Mila Summers

Tales of Chicago

 

Über Küss mich wach:

Eigentlich hielt Stacy es für eine gute Idee, dem lukrativen Stellenangebot Hals über Kopf zu folgen. Die Seifenblase zerplatzt schnell, nachdem sie vor Ort feststellen muss, dass der Job bereits vergeben ist. Ohne einen Penny in der Tasche fasst sie einen folgenschweren Entschluss und reist per Anhalter weiter. Mitch Havisham, Anwalt aus Memphis, nimmt sie mit nach Chicago. Während der Fahrt macht er ihr ein unmoralisches Angebot und lässt nicht locker, ehe sie schließlich einwilligt…

 

Über Vom Glück geküsst:

Als der alljährliche Wohltätigkeitsball der Firma ihres verstorbenen Vaters naht, hofft Drew, über eine Datingseite im Internet endlich den richtigen Mann fürs Leben zu finden. Seit Jahren wird sie von ihrer Stiefmutter Estelle und ihren Stiefschwestern Ashley und Madison bevormundet, verhöhnt und gedemütigt. Ihr letzter Hoffnungsschimmer ist die Suche nach der ganz großen Liebe. Nach mehr oder minder katastrophalen Verabredungen lernt sie unverhofft Brian kennen, der ihr Prinz Charming werden könnte. Oder etwa doch nicht?

 

Über Ein Frosch zum Küssen:

Emily Havisham verliert kurz vor Weihnachten ihren Job. Wenige Zeit später findet sie sich in der Marketingabteilung eines Unternehmens wieder, das allen Ernstes meint, Freddy der Frosch wäre ein adäquater Ersatz für Santa Claus. Sicher, diese Firma bräuchte unbedingt kompetente Unterstützung, aber ist das wirklich die Herausforderung, nach der sie sucht? Außerdem rückt ihr ihr Chef Liam Morris eindeutig zu nahe auf die Pelle. Noch ehe sie ihren Vorgesetzten in die Schranken weisen kann, verliert sie ihr Herz an den Womanizer, der nichts, aber auch rein gar nichts anbrennen lässt. Kann das gut gehen?

 

Über Küsse in luftiger Höhe:

Miranda Honeychurch ist ein klassischer Beziehungspechvogel. Irgendwie gerät sie immer an den Falschen. Dann trifft sie auf Noah, der ihr bei einem Brand das Leben rettet. Die Tatsache, dass er für sie sein Leben aufs Spiel setzt, lässt ihr Herz höherschlagen – doch der Feuerwehrmann würdigt sie nach dem gefährlichen Einsatz keines Blickes mehr und lässt sich sogar verleugnen. Hals über Kopf kehrt sie Chicago den Rücken, obwohl der Gedanke an Noah sie bis in ihre Träume verfolgt. Mit ihrer Freundin Emily bricht sie zu einem Roadtrip auf, bei dem sie mehr findet, als sie zu hoffen gewagt hat. Und dennoch quält sie eine Frage: Was für ein Geheimnis verbirgt Noah hinter den ozeangleichen Augen?

 

Über Zum Küssen verführt:

Niklas ist Junggeselle und denkt gar nicht daran, etwas an seinem Leben zu verändern. Über die Waschlappen in seinem Freundeskreis, die nun Väter geworden sind und unter der Fuchtel ihrer Ehefrauen stehen, macht er sich nur lustig. Als ihn eine Wette für eine Woche an die vier Frauen seiner Kumpels bindet, glaubt er noch, die Zügel fest in der Hand zu halten.
Frisch getrennt macht sich Phoebe, die Leadsängerin einer Band, an die Côte d’Azur auf. Dort soll sie in einem Luxushotel französische Chansons zum Besten geben. Nur dumm, dass sie die Sprache gar nicht beherrscht. Wie gut, dass der Gast mit den vier Frauen im Schlepptau ihr tatkräftig unter die Arme greift - und auch vor ihrem Herzen nicht haltmacht. Aber ist Niklas wirklich ein Traummann?

 

 

Über die Autorin:

Mila Summers, geboren 1984, lebt mit ihrem Mann und der kleinen Tochter in Würzburg. Sie studierte Europäische Ethnologie, Geschichte und Öffentliches Recht. Nach einer plötzlichen Eingebung in der Schwangerschaft schreibt sie nun humorvolle Liebesromane mit Happy End und erfreut sich am regen Austausch mit ihren Lesern und Leserinnen.

Bisher von der Autorin erschienen:

»Tales of Chicago«–Reihe

Küss mich wach (Band 1)

Vom Glück geküsst (Band 2)

Ein Frosch zum Küssen (Band 3)

Küsse in luftiger Höhe (Band 4)

Zum Küssen verführt (Band 5)

 

»Manhattan Love Stories«–Reihe

Irresponsible Desire (Band 1)

Irrepressible Desire (Band 2)

Irresistible Desire (erscheint im April 2017)

 

Liebe lieber einzigartig

 

Rettung für die Liebe

 

 

 

 

 

MILA

SUMMERS

 

 

TALES OF CHICAGO

Sammelband

 

Band 1 – 5

 

 











 


Deutsche Erstauflage März 2017

Copyright © Mila Summers

Lektorat: Dorothea Kenneweg

Korrektorat: Genya Bieberbach, Martina König, SW Korrekturen e.U.

Covergestaltung: © Nadine Kapp

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, bedürfen der Einwilligung der Autorin.

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

mila.summers@outlook.de

Inhaltsverzeichnis

 

Küss mich wach

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Epilog

Vom Glück geküsst

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Epilog

Ein Frosch zum Küssen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Epilog

Küsse in luftiger Höhe

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Zum Küssen verführt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Epilog

Danksagung

Weitere Bücher der Autorin

 

 

Küss mich wach

Image

Kapitel 1

 

 

Tante Anne hatte mich gewarnt. Hätte ich doch nur auf sie gehört. Aber nein, ich musste ja mal wieder meinen Dickkopf durchsetzen. Und was hatte ich nun davon? Ich saß in einer Kleinstadt im Mittleren Westen fest. Das Einzige, was mich daran hinderte den erstbesten Flug nach Hause zu nehmen, war mein geschundenes Ego, das sich die Niederlage nicht eingestehen wollte.

Immer und immer wieder las ich die wenigen Zeilen auf dem fettverschmierten kleinen Zettel in meiner Hand, meinem Fahrschein in ein neues, aufregendes Leben. Allzu gerne folgte ich der Verheißung. Die Bedingungen klangen einfach zu verführerisch. Zwei freie Tage die Woche und bezahlte Überstunden waren in der heutigen Zeit keine Selbstverständlichkeit.

Mit dem Geld wäre es mir ein Leichtes gewesen, den Kredit abzubezahlen, den ich dank Mike noch immer tilgen musste. Was mich damals geritten hatte, für diesen Vollidioten den Schuldschein zu unterschreiben, weiß ich bis heute nicht.

Eigentlich trug ich selbst die Schuld daran. Hals über Kopf war ich losgestürmt, um mir den Job zu sichern. Dummerweise ohne meine Referenzen im Gepäck. Viel schlimmer wog allerdings die Tatsache, dass ich wohl vergaß, meine Bewerbungsunterlagen abzuschicken.

Tante Anne versuchte mich noch händeringend an einer überstürzten Abreise zu hindern, aber ich konnte einfach nicht aus meiner Haut. So war ich nun mal: planlos, neugierig und von nichts und niemandem zu bremsen. Früher halfen mir diese Eigenschaften. Besonders nach dem Tod meiner Eltern musste ich schnell lernen, mich alleine durchs Leben zu schlagen.

Als alleinstehende, ältere Dame stellte sich Tante Anne – damals bereits weit über siebzig – der Herausforderung, ohne zu wissen, was ein sechzehnjähriger Teenager für ein Chaos anrichten konnte. Völlig resigniert ließ sie mich irgendwann einfach machen.

Das Motel, in dem ich mir ein Zimmer nahm, hatte seine besten Jahre weit hinter sich gelassen. Die Fugen im Bad waren so schwarz, dass man fast annehmen könnte, es gehöre so. Die Fenster ließen vor Schmutz kaum Sonnenlicht in den kleinen Raum, wobei dieser Umstand vielleicht gar nicht so schlimm war. Mir reichte das, was ich sehen konnte, bereits vollkommen aus.

Die Bettdecke roch muffig und war von Brandlöchern übersät. Irgendetwas in der Wand schabte wie wild und versuchte, sich offenkundig einen Weg in den Raum zu verschaffen, der sich seit heute mein neues Zuhause schimpfte.

Mein Geld reichte nur für ein One-Way-Ticket. Für das Loch, in dem ich hauste, musste ich die letzten zwanzig Dollar auf den Tisch legen. Es half nichts, den Kopf in den Sand zu stecken und in Selbstmitleid zu versinken. Ich brauchte einen Plan, wie ich aus dem Schlamassel herauskam, ohne Tante Anne um Hilfe bitten zu müssen.

Eigentlich wollte ich mich gleich nach meiner Ankunft bei ihr melden. Doch dann fuhr ich zuerst zu meinem vermeintlichen Arbeitsplatz. Nach der Absage fehlte mir die Energie, mich Tante Annes sicher gut gemeinten Belehrungen zu stellen. So zögerte ich das Gespräch immer weiter hinaus.

Das schlechte Gewissen nagte an mir, aber mein Stolz wollte einfach nicht klein beigeben. Mit meinen Anfang zwanzig überragte mein Dickkopf den meines Dads um Längen. Ein Charakterzug, auf den ich gerne verzichtet hätte.

Was für Optionen blieben mir noch? Mein Geld war, bis auf die wenigen Pennys, die wahrscheinlich in meiner Tasche neben den Kaugummis und Taschentüchern schlummerten, aufgebraucht. Warum war ich nur so überstürzt aufgebrochen? Wie sollte ich nur die Durststrecke bis zu meinem ersten Gehaltsscheck überbrücken?

Nur weg. Das war alles, was mir durch den Kopf ging, als ich Mike mit Amanda in der kleinen Bar sah. In diese Bar, nur wenige Blocks von Tante Annes Haus entfernt, führte er mich damals bei unserem ersten Date aus.

Er ließ seinen Charme spielen und erhielt dafür bereits am ersten Abend, was er wollte. Ich war nicht stolz darauf und sonderlich bequem war sein alter Chevi auch nicht wirklich gewesen. Aber, hey? Man ist nur einmal jung. Oder?

Ach, Quatsch. Es half nichts, die Dinge zu beschönigen. Mike hatte vom ersten Moment an eine unglaubliche Ausstrahlung auf mich. Ich fühlte mich magisch von ihm angezogen. Klingt abgedroschen, entspricht aber tatsächlich der Wahrheit.

Oh, Mann. Als wäre mein Leben nicht schon kompliziert genug. Jetzt musste ich mich auch noch der Tatsache stellen, dass ich noch etwas für das Arschloch empfand.

Aber ich war ja selbst schuld. Wie ein Lemming war ich hopsend zur Klippe geeilt, um mich möglichst wagemutig in die Tiefen zu stürzen, sodass es alle gut sehen konnten.

Wieder einmal versuchte Tante Anne mit Engelszungen auf mich einzureden. Ohne Erfolg. Ich machte, was ich für richtig hielt, und stand nun mit 5.000 Dollar in der Kreide. Dumm gelaufen oder shit happens. Egal, wie man es drehte und wendete, ich hatte es selbst verbockt.

Vor nicht einmal einem Jahr beendete ich die Uni mit Auszeichnung und dennoch konnte ich keinen Job finden. Dass es nicht leicht werden würde, war mir von Anfang an klar. Doch so schwierig hatte ich es mir nicht vorgestellt.

Die wirtschaftlichen Probleme des Landes hatten den Museen den Geldhahn abgedreht. In solchen Zeiten gab es keine Mittel für Einrichtungen, die meist keinen Gewinn abwarfen. Als Museologin blieben mir da nicht viele Alternativen. Daraufhin bemühte ich mich um andere Stellen, die allerdings nur im weitesten Sinne zu meinem Fachgebiