Über Gor‘dea:

Die Welt des rotgoldenen Mondes begleitet mich seit dem Jahr 2009, als ich den Entschluss fasste, ein eigenes Fantasyuniversum zu erschaffen. Hunderte Stunden sind seither in dieses ehrgeizige Projekt geflossen, in die Entstehung der Völker, ihrer Geschichte und Sprache, in das Zeichnen der Karten und in das Schreiben der Chroniken. Jede davon war spannend und einzigartig. Ich habe mit dem Kopf gearbeitet, mit meinen Händen und meinem Herzen. Viele Wendungen in meinen Romanen waren für mich ebenso überraschend wie für den Leser. Ich habe mich mit meinen Charakteren gefreut und mit ihnen gelitten. Und ich bin gespannt auf das, was ich in Gor‘dea noch erleben und meinen Lesern weitergeben darf.

Danksagung:

Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen bedanken, die mir bei der Arbeit an Gor‘dea durch ihre Anteilnahme, ihre stets wertschätzende Kritik und ihre Korrekturvorschläge zur Seite gestanden sind. Mein besonderer Dank geht an Christa für ihr unermüdliches Suchen nach versteckten Fehlern, an Wolfgang für die ‚Talkwalks‘, wo wir über stilistische und inhaltliche Feinheiten diskutiert haben, und an Markus, der mich als passionierter Rollenspieler auf logistische Ungereimtheiten hingewiesen hat.

Carl Habenicht

Hyron, der Rüstungsformer

Fantasyroman

die Chroniken von Gor‘dea

Hyron, der Rüstungsformer

„Die Gymgomor sind Wesen des Wassers, die in ihrem Element große Anmut, Geschicklichkeit und Kampfstärke zeigen. Sie sind ein weises und friedliebendes Volk, in dem Frauen und Mütter hohes Ansehen genießen.“

Aus dem „Buch der Völker“ des blinden Sehers Emanul,
148 Jahre vor der Zeitenwende.

Die Geschichte spielt im Jahr 1658 vor der Zeitenwende.

 

Karte des Sumpflands um 1650 vor der Zeitenwende

„Bei den vier Göttern!“, schnaufte Diulo, die soeben einen ihrer Gegner gefällt hatte. „Wo bleiben die verdammten Ydiferor?“

Hastig wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und schaute sich auf dem Kampfplatz um. Zu viele ihrer tapfersten Kämpfer lagen tot auf dem Boden oder drohten ihren Verletzungen zu erliegen. Jene, die noch auf den Beinen standen, bluteten aus unzähligen Wunden. Läge nicht der Vorteil des Geländes auf ihrer Seite, wäre der Rest ihrer Truppe längst niedergemetzelt worden. Die Schlacht fand in einem ausgedehnten Sumpfgebiet statt, dessen Tücken bei den Arnomor viele Opfer gefordert hatten. Dennoch war die Übermacht der monströsen Insekten erdrückend und für jede getötete Bestie rückten sofort zwei neue nach. Vor fünf Jahren hätte Diulo ungläubig den Kopf geschüttelt, wenn ihr von diesen albtraumhaften Kreaturen berichtet worden wäre. Sie erinnerten an riesige Wespen, die aufgerichtet an die zwei Schritt maßen. Die Dreiteilung von Kopf, Brust und Hinterleib war deutlich zu erkennen, wobei das Abdomen verkürzt war, sodass sie sich auf den zwei hinteren Beinpaaren fortbewegen konnten. Der Oberkörper war durch einen harten Chitinpanzer geschützt, von den Waffen der Gymgomor kaum zu durchdringen. Am ehesten waren die Bestien am Kopf und an den Gliedmaßen zu verletzen. Deren vorderstes Paar trug scharfe Klauen, was den Arnomor ihren Namen eingebracht hatte.

Zu Diulos linker Seite setzte sich Atrif, ihr bester Krieger, gegen zwei der Monster zur Wehr. Mit seinem gewaltigen Dreizack hielt er die Gegner auf Distanz, denn im Nahkampf waren die Kreaturen, deren Hinterleib einen giftigen Stachel trug, absolut tödlich. Die bei den Gymgomor beliebteste Waffe hatte eine Länge von mehr als drei Schritt, mit einer Spitze am Ende, einer zweiten, die eine Fußlänge tiefer saß, und einer dritten in der Mitte der Stange. In größter Bedrängnis packte der Kämpfer den Dreizack mit beiden Händen, um die Schläge seiner Kontrahenten abzuwehren und ihnen im Gegenstoß den dritten Dorn in den Leib zu rammen. Atrif schwang den Gifyl, wie diese eindrucksvolle Waffe beim Wasservolk genannt wurde, mit großer Kraft und ebensolchem Geschick. Um ihn brauchte sich Diulo nicht zu sorgen. Unzählige Narben, die sich über den ganzen Körper zogen, waren Beweis genug für seine immense Kampferfahrung und den unbändigen Willen zu überleben.

Zu ihrer Rechten stand der Kampf auf Messers Schneide. Soeben sank eine ihrer Mitstreiterinnen leblos zu Boden und hinterließ eine gefährliche Lücke in der Phalanx. Deshalb packte Diulo ihren Gifyl fester und stürzte sich aufs Neue in die Schlacht. In einer einzigen fließenden Bewegung sprang sie vorwärts, stieß ihren Dreizack gegen den Kopf einer Bestie und vollführte eine Drehung mit vorgestreckter Waffe, um sich weitere Angreifer vom Leib zu halten. Diulos Stärke lag in ihrer Konzentration, in ihrer Hingabe an den Kampf. Während des tödlichen Tanzes, den sie mit ihrem Gifyl vollführte, gab es keinen Platz für andere Gedanken oder Gefühle. Sie befand sich in ihrer eigenen Dimension, wo der Lärm der Schlacht, die Schreie, der Geruch von Sekret, Blut und Schweiß in den Hintergrund traten. Ihre Bewegungen waren von unvergleichlicher Präzision. Jeder Schritt, jeder Stoß, jeder Sprung erfolgte mit schlafwandlerischer Sicherheit, war Teil eines perfekten Ablaufs von Angriff und Verteidigung. Sie führte eine schnelle Attacke gegen zwei Gegner, um einer bedrängten Kriegerin Raum zu verschaffen. Ein gezielter Stich ins Abdomen einer Kreatur, das wie eine reife Frucht zerplatzte. Der grässliche Gestank nach Gedärmen, ein hastiger, ekelerfüllter Atemzug. Zwei kraftvolle Hiebe gegen die Klauen eines weiteren Angreifers, ohrenbetäubendes Geheul. Rückzug, Parade, ein geschickter Gegenangriff.

Diulo hatte in den letzten Wochen gelernt, wo die Arnomor verwundbar waren und von welchen Bestien die größte Gefahr ausging. Am schlimmsten schätzte sie die Ronome ein, die trotz einer Größe von nahezu zwei Fuß fliegen und ihre Gegner mit einem einzigen Stich lähmen konnten. Zum Glück waren sie unzulänglich gepanzert, sodass sie ein gezielter Speerwurf aus der Luft holte – falls man die Biester kommen sah. Die Ubenome erinnerten an monströse Heuschrecken, die sich mit gewaltigen Sprüngen fortbewegten und die Phalanx der Gymgomor mehr als einmal durcheinandergewirbelt hatten.

Diulo wusste, dass Erfolg und Niederlage davon abhängig waren, wie genau man seine Feinde einschätzen konnte. Nicht umsonst hatten die obersten Matriarchinnen des Wasservolks sie zur Kommandantin des drittgrößten Heeres der Gymgomor ernannt. Mehr als vier Jahre hatte sie ihre Kämpferinnen und Kämpfer gegen die Arnomor geführt und war mit ihnen durch die Hölle gegangen. Auf ebenso kurze wie heftige Geplänkel hatte sie taktische Rückzüge folgen lassen, um die eigenen Verluste in Grenzen zu halten. Diulo hatte die Schwächen und Stärken der Arnomor erforscht, um jeden nur erdenklichen Vorteil ausspielen zu können. Von Anfang an war ihr Plan gewesen, die Heerscharen des Klauenvolks nach Norden zu führen. Weg von den Siedlungen der Gymgomor und hin zu den Pymket, ihren Verbündeten. Gemeinsam mit Hevrem, dem Sohn des legendären Visuir, war es ihr gelungen, die Hauptstreitmacht der Arnomor vernichtend zu schlagen. Doch nach wie vor zogen neue Scharen monströser Insekten aus dem Osten heran.

Auf dem Rückmarsch in die Heimat war Diulo auf ein Heer der Arnomor gestoßen, das ihren verbliebenen Truppen um das Fünffache überlegen war. Zusammen mit Reney, der Anführerin der Ydiferor, hatte sie einen erfolgversprechenden Plan geschmiedet. Diulo würde die Armee der Insekten mit ihren Kämpfern in ein Moorgebiet locken und die Zahl der Angreifer, so weit es ihr möglich war, dezimieren. Reney sollte sich einen Tag lang verbergen und den Arnomor mit ihren Ydiferor in den Rücken fallen.

In der Zwischenzeit waren drei Tage vergangen, von den amazonenhaften Kämpferinnen keine Spur. Diulo hatte mehr als die Hälfte ihrer Leute verloren und der Rest war zum Teil schwer verwundet oder am Ende seiner Kräfte angelangt. Außerdem hatten sie bald das Ende des Sumpfs erreicht. Dann blieb ihnen nur die Flucht durch den Moo’zelor, einen ausgedehnten See. Die Arnomor hassten das Wasser, doch wenn sie dem Ufer des Moo’zelor folgten, gelangten sie nach wenigen Tagen zu den Ländereien des Wasservolks. Unvorstellbare Gräuel wären die Folge, würden die bestialischen Kreaturen über die wehrlose Bevölkerung der Dörfer herfallen.

Diulo und ihre verbliebenen Getreuen kämpften wie die Berserker, aber letztendlich blieb ihr keine andere Wahl.

„Rückzug!“, brüllte sie. „Rückzug bis zum See!“

Atrif warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Er wusste, was diese Flucht bedeutete, und würde sich eher in Stücke hacken lassen, als die Heimat zu gefährden. Auch wenn es Diulo widerstrebte, war es taktisch klüger, sich am gegenüberliegenden Ufer des Moo’zelor neu zu formieren, als hier aufgerieben zu werden. Ihre Kämpfer waren zu erschöpft, um länger standzuhalten. In diesem Augenblick erschollen kreischende Laute aus dem Osten, in die sich kurze Zeit später Kampfeslärm mischte. Das konnten nur Reneys Ydiferor sein! In Diulo erwachte neue Hoffnung und mit ihr kehrten Mut und Kampfkraft zurück.

„Vorwärts!“, schrie sie mit sich überschlagender Stimme. „Haut diese Bestien in Stücke!“

Sie schnellte sich nach vorne und ließ einen wahren Schlaghagel auf die überraschten Kreaturen niedergehen. Atrif folgte ihr auf dem Fuß. Mit gezielten Stößen setzte er jene Gegner außer Gefecht, deren Klauen Diulo zerschmettert hatte. Zum ersten Mal gerieten die Reihen der Arnomor ins Wanken, da die hinten stehenden Insekten mit den Ydiferor beschäftigt waren. Jetzt, wo sie genügend Platz hatte, spielte die Kommandantin der Truppe ihre überragenden Kampffertigkeiten aus. Sie führte einen gewaltigen Hieb gegen den Kopf einer Bestie, die benommen taumelte. Ein gewagter Sprung nach vorne mit kreisendem Gifyl, um Raum zu gewinnen. Präzise Stiche unterhalb des Torsos. Schnelles Ducken, um den Klauen zweier Scheusale zu entgehen. Neuerliches Zustoßen, eine Rolle nach hinten. Diulo versank in ihren todbringenden Bewegungen, die sich mit unvergleichlicher Effizienz aneinanderreihten. Sie nahm nichts mehr wahr außer den Bestien, die sich ihr in den Weg stellten. Schließlich wurde der Gestank nach insektoiden Exkrementen dermaßen grässlich, dass sie zurückwich, um Atem zu holen.

Die Schlacht war entschieden. In geordneten Reihen rückten die Ydiferor vor und metzelten die letzten Arnomor nieder. Reneys Kompanie hatte so gut wie keine Verluste erlitten, während Diulos Truppen nahezu aufgerieben worden waren. Ihr Herz wurde von Trauer und Bitterkeit erfüllt, und je mehr ihrer Gefolgsleute sie tot und verstümmelt am Boden liegen sah, desto größer wurde ihr Zorn. Sie drängte sich durch die Formation der Ydiferor, bis sie deren Anführerin erspähte. Offenbar hatte es Reney nicht der Mühe wert gefunden, selbst am Kampf teilzunehmen. Sie lehnte am knorrigen Stamm einer Wibuid, eines im Sumpf häufig anzutreffenden Baumes, dessen üppig belaubte Zweige ihr vor Merros sengender Glut Schutz boten. Erst jetzt, wo der Kampf vorüber war, spürte Diulo die Hitze, für die der Sonnengott verantwortlich war. Der Schweiß rann ihr in Strömen über den Körper, und das giftig grüne Blut der getöteten Feinde brannte auf ihrer Haut. Wütend steuerte sie auf Reney zu, die sie mit einem herablassenden Blick musterte. Die Kommandantin musste sich mit aller Gewalt zügeln, um ihr nicht die Faust ins Gesicht zu rammen.

„Wo habt ihr so lange gesteckt?“, fauchte sie die Ydiferor an. „Ihr solltet den Arnomor nach einem Tag in den Rücken fallen!“

„Das wäre zu gefährlich gewesen“, entgegnete Reney mit kalter Stimme. „Wir mussten erst sicherstellen, dass keine weiteren Feinde im Anzug waren, die uns eingekesselt hätten.“

„Es gab einen eindeutigen Befehl!“, donnerte Diulo, die kaum mehr an sich halten konnte. „Wegen deines Ungehorsams sind viele meiner Kämpfer abgeschlachtet worden oder schwer verwundet.“

„Männer … erbärmliche Geschöpfe“, konterte die Ydiferor, während sich ihre Lippen verächtlich krümmten. „Ein Dutzend von ihnen wiegt keine einzige meiner Frauen auf!“

Obwohl die Kommandantin Reneys Einstellung zum männlichen Geschlecht kannte, trieben ihr diese Worte das Blut in den Kopf. An ihrer Schläfe schwoll eine Ader, in der ihr Herzschlag dröhnte. Mit letzter Willenskraft unterdrückte sie den überwältigenden Zorn, der ihr den Atem zu rauben drohte.

„Die Matriarchinnen werden davon erfahren“, stieß sie keuchend hervor. „Und ich schwöre bei Dea: Du wirst eine gebührende Strafe erhalten!“

„Wie immer an der Arbeit, Hyron? Magst du uns nicht lieber auf den Markt begleiten?“

Der so Angesprochene hob den Kopf, um herauszufinden, wer ihn dieses Mal zum Müßiggang verleiten wollte. Wie er vermutet hatte, waren es zwei der jungen, ledigen Frauen des Dorfes, die in den vergangenen Jahren ständig um ihn herumscharwenzelten. Zweifellos gefällige Dinger, doch er hatte weder Bedarf an nichtssagendem Geschwätz noch an einer Liebelei, auf die es die beiden Mädchen vermutlich abgesehen hatten.

„Ich habe noch viel zu tun“, erwiderte er deshalb ablehnend. „In Kriegszeiten hat ein Rüstungsformer mehr Aufträge, als ihm lieb ist.“

„Das wissen wir“, beeilte sich die Kleinere der beiden zu sagen. Die Mondgöttin Dea hatte sie mit einem ebenmäßigen Gesicht gesegnet, das von schulterlangen, türkisfarbenen Haaren umrahmt wurde. „In deinem Handwerk gehörst du zu den Allerbesten, das hat meine Mutter erst vor ein paar Tagen gesagt.“

„Ja, das stimmt!“, fiel die Zweite ein, die ihre Freundin um einen halben Kopf überragte. „Dein Ruhm reicht weit über die Hauptstadt Ryn’mor hinaus. Kein Wunder, dass du in Arbeit erstickst.“

Sie schenkte Hyron ein mitfühlendes Lächeln, hinter dem sich eine kaum verhüllte Sinnlichkeit verbarg. Ihr Körper war von einer aufreizenden Üppigkeit, mit der sie den meisten Männern den Kopf verdreht hätte. Doch das Ziel ihrer Begierde verspürte keinerlei Verlangen nach den weiblichen Rundungen, die sie mit Stolz zur Schau stellte. Wie beim Wasservolk üblich, trugen die beiden Frauen nichts außer unzähligen Ketten aus Muscheln und glatt polierten Steinen, die sie um Hals, Arme und Taille geschlungen hatten. Umhänge oder gar Roben wurden nur bei besonderen Anlässen getragen. Die Gymgomor hielten sich am liebsten im Wasser auf, wo sich Bekleidung jeglicher Art als unpraktisch erwies. Ihre Geschlechtsorgane waren unter einem dichten Schuppenkranz verborgen, weshalb Nacktheit nicht als unschicklich galt.

„Trotzdem solltest du nicht die ganze Zeit arbeiten“, beharrte die Erste, die nicht geneigt war, sich so schnell geschlagen zu geben. „Ein bisschen Abwechslung hat noch keinem geschadet!“

„Zony hat recht!“, stimmte die Zweite zu, während sie eifrig mit dem Kopf nickte. „Der Markt in Dyjet ist ein besonderes Ereignis, und ich wundere mich ohnehin, dass du als Rüstungsformer dort keinen Stand hast.“

„Meine Aufträge kommen direkt vom Rat der Matriarchinnen“, erwiderte Hyron. „Ich habe es nicht nötig, meine Ware am Markt feilzubieten. Außerdem muss ich noch heute einen Brustschutz und zwei Armschienen fertigstellen, weshalb mir die Zeit zum Plaudern fehlt.“

Bei diesen Worten deutete er auf die Materialien, die vor ihm auf einem massiven Arbeitstisch ausgebreitet waren: Muscheln, Korallen und Seesterne in unterschiedlichsten Farben und Größen, dazu Versteinerungen, diverse Panzer und Schalen sowie Halbedelsteine, die dem fertigen Rüstungsteil seine persönliche Note gaben. Als Werkzeuge standen ihm einfache Hämmer, Meißel und Schleifsteine zur Verfügung, mit denen er das Grundmaterial in eine passende Form brachte. In diesem Stadium der Arbeit benötigte er das Geschick seiner Hände, doch wesentlich wichtiger war die Magie, mit der er die Einzelteile zu einem perfekten Ganzen zusammenfügte. Allein durch die Kraft seines Geistes verwoben sich Muscheln und Korallen zu einer exquisiten Brustplatte. Hart wie Stein und gleichzeitig so geschmeidig, dass ihre Trägerin in keiner Weise behindert war. Hochwertige Rüstungen, wie Hyron sie herstellte, waren bei den Gymgomor den allerbesten weiblichen Kämpferinnen vorbehalten. Nur einer Handvoll von Männern, die sich im Krieg durch ihre Tapferkeit ausgezeichnet hatten, wurde dieselbe Ehre zuteil.

„Du bist ein rechter Griesgram und unhöflich dazu“, schmollte Zony und zog eine beleidigte Schnute. „Findest du unsere Gesellschaft dermaßen schlimm?“

„Ach nein!“, erwiderte Hyron mit einem tiefen Seufzer. „Mir steht die Arbeit einfach bis zum Hals. Und meine Gedanken sind weit im Osten, wo unser Heer um sein Überleben kämpft. Ich fürchte, ich wäre euch kein angenehmer Begleiter.“

„Du sorgst dich um deine Verlobte, nicht wahr?“, erkundigte sich die Größere der beiden Grazien, wobei sie eine mitleidige Miene aufsetzte. „Wenn man den Gerüchten Glauben schenken kann, wird unser Heer in allernächster Zeit in die Heimat zurückkehren.“

„Meine Mutter hat von einer Nachbarin gehört, dass heute ein altgedienter Kämpfer am Marktplatz vom Krieg berichten wird“, fügte ihre Freundin hinzu. „Vielleicht erfährst du dort etwas von deiner … Tobaro.“

Sie dehnte das letzte Wort, das bei den Gymgomor für ‚Verlobte‘ stand, auf so spöttische Art und Weise, dass Hyron eine heftige Antwort auf den Lippen lag. Im letzten Moment schluckte er seinen Ärger hinunter, weil er mit den zwei jungen Frauen keinen Streit suchte. Außerdem hatten sie nicht unrecht: Er sehnte sich nach seiner geliebten Diulo, die vor knapp fünf Jahren in den Krieg gegen die Arnomor gezogen war. Als eine der tapfersten Kriegerinnen der Gymgomor hatte sie den Befehl über eines der Heere erhalten, das vorrangig aus männlichen Kämpfern bestand. Er hatte sie nicht begleiten dürfen, weil seine herausragenden Fähigkeiten als Rüstungsformer unverzichtbar waren. Was er seither an Nachrichten erhalten hatte, war ebenso vage wie erschreckend gewesen: monströse Gegner, unmöglich zu besiegen. Tausende Tote. Unzählige Verletzte. Er wusste nicht, ob seine Verlobte noch lebte und ob sie zu ihm zurückkehren würde. In den vergangenen Mondzyklen hatte er viele einsame Nächte verbracht, in der ihm Dea den erquickenden Schlaf verwehrte. Kein einziges Mal hatte er Trost in den Armen einer anderen Frau gesucht. Obwohl sie einander nur versprochen waren und die Matriarchinnen ihren Bund nicht gesegnet hatten, fühlte er sich Diulo auf ewig verbunden.

„Du solltest dich uns wirklich anschließen!“, riss ihn das zweite Mädchen, an deren Namen er sich beim besten Willen nicht erinnern konnte, aus seinen Gedanken. „Du musst ja nicht lange bleiben. Aber möglicherweise hat dieser Veteran Neuigkeiten von deiner Verlobten.“

Hyron wusste, warum die beiden jungen Frauen derart hartnäckig waren. Im Umkreis von Dyjet galt er als einer der begehrtesten Junggesellen, was zum einen an den ihm eigenen handwerklichen Fähigkeiten lag, zum anderen an seinem blendenden Aussehen. Er war athletisch gebaut, mit einer breiten Brust und stämmigen Beinen. Wie alle Männer der Gymgomor war er vollkommen unbehaart, sodass sich die silbernen Schuppen an Kopf, Hals, Schultern, Hüften und Füßen von seiner türkisfarbenen Haut auf ansprechende Weise abhoben. Im ovalen, markanten Gesicht stachen vor allem die sinnlichen Lippen und die Augen hervor, in denen die Pupillen in der Farbe des tiefsten Ozeans schimmerten.

Die aufdringliche Art der zwei Mädchen war ihm ebenso zuwider wie der zu erwartende Klatsch, wenn er sich mit ihnen am Marktplatz sehen ließ. Doch die Möglichkeit, dass der von den beiden erwähnte Kämpfer über Diulos Schicksal Bescheid wissen könnte, gab letztendlich den Ausschlag. Er schob seine Sachen zusammen und breitete eine Decke aus Schilfrohr darüber aus.

„Nun gut“, murmelte er. „Ich werde mir diesen Krieger ansehen. Vermutlich kennt auch er nichts als Gerüchte … wie alle anderen vor ihm. Aber falls er tatsächlich von den Kämpfen mit den Arnomor berichten kann, würde ich es mir nie verzeihen, ihn nicht gehört zu haben.“

Jetzt, wo sie ihr Ziel erreicht hatten, setzten seine Verehrerinnen eine zufriedene Miene auf und schwirrten um ihn herum wie zwei gackernde Hennen. Eine versuchte die andere mit belanglosem Geschwätz zu übertreffen und die eigenen Vorzüge ins rechte Licht zu rücken. Hyron hörte ihnen kaum zu, beobachtete stattdessen das emsige Treiben am Ufer des breiten Kanals, der die ‚Große Lacke‘ im Norden, in der Sprache des Wasservolks ‚Tenem Bylo‘, mit dem Moo’gao im Süden, dem ausgedehnten ‚See der Winde‘, verband. Die Gymgomor bauten ihre Behausungen so nahe wie möglich am oder auf dem Wasser. Als Material verwendeten sie vorrangig die Zweige und Äste von Wibuid, Gilo und Obeo, allesamt Bäume, die Feuchtigkeit liebten und resistent gegen Fäulnis waren. Oftmals wurden ihre Stämme, deren Wurzeln weit unter die Wasseroberfläche reichten, als Stütze verwendet, um die ein kreisrundes Gebäude hochgezogen und mit Schilf oder Stroh gedeckt wurde. Zwischen den Häusern waren floßartige Plattformen verankert, auf denen die Bewohner ihre täglichen Arbeiten verrichteten. Flüsse, Seen und Sümpfe spendeten ihnen nahezu alles, was sie zum Leben brauchten: Nahrung, Materialien für jegliches Handwerk und nicht zuletzt Wasser. Die Gymgomor waren mit ihrem Element so verbunden, dass sie stundenlang schwimmen und weit hinabtauchen konnten, ohne zu ermüden. Viele von ihnen trugen kleine Schwimmhäute zwischen den Fingern und Zehen, was die Fortbewegung unter Wasser deutlich erleichterte.

Hyron galt unter den Bewohnern von Dyjet als Außenseiter, weil er sich am liebsten seiner Arbeit widmete und die feierlichen Zusammenkünfte zu Ehren Deas mied. Für das Wasservolk hatte die Mondgöttin eine zentrale Bedeutung, denn sie verkörperte in erster Linie die Liebe und das Leben. Mütter genossen ein hohes Ansehen in der Gesellschaft und die Weisesten unter ihnen lenkten im Rat der Matriarchinnen die Geschicke des Volkes. Der Oberste Rat hatte seinen Sitz in der Hauptstadt Ryn’mor, wobei dieser nur selten einberufen wurde. Für gewöhnlich trafen die größeren Siedlungen ihre eigenen Entscheidungen.

„Hyron?“, erscholl eine verärgerte Stimme. „Hyron! Hörst du mir überhaupt zu?“

Zony zerrte am Arm ihres Begleiters, der so in seinen Betrachtungen vertieft gewesen war, dass er sie nicht beachtet hatte.

„Ähm … ja?“, antwortete er dementsprechend schuldbewusst.

Die junge Frau, die es offensichtlich nicht gewohnt war, dass Männer sie ignorierten, biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Nach einer Weile kam sie zum Entschluss, Hyron seine Gedankenlosigkeit ein letztes Mal zu verzeihen, denn sie verzog den Mund zu einem nachsichtigen Lächeln.

„Ich hab‘ dich nach dem Namen deiner Tobaro gefragt“, sagte sie mit einer Großspurigkeit, die nicht zu ihrem Alter passte. „Meine Mutter hat viele Freundinnen, gut möglich, dass eine von ihnen etwas erfahren hat.“

„Das würde ich ebenfalls machen“, schloss sich die Zweite an, bemüht, ihrer Freundin nicht nachzustehen. „Für den Fall, dass du heute nichts Brauchbares erfährst.“

„Meine Verlobte heißt Diulo“, gab Hyron zur Antwort. „Sie ist vor Jahren als Kommandantin ihrer Truppen gen Osten gezogen. Seither habe ich nichts mehr von ihr gehört.“

„Das tut mir aufrichtig leid“, erwiderte die Größere der beiden Mädchen, die mitfühlender als ihre Freundin war. „Meine Mutter hat mir erzählt, dass der Krieg gegen diese monströsen Insekten das Schrecklichste ist, was unserem Volk je widerfahren ist.“

Die Bedrohung durch die Arnomor stellte zweifellos eine beispiellose Katastrophe dar. Jahrhundertelang hatten die Gymgomor in Frieden gelebt und waren ihren Nachbarn, egal ob humanoid oder animalisch, mit Achtung begegnet. Mit Diplomatie und Verhandlungsgeschick war es den Matriarchinnen gelungen, sogar mit eigenwilligen Kreaturen wie Sumpfkobolden oder Trollen Frieden zu schließen. Nur wenn die Abkommen gebrochen wurden und es Übergriffe auf die eigenen Siedlungen gab, zeigten die Kämpferinnen und Kämpfer des Wasservolks, dass sie mit Speer oder Dreizack umzugehen wussten. Aus diesem Grund gab es lediglich ein kleines stehendes Heer, das im Notfall zur Stelle war. Hätten die Gymgomor nicht von den Pymket, ihren entfernten Verwandten im Norden, eine Warnung erhalten, hätten sie den Truppen der Arnomor, der riesigen Anzahl an gigantischen Insekten, nichts entgegensetzen können. Sogar mit Unterstützung durch das Luftvolk war es schwer genug gewesen, in wenigen Sonnenzyklen ein schlagkräftiges Heer zu formieren. Niemand im Sumpfland wusste genauer zu sagen, wie sich die Gymgomor in diesem furchtbaren Krieg geschlagen hatten, welche Verluste es in den eigenen Reihen gab, und ob es überhaupt gelungen war, den entsetzlichen Feind zurückzudrängen.

Umso gespannter erwartete man jegliche Kunde, die aus dem Osten in die Heimat gelangte. Demzufolge war es nicht weiter verwunderlich, dass sich am Marktplatz unzählige Gymgomor versammelt hatten, die auf den Auftritt des Kriegsveteranen warteten. Das schön gelegene Areal auf einer weit in den Fluss hinausragenden Halbinsel stellte gleichzeitig das Zentrum von Dyjet dar. Für seinen eigentlichen Zweck, nämlich untereinander Tauschhandel zu treiben, waren Lage und Größe ideal. Doch an diesem Tag war der Andrang so groß, dass man die Markttische hatte entfernen müssen, um stattdessen in der Mitte des Ufers ein Podium zu errichten. Am Austausch von Waren bestand ohnehin kein Interesse, und die wenigen Händler hatten ihre Güter fortgeräumt.

Hyron und seine beiden Begleiterinnen kämpften sich durch die Menge, bis sie eine strategisch günstige Stelle erreicht hatten. Dies gelang ihnen nur, weil der Rüstungsformer für einen Mann großes Ansehen besaß und die Großmutter von Zony den Matriarchinnen angehörte. Einige der umherstehenden Frauen verbeugten sich vor dem Mädchen und warfen ihr gleichzeitig neugierige wie neidvolle Blicke zu, als sie den begehrten Junggesellen an ihrer Seite erkannten. Hyron vernahm leises Getuschel und begann schon zu bereuen, dass er sich zu dem Marktgang hatte überreden lassen.

In diesem Augenblick verstummten alle Gespräche, weil der ungeduldig erwartete Krieger das Podest bestieg. Zum Entsetzen der Anwesenden fehlte ihm der linke Arm und er hinkte dermaßen, dass er sich am Gerüst emporziehen musste, um die Stufen zur Plattform zu erklimmen. Als er sich dem Publikum zuwandte, ging ein Raunen durch die Menge, da auch sein Gesicht durch eine breite Narbe entstellt war. Er räusperte sich mehrmals, bevor er mit heiserer Stimme zu sprechen begann.

„Frauen und Männer von Dyjet! Ihr fragt euch, was mich so zugerichtet hat?“

Er sah herausfordernd in die Runde, wobei seine ruhelos flackernden Augen voller Hass brannten, sodass die ihm am nächsten Stehenden entsetzt zurückwichen. Da und dort erscholl ein kaum hörbares ‚Arnomor‘, als hätten die Rufer Angst, dass ihre schlimmsten Albträume real werden könnten.

„Ja, es waren die Arnomor!“, kreischte der Veteran. „Doch habt ihr die geringste Vorstellung, mit welchen Bestien wir es zu tun haben?“

Die anwesenden Gymgomor schüttelten stumm die Köpfe, ängstlich und schuldbewusst zugleich.

„Nein, ihr habt keine Ahnung!“, fuhr der Redner fort. „Ihr wähnt euch hier in Sicherheit, während jenseits des Moo’zelor eure Schwestern und Brüder von diesen monströsen Scheusalen in Stücke gerissen werden. Sie sehen aus wie Goubo, wie gewöhnliche Insekten – nur sind sie vier mal vier mal vier mal so groß!“

Bei jeder Vier – der heiligen Caem in Gor’dea, die als Grundlage für alle Maße verwendet wurde – spreizte er vier Finger der rechten Hand und bewegte den Arm, als würde er seinen Zuhörern die Zahlen entgegenschleudern.

„Ihr Panzer ist härter als jede Muschel, ihre Klauen zerfleischen einen erwachsenen Mann in wenigen Augenblicken und ihr Stachel enthält tödliches Gift. Wehe dem Kämpfer, der näher als eine Speerlänge an sie herankommt!“ Plötzlich taumelte er, und für einen Moment befürchtete Hyron, der Mann könnte zu Boden stürzen. Seine verbliebene Hand klammerte sich so fest an die Brüstung, dass die Knöchel weiß hervortraten. Am Marktplatz war es totenstill, sodass man die rasselnden Atemzüge hörte, mit denen der Veteran nach Luft rang.

„Konntet ihr die Bestien besiegen?“, erklang eine zaghafte Stimme. „Oder … werden sie über Dyjet herfallen?“

„Sprich doch endlich!“, meldete sich eine andere der anwesenden Frauen zu Wort. „Wie ist der Krieg verlaufen?“ Alle Augen richteten sich gebannt auf den vom Schicksal gezeichneten Krieger, der seinen geschundenen Körper mühsam streckte.

„Ja … wir konnten sie zurückschlagen“, erklang es tonlos aus seinem Mund. „Aber zu welchem Preis …“

Er kniff die Augen zusammen und kämpfte um Fassung, da er nicht vor allen Anwesenden Tränen vergießen wollte. Obwohl niemand aus der Menge erahnen konnte, welche Gräuel dieser Mann gesehen hatte, fühlten alle mit ihm. Die meisten der Versammelten hatten Verwandte oder Freunde, die vor fünf Jahren in den Krieg gezogen waren. Und in diesem Moment wurde ihnen klar, dass nur wenige davon jemals zurückkehren würden.

„So viele sind gestorben“, hauchte der Veteran, mehr für sich als zu den Anwesenden. „Niedergemetzelt … zerstückelt.“

Die Trauer am Platz war spürbar geworden. Einige starrten still zu Boden, andere schluchzten oder weinten.

„Wie viele … haben überlebt?“, wagte einer zu fragen.

Die vor Schmerz brennenden Augen des Kriegers richteten sich auf den Wagemutigen, der das Unfassbare ausgesprochen hatte.

„Wenige … viel zu wenige“, kam die unbefriedigende Antwort. „Und sie werden nicht mehr dieselben sein.“

„Was ist mit Diulo, der Kommandantin?“, hörte sich Hyron fragen, als ob sich seine Stimme selbstständig gemacht hätte.

„Diulo?“

Der Mann horchte in sich hinein, als würde er einem inneren Mentor lauschen. Dann schüttelte er langsam den Kopf.

„Ich war nicht in Diulos Truppen, kann nichts Gewisses sagen. Es hieß … sie sei verschollen.“

In den nächsten zwei Mondzyklen kehrten weitere Kämpferinnen und Kämpfer aus dem Osten zurück. Wie der Veteran vorhergesagt hatte, war der schreckliche Krieg an keinem von ihnen spurlos vorübergegangen. Die meisten trugen deutlich erkennbare Zeichen der Gefechte mit den Arnomor an ihrem Körper – und noch mehr unsichtbare in ihrem Geist. Jeder, der in die Heimat zurückkehrte, wurde umjubelt und gefeiert. Gleichzeitig wuchs die Trauer um jene, die auf den Schlachtfeldern zurückgeblieben waren und nicht den heiligen Wassern im Sumpfland übergeben werden konnten. Die schreckliche Vermutung, dass auf jeden Überlebenden ein Dutzend Tote kamen, wurde zur traurigen Gewissheit. Beinah jede Familie hatte Verluste zu beklagen. Die lebenslustigen Gymgomor zeigten ihren Kummer nicht offen, sondern trugen ihn mit stiller Würde. Wenn es nötig war, stand man einander bei, ohne viel Aufhebens davon zu machen.

Hyron befragte alle, die von der Front zurückkehrten, nach seiner geliebten Diulo, doch niemand wusste Genaueres, was ihr zugestoßen war. Die Kommandantin hatte die letzte Schlacht überlebt, das konnte der Rüstungsformer in Erfahrung bringen. Gerüchten zufolge war sie auf dem Rückmarsch in der Wildnis östlich des Moo’zelor verschwunden, ohne dass ihre Leiche je gefunden worden wäre. Obwohl Hyron seine Erkundigungen auf die umliegenden Siedlungen ausdehnte und auf Kämpfer stieß, die unter Diulo gedient hatten, wusste keiner eine brauchbare Erklärung für dieses Mysterium. Die Vermutungen reichten von einem tragischen Unfall bis zu der These, dass sie einem versprengten Trupp Arnomor in die Hände gefallen war, die sie entweder verschleppt oder zerstückelt hatten. Nähere Hinweise gab es auf keine dieser zwei Annahmen.

Hyron war verzweifelt. Der Tod seiner Geliebten wäre für ihn leichter zu akzeptieren gewesen als diese Ungewissheit. Er arbeitete bis zur völligen Erschöpfung, um im Schlaf Trost in Deas Armen zu finden. Am Ende des dritten Monats schien die Mondgöttin seine Gebete zu erhören, denn in den frühen Morgenstunden tauchte Zony in seiner Behausung auf. Wie üblich, nahm sie eine aufreizende Pose ein und schnitt ein überaus wichtiges Gesicht.

„Oheno mi Dea – Ehre sei der Mondgöttin“, begrüßte sie ihn, um danach sofort zum Grund ihres unerwarteten Besuchs zu kommen.

„Wie ich gehört habe, bist du noch immer auf der Suche nach deiner Tobaro. Ich denke, ich kann dir weiterhelfen.“

Sie schaute Hyron erwartungsvoll an. Dieser sah noch keinen Grund, auf ihre Eröffnung mit überschwänglicher Freude oder Dankbarkeit zu reagieren, weshalb sich ihre Mundwinkel irritiert nach unten zogen.

„Wie du weißt, ist meine Großmutter eine der Matriarchinnen von Dyjet“, fuhr sie letztendlich fort, während sie ihren Ärger gekonnt überspielte. „Gestern hat sie Kunde von einer Kriegerin erhalten, die unter dem Kommando von Diulo stand. Sie hatte eine interessante Geschichte zu erzählen.“

„Dann spanne mich bitte nicht länger auf die Folter“, erwiderte Hyron. „Was hat sie der Matriarchin berichtet?“

„Am besten redest du selbst mit ihr“, entgegnete Zony. „Sie liegt im Haus der Heilung. Wenn du möchtest, führe ich dich hin.“

Der Rüstungsformer nickte ihr dankend zu. Obwohl er die junge Frau nicht sonderlich liebenswert fand, wusste er es zu schätzen, dass sie sich um seinetwillen bemühte. Deshalb führte er mit ihr während des kurzen Fußmarsches zum Lazarett der Stadt eine höfliche Konversation und versuchte, ihre anzüglichen Bemerkungen über seine in ihren Augen unsinnige Loyalität zu ignorieren.

Als sie das Haus der Heilerinnen betraten, das als größtes Gebäude Dyjets zwischen den massigen Stämmen von vier Obeo weit ins Wasser hinaus gebaut worden war, wurden sie von einer Frau mittleren Alters willkommen geheißen. Sie hatte ihren schmächtigen Körper in ein hellblaues Tuch gehüllt und in ihr Haar einen Blumenreif geflochten, sichtbare Zeichen einer Jüngerin Deas. Mithilfe ausgesuchter Kräuter und der Magie des Wassers konnten sie Krankheiten und Verletzungen kurieren, solange diese nicht lebensbedrohlich waren. Sie bezeichneten sich selbst als Demdoe’dea, als Töchter der Mondgöttin. Die Angesehensten unter ihnen trugen den Titel Gualar’gymoen, Druidinnen des Wassers.

Mit einer solchen hatten sie es offenbar zu tun, da ihr die anderen Frauen mit großer Ehrfurcht begegneten. Sie bat die beiden Besucher, sich im Inneren des Gebäudes angemessen zu verhalten, um die Ruhe der Patienten nicht zu stören. Das Haus der Heilung war in vier große Bereiche aufgeteilt, die aus jeweils vier Räumen bestanden. Im Zentrum befand sich ein Brunnen, aus dem unablässig Wasser strömte, das über handbreite Rinnen in alle Abteilungen weitergeleitet wurde. Das ständige sanfte Plätschern erzeugte eine beruhigende Atmosphäre, die wesentlich zur Heilung der Leidenden beitrug.

