stimmt wohl«, räumte Angus ein. »Damals gab es auch einen Dr. MacAllister – den jungen Herrn Doktor. Gut, so jung war er nun auch wieder nicht, aber er war eben der Nachfolger von seinem Vater, dem alten Dr. MacAllister, der wiederum die Praxis von seinem Vater übernommen hatte.«

»Das war doch der, der seine Patienten noch mit Blutegeln behandelt hat, oder?«, sagte Lorna gereizt. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Dass sie zu Jeannie, der Arzthelferin, ein gutes Verhältnis hatte, würde ihr heute wohl auch nicht helfen. Jeannie schob die Metalljalousie vor der Praxistür immer um Punkt 8.30 Uhr hoch und würde da auch für Lorna keine Ausnahme machen.

»Du musst los, Liebes«, drängte Angus, als sie schon wieder auf die Uhr schaute.

»Nein, Dad«, antwortete sie und war wütend auf sich selbst, weil sie so knurrig war. »Das ist schon in Ordnung.«

Besorgt dachte sie an die Anzahl von Kindern in ihrer Schule im nächsten Jahr; das waren nämlich schon wieder weniger geworden. Das Problem lag darin, dass sie für Mure keinen neuen Arzt gewinnen konnten, und deshalb wollte auch niemand hierher ziehen. Die Leute entschieden sich lieber für Orkney oder eine andere Insel, auf der mehr los war, oder blieben einfach in Glasgow. Schlecht sah es überall aus.

Jeder wusste, dass die Stelle für den örtlichen Hausarzt seit acht Monaten ausgeschrieben war und sich nicht ein einziger Kandidat beworben hatte. Ringsumher war es dasselbe. Im ganzen Land gab es zu wenig Ärzte, und kaum jemand wollte auf so ein kleines, abgelegenes Eiland ziehen.

Lorna seufzte, als Jeannie eintraf und mit großem Aufheben die Praxis aufschloss und die Jalousie hochschob. Es war Punkt 8.30 Uhr.

Die Schlange, in die sich seit ihrem Eintreffen hier noch etliche Leute eingereiht hatten, bewegte sich mit einem Ruck voran. Ein wenig ungnädig dachte Lorna, dass all diejenigen, die noch derart drängeln konnten, so dringend nun wirklich keinen Arzt brauchen konnten.

Sie hielt ihren Vater am Arm, während sie zusammen mit den restlichen Anstehenden in die angenehme Wärme der überhitzten Praxis trat.

Kapitel 3

Heute würden wohl nicht alle Flüchtlinge drankommen, so viel wusste Saif; dazu waren es zu viele, die in der großen Scheune am Stacheldrahtzaun in der Schlange standen. Und inzwischen hatten es anscheinend auch andere Wartende begriffen, deshalb wurde gerempelt und geschoben.

Saif war klug genug, sich von diesem Teil der Menge fernzuhalten, mit seiner Körpergröße fiel er nämlich sofort auf. Er war älter als die meisten Männer hier, wurde durch seine Statur jedoch schnell zum Ziel von Aggressionen. Dabei wollte er Schwierigkeiten doch um jeden Preis vermeiden, weil er davon schon genug für ein ganzes Leben durchgemacht hatte. Allerdings wurde die Situation langsam kritisch; Rufe erklangen, und Gedrängel kam auf, und ausgerechnet jetzt schienen die Beamten einen Moment hinter dem Zaun verschwunden zu sein. Saifs Blick traf den einer sehr jungen Frau mit einem stillen – genau genommen unheimlich stillen – Baby in einem ramponierten alten Kinderwagen, und sie schauten beide schnell zur Seite. Nicht noch mehr Ärger. Bitte.

Plötzlich ging alles ganz schnell. Eigentlich wurde nur rumgebrüllt, das war alles, aber dann ertönte der Schrei einer Frau, und schon eine Sekunde später sauste eine Gruppe schwer bewaffneter Sicherheitsleute durchs Scheunentor herein. Sie erschienen wie aus dem Nichts, mit erhobenen Schlagstöcken und die Hand an der Schusswaffe, wobei einer von ihnen sogar noch kaute. Augenblicklich legte sich Totenstille über die Menge, und die Männer stoben mit gesenktem Blick auseinander, wie Schuljungen, die erwischt worden waren, wie sie in einem unbeobachteten Moment über die Stränge geschlagen hatten.

Aber die Frau hörte nicht auf zu schreien. Nachdem im ersten Moment alle Flüchtlinge beharrlich zu Boden gestarrt hatten, um ja keine Aufmerksamkeit zu erregen, begannen sie sich jetzt hier und da umzuschauen.

Der leitende Securitymann rief etwas in seiner Sprache, die Saif nicht verstand. Es klang wie ein Fluch, und Saif blickte kurz auf.

Die Frau, um die sich jetzt die Menge teilte, wiegte ein Kind in den Armen, einen kleinen Jungen von höchstens sieben oder acht Jahren. Er war ganz blass, weinte aber nicht, was Saif Sorgen machte, sondern hatte die Augen vor Angst weit aufgerissen. Blut floss aus einer Wunde an seiner Schulter.

Offensichtlich hatte einer der jungen Männer ein Messer, und hier war gerade etwas ganz furchtbar schief gegangen.

Jetzt sprach der Befehlshaber in sein Walkie-Talkie, er bekam aber eine Antwort, die ihm eindeutig nicht gefiel. Deshalb schaute er sich um und rief in mehreren Sprachen: »Ein Arzt? Doctor? Médecin? Tabib?«

Wieder starrten alle zu Boden. Saif stieß ein Seufzen aus. Es war nicht das erste Mal, und es würde wohl auch nicht das letzte sein. Er hob die Hand. »Ja«, sagte er leise.

Kapitel 4

»Na, für wann kannst du ihm denn einen Termin geben? Er hat diese Kopfschmerzen jetzt schon seit drei Wochen, die kann er ja auch nicht einfach verschieben.«

»Lorna, du weißt doch, dass ich mein Bestes tue«, sagte Jeannie und starrte auf ihren Computer, als würde sich Dr. MacAllisters Zeit plötzlich wie durch Zauberhand verdoppeln und er mehr Termine vergeben können, wenn sie nur oft genug auf seinen Kalender klickte. Er hätte schon lange in Rente gehen sollen, das war allen klar. Aber bis es hier keinen neuen Arzt gab, brachte er es einfach nicht über sich, in den Ruhestand zu treten. Und tatsächlich wären hier ja sogar zwei neue Ärzte nötig, weil sich eigentlich nicht einer allein um die ganze Insel kümmern konnte. Dass der alte Arzt auf seinem Posten verblieb, war zwar wirklich nobel von ihm, aber nicht sehr effektiv. Er war nämlich furchtbar müde, und seine Erschöpfung wurde von Tag zu Tag schlimmer.

Hausbesuche fielen ihm immer schwerer, und weil er mit dem Computer nicht zurechtkam, machte Jeannie viele unbezahlten Überstunden, um die Unterlagen in Ordnung zu halten.

Wenn Untersuchungen anstanden, mussten die Proben per Schiff aufs Festland geschickt werden, und deshalb hing es manchmal vom Wetter ab, wann sie die Ergebnisse zurückbekamen.

Jeannie und ihrem Chef war schon klar, dass sie die Praxis nur mit Ach und Krach am Laufen hielten. Deshalb hatte Sandy MacAllister auch angefangen, abends zu Hause ein zusätzliches Schlückchen Whisky zu trinken, obwohl das eigentlich alles nur noch schlimmer machte.

Seine Frau war inzwischen völlig verzweifelt. Sie hatten auf der Insel drei stramme Söhne großgezogen, schlaue, starke Männer, die der ganze Stolz ihrer Eltern waren. Einer von ihnen arbeitete jetzt in Edinburgh als Zahnarzt, einer war in Cambridge an der medizinischen Fakultät, und der dritte impfte für das Rote Kreuz Kinder in Afrika – was leider alles der Insel nichts brachte.

Jeannie schaute zu ihrer Freundin hoch.

»Gut, lass ihn hier«, sagte sie schließlich. »Aber erzähl das auf keinen Fall rum! Ich will nicht, dass irgendwann jeder einfach seine alten Leute bei mir ablädt.«

»Aber du …«

»Irgendwas denke ich mir schon aus. Sandy kann ja mir alles erklären, und ich schreibe es dann für dich auf.«

»Jeannie, du bist wirklich unbezahlbar!«

»Verrat bloß den anderen nichts!«

Jetzt wandte sich die Arzthelferin dem nächsten in der Schlange zu, dem armen, hilflosen Wullie MacIver, dessen drei Talente – Fensterputzen, Taxifahren und Cidertrinken – ihn im Leben leider nicht voranbrachten.

»Was ist es denn dieses Mal, Wullie?«

»Ein Haarriss am Knochen?«, antwortete der Patient hoffnungsvoll.

»Es sieht zumindest nach einer üblen Verstauchung aus.«

Beide betrachteten seinen nackten, furchtbar schmutzigen Fuß, der riesig angeschwollen war und sich dunkellila verfärbt hatte.

»Bis später«, sagte Jeannie noch zu Lorna, die dankbar ihren Vater ins Wartezimmer setzte. Sie versorgte ihn mit dem wöchentlichen Bauernmagazin, versicherte ihm, dass alles gut werden würde, und eilte dann zur Tür hinaus.

Kapitel 5

Alle Augen waren auf Saif gerichtet, als er, seine schwarze Tasche fest umklammert, vortrat.

»Der Lagerarzt ist gerade beschäftigt«, erklärte der leitende Securitymann, während er ihn argwöhnisch betrachtete. »Haben Sie auch wirklich Medizin studiert? Bei uns melden sich alle möglichen angebliche Ärzte. Die denken, wenn sie sich als Doktor ausgeben, kriegen sie von uns Papiere.«

Früher hätte so ein Kommentar Saif wütend gemacht, aber heute längst nicht mehr. Er öffnete einfach nur seine Tasche mit dem Stethoskop, der zerfledderten alten Blutdruckmanschette und dem wenigen Verbandszeug, das ihm noch geblieben war. Der Securitymann nickte, als sich der Arzt neben den Jungen kniete.

»Ist das Ihr Sohn?«, fragte er die Frau auf Arabisch.

Panisch nickte sie.

»Wie heißt er denn?« Saif sah den Jungen direkt an. »Wie heißt du?«

»Medhi«, murmelte der Kleine mit weit aufgerissenen Augen. Er zitterte am ganzen Körper. »Das tut weh! Es tut weh, weh, weh!«

»Ich weiß«, antwortete Saif, »das weiß ich doch. Jetzt gucke ich mir das erst einmal an, in Ordnung? Ich will nur einen Blick darauf werfen. Und ich verspreche dir, dass ich nichts mache, ohne es dir vorher zu sagen.«

Von Medhi ängstlich beobachtet, holte er die Schere aus seiner Tasche und schnitt vorsichtig den Stoff rund um die Wunde weg. Das besorgte Murmeln der Mutter verriet ihm, dass der Junge wohl keine anderen Kleider hatte, aber diese hier waren jetzt eben blutverklebt.