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The book is published with the support of Georgian National Book Center and the Ministry of Culture and Sport of Georgia.

Die Arbeit der Übersetzer am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Originaltitel: »დაუმთავრებელი ამბავი«, erschienen bei Diogene, Tbilissi 2008

Umschlaggestaltung: HawaiiF3

Verlag Voland & Quist GmbH, Dresden und Leipzig, 2018

© der deutschen Ausgabe by Verlag Voland & Quist GmbH

Korrektorat: Kristina Wengorz

Satz: Fred Uhde

E-Book: zweiband.media, Berlin

ISBN: 978-3-86391-229-1

www.voland-quist.de

Gela Tschkwanawa, geb. 1967 in Sochumi (Abchasien), wurde nach dem Schulabschluss in die Armee eingezogen und kam zur Flieger- und Raketenabwehr in Leningrad. Nach dem Heeresdienst kehrte er nach Sochumi zurück und studierte Philologie. Noch vor Studienende begann der Abchasien-Krieg. Tschkwanawas Haus brannte ab, zusammen mit seinen Manuskripten. Er lebt heute als Vertriebener in Achalkalaki (Georgien). Viele seiner Erzählungen erschienen in russischer Übersetzung in der St. Petersburger Literaturzeitschrift »Newa« und in »Kreschatiki«. Er ist in Georgien mit verschiedenen Literaturpreisen ausgezeichnet worden.

Nikolos Lomtadse, geb. 1975 in Kutaissi (Georgien), Studium der Betriebswirtschaft in Deutschland und Georgien, Doktorantur in Übersetzungswissenschaft an der Dschawachischwili-Universität Tbilissi. Susanne Kihm, geb. 1977 in Saarbrücken, hat nach ihrem Studium der Hispanistik und Anglistik sechs Jahre als Deutschlehrerin in Tbilissi gearbeitet. Beide haben gemeinsam »Das erste Gewand« von Guram Dotschanaschwili übersetzt (Hanser, 2018) und leben mit ihren beiden Kindern in der Nähe von Saarbrücken.

Gepetto, der mit seiner Familie 1993 aus Sochumi in Abchasien vertrieben wurde, macht sich auf die Suche nach seinem verschwundenen Stiefvater Reso. Der will in Sochumi das Grab seiner ersten Frau, der Mutter des Erzählers, besuchen. Während seiner Suche wird Gepetto immer wieder von Erinnerungen heimgesucht: an das Leben in seiner geliebten Heimatstadt Sochumi und an Anaida, seine große Liebe aus Sochumi; an das Zusammenleben der Familie vor der Flucht und an den gefährlichen Alltag der Kämpfer in jenem Krieg, der so viele seiner Verwandten und Freunde das Leben gekostet hat.

Gela Tschkwanawa

Unerledigte Geschichten

Inhalt

Titel

Impressum

Autorenbiografie

Innentitel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Glossar

1

Die Partisanen sind alle gleich, dauernd wollen sie dir weismachen, dass ihnen ihr Leben scheißegal ist. Vielleicht stimmt das ja auch, aber irgendwie kommt es ziemlich posermäßig rüber. Dass sie Partisanen sind, sagen sie in einem Ton, als wären sie Kamikazes und kurz davor, ins Flugzeug zu steigen, mit gerade ausreichend Kerosin im Tank bis zu dem Schiff, das sie vorhaben in die Luft zu sprengen.

Kontschi war auch mal Partisan, vorübergehend. Immer wenn er mir sagte, er sei Partisan, musste ich an die Moskauer Frauen denken, von denen es vor dem Krieg in Sochumi nur so wimmelte. Hast du ihnen am Stand vor dem Dioskuria bulgarisches Hähnchen am Spieß spendiert, waren sie ohne Weiteres bereit, mit dir zu schlafen. Und wenn du mit der Frau zum ersten Mal zusammen warst, hast du sie, während du sie ausgezogen hast, unbedingt gefragt, ob sie sauber sei. »Ich bin doch Moskauerin«, hat sie auf Russisch geantwortet, in einem Tonfall, als hätten die Moskauer eine angeborene Immunität gegen Geschlechtskrankheiten.

Vor allem Kontschi hatte es auf sie abgesehen, aber Kontschi war monogam und konnte pro Saison nur mit einer Frau zusammen sein. Nicht mal an eine andere denken konnte er, nur sollte die Frau unbedingt eine intellektuelle Moskauerin sein und einen Abschluss von der Lomonossow-Uni haben, so eine, die noch in U-Bahn und Straßenbahn die Nase ins Buch steckt.

»Ist ein Kinderspiel, so eine übergebildete Moskauer Schnecke heißzumachen«, pflegte Kontschi zu sagen. Er hatte einen Zauberspruch, so was wie »Sesam öffne dich«, den wendete er öfter bei seinen Frauen an. »Ich stech dich ab, Schlampe!«, sagte er zu der Frau, und das reichte angeblich. Alle intellektuellen Moskauerinnen stünden total auf groben Umgang, das fänden sie besonders romantisch. Ich kann mich an jede einzelne von Kontschis Frauen erinnern.

Kontschi war mein Onkel, ein ziemlich junger Onkel, um genau zu sein, war er der jüngere Bruder meines Stiefvaters Reso und nur acht Jahre älter als ich. Und immer wenn Kontschi sagte, das wolle er mal klarstellen, er sei Partisan, musste ich an seine Frauen denken, die alle immer betonten, sie seien doch Moskauerinnen. Dann hat Kontschi das mit den Partisanen wieder sein gelassen und hat die Fliege gemacht, nach Moskau, und dort hat sein kurzes, aber bewegtes Leben ein Ende gefunden.

Mit seinem Leichnam kam eine russische Frau an, sie schob schon eine riesige Kugel vor sich her und behauptete, sie sei Kontschis Frau und das Kind, das sie erwartete, von ihm. Nur nannte sie ihren Mann mit russischem Akzent »Koschi«. Die Lomonossow hatte sie hinter sich und dergleichen mehr, aber zu unserer großen Verwunderung war sie gar keine Moskauerin. Sie war aus Sibirien. Reso und Botscho musterten sie zweifelnd, sie konnten nicht glauben, dass Kontschi sie tatsächlich geheiratet oder ernsthaft vorgehabt hatte, sie zu heiraten.

Nach Kontschis Beerdigung reiste die Frau bald wieder ab. »Ich bringe das Kind zur Welt und komme zurück«, meinte sie, aber sie ist nie wieder aufgetaucht, hat auch nicht angerufen.

Botscho suchte telefonisch volle vier Jahre nach ihr in Moskau und in ganz Russland, aber ohne Erfolg. Die Jungs in Moskau bestätigten, Kontschi habe das russische Mädchen wirklich heiraten wollen, aber auch sie hätten sie nach seinem Tod nicht mehr gesehen.

Vielleicht hat Kontschi einen Sohn, und der läuft jetzt durch Moskau oder durch irgendeine andere Stadt. Vielleicht weiß er gar nicht, dass er Georgier ist, oder vielleicht erzählt es ihm seine Mutter, wenn er groß wird, und vielleicht kommt er dann zum Grab seines Vaters. Kontschi ist jetzt auf einem Marmorstein, so hab ich das Ana, meiner neunjährigen Tochter, erklärt. Auf den Stein ist ein Bild von Kontschi gemalt, er sieht aus wie lebendig, mit einem Engels­lächeln, und wenn ich ihn sehe, muss ich daran denken, wie er immer auf Russisch gesagt hat: »Nein, Mann, ich schwör’s, wir sind schon lange keine Engel mehr!«

Und es stimmt, wir sind wirklich keine Engel. Schon lange nicht mehr …

Botscho war auch Partisan, jetzt ist er ein »Ehemaliger«. Vier Jahre lang war er Partisan. Er ist ein cooler Typ, mag Pferde. Reso meint, wer Pferde mag, kann kein schlechter Mensch sein. Reso mag Hunde. Solang ich zurückdenken kann, hat er immer einen Hund gehabt, und immer solche mickrigen Promenadenmischungen. Ziala, meine Mutter, und meine Halbschwester Lali stichelten immer, er solle sich doch endlich mal einen reinrassigen anschaffen. Reso behauptete, das habe er seit Langem vor. Und dann brachte er einen Welpen, der ihm als reinrassig untergejubelt worden war, und der Welpe wuchs zu einer Promenadenmischung heran. Reso schwor dann immer, das nicht mit Absicht gemacht zu haben, und Ziala, Lali und ich wussten nie so recht, ob wir ihm glauben sollten oder nicht. Am Ende brachte Kontschi ihm einen Deutschen Schäferhund, aber bevor der groß wurde, starb Ziala. In der Zeit nach Zialas Tod war der Welpe die ganze Zeit am Jaulen.

Botscho, auch Sosimitsch genannt, der ewig junge Cousin von Reso und Kontschi, der schon früh seine Eltern verloren hat und wie ein Bruder bei Reso und Kontschi aufgewachsen ist, Botscho mit seinem Panamahut, mit seinen beiden Frauen samt Kindern, und doch frei wie ein Junggeselle, mit seinen nikotinvergilbten Fingern und seinem Schnurrbart – Botscho ist ein Zigarettenschmuggler, der selbst nur einheimischen Tabak raucht. Ich rauche auch, aber der Rauch von seinem Tabak ätzt mir echt die Nasenhöhlen weg und nach dem ersten Zug ist mir schwindlig.

Von seiner ersten Frau hat er zwei Töchter, beide schon Studentinnen, und von der zweiten einen Sohn. Der ist genauso alt wie meine Ana. Seine erste Frau hat er spät geheiratet, hielt dann ganze fünfzehn Jahre lang ihr Gemecker aus (so stellt er es zumindest dar), ließ sich scheiden und ging, um seinen Kummer zu vergessen, zu den Partisanen. Nach vier Jahren machte er Schluss mit dem Partisanenleben und heiratete noch mal. Der zweiten Frau ist er mehr oder weniger treu, nur manchmal übernachtet er bei der ersten.

»Ich gehöre zu den Dummen, die nicht merken, dass es sowohl der Regierung als auch den Frauen, wenn sie einen beruhigen wollen, nur um die eigenen Nerven geht, nicht um meine«, sagt Botscho manchmal, wenn er betrunken ist.

Botscho ist eigentlich fast immer betrunken, und alles, was er macht, ob das was Gutes oder was Schlechtes ist, macht er betrunken. Maria, seine zweite Frau, meint, Gutes gelinge ihm schlecht und Schlechtes gut. Den scharfsinnigen Spruch hat sie irgendwo gelesen. Sie liest viel.

Botscho ist jetzt Schmuggler, und das liegt ihm so, dass es schade wäre, wenn er sich etwas anderem widmen würde. Er arbeitet mit den Abchasen zusammen, die in Gali ihr Unwesen getrieben haben, die, gegen die er gekämpft und auf die er geschossen hat, mit denen macht er jetzt seine Geschäfte. Nur die Bezeichnung »Kontrabandist« kann er absolut nicht leiden, das klinge nach »Bandit«, und was das Banditentum angehe, so sei er ja wohl kaum ein größerer Bandit als die in der Regierung, pflegt er zu sagen. Die Regierung beschimpft er nach Strich und Faden, er meint, er wäre bereit, fünf Jahre seines Lebens zu opfern für deren Verderben, und das, wo er ja schon fünfundsechzig ist. Falls es dazu käme, dass es noch mal knallt, wäre er als Erster dabei und der Erste, der auf die Abchasen schießen würde, die ihn jetzt mit Zigaretten versorgten und die ihrerseits, ohne groß zu überlegen, bereit wären, auch auf ihn zu schießen. Und sie wissen das nur zu gut, aber sie haben es nicht eilig, Botscho aus dem Weg zu räumen, denn Botscho ist für sie ein verlässlicher Geschäftspartner. Botscho hofft, dass er Lunte riechen wird, wenn die Abchasen, oder auch seine eigenen Partner, die Schergen der höheren Regierungsbeamten im Schmuggelgeschäft, ihn ins Visier nehmen. Aber eigentlich haben die Abchasen Respekt vor Botscho, weil er ein echter Boewik ist, er würde nie ohne Vorwarnung auf die schießen, mit denen er gearbeitet hat.

Viele denken, Botscho sei einer von diesen draufgängerischen Typen, die nicht richtig ticken und einfach Glück haben, deshalb wäre er am Leben geblieben. Aber das stimmt wirklich nicht. Botscho versteht alles, kennt alles und berücksichtigt alles. Er weiß, unsere großen Schmuggler werden ihn über die Klinge springen lassen, die Regierungsschergen, meine ich. Sie schmuggeln Zigaretten mit riesigen Kamaz-Lkws, und nicht wie Botscho mit einem schrottreifen LuAZ-Kübelwagen, aber sie wollen sich erst einmal nicht die Hände schmutzig machen, weil er ihnen noch nicht im Weg ist. Botscho ist zwischen zwei Fronten geraten: Würde er eine große Lieferung machen, würden sich die Leute seiner eigenen Regierung über ihn als ernst zu nehmenden Konkurrenten ärgern und ihn umbringen, würde er mit kleinen Mengen arbeiten, hätten die Abchasen bald die Nase voll und würden sich an seine alten Sünden erinnern. Aber Botscho hat die goldene Mitte gefunden und schlägt nicht über die Stränge, er versteht seine Sache.

»Es ist nicht so leicht mich flachzulegen, ich bin eine alte Hure!«, sagt Botscho manchmal.

»Flachlegen« bedeutet im Sochumer Jargon »kaltmachen«. Botschos Nerven werden ganz schön strapaziert, und wenn er müde ist, geht er zu seinem Arabia.

»Arabia, alter Bursche, da bin ich!«, sagt er zu ihm, führt den Hengst zum Fluß, badet ihn, striegelt ihm mit einer rechteckigen Bürste, die mehr nach einem Schaber aussieht, das Fell glatt und reitet ihn. Arabia schont sich nicht, im Galopp die Nerven seines Besitzers zu glätten. Danach lässt Botscho Arabia ausruhen, gegen Abend führt er ihn wieder zum Baden und zum Bürsten an den Fluss, und seine Nerven sind endgültig beruhigt.

Arabia war auch Partisan. Wie sein Besitzer ist auch er jetzt ein Ehemaliger.

Mit solcherart beruhigten Nerven geht Botscho bei seiner ersten Frau vorbei, lässt Geld da, und wenn die Kinder nicht zu Hause sind, bleibt er über Nacht. Geld hat Botscho immer, Kontschis Leiche hat er auf eigene Kosten von Moskau überführen lassen, und auch das Grab hat er übernommen, ansonsten hätten weder Reso noch ich Geld dafür gehabt.

Botscho spürt immer, wenn ich nach Sugdidi komme, und wenn er keine Zeit hat, schickt er jemanden, um mir auszurichten, er würde gegen soundso viel Uhr vorbeikommen, und erscheint dann auch immer zum angekündigten Zeitpunkt. Und als Erstes gehen wir dann zu Kontschis Grab. Wir nehmen Wein mit, echten Odschaleschi, den mochte Kontschi, und besaufen uns so richtig, denn mit mir zu trinken, ist für Botscho ein echtes Vergnügen, genau wie für mich.

»Wie hat er immer gesagt?«, fragt mich Botscho, wenn er ordentlich betrunken ist. Er meint Kontschi. Und Kontschi lächelt uns vom Grabstein aus zu, als wäre er lebendig.

»Wir sind schon lange keine Engel mehr! Wir sind Engel im Ruhestand!«, antworte ich.

»Das hat er gut gesagt, echt gut gesagt! Komm, trinken wir auf die Engel im Ruhestand!«, sagt Botscho, und seine Laune trübt sich, weil er nie wieder ein Engel sein wird. »Auf die Engel im Ruhestand, auf das, was wir waren in ferner Kindheit und was wir nie wieder sein werden!«

Ich stoße mit ihm an, und wir trinken auf die Engel im Ruhestand.

Dann trinken wir auch auf Sochumi, und Botscho beißt sich in die Hand, damit er nicht weinen muss, so wie er das auch im Krieg immer gemacht hat.

»Wir kehren zurück«, sagt Botscho auf Russisch zu dem Kontschi auf der Marmortafel. »Alles wird wieder wie gehabt, Mann, wir kehren zurück, und dich nehmen wir mit!«

Kontschi ist bereit zurückzukehren, Botscho hat seinen Sarg vor der Beerdigung in einen hermetisch verschlossenen Edelstahlkasten legen lassen, damit seine Leiche nicht verwest.

»Alles wird so, wie du es dir vorgestellt hast!«, sage auch ich zu Kontschi.

Dann wird Botscho anstrengend, weil er nur noch von den Verstorbenen spricht.

»Weißt du noch?«, fragt er und dann geht’s los.

Wir Sochumer waren nach Cafés unterteilt, also danach, wer vor welchem Café rumhing ‒ »Ledniker«, »Pinguiner«, »Pitatschoker«, »Elbrusler«, »Brechalowker«, »Skwaznjaker«, »Teremoker«, »Barmaleitschiker«, »Tsche­bu­ra­schkler«, »Ertsachuler«, »Abchasier«, »Apraler«, »Amraler«, »Tschernomoretser« und noch ein paar andere. Nach und nach tauchen die Jungs in unserer Erinnerung auf. Kontschi war Pitatschoker, ich Ledniker, Botscho eher Brechalowker. Wir gingen einander auch besuchen. »Die Ledniker sind angedockt«, sagten die anderen über uns, wenn wir zu Besuch kamen. »Die Elbrusler sind eingetroffen«, sagten wir, wenn die Elbrusler zu Besuch kamen, und dann ging es los mit dem Ausgeben auf Pump, gegen Ende stiegen wir auf den Tisch, und dort wurden die letzten Trinksprüche ausgebracht. Das Anstoßen aufs »Auseinandergehen ja, vergehen niemals!« endete im Amra immer damit, dass der Tisch ins Meer flog. Das erschwerte die Sache mit dem Pump. Selbst wenn sie kein Geld für den ins Meer geschmissenen Tisch nahmen, bei der Geschäftsleitung kam es dann nicht mehr infrage, anschreiben zu lassen. Am nächsten Tag brüsteten wir uns: »Die Elbrusler haben uns besucht«, und mit dem Satz war gemeint, dass wir uns nicht blamiert hatten, und wenn die Elbrusler sagten: »Wir haben die Ledniker besucht«, dann hieß das, dass die Gastgeber nichts hatten auf sich kommen lassen.

Das bedeutete uns alles.

Und es war toll!

Was haben wir jetzt?

Nicht viel. Höchstens die widerlich zufriedenen Fressen gut gesättigter Politiker im Fernsehen. Und einen uralten Witz, den ich mal Ana erzählt habe, als ich betrunken war, wo Breschnew bei einem Treffen mit Jungpionieren um Scheibenwischer gebeten wird. »Und wozu?«, fragt Breschnew. »Für den Fernseher, mein Vater spuckt immer auf den Bildschirm, sobald Sie zu sehen sind.«

Ansonsten nichts, außer Botschos Flennen und sein »Ich flenne nicht, verdammt … einfach nur …«, und danach sein irres Lachen.

Botscho schämt sich nicht zu weinen, er hat so viel gesehen, dass er sich nicht mehr schämt.

»Nein, wir sind schon lange keine Engel mehr!«

Korkelia hatte Kontschis Spruch übernommen.

Korkelia ist auch nicht mehr da, er war Pitatschoker.

Vielleicht wandelt jetzt sein Gespenst auch im Pitatschok umher, so, wie in den alten Schlössern von England die Gespenster umhergeistern. Kann sein, dass er in diesem Augenblick dort sitzt, mit einem Streichholz zwischen den Zähnen und mit ernster Miene, und sich gerade einen neuen Witz ausdenkt, den er nachher in Umlauf bringt, damit sein Spruch noch am selben Tag im Lednik, Pinguin, Pitatschok, Elbrus, Brechalowka, Skwaznjak, Teremok, Barmaleitschik, Tscheburaschka, Ertsachu, Abchasia, Apra, Amra, Tschernomorets und in sämtlichen anderen Cafés und Versammlungsorten umgeht. Und vielleicht sind da auch die anderen und warten auf Korkelias Witz. Vielleicht sitzen sie mit denen zusammen, auf die wir im Krieg geschossen haben. Nicht nur vielleicht, sondern ganz bestimmt, denn, wie Botscho immer sagt, in deren Welt gibt es keine Kriege, weil es dort keine Erde gibt, die Seelen schweben im Himmel, und Himmel, im Gegensatz zu Erde, gibt es so viel, dass es für jeden reicht und sogar noch was übrig bleibt …

Übrigens war Korkelia die ganze Woche vor seinem Tod nicht ganz bei sich. Er starb an einem bewölkten Tag, bei »regennassem Wetter«, wie Botscho sich an jenem Morgen ausdrückte.

Bis dahin hatte es zwei Tage lang durchgeregnet. Und am drittem Tag, als wir mit unserer Mission fertig waren, hörte es auf.

Wir waren müde. Seit zwei Tagen hatten wir nichts zwischen die Zähne gekriegt, wir hatten nach Kräften gekämpft, uns nicht geschont, waren ohnehin schon in Schweiß gebadet, und dann hatte uns auch noch der Regen durchnässt. Am dritten Tag teilten sie uns zum Absichern ein. Wir hatten den Feind auf einem beinahe berghohen Hügel in die Umzingelung eines anderen Bataillons gedrängt, und falls jemandem die Flucht gelang, sollten wir ihn gefangen nehmen.

Wir bezogen in einem verlassenen Kalksteinbruch Stellung.

Am muntersten sah Botscho aus, aber sobald wir am Steinbruch ankamen, trübte sich seine Stimmung, er war allergisch gegen Kalkstaub.

Der Kabardiner, den wir in einem Loch aufstöberten, war MG-Schütze. Er wirkte ebenfalls erschöpft. Sobald ihm klar war, dass es kein Entkommen gab, hörte er auf zu schießen. Botscho nieste andauernd, obwohl es nach dem Regen überhaupt keinen Staub gab. Er meinte, dass er vor langer Zeit, als Kind, mal in dem Steinbruch gewesen sei, damals sei die ganze Gegend voller Staub gewesen, und er habe so eine Allergie bekommen, dass er nur knapp überlebt habe, daran müsse er jetzt denken und deshalb niesen. Ich mutmaßte, er habe sich vielleicht erkältet, aber Botscho blieb bei seiner Meinung. Zorro scherzte, Botscho habe die »Erinnerungsallergie«, und er stieß mit dem Ellbogen Korkelia an, der neben ihm lag. Korkelia ging nicht drauf ein. Sonst hätte er irgendeinen Witz gerissen, über den wir uns totgelacht hätten, aber an dem Tag war er nicht in Stimmung.

Nachdem er genug vom Niesen hatte, rief Botscho dem Kabardiner in dem Loch zu, er solle aufgeben, sonst würden wir Handgranaten reinwerfen, und er gebe sein Wort, dass wir ihm nichts tun würden, wir seien echte Boewiken und würden Gefangene gut behandeln. Der Mann rief etwas in seiner Sprache, auf Kabardinisch. Er rief das dem Hügel hinter sich zu, besser gesagt, seinen Kameraden auf der flachen Kuppe des Hügels, die umzingelt waren. Der Hügel schwieg.

Dort leisteten die zersprengten Reste der feindlichen Truppen, die wir während der letzten zwei Tage so gut wie vernichtet hatten, Widerstand, wenn auch keinen organisierten. Und nachdem der Hügel dem Kabardiner nicht antwortete, rief er, er würde sich ergeben. Wir forderten ihn auf, aus dem Loch zu kommen, aber er rührte sich nicht. Er blieb einfach da sitzen und kam nicht raus.

»Verdammte Scheiße!«, sagte Korkelia plötzlich. Er zog seine Augenbrauen, die wie zwei Waggons eines Zuges miteinander verbunden waren, fast wie eine Mütze über die Augen. Er rannte auf das Loch zu. Ich beobachtete seinen mit Schlamm verschmierten Hintern und seinen mit Schweißringen bemalten Rücken, und es kam mir vor wie ein Traum. Korkelia wickelte sich den Gurt von seinem Gewehr um den linken Arm, das machte er immer, er meinte, falls er angeschossen würde, ließe er so sein Gewehr nicht fallen. Ich dachte immer noch, ich würde träumen, und konnte nicht glauben, dass Korkelia so einen Unsinn machte. Seine Nike-Schuhe mit den grünen Grasspuren hasteten jedoch immer weiter, es schien, als würden sie ihren Besitzer zu dem Loch tragen.

Korkelias Rücken mitsamt den Schweißflecken zitterte vor Anspannung, und auch seine Stimme klang angespannt, als er dem Typen im Loch etwas zurief, er versuchte, ihn zu beschwichtigen. Die Sohlen seiner Sportschuhe waren ebenfalls grün-weiß. Er ist von Kopf bis Fuß mit Schlamm verschmiert, und seine Schuhe sind so sauber, dachte ich kurz.

»Was geht denn hier ab, verdammte Scheiße?«, rief Botscho. Er lag hinter dem verrosteten Motor eines Raupentraktors versteckt. Der Motor lag neben dem Traktor, der bestimmt noch vor dem Krieg hier abgestellt worden war. Zwischen den Kettenraupen des Traktors war Gras gewachsen, und das sah anders aus als das Gras drum herum; weil es im Schatten wuchs, war es ein bisschen weißlich, es hatte fast die gleiche Farbe wie Korkelias Schuhe. Und Botscho nahm Anlauf, sprang über den Motor, blieb kurz auf der Motorhaube sitzen und kroch dann aufs Dach des Traktors. Wir begriffen, dass er den Typen im Loch von dort ganz gut sehen konnte. Der Kabardiner erschrak durch den Lärm, den Botscho machte, und schoss auf Korkelia. Dann bemerkte er anscheinend Botscho, kapierte, dass er nicht schneller abdrücken konnte als der, und hob die Arme.

Korkelia war sofort tot, weder zappelte er mit den Beinen, noch krallte er sich mit den Fingern in die Erde. Ich dachte sogar, er würde das spielen. Es wirkte unnatürlich, so plötzlich zu sterben.

Anscheinend glaubten auch die anderen nicht an seinen Tod, und deshalb schossen sie nicht auf den Gefangenen. Auch Botscho schoss nicht auf ihn, er sprang runter auf die Motorhaube, dann auf den Boden, ohne dass sein Gewehr auch nur im Geringsten gewackelt und er das Ziel aus dem Visier verloren hätte. Der Gefangene kniete sich hin und berührte mit der Stirn den Boden, als würde er beten. Botscho machte bei Korkelia nicht halt, anscheinend ahnte er schon, dass er tot war. Wahrscheinlich sah der Tod von oben viel überzeugender aus.

Wir gingen zu Korkelia rüber. Ich schaute auf seine Sportschuhe. Sein linker Arm, um den der Gewehrgurt gewickelt war, war unnatürlich nach hinten verdreht. Als die Kugeln in seine Brust eingedrungen waren und er nach hinten gekippt war, hatte sein Gewehr den linken Arm mitgezogen. Der Arm sah aus, als wäre er ausgekugelt.

Wenn du Korkelia nicht besser kanntest, hättest du ihn für zynisch gehalten, denn wenn er sich über jemanden lustig machte, setzte er eine überhebliche Miene auf und schien denjenigen fertigmachen zu wollen. Aber sobald der Betroffene sich ärgerte, lachte Korkelia so herzlich, dass jener seinen Ärger sofort vergaß. In solchen Momenten warst du sicher, dass sein fieser Blick nur gespielt war. Nach dem Lachen machte er wieder auf überheblich, sogar seine Augenbrauen spielten mit, auch sie waren irgendwie überheblich geschwungen, und da hast du sofort gedacht, dass nicht der fiese Blick, sondern sein herzliches Lachen gespielt war. Wenn er mit seinen Scherzen fertig war, seufzte er wehmütig, und da wurde dir klar, dass er kein böser Mensch sein konnte.

In der Hosentasche des Kabardiners fanden wir ein Gummiohr, das von einem echten kaum zu unterscheiden war. Vielleicht war er auch ein Spaßvogel gewesen, genau wie Korkelia, bestimmt hatte er das Ohr den neu eingetroffenen Soldaten gezeigt und gesagt, es wäre von einem Georgier, den er getötet hätte.

Botscho erschoss den Gefangenen aus sehr kurzer Entfernung, etwa einem halben Meter. Zorro, der sah, dass Botscho den Gefangenen erschießen wollte, riet ihm, nicht so nah ranzugehen, sonst würde das Blut auf ihn spritzen. Aber Botscho war es egal, ob das Blut auf ihn spritzte oder nicht. Er befahl dem Gefangenen aufzustehen. Aber der war völlig verstört, anstatt aufzustehen, legte er sich auf den Rücken, und sein Blick wurde starr, es war keine Angst in seinen Augen, sie wirkten wie die eines Irren oder als wäre er blind und würde nur darauf warten, dass er sein Augenlicht zurückbekäme, um endlich sehen zu können, mit wem er es zu tun hatte.

Vor seinem Tod fing der Gefangene so stark an zu zittern, dass mir schlecht wurde. Botscho schoss ihm zuerst in die Brust, dann in den Kopf, um den er eine grüne Schnur gebunden hatte, dann ging er zu Korkelia und schaute auf seine nassen Oberschenkel.

Korkelia hatte eine Blasenentzündung gehabt, er litt an Blasenschwäche. In der letzten Zeit hatte er aus Prinzip keine warmen Socken und Schuhe getragen. Früher hatte er sie getragen, und das hatte auch geholfen.

Botscho schaute noch einmal auf Korkelias nasse Oberschenkel, und da ging auf dem Hügel eine Schießerei los. Die Umzingelten leisteten den Angreifern mehr Widerstand, als wir gedacht hatten. Wir legten uns auf den Boden, für alle Fälle, nur Botscho blieb stehen. Zorro stand wieder auf: »Wenn du dich nicht hinlegst, bleib ich an deiner Seite«, sagte er zu Botscho.

»Hätte ich nicht so einen Krach gemacht, hätte der Hurensohn nicht auf Korkelia geschossen. Der Krach hat ihn erschreckt, und deswegen hat er geschossen … Da bin ich mir sicher!«, erklärte uns Botscho in einem Tonfall, als wäre das Ganze schwer nachvollziehbar.

Ich lag in der Nähe von Korkelia, einen knappen Meter von seiner Halbglatze entfernt. Er hatte strohblondes Haar. Ich kroch rückwärts von ihm weg und hielt kurz inne, um Kraft zu sammeln, dann drehte ich mich um und kroch zum Traktor. Die Raupen erwiesen sich als ungeeignet zum Anlehnen. Irgendwie dachte ich, wenn ich mich mit dem Rücken irgendwo anlehnen könnte, an einem Baum oder einer Wand, würde ich mich besser ausruhen können, und meine Müdigkeit und meine Angst würden schneller verschwinden. Das ging mir öfter so, und Korkelia hatte sich immer darüber lustig gemacht: Bei mir brauche doch immer nur der wichtigere Teil meines zentralen Nervensystems Pause, nämlich das Rückenmark. Und mir gehe es wie einem Hund, der ohne eine Wand oder einen Baum nicht pinkeln könne. Ich ließ das mit dem Traktor und ging hinter dem Motor in Deckung, wo zuvor Botscho Stellung bezogen hatte. Da saß schon Siordia.

Siordia war in Ordnung, er hatte nur die merkwürdige Angewohnheit, jeden, der ihm nicht gefiel, als Satan zu bezeichnen, »der ist ein Satan, ich schwör’s dir, Alter«, und dann spuckte er kräftig aus. Diesbezüglich hatte Korkelia einen Witz eingeführt im Bataillon: »Siordia hat deinetwegen gespuckt.«

Siordia weinte. Irgendwie hat sonst keiner von uns geweint.

»Wie konnte das nur geschehen?«, klagte Siordia und wischte sich die Tränen ab. »Ich kann’s einfach nicht glauben.«