Zony hatte die Gualar offenbar über Hyrons Anliegen informiert, denn sie führte die beiden zielgerichtet in einen lichtdurchfluteten Raum, in dem ein halbes Dutzend Frauen auf sauberen Strohbetten lag. Unter ihnen war eine Schwerverwundete mittleren Alters, deren muskulöser Körperbau die erfahrene Kriegerin erahnen ließ. Quer über ihre Brust zog sich ein breiter blutiger Schnitt, und ihr linker Unterschenkel war dermaßen zugerichtet, dass sie aller Voraussicht nach nie mehr würde laufen können. Trotz dieser Verletzungen lag in ihren Gesichtszügen eine Kraft, die sich keinem noch so bitterem Schicksal beugen würde.

„Dies ist Enorydo“, wandte sich die Heilerin an Hyron, „eine der besten Speerkämpferinnen, die Dyjet in den letzten Sonnenzyklen hervorgebracht hat. Ich schätze, du würdest dich gerne mit ihr unterhalten.“

Mit diesen Worten und einer angedeuteten Verbeugung zog sie sich diskret zurück. Die Kriegerin musterte ihre Besucher mit abschätzenden Blicken und zog offensichtlich den Schluss, dass Hyron vertrauenswürdig und Zony ein verwöhntes Mädchen war, das von den Bürden des Lebens keine Ahnung hatte.

„Dea zum Gruße, Rüstungsformer“, eröffnete sie das Gespräch. „Wundere dich nicht, dass ich deinen Beruf kenne. Ich war eine Vertraute von Diulo, und sie hat mir in den langen Nächten an der Front viel von dir erzählt.“

„Dito umym‘gymoen laen hibem zenor, Enorydo – möge die Kraft des Wassers dir Heilung bringen, Enorydo“, erwiderte Hyron. „Ich danke dir, dass du meiner Tobaro zur Seite gestanden bist und mir Kunde von ihrem Schicksal bringst.“

„Ich habe dir Schlimmes zu erzählen“, sagte sie. „Allerdings ist es nur für deine Ohren bestimmt. Kann dieses Mädchen draußen warten?“

Zony, die sich übergangen fühlte, zog eine beleidigte Schnute und schickte sich an, lauthals zu protestieren. Nach einem frostigen Blick der Kriegerin, der sogar Hyron einen eisigen Schauer über den Rücken jagte, klappte sie ihren Mund zu und verließ unter leisem Murren den Raum.

„Dummes Kind“, knurrte die Kriegerin. „Ein einziger Tag auf dem Schlachtfeld, und sie würde heulend nach Hause laufen, um sich im tiefsten Moor zu verkriechen. Warum hast du sie hergebracht? Ist sie etwa deine Geliebte?“

„Bei Dea, nein!“, versicherte Hyron. „Ihre Großmutter ist die Matriarchin, mit der du gesprochen hast.“

Die Verletzte stieß einen Seufzer aus und griff sich an die Brust, während sich ihr Gesicht vor Schmerz verzerrte.

„Verdammte Arnomor!“, stöhnte sie. „Ich weiß nicht, was schlimmer ist: ihre Klauen oder ihr Gift.“

Sie setzte sich aufrecht hin und wies Hyron an, ihr gegenüber Platz zu nehmen.

„Was hast du bisher in Erfahrung bringen können?“, kam die Kämpferin direkt zum Kern der Sache. Sie sprach so leise, dass die anderen Frauen im Raum dem Gespräch unmöglich folgen konnten.

„Dass meine Tobaro auf dem Rückmarsch in die Heimat spurlos verschwunden ist“, antwortete Hyron. „Genaueres konnte mir niemand berichten.“

„Verschwunden!“, schnaubte sein Gegenüber verächtlich. „Diulo ist nicht einfach verschwunden, sie wurde verschleppt! Und ich verwette meinen Gifyl, dass die verdammten Ydiferor dahinter stecken!“

„Ydiferor?“, staunte der Rüstungsformer. „Von dieser Art Feinde habe ich noch nichts gehört.“

„Das sind keine … Feinde“, klärte ihn Enorydo auf. „Bei den Ydiferor handelt es sich um eine Schwesternschaft der Gymgomor. Bestens ausgebildete Kämpferinnen, die Männer hassen. Sie leben abgeschirmt in einer Zitadelle im Norden des Landes. Lauter Verrückte, wenn du mich fragst. Leider mit großem Einfluss beim Obersten Rat der Matriarchinnen in Ryn’mor. Und die Schlimmste von allen ist Reney, ihre Anführerin.“

„Und warum glaubst du, dass diese … Ydiferor hinter dem Verschwinden meiner Tobaro stecken?“

„Weil sie mit Reney nach der letzten Schlacht aneinandergeraten ist“, erwiderte die Kriegerin. „Dieses arrogante Weib hat uns mehrere Tage im Stich gelassen und damit einen Befehl von Diulo ignoriert. Sie trägt die Schuld am Tod vieler guter Männer und Frauen. Wäre ich an der Stelle der Kommandantin gewesen, hätte ich ihr vor Ort den Schädel eingeschlagen.“

Sie war bei den letzten Worten immer lauter geworden, sodass einige der anwesenden Frauen irritiert die Köpfe hoben. Als Enorydo dies bemerkte, zügelte sie ihren Zorn und setzte die Unterhaltung in der anfänglichen Lautstärke fort.

„Diulo hat Reney gedroht, sie beim Obersten Rat anzuklagen. Zwei Tage später ist sie verschwunden. Ein merkwürdiger Zufall, nicht wahr?“

„Eine Kommandantin löst sich nicht einfach in Luft auf“, gab Hyron ihr recht. „Hat niemand etwas bemerkt!“ „Angeblich haben die Arnomor sie verschleppt, als sie in der Nacht kurz das Lager verließ“, sagte die Kriegerin. „Ob es irgendwelche Spuren gab, weiß ich nicht. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits unter den Verwundeten, die dem Haupttrupp hinterhergereist sind.“

„Wer könnte am ehesten Bescheid wissen?“, fragte Hyron.

„Atrif vielleicht“, kam die Antwort nach einigen Augenblicken der Überlegung. „Er ist Diulo nicht von der Seite gewichen. Du findest ihn in Lew’todeimo … falls nicht auch er urplötzlich verschollen ist.“

„Von ihm habe ich schon gehört“, erwiderte der Rüstungsformer. „Er soll der beste lebende Kämpfer sein.“

„Eine Legende, wenn du mich fragst“, stimmte Enorydo zu. „Und das zu Recht. Keiner schwingt den Gifyl wie er. Außerdem scheint ihn die Mondgöttin mit vier mal vier Leben gesegnet zu haben. Ich weiß nicht, wie oft ich Atrif in den letzten fünf Jahren sterben sah. Tja … er steht immer noch auf beiden Beinen.“

Bei diesen Worten warf sie einen angewiderten Blick auf ihren Unterschenkel und schloss resignierend die Augen.

„Dea wird dich heilen“, versuchte Hyron sie zu trösten, da ihm ihr Schicksal zu Herzen ging.

„Und was ist mit all den anderen, die auf dem Schlachtfeld umgekommen sind?“, fuhr die Kämpferin auf. „Die von den Arnomor derart zugerichtet wurden, dass ihre besten Freunde sie nicht mehr erkannten? Was hat die Mondgöttin für sie getan?“

„Ich kann verstehen, dass du verbittert bist“, erwiderte er. „Doch solltest du nicht Dea die Schuld geben, wenn Bestien wie …“

„Wer sonst bestimmt unser Schicksal, wenn nicht die Götter?“, fiel sie ihm ins Wort. „Wer sonst hat diese grässlichen Kreaturen ins Leben gerufen, die erbarmungslos morden?“

„Ich weiß es nicht“, gestand Hyron ein. „Vielleicht Teneir, der dunkle Gott. Oder die anderen Götter legen uns eine Prüfung auf, an der wir reifen sollen. Aber nicht Dea. Ich spüre in meinem Herzen, dass sie mit uns weint.“

„Mir ist Vergeltung lieber als Mitleid“, grollte die Kriegerin. „Oder zumindest Gerechtigkeit. Finde heraus, wer für Diulos Verschwinden verantwortlich ist! Und sorge dafür, dass die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen werden. Lass dich von den Ydiferor nicht täuschen, sie sind Schlangen unter den Frauen.“

Der Rüstungsformer ergriff ihre Hand und drückte sie.

„Ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, um Diulo zu finden“, versicherte er. „Und weder Reney noch eine ihrer Dienerinnen werden mich an dieser Aufgabe hindern.“

Enorydo erwiderte seinen Händedruck mit erstaunlicher Kraft.

„Wenn du die Ydiferor herausfordern willst, brauchst du alles Glück dieser Welt“, sagte sie. „Möge dir dein Glaube die Kraft schenken, die du brauchst. Und jetzt lass mich allein, ich bin müde.“

Sie legte sich zurück und rollte sich vorsichtig auf die Seite, ohne Hyron weiter Beachtung zu schenken. Er hätte ihr gerne gedankt und alles Gute gewünscht, doch er spürte, dass sie seine Anteilnahme nicht haben wollte. Bedrückt wandte er sich ab und ging nach draußen, wo ihn Zony ungeduldig erwartete.

„Hat dir diese aufgeblasene Kriegerin weiterhelfen können?“, sprudelte es aus ihr heraus, sobald sie den Rüstungsformer auf sich zukommen sah. „Was hatte sie dir so Wichtiges zu sagen, das ich nicht hören durfte?“

„Sie hatte einen Verdacht, wer für das Verschwinden meiner Tobaro verantwortlich sein könnte“, antwortete er. „Meinst du, deine Großmutter hätte ein paar Augenblicke Zeit für mich?“

„Ich denke schon“, erwiderte sie, während sie ihn voller Neugier musterte. „Was willst du denn von ihr?“

„Ich brauche ihren Rat“, sagte er kurz angebunden. „Ihre Weisheit könnte eine große Hilfe sein.“

Sie zuckte mit den Schultern und schnitt eine beleidigte Grimasse, weil er sie nicht in seine Geheimnisse einweihte. Trotzdem begleitete sie ihn zum Haus ihrer Großmutter, das nur wenige Schritte vom Lazarett entfernt lag. Sie hatte sogar den Anstand, Hyron anzumelden, der offensichtlich erwartet wurde.

„Nur herein, Rüstungsformer“, rief ihn die Matriarchin zu sich. „Ich habe vermutet, dass du kommen würdest.“

„Willkommen bei der alten Hilobao“, begrüßte sie ihn freundlich, bevor sie sich an ihre Enkelin wandte. „Zony, mein Schatz, würdest du bitte vor der Hütte warten? Was ich mit diesem Mann zu bereden habe, ist nicht für deine süßen Ohren gedacht.“

Die junge Frau zog ein Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen, befolgte den Wunsch ihrer Großmutter jedoch ohne Zögern.

„Ich nehme an, dass du mit Enorydo gesprochen hast?“, fuhr die Matriarchin fort. „Keine schöne Sache, wahrlich! Hochverrat, wenn es stimmt. Wofür wir leider keine Beweise haben.“

Hyron enthielt sich einer Antwort, da er damit zu kämpfen hatte, den Gedankensprüngen der Greisin zu folgen. Stattdessen nickte er grimmig und gab damit zu verstehen, dass er ihre Meinung teilte.

„Dazu kommt, dass diese männerverachtenden Ydiferor ein hohes Ansehen genießen“, spann Hilobao ihre Fäden weiter. „Eine beschränkte Sichtweise, wenn du mich fragst. Leider gepaart mit großer Loyalität untereinander und noch größerer Kampfstärke. Somit unmöglich, aus diesen Reihen etwas zu erfahren.“

Sie stampfte auf ihre Kräuter ein, als würde sie die Schädel von Dutzenden Amazonen zermalmen.

„Könnte der Oberste Rat in Ryn’mor Anklage gegen Reney erheben?“, fragte Hyron. „Schließlich hat sie einen direkten Befehl ihrer Kommandantin missachtet.“

„Ja und Nein“, antwortete die weise Frau. „Um sie vor Gericht zu stellen, braucht es Zeugen. Mehrere und glaubwürdige. Ich fürchte, wir werden nicht viele finden, die sich mit den Ydiferor anlegen wollen. Was das Verschwinden von Diulo angeht, wissen wir … nichts. Sie könnte verschleppt worden sein oder bereits tot. Wobei ich persönlich nicht glaube, dass Reney so dumm ist, eine dermaßen wichtige Zeugin zu schonen.“

„Verzeiht, Matriarchin, vielleicht bin ich ein Narr“, entgegnete er. „Aber meine Seele spürt, dass Diulo noch am Leben ist. Und ich werde nicht ruhen, bis ich über ihr Schicksal Bescheid weiß.“

Hilobao sah ihn nachdenklich an.

„Du hast große innere Stärke und ebensolchen Mut, Rüstungsformer“, sagte sie. „Suche dir geeignete Verbündete, wenn du Aussicht auf Erfolg haben möchtest. Leider kann ich nicht viel für dich tun.“

Unter leisem Ächzen stemmte sie sich in die Höhe, um eine Weile in den unzähligen Behältern zu kramen, die überall in ihrer Hütte herumstanden. Auch Hyron erhob sich, weil er es respektlos gefunden hätte, in der Nähe der Matriarchin sitzen zu bleiben.

„Hier, nimm diesen Beutel!“, erklärte sie, als sie sich ihm neuerlich zuwandte. „Er enthält Heilkräuter, Tinkturen und Tränke, die dir auf deiner Reise nützlich sein könnten. Und … nimm dieses Amulett! Wenn du es der Matriarchin Aenoro in Ryn‘mor zeigst, wird sie dir gewogen sein.“