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Meuterei auf hoher See

erzählt von André Marx

Kosmos

 

 

 

 

 

Umschlagillustration von Aiga Rasch (9.Juli 1941–24.Dezember 2009)

Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage der Gestaltung von Aiga Rasch

 

 

 

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele weitere Informationen zu unseren Büchern, Spielen, Experimentierkästen, DVDs, Autoren und Aktivitäten finden Sie unter www.kosmos.de

 

 

 

 

© 1998, 2010, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan

 

Based on characters by Robert Arthur.

 

ISBN 978-3-440-12506-9

Produktion: DOPPELPUNKT, Stuttgart

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Ein Urlaub fällt ins Wasser

Justus Jonas warf wahllos einen Stapel T-Shirts in seine Reisetasche. Dann überlegte er, ob er für vierzehn Tage vierzehn Paar Socken mitnehmen sollte oder nur sieben, um sie nach der Hälfte der Zeit zu waschen. Schließlich zuckte er mit den Schultern und schob alle Socken aus dem Regal in die Tasche. Er hatte keine Lust, im Urlaub über ein Spülbecken gebeugt zu stehen. Außerdem war die Tasche groß genug. Und in Bobs Wagen war ausreichend Platz für das Gepäck.

Justus sah auf die Uhr: In genau vier Stunden wollte er mit seinen Freunden Peter Shaw und Bob Andrews für zwei Wochen in die Rocky Mountains fahren, um dort zu wandern, zu klettern – oder einfach nur zu faulenzen, was speziell Justus im Sinn hatte. Zwar war Bobs Wagen weder der neueste noch der schnellste oder größte, aber Peters MG hatte keinen Kofferraum und Justus besaß gar kein Auto. Sie hofften nur, dass der Käfer die steilen Straßen überleben würde.

»Justus!«, drang Tante Mathildas Stimme aus dem Erdgeschoss zu ihm herauf. »Justus, vergiss bloß nicht, warme Sachen einzupacken! In den Bergen kann es sehr kalt sein!«

»Ja, Tante Mathilda«, stöhnte Justus. Das war mindestens das zwölfte Mal an diesem Morgen, dass seine Tante ihn an irgendetwas erinnerte. Dabei war Justus mit seinen Freunden schon oft unterwegs gewesen und hatte bestimmt mehr Routine im Kofferpacken als sie.

»Ach, und noch was, Justus: Denk an die Reiseapotheke, die ich dir zusammengestellt habe. Lass sie bloß nicht wieder liegen wie beim letzten Mal. Wenn die Fenster nicht ganz dicht sind in eurer Berghütte, kannst du dir schnell eine Halsentzündung holen. Was rede ich, vielleicht sogar eine Lungenentzündung! Hast du den Schal schon eingepackt, den ich dir gekauft habe?«

Justus verdrehte die Augen. Er öffnete die Tür und ging zur Treppe, um nicht so brüllen zu müssen. »Tante Mathilda, es ist Sommer! Da braucht man keinen Schal, auch nicht in den Bergen!«

Nun erschien Tante Mathilda am unteren Ende der Treppe und sah zu ihm herauf. Sie lachte und zwinkerte ihm zu. »Tu deiner armen Tante den Gefallen, Justus. In deiner Tasche ist doch Platz genug, oder? Du musst den Schal ja nicht wirklich umlegen.«

Justus seufzte. »In Ordnung. Ich werde ihn einpacken.« Er kehrte zurück in sein Zimmer, nahm den nagelneuen Schal in die Hand, betrachtete ihn einen Moment unschlüssig und warf ihn schließlich auf den Sockenstapel.

»Justus!«

»Was ist denn jetzt schon wieder? An meine Zahnbürste habe ich selbst gedacht!«

»Nein, Telefon für dich! Es ist Bob!«

»Komme!« Justus lief die Treppe hinunter und nahm den Hörer von Tante Mathilda entgegen. »Ja?«

»Hi. Schlechte Nachrichten, Just. Sitzt du?« Bobs Stimme klang aufgeregt.

»Nein.«

»Dann setz dich lieber hin.«

Justus blieb stehen. »Was ist los?«

»Ich hatte gerade einen Autounfall.«

»Was?«

»Ich kam vom Einkaufszentrum und wollte nach Hause. Da hat mir auf der Santa Barbara Road so ein Vollidiot mit seinem Nobelschlitten die Vorfahrt genommen. Ich bin natürlich auf die Bremse gestiegen.«

»Und bist reingebrettert. Scheiße.«

»Nein. Bin ich nicht. Es fehlte nicht mehr viel, aber ich kam rechtzeitig zum Stehen. Doch eine Sekunde später knallte es ganz fürchterlich und mein Kopf flog auf das Lenkrad. Der Typ hinter mir hat zu spät gebremst und ist mir hinten reingefahren.«

»Auweia.«

»Du sagst es.«

»Und der Wagen?«

Bob räusperte sich. »Wie nett von dir, dass du dich so fürsorglich nach meinem Wohlbefinden erkundigst.«

»Verzeihung. Wie geht es dir?«

»Schlecht«, antwortete Bob mit Grabesstimme. »Ich rufe aus dem Krankenhaus an.«

Justus schnappte nach Luft. »Was?«

»Ich habe eine Platzwunde an der Stirn. Nichts Schlimmes, aber es ging mir schon besser. Und ich sah auch schon mal besser aus. Meine Eltern holen mich gleich ab.«

»Du meine Güte.«

»Ich rufe nur an, weil mein Auto Schrott ist. Und das bedeutet leider –«

»Wie bitte? Schrott?«

»Na ja, nicht vollkommen, aber der Motor ist hin. Wie du weißt, ist der bei einem Käfer dort, wo sich normalerweise der Kofferraum befindet. Wenn einem also jemand hinten reinfährt, bekommt das dem Motor nicht sonderlich gut.«

»Wie schlimm ist es?«

Bob seufzte. »Schlimmer als bei meinem Kopf. Ich fürchte, unser Urlaub fällt ins Wasser, wenn wir keinen anderen Wagen auftreiben können.«

Justus schlug mit der Faust gegen die Wand. »Verfluchter Mist! Musste das ausgerechnet heute passieren?«

»He, ich kann nichts dafür, okay? Ich habe schließlich gebremst.«

»Schon gut, ich mache dir ja keine Vorwürfe. Aber was tun wir jetzt?«

»Keine Ahnung.«

Justus überlegte. In Ausnahmesituationen funktionierte sein Gehirn immer besonders gut und so spielte er schnell alle Möglichkeiten durch, die ihnen blieben. »Wann bist du wieder fit?«

»Sofort.«

»Gut. Dann geh gleich mal alle Freunde, Bekannten und Verwandten durch, die ein Auto haben und es dir eventuell leihen könnten. Ich mache das Gleiche und rufe sofort Peter an. In zwei Stunden treffen wir uns in der Zentrale zur Lagebesprechung. Ich will in Urlaub fahren! Unbedingt!«

 

Die Zentrale war ein ausrangierter Campinganhänger, der auf dem Gelände der Firma ›Gebrauchtwarencenter T.Jonas‹ stand, einem Trödelladen, der Justus’ Onkel Titus gehörte. Dort hatten Justus, Peter und Bob das Büro ihres vor einiger Zeit gegründeten Detektivunternehmens eingerichtet. Am frühen Nachmittag saßen die drei Detektive in dem engen Wohnwagen und Bob berichtete noch einmal ausführlich von seinem Unfall.

»Den Schaden bezahlt die Versicherung des Typen, der mich mit seinem dicken Schlitten aufgespießt hat. Aber das hilft uns leider nicht weiter. Der Wagen ist frühestens in einer Woche repariert. Die Ersatzteile müssen nämlich erst bestellt werden. Wer fährt heutzutage schon noch Käfer?«

»Schöner Mist«, bemerkte Peter. »Und leider kann ich auch keine Erfolgsmeldung machen. Meine Eltern brauchen ihren Wagen natürlich selbst und alle anderen, die ich gefragt habe, können ihr Auto nicht für zwei Wochen entbehren.«

»Bei mir sieht es genauso aus«, bekannte Bob.

Justus nickte. »Ich kenne kaum Leute mit eigenem Wagen. Und Onkel Titus hat ja nur seinen Pick-up. Den braucht er natürlich, wenn er den Trödelladen nicht dichtmachen will.«

»Und wenn wir doch mit Peters Auto fahren?«, schlug Bob vor.

Der Zweite Detektiv schüttelte den Kopf. »Das wird nichts. Erstens haben wir keinen Platz für unser Gepäck und zweitens ist der MG schon steinalt. Kurze Strecken in der Stadt schafft er, aber ich traue ihm so einen weiten Weg ehrlich gesagt nicht zu. Wir wären immerhin gut zwölf Stunden unterwegs. Wir müssen quer durch Nevada und dort ist es teilweise sehr einsam. Wenn wir unterwegs liegen bleiben, kann es Tage dauern, bis jemand vorbeikommt.«

Justus runzelte die Stirn. »Nun übertreib mal nicht, Peter.«

»Ziemlich lange jedenfalls. Das Risiko möchte ich nicht eingehen.«

»Morton fällt auch aus«, seufzte Bob. »Wir können ihm wohl kaum zumuten, uns die ganze Strecke zu fahren und zwei Wochen später wieder abzuholen.«

»Das wäre etwas zu viel verlangt«, stimmte Justus zu. »Außerdem weiß ich nicht, was der Chef der Autovermietung dazu sagen würde. Immerhin ist er Mortons Vorgesetzter.«

»Was bleiben uns dann für Möglichkeiten?«

»Wir können mit dem Zug fahren«, überlegte Bob. »Aber erstens ist das teuer –«

»Und zweitens fährt der Zug nicht in die Berge«, fiel Justus ihm ins Wort. »Die letzten hundert Meilen müssten wir dann zu Fuß zurücklegen. Vergesst es!«

Die drei ??? schwiegen eine Weile. »Sieht ganz danach aus, als würde unser Urlaub ausfallen«, brummte Peter zerknirscht. »So ein verdammter Mist. Ich hatte mich so aufs Klettern gefreut!«

»Nicht nur du«, sagte Bob niedergeschlagen. »Dieser blöde Unfall! Warum muss mir ständig so was passieren? Wenn es darum geht, den Wagen zu Schrott zu fahren, irgendwo runterzufallen, in Löcher zu stürzen oder sich was zu brechen, bin ich doch immer dabei!« Er tastete nach dem dicken Pflaster, das auf seiner Stirn klebte, und dachte an die zahlreichen Gelegenheiten in seiner Karriere als Detektiv, bei denen er sich Verletzungen zugezogen hatte.

»Dann müssen wir uns eben etwas anderes überlegen«, meinte Justus. »Wo könnten wir ohne Auto Ferien machen?«

»In Rocky Beach«, knurrte Peter unzufrieden.

»Wir könnten doch –«, begann Bob, doch er wurde vom Klingeln des Telefons unterbrochen.

Justus ging dran. »Justus Jonas?«

»Hallo, Justus. Mr Andrews hier«, drang die Stimme aus dem Lautsprecher. »Ist mein Sohn da?«

»Ja, ich reiche mal eben den Hörer rüber.«

»Hallo, Papa.«

»Na, Bob, geht es deinem Kopf wieder besser?«

»Wenn du die Platzwunde meinst, der geht es ganz gut. Aber wir zermartern uns gerade das Hirn, wie wir doch noch wegfahren können.«

»Dumme Geschichte mit dem Auto«, sagte Mr Andrews. »Aber das Glück ist noch auf eurer Seite. Vorausgesetzt, ihr schmeißt eure Urlaubspläne kurzfristig um.«

»Was meinst du damit?« Justus und Peter wurden hellhörig.

»Wie würde es euch gefallen, statt in den Bergen Urlaub auf einem Schiff zu machen? Zwei Wochen lang auf hoher See.«

»Auf hoher See?«, riefen die drei ???.

»Ganz recht. Als Besatzung auf einem Forschungsschiff.«

»Erzähl mehr!«, forderte Bob seinen Vater auf.

»Eine Kollegin von mir, Carol Ford, arbeitet fürs Fernsehen. Sie hat von ihrem Sender den Auftrag bekommen, eine Dokumentation über eine Forschungsreise zu drehen. Morgen soll die ›Wavedancer‹ auslaufen, um die Vulkantätigkeit und heiße Tiefseequellen im Pazifik zu untersuchen. Carol wird mit ihrer Kamera dabei sein. Doch vor ein paar Tagen ist die Crew an einer schweren Virusgrippe erkrankt, ganz plötzlich.«

»Alle auf einmal? Das ist aber seltsam«, fand Bob.

»Die haben sich wohl alle gegenseitig angesteckt. Nun ja, das Problem ist, dass so ein Forschungsschiff von vielen verschiedenen Gruppen genutzt wird. Das nächste Team steht schon in den Startlöchern. Die Reise kann also nicht verschoben werden, sonst müssten die Leute mindestens ein Jahr warten. Dr. Helprin, der Leiter der Expedition, hat es geschafft, ein neues Forscherteam zusammenzustellen. Aber für die reguläre Schiffsbesatzung fehlen ihm noch ein paar Leute. Um genau zu sein: drei.«

Bob lachte auf. »Du meinst doch nicht etwa, wir sollen –«

»Carol rief mich gerade an. Wegen der geplanten Reportage liegt ihr genauso viel wie den Forschern daran, dass das Schiff morgen ausläuft. Sie fragte, ob ich nicht drei Leute wüsste, die so kurzfristig einspringen könnten. Und da kam ich natürlich auf euch, jetzt, da euer Urlaub ins Wasser gefallen ist.«

Peter tippte Bob auf die Schulter. »Aber wir sind doch keine Matrosen!«, zischte er.

»Was muss man denn machen auf so einem Schiff?«, fragte Bob.

»Keine Ahnung. Jedenfalls nichts, was ein Laie nicht könnte.«

»Etwa das Deck schrubben und kochen und so’n Zeug?«

Mr Andrews lachte. »Ich glaube nicht. Aber das werden euch Dr.Helprin und Kapitän Jason schon sagen.«

Bob runzelte die Stirn und blickte Peter und Justus fragend an. »Moment mal – Kapitän Jason? Ist das ein Zufall?«

»Mitnichten, mein Sohn. Es handelt sich tatsächlich um den Kapitän Jason, den ihr bereits kennt.«

»Klar!«, rief Justus. »Aus unserem Fall am Riff der Haie! Aber Jason ist doch Kapitän der ›Windrose‹.«

»Das war er mal«, antwortete Mr Andrews, der Justus durch das Telefon gehört hatte. »Er hat die ›Windrose‹ verkauft und sich in den Dienst von ›Ocean Obs‹ gestellt, der Umwelt- und Forschungsorganisation, der die ›Wavedancer‹ gehört. Ich bin sicher, dass Kapitän Jason euch mit offenen Armen empfangen würde. Schließlich kennt er euch bereits. Tja, Jungs, nun müsst ihr entscheiden: Habt ihr Lust, einen Teil eurer Ferien auf hoher See zu verbringen?«

Bob sah seine Kollegen fragend an.

»Wenn die Sonne scheint und ich faul an Deck liegen kann«, meinte Justus und zuckte die Schultern, »warum nicht.«

»Na ja, eine Kreuzfahrt scheint es nicht gerade zu werden, Just«, bemerkte Bob.

»Kreuzfahrten sind ja auch langweilig«, meinte Peter. »Aber Urlaub auf einem Forschungsschiff – das klingt doch spannend! Also, ich bin dafür. Dann kann ich endlich ungestört schwimmen und tauchen, ohne ständig von euch davon abgehalten zu werden.«

»Ich weiß nicht«, murmelte Bob. »So wahnsinnig spannend klingt das nicht.«

»Du hast die Wahl, Bob«, schaltete sich sein Vater wieder ein. »Entweder Rasenmähen und für deine Mutter einkaufen gehen – oder in See stechen.«

»Hört sich an, als wolltest du mich loswerden.«

»Ich biete dir nur einen Urlaub der etwas anderen Art an. Wenn du nicht annimmst – selbst schuld. Ich würde sofort mitfahren. Wann bekommt man schon mal die Gelegenheit, mit einem U-Boot meilenweit in die Tiefe zu tauchen?«

»Von einem U-Boot hast du nichts gesagt!«, rief Bob.

»Dr. Helprin will die Vulkantätigkeit auf dem Meeresgrund erforschen«, erinnerte Mr Andrews. »Dazu braucht er natürlich ein U-Boot.«

Bobs Miene hellte sich auf. »Das hört sich schon ganz anders an. Meinst du denn, dass wir da mal mitfahren können, Papa?«

»Keine Ahnung. Carol wird an Bord des U-Bootes Filmaufnahmen machen. Ihr könnt ja fragen, ob ihr mal mitkommen dürft.«

Bob wandte sich erneut zu Justus und Peter um, die begeistert nickten. »Und wann soll es losgehen?«

»Morgen.«

»Aye, Sir. Die drei ??? melden sich zum Dienst auf der ›Wavedancer‹!«

Auf zu neuen Ufern

»Justus, Justus!«, seufzte Tante Mathilda. »Ich gönne dir ja dieses Abenteuer, aber glaub bloß nicht, dass mir wohl dabei ist. Zwei Wochen auf hoher See! Von dort aus kannst du nicht einmal anrufen!«

»Tante Mathilda, verdirb mir nicht den Spaß! Sonst habe ich ein schlechtes Gewissen, nur weil ich Urlaub mache.«

»Hast du denn auch wirklich alles dabei? Schließlich musstest du umpacken.«

»Im Wesentlichen habe ich die Wanderstiefel gegen Schwimmflossen eingetauscht«, bemerkte Justus und nahm seine Tasche. »Dein Blasentee befindet sich nach wir vor in meiner Reisetasche, falls du das meinst.«

Nun grinste Tante Mathilda. »Ich bin schrecklich, nicht wahr? Aber ich mache mir nun einmal Sorgen. Wer weiß, was ihr Detektive wieder alles anrichtet.«

Justus lächelte sie kopfschüttelnd an. »Ach, Tante Mathilda. Wir sind vierzehn Tage lang auf See, umgeben von Wasser. Was sollen wir da schon anrichten?« Draußen hupte ein Wagen.

»Da sind sie.« Justus schwang die Tasche über seine Schulter und umarmte seine Tante zum Abschied. »Grüß Onkel Titus von mir. Bis in zwei Wochen. Ich würde euch gern eine Karte schreiben, aber das wird kaum möglich sein.«

»Pass auf dich auf«, sagte Tante Mathilda, dann öffnete Justus die Tür und ging aus dem Haus.

Es war sehr kühl an diesem Morgen. Die Sonne war gerade erst aufgegangen, hinter den meisten Fenstern der Nachbarhäuser war es noch dunkel. Auf dem Schrottplatz des Gebrauchtwarencenters stand der Wagen von Mr Andrews. Bob und Peter winkten von drinnen. Justus ging auf das Auto zu, legte seine Tasche in den Kofferraum und setzte sich nach hinten. »Hi, ihr beiden. Guten Morgen, Mr Andrews.«

»Morgen, Justus. Na, reisefertig?«

»Klar. Von mir aus kann es losgehen.«

Bobs Vater drehte eine Schleife und fuhr vom Schrottplatz. Justus blickte sich noch einmal um. Er winkte Tante Mathilda zu, die in der Tür stand und mit einem Taschentuch wedelte. Dann verschwanden das Haus und der Schrottplatz langsam in der Ferne. Die drei ??? fuhren Richtung Los Angeles.

Die Fahrt dauerte nur zwanzig Minuten. Nachdem sie Santa Monica durchquert hatten, erreichten sie den kleinen Küstenort Venice. »Wie ruhig es auf den Straßen sein kann«, sagte Peter und gähnte. »Aber kein Wunder. Normalerweise würde ich um diese Zeit auch noch im Bett liegen.«

»Wir sind da!«, rief Bob und wies nach rechts. Ein wenig unterhalb der Straße erstreckte sich der Hafen Marina del Rey, eine der vielen kleinen Anlagen, die es um Los Angeles herum gab. Die Masten unzähliger Segelboote schaukelten leicht hin und her. Zwischen ihnen gingen die motorbetriebenen Sportboote fast unter. Hier und da ragte der majestätische Bug einer Luxusjacht hervor. Die drei ??? gaben es bald auf, in diesem Gewimmel die ›Wavedancer‹ zu suchen.

Mr Andrews bog von der Hauptstraße ab und hielt unweit des Hafenbeckens. Justus, Peter und Bob holten ihr Gepäck aus dem Kofferraum und sie wanderten den langen Pier entlang. »Da vorn ist sie«, sagte Mr Andrews und wies auf ein kleines Schiff, das am Ende des Piers festgemacht war. Es war kaum größer als eine der Jachten und machte einen schnittigen Eindruck. Marina del Rey war so früh morgens fast menschenleer, nur auf der ›Wavedancer‹ herrschte geschäftiges Treiben: Ein halbes Dutzend Männer eilte die Holzplanke, die das Schiff mit dem Festland verband, hinauf und hinunter. Sie brachten Kisten und kompliziert aussehende Geräte an Bord, die sie von einem Lastwagen luden. Unter ihnen war ein Mann, den die drei ??? zwar lange nicht gesehen hatten, aber sofort wiedererkannten.

»Käpt’n Jason!«, rief Bob und winkte. »Guten Morgen!«

Der braun gebrannte, bärtige Mann mit dem wettergegerbten Gesicht und der finsteren Miene sah auf und lächelte. »Bob, Peter und Justus! Schön, euch wiederzusehen!«

»Das finden wir auch«, sagte Justus und reichte dem Kapitän die Hand, als sie das Schiff erreichten.

»Ihr drei wollt also unter meinem Kommando an dieser Reise teilnehmen«, stellte Jason fest. »Habt ihr euch das auch gut überlegt? Ich bin ein strenger Kapitän!« Er zwinkerte den Jungen zu. »Im Ernst: Für euch wird es nicht so viel zu tun geben. Obwohl ich euch dringend an Bord brauche.«

»Wie dürfen wir das verstehen?«, fragte Peter.

»Die Expedition wird von ›Ocean Obs‹ finanziert, einem staatlichen Unternehmen. Und daher gibt es nun einmal bestimmte Regeln. Für die ›Wavedancer‹ ist eine Mindestbesatzung von acht Mann erforderlich, inklusive dem wissenschaftlichen Team, das aus drei Leuten besteht. Laut Vorschrift. Im Vertrauen: Ich könnte das Schiff auch ganz alleine steuern, aber ohne die Mindestbesatzung hätten wir keine Genehmigung zum Auslaufen bekommen. Da fast die ganze Crew krank geworden ist, brauchte ich dringend Ersatz. Ich musste mich auch noch um tausend andere Dinge kümmern, doch erfreulicherweise versprach Miss Ford, drei Reisebegleiter zu finden. Ich war gestern ziemlich überrascht, als sie mir eure Namen nannte.«

»Das waren wir auch, als wir hörten, wer der Kapitän des Schiffes ist«, sagte Justus. »Wann laufen wir aus?«

»In einer halben Stunde, damit wir nicht in das allmorgendliche Gedränge geraten, wenn die ganzen Neureichen mit ihren Segelbooten auslaufen. Aber damit wir das schaffen, muss ich jetzt weiterarbeiten. Wir haben später noch genug Zeit, uns zu unterhalten. Ihr könnt ja schon mal an Deck gehen.« Kapitän Jason wandte sich ab und half weiter beim Beladen des Schiffes.

»Stau im Hafenbecken«, murmelte Peter kopfschüttelnd. »Unglaublich. Was ist, gehen wir an Bord? Ich bin schon gespannt auf unsere Kabinen.«

»Wartet, da kommt Carol«, sagte Mr Andrews und winkte einer jungen Frau zu, die gerade die Planke herunterkam. Sie war etwa Anfang dreißig, hatte schulterlanges blondes Haar und ein freundliches Gesicht.

»Hallo, Mel.«

»Guten Morgen, Carol. Na, schon im Reisefieber?«

»Reisefieber? Für mich ist das Arbeit, vergiss das nicht. Allein die Schlepperei des ganzen Filmmaterials war schon der reinste Stress.« Lächelnd wandte sie sich an die drei ???. »Und ihr seid also die berühmten drei Detektive.«

»Ob wir so berühmt sind, weiß ich nicht«, entgegnete Justus verlegen.

»Klar seid ihr das. Ich habe jedenfalls schon öfter etwas über euch in der Zeitung gelesen. Ich kenne euch sogar von Fotos. Du bist Justus, stimmt’s?« Sie wies auf den Ersten Detektiv. »Dann musst du Peter sein, denn Bob sieht man seine Familienzugehörigkeit sofort an.«

Bob blickte seinen Vater stirnrunzelnd an. »Finden Sie?«

Sie lachte. »Zeigt mir doch mal eure berühmte Visitenkarte.«

»Oh, nein«, rief Mr Andrews und hielt sich schützend die Hand vor die Augen. »Bitte sie nicht darum, Carol. Immer, wenn die drei ihre Karte hervorholen, ist das der Anfang eines Desasters, das meistens mit einem weiteren Zeitungsartikel endet. Das ist sozusagen ein ungeschriebenes Gesetz.«

»Umso besser«, fand Carol Ford. »Da will ich auch mal dabei sein.« Fordernd streckte sie die Hand aus.

Justus zog aus seiner Brieftasche eine Karte und reichte sie ihr. »Bitte sehr, Miss Ford.«

»Nennt mich einfach Carol«, bat sie, nahm die Karte entgegen und warf einen Blick darauf:

 

Visitenkarte