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Nr. 2607

 

Der Fimbul-Impuls

 

Invasion ins Herz der Sonne – eine Terranerin trifft auf die Mosaikintelligenz

 

Wim Vandemaan

 

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In der Milchstraße schreibt man das Jahr 1469 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) – das entspricht dem Jahr 5056 christlicher Zeitrechnung. Der furchtbare, aber kurze Krieg gegen die Frequenz-Monarchie liegt inzwischen sechs Jahre zurück. Die Bewohner der Erde erholen sich langsam von den traumatischen Ereignissen.

Nun hoffen die Menschen sowie die Angehörigen anderer Völker auf eine lange Zeit des Friedens. Perry Rhodan und seine unsterblichen Gefährten wollen die Einigung der Galaxis weiter voranbringen; die uralten Konflikte zwischen den Zivilisationen sollen der Vergangenheit angehören.

Dabei soll die phänomenale Transport-Technologie des Polyport-Netzes behilflich sein. Mithilfe dieser Technologie bestehen Kontakte zu weit entfernten Sterneninseln, allen voran der Galaxis Anthuresta, wo sich die Stardust-Menschheit weiterentwickelt.

Doch längst lauert eine ganz andere Gefahr, von der die Bewohner der Milchstraße bislang nichts ahnen können. Perry Rhodan verschlägt es mitsamt der BASIS in die unbekannte Doppelgalaxis Chanda, während auch das gesamte Solsystem an einen fremden Ort entführt wird. Reginald Bull muss sich nun gegen fremde Eindringlinge wehren, die eine große Gefahr mit sich bringen. Diese ist DER FIMBUL-IMPULS ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Reginald Bull – Der Terranische Resident unternimmt eine besondere Expedition.

Shanda Sarmotte – Die Stardust-Mutantin setzt ihre Gaben für unterschiedliche Zwecke ein.

Mofidul Huq – Ein Sonnenphysiker lebt für seinen Beruf.

Shamsur Routh – Der Journalist sucht seine Tochter und die seltsamen Auguren.

1.

Terrania

9. September 1469 NGZ, 22 Uhr

 

Shanda Sarmotte spürte Sorge und Dunkelheit tief unter sich. Sie schwebte fast bewegungslos über der Ruine, einem erstarrten See aus Metall, Glassit und Plastik. Die starken Scheinwerfer von Bolandens Einsatzkommando erleuchteten das Trümmerfeld, das bis vor einer Stunde der Wohnturm Gayatri C gewesen war.

Die Medoroboter harrten auf ihren Prallfeldern der Befehle. Die Abstrahlfelder der Desintegratorfräsen schimmerten in einem hauchdünnen Grün.

Shanda lebte seit sechs Jahren auf Terra. Den größten Teil dieser Zeit hatte sie in Terrania City verbracht. Nicht genug, um jeden Wohnturm oder auch nur jeden Stadtteil kennenzulernen.

Die Sorge, die sie spürte, hatte ein Gesicht, ein rundes und junges Gesicht mit weit aufgerissenen Augen, den Tränen nah. Sie spürte die Angst als Herzschlag. Das Pochen füllte den Leib an und drohte ihn förmlich zu sprengen. Das Gesicht aber war wie in Kummer erstarrt.

Sie spürte, wie sich die Zunge im trockenen Gaumen dieses Kopfes, der tief unter ihr im Schutt begraben lag, bewegte, wie sie über die Lippen fuhr. Sie spürte, wie die Zunge und die Lippen einen Namen artikulierten, und sprach ihn nach, und die Sorge und ihr Gesicht bekamen einen Namen: Cevim.

»Cevim Cevim Cevim.«

»Hast du etwas entdeckt?«, fragte eine Stimme in ihrem Helm.

Sie nickte. »Ja. Es ist ein Kind. Es hat Angst.«

»Verstanden«, sagte die Stimme.

Sie dachte: Wir haben alle Angst. Aber das Kind hat Todesangst. Kein Kind sollte Todesangst haben. Niemals.

»Ein Kind«, wiederholte die Stimme. »Hast du es schon lokalisiert?«

Cevim Cevim Cevim.

»Sie heißt Cevim«, sagte sie. Sie ließ den SERUN, in dem sie steckte, ein wenig hin und her pendeln, konzentrierte sich, richtete all ihre paranormale Aufmerksamkeit auf das Trümmerfeld hundert Meter unter sich, sondierte, wo die Angst stärker, wo schwächer war. Sie spürte vier weitere Flecken Angst: zwei beieinander, nah der Oberfläche; zwei andere vereinzelt. Starke Vitalzeichen. Weniger Angst als bei dem Kind.

»Vier Erwachsene und das Kind«, sagte sie.

Keiner der Flecken leuchtete so vor Angst wie Cevim. Obwohl Cevims Angst tiefer schien, tief im Abgrund der Trümmer, die einmal Gayatari C gewesen waren, ein Wohnturm im Norden von Terrania City.

»Wo müssen wir hin?«, drängte die Stimme. »Shanda? Wo sollen wir hin? Gib uns die Koordinaten.«

Die vier Flecken Angst und der Flecken Cevim mussten etliche Dutzend Meter voneinander entfernt liegen. Sie hob den letzten Rest ihres paranormalen Visiers und fühlte, wie sie in Cevims Geist gezogen wurde. Sie spürte die weit aufgerissenen Augen, die in die unterirdische Nacht starrten, sie spürte Cevims Herzschlag im eigenen Hals, sie sah mit erschreckender Eindringlichkeit das kindliche Gesicht, wie es sich selbst in Erinnerung hatte.

Für einen Moment glaubte sie, das starre Gesicht sei tot. Unsinn. Dann hätte sie keine mentalen Impulse mehr empfangen. Vor Schreck hatte sie ihren Geist in Schutz genommen.

Warum hatte das Kind sich so deutlich vor dem inneren Auge? Hatten Kinder in diesem Alter so exakte Eigenbilder?

Shanda Sarmotte hob ihr Visier wieder, ohne den telepathischen Kontakt zu verlieren. Dann versuchte sie, ein Muster in der Trümmerlandschaft zu erkennen.

Aussichtslos.

»Andraes? Denk bitte einmal an das Verfahren nonverbaler Datenübermittlung im SERUN.«

»Ja«, sagte Andraes Bolanden. Der Einsatzleiter konzentrierte sich. Shanda begann mit der Wissensentnahme.

Die Leute vom Terranischen Institut für Paranormale Individuen – kurz TIPI – nannten sie eine Informationsextraktorin. Oder Zerebral-Einbrecherin. Dabei würde eine Einbrecherin Schaden anrichten – wenigstens neuronalen oder mentalen Schaden.

Shanda Sarmotte aber tauchte in den fremden Geist ein wie in ein flüssiges Medium. Der Taucher verletzt das Wasser nicht, in das er taucht.

Bolandens Gedanken waren konturiert und exakt – wenigstens an der Oberfläche. Im Fundament seiner Vorstellung dagegen pochte eine tiefgreifende Beunruhigung.

Shanda warf neugierig einen telepathischen Blick in diesen Untergrund seines Bewusstseins.

Zu ihrer Überraschung stieß sie auf das Bild eines großen schlanken und – da unbekleidet – unverkennbar weiblichen Körpers. Der Kopf drehte sich, und sie sah ein schmales Gesicht mit grünblauen Augen – ihr eigenes Gesicht. An einer ziemlich verborgenen Körperstelle leuchtete ein Tattoo, von dem sie gar nicht gewusst hatte, dass sie es trug.

Die Lippen ihres Gesichtes in Bolandens Phantasie lächelten, dann formten sie lautlos einen Namen: Andraes.

Sie musste grinsen. Die männliche Psyche folgte schon einer sehr urtümlichen Programmierung.

Sie hob ihren Geist aus den Tiefen von Bolandens Phantasie zurück auf die artikulierte Bewusstseinsebene. Dort entnahm sie den Rest Fachwissen und setzte es unter Rückgriff auf den Datenstrom der Sonde um: Auf ihren Befehl verdunkelte sich der fotosensitive Blendschutz des Transparenzhelms; die neue Außensicht wurde komplett synthetisch erzeugt. Das Modell präsentierte nicht nur die sichtbare Oberfläche der Trümmerlandschaft, sondern auch ihre Tiefenstruktur: ihre gequetschten und verdrehten, zugeschütteten Räume, ihre wenigen Kavernen. Wärmespuren, Sauerstoff- und Stickstoffgehalte der eingeschlossenen Luft wurden erkennbar.

Shanda suchte die Stelle, an der sie Cevim vermutete. »Dort«, sagte sie leise. Die Positronik des SERUNS war ihren Augenbewegungen und Blicken ins Modell gefolgt. Sie markierte den Fundort, berechnete die Koordinaten und übermittelte sie Bolandens Kommando.

Danach kennzeichnete Shanda mit ihren Augenbewegungen die Orte der anderen vier verschütteten Personen.

Bolandens Desintegratorfräsen bahnten sich ihre Wege durch die Bruchstücke des Wohnturms. Shanda schloss sich der Einheit an, die Cevim retten sollte.

Es dauerte keine zehn Minuten, bis die Maschinen einen dreißig Meter tiefen Schacht geschaffen hatten, an dessen Grund das Kind lag. Behutsam zogen die Medoroboter den kleinen Körper in ihre Traktorfelder und trugen ihn nach oben.

Shanda landete neben dem Kind. Es war ein Mädchen, keine drei Jahre alt. Seine Augen waren immer noch schreckensweit. Die Medoroboter gaben sanfte, unartikulierte, irgendwie weibliche Geräusche von sich, und ein weiterer großer Medoroboter schwebte heran. Er war zu groß, um in dem Trümmerfeld zu agieren, ersetzte aber zumindest für kurze Zeit eine ganze Notfallabteilung.

Shanda ließ den Helm ihres SERUNS in den Kragen zurückmorphen. »Hallo, Cevim.«

»Cevim bitte holen«, sagte das Mädchen mit ganz schwacher Stimme. »Sie ist bitte so allein.«

»Wie heißt du?«, fragte sie das Kind.

»Ilinad. Bitte die Cevim holen.«

Shanda nickte ernst, obwohl sie hätte lächeln wollen. Cevim – das Gesicht, das dem Kind all die Stunden in seinem Verlies vor Augen gestanden hatten, sodass es an nichts anderes denken konnte, die Cevim, um die sie sich so gesorgt hatte, war nicht sie selbst. Das Kind hatte Todesangst gelitten um ihre Puppe.

»Wir werden Cevim retten«, versprach sie. »Wir werden alle retten.«

Mittlerweile waren die Eltern des Kindes identifiziert. Sie hatten die Katastrophe überlebt, als das Nirvana-Phänomen dem Wohnturm das Fundament und die materielle Integrität geraubt hatte und das Gebäude zusammengesackt war wie eine Sandburg im Platzregen.

»Deine Eltern warten auf dich, Ilinad«, sagte der Medoroboter.

»Alles wird gut«, fügte Shanda hinzu.

»Cevim auch?«

»Alles. Fest versprochen und besiegelt so.« Bei so küsste sie die Stirn des Mädchens, die nach Staub und Schweiß schmeckte. Wunderbar lebendig.

Der Medoroboter schob sie sanft fort und versetzte das Kind mit einem Narkosepflaster in den Heilschlaf.

Shanda Sarmotte sah Bolanden und ging auf ihn zu. Sein Gesicht war von den Anstrengungen der letzten Stunden gezeichnet.

Sie hatten über fünfzig Menschen aus den Trümmern von Gayatri C gerettet. Über ein Dutzend Bewohner hatten sie nur als Leichen bergen können. Wie viele Tote insgesamt in dem Stahlplastsee lagen, wusste niemand. Die Informationslage war deprimierend. Zu viele Wohnungsservos waren ausgefallen.

»Gut gemacht.« Bolanden lächelte müde.

»Du sollst mir nicht schmeicheln«, sagte sie. »Es hat keinen Effekt. Deine nudistischen Wunschträume übrigens auch nicht. Außerdem sind sie in gewissen Details falsch.«

Er sah sie forschend an, dann schüttelte er tadelnd den Kopf. »Du sollst doch nicht in der Schatzkammer meiner Gefühle stöbern.«

»Ich will nur nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst«, sagte sie behutsam. Bolanden war ihr nicht unsympathisch. Aber sie lebte seit einiger Zeit mit Rence Ebion zusammen. Eine zufriedenstellende Beziehung, meist sogar am Rande des Glücklichseins.

»Besser falsche Hoffnungen als keine Hoffnungen«, sagte Bolanden.

»Sie hat ihre Puppe verloren«, sagte Shanda. »Kümmert sich jemand darum?«

»Um ihre Puppe?«

»Sie heißt Cevim.« Sie dachte an das merkwürdig lebendige, besorgte Gesicht der Puppe, das sie in Ilinads Geist gesehen hatte. »Sie scheint ziemlich hochwertig zu sein – ›semiszient‹, wenn ich die Werbesprache der SyndiXtra Inc. verwenden würde.«

Bolanden schüttelte unwillig den Kopf. »Sie hat eines von diesen Horror-Spielzeugen verloren? Da hat die Katastrophe ja mal etwas Gutes bewirkt.«

Sarmotte wusste, dass Bolanden bei Weitem nicht der Einzige war, der das Vordringen der halbbewussten Spielwaren in die Kinderzimmer missbilligte. Einmal hatte er ihr gegenüber von einer Invasion gesprochen. »Kybb-Titanen und Feueraugen haben wir abgewehrt. Aber irgendwann wird Terra von diesen Spielzeugen übernommen.«

»Wenn es so weit ist, ergibst du dich einfach«, hatte Sarmotte geraten. »Dann lassen sie dich leben.«

Sie blickte Bolanden in die Augen. »Die Puppe ist ihr wichtig. Du kümmerst dich darum?«

»Nur nicht«, sagte er und tat, als müsste er noch einmal darüber nachdenken. »Was krieg ich denn dafür?«

Sie machte kurz einen Kussmund. »Dein Antlitz wird auf ewig eingebrannt sein in ein Kinderherz.«

»Ja, dann«, sagte er resignierend. »Und was ist mit deinem Herzen?«

»Schlägt sich ganz gut. Danke der Nachfrage.«

»Ich meinte meine Chance auf eine Berücksichtigung.«

Es tat gut, inmitten der Verwüstungen vom Leben zu sprechen. Und von den Perspektiven zu phantasieren, die es bot. »Gib die Hoffnung nicht auf.«

»Ich habe soeben einen Vorrangbefehl erhalten«, unterbrach ihr SERUN mit seiner sanften männlichen Stimme ihren Flirt. »Wir sollen hier abbrechen und zur Solaren Residenz fliegen. Der Terranische Resident fordert dich zu einem Risikoeinsatz an.«

Shanda schaute zur Zeitangabe. Es war der 9. September 1469 NGZ, 22.30 Uhr. Seit vier Tagen befand sich das Solsystem in der Anomalie. Das war ein Name, der beruhigend nach Wissenschaft klang. Aber die Wissenschaftler hatten noch nicht herausgefunden, wo im Verhältnis zur Milchstraße dieses Miniaturuniversum lag.

Sie hatten nicht einmal herausgefunden, wie dieses nicht einmal 150 Lichtjahre durchmessende Raum-Zeit-Kontinuum funktionierte. Sie wussten nur, was alle wussten: Die hiesigen anormalen Phänomene – das Nirvana-Phänomen, die Gravoerratik, die Gravospaltung und ihre verschiedenen mentalen Seiten- und Nebenwirkungen – gefährdeten zusammen mit dem Bombardement von Himmelskörpern aus dem bei der Versetzung teilweise verlagerten Kuiper-Gürtel und der Oortschen Wolke die menschliche Zivilisation auf den bewohnten Welten des Solsystems.

Die Menschen brauchten jede Hilfe, und zwar vor Ort. Shanda würde sich nicht zusammen mit Bull oder anderen Regierungsmitgliedern, mit Leuten vom TLD oder auch nur vom TIPI in irgendwelche unbekannten Fernen aufmachen.

Sie schüttelte den Kopf und warf einen Blick auf das schlafende Mädchen. »Wir bleiben hier. Nirgends werden wir dringender gebraucht als hier.«

»Ich nehme deine Ablehnung zu Protokoll«, sagte der SERUN.

»Wir starten wieder«, sagte Shanda. »Wir haben genug zu tun.«

Die Mederoboter hatten das schlafende Mädchen behutsam in eine Transportkapsel gelegt. Die Kapsel würde so bald wie möglich von einem Raupenfahrzeug abgeholt und in eine Klinik gebracht werden. Antigravmaschinen wurden zurzeit nur im äußersten Notfall eingesetzt. Ihr Betrieb war unsicher und riskant.

Shanda schwebte wieder über der Trümmerlandschaft, als sich der Terranische Resident persönlich bei ihr meldete.

Die Display-Projektionen in ihrem Blickfeld verblassten. Der Holoprojektor ihres SERUNS präsentierte ein Bild von Reginald Bull.

»Hallo, Shanda.«

»Resident.« Shanda begrüßte ihn mit einem Nicken.

»Ich habe beim TIPI gehört, dass du in Terrania eingesetzt wirst. Ich brauche wirklich deine Hilfe.«

»Hier werde ich auch gebraucht.«

»Das weiß ich«, sagte Bull leise. »Der Einsatz, zu dem ich dich bitte, ist gefährlich.«

»Ich bin nicht feige.«

Bull lächelte. »Das wollte ich nicht andeuten. Ich will dich auch nicht mit der Gefahr locken.«

»Hier kann ich Leben retten«, verteidigte sie sich.

»Sicher«, sagte Bull. »Wie ich höre, hast du das bereits. Du würdest in dieser Nacht sicher noch viele Leben retten. Fünf, zehn, vielleicht noch mehr. Aber der Einsatz, für den ich dich brauche, könnte noch mehr Leben retten. Milliarden.«

»Ich verstehe«, sagte sie. Derartige Zahlenspiele waren ihr zuwider. Entwertete die hohe Zahl von Leben das Leben der vergleichsweise wenigen, die unter den Trümmern in Terrania lagen?

»Es geht um eine Gefahr, die auch die bedrohen könnte, die du schon gerettet hast. Ich fürchte, sie schweben alle in Lebensgefahr, ohne davon zu wissen.«

Also Ilinads Leben, setzte sie in Gedanken hinzu. Eine ziemlich entwaffnende Argumentation.

»Ich werde auf keinen Fall ohne Rence fliegen«, sagte sie in einer Aufwallung von Gefühl, die sie selbst überraschte.

Bull sah sie ruhig an. »Ich hoffe, das wirst du doch.«

 

*

 

»Ich muss los«, informierte Shanda Sarmotte Andraes Bolanden.

Er nickte. »Wenn einen der Ruf des Residenten ereilt ...«

»Kümmere dich um Ilinad«, bat sie. »Und um Cevim.«

Bolanden warf einen Blick in den rot glühenden Nachthimmel, der wie leergefegt von Sternen über ihnen stand, und grummelte eine Zustimmung.

Er neigte den Kopf ein wenig. Offenbar kam eine Nachricht über seinen SERUN herein. »Hoher Besuch. Emmanuel Buccanphor will uns besuchen.«

Shanda zog die Augenbrauen fragend in die Höhe. »Der Bürgermeister?«

Bolanden nickte. »Er hat vor einigen Jahren den Gayatri-Komplex eröffnet. Er war bei der Geburt dabei. Jetzt kommt er auch zur Beerdigung.«

Sie schwiegen beide für einen Moment.

»Nur der Neugierde halber«, fragte Shanda schließlich. »Wie kommst du auf ein Tattoo? Das übrigens nicht vorhanden ist.«

»He! Halt dich raus aus meinem Kopf!«

Aber da hatte Shanda Sarmotte bereits einen Blick in seinen Geist getan. Diese beiden also. Zwei Leute vom TIPI. Männer. Als die Kosmokraten ihr Programm installiert haben, muss es den Chaotarchen gelungen sein, einen Virus einzuschleusen.

Sie verdrehte die Augen.

»Viel Glück«, sagte Bolanden und lächelte.

Sie lächelte zurück.

2.

Terrania

9. September 1469 NGZ, kurz zuvor

 

Als Bull in den Raum trat, sagte Urs von Strattkowitz, der Erste Staatssekretär im Ministerium für Forschung, Wissenschaft und Innovation, gerade: »Dass die Erscheinung des Solsystems in diesem Miniaturuniversum derartige Unruhe auslöst, sollte uns nicht wundern. Mit dem Solsystem ist ein mächtiges und vor allem dynamisches Gebilde materialisiert. Wir müssen bedenken, dass die Sonne ja nicht stillsteht, sondern sich mit einer Eigengeschwindigkeit von etwa 220 Kilometern pro Sekunde bewegt – das sind immerhin etwa 792.000 Kilometer pro Stunde. Und nichts und niemand hat diese Fahrt bisher gebremst oder das System zum Stillstand gebracht.

Sol pflügt durch einen vergleichsweise eng definierten Raum und schiebt dabei eine gravitative Bugwelle vor sich her. Von den hyperphysikalischen Emissionen der Sonne ganz zu schweigen, die nun mit der neuen Umgebung wechselwirken.«

Bull hatte sich inzwischen gesetzt. Von Strattkowitz sah ihn fragend an; der Staatssekretär vertrat die zuständige Residenz-Ministerin.

Bull räusperte sich kurz und sagte: »Selbst wenn wir damit das Problem – oder einen Teil des Problems – erkannt hätten, haben wir es noch lange nicht gelöst. Was sich im Raum tut, scheint mir im Moment auch nicht unser dringendstes Problem. Hat sich die AMATERASU endlich gemeldet?«

Edorta Asteasu, der Adjutant der Ersten Terranerin, sagte: »Wir haben die Relaisbrücke eingerichtet. Die Sonnenforschungsstation müsste sich in Kürze melden. Beziehungsweise ihre Kommandantin, Shaveena Deb.«

Bull nickte und grinste. Als müsste jemand Deb vorstellen.

»Na dann.« Urs von Strattkowitz nickte. »Wieder einmal die Kaffeetante.«

Leises Gelächter antwortete ihm.

Henrike Ybarri, die Erste Terranerin, und Vashari Ollaron, die Residenz-Ministerin für Verteidigung, warfen einander einen vielsagenden Blick zu. Beide hatten vor sich eine Tasse Kaffee stehen.

»Vielleicht trinkt sie ihn koffeinfrei«, sagte Bull. Aber das war offenbar kein großer Trost für den knochigen Mann.

»Koffeinfrei mag er sein«, sagte von Strattkowitz. »Dafür bevorzugt sie Irish Coffee. Etwas Kaffee, etwas Sahne, viel irischer Whisky.«

Bull wusste um den dubiosen Ruf, den die Kaffeetante Shaveena Deb im Forschungs- und Wissenschafts-Ministerium genoss. Die Leiterin der Solarforschungsstation AMATERASU galt nicht eben als wissenschaftliches Genie. Was dagegen die Organisation von finanziellen und Sachmitteln anging, spielte sie in einer ganz eigenen Liga. Einmal – in besseren Tagen – hatte Bull sie in einer gemeinsamen Sitzung kennengelernt. Von Strattkowitz hatte sie mit einem Verweis auf ihre finanziellen Ansprüche gefragt, ob er sie davon überzeugen könne, wenigstens kleinste Bruchstücke des Etats des Ministeriums für andere Forschungsprojekte als das ihre zu gönnen.

Urs von Strattkowitz hatte offenbar gedacht, selbst Deb müsste den triefenden Sarkasmus seiner Äußerung bemerkt haben.

»Andere Projekte? Wozu das denn?«, hatte Deb konsterniert zurückgefragt.

»Weil wir nicht den größten Teil unserer Mittel für die Erforschung des eigenen Sterns verwenden!«

»Warum nicht?«

»Weil die Sonne ...«, er hatte nach einer Erklärung gesucht – und gefunden. »Weil die Sonne nämlich von selbst scheint.«

»Interessante Theorie«, hatte Deb gemurmelt, in ihrem Irish Coffee gerührt und schließlich wieder einmal eine Zuwendung herausgeschlagen, die dem Staatsminister die Schamesröte ins Gesicht pumpte.

»Die Kommandantin ist bereit«, meldete LAOTSE, die Biopositronik der Residenz.

Shaveene Deb, eine korpulente, in sich ruhende Mittsechzigerin, erschien im Holo. Von Kaffeetasse keine Spur. Sie begrüßte die Anwesenden knapp und sagte: »Die Sonnennägel ...«

»Die was?«, unterbrach von Strattkowitz sofort.

»Die Sonnennägel – die fremden Schiffe eben – sind, soweit wir es überprüfen konnten, nicht ziellos in die Konvektionszone eingetaucht. Sie hatten ein definiertes Ziel. Sie haben die Zone angezielt, in der ARCHETIMS psi-materieller Korpus ruht.«

»Wozu?«, fragte Ollaron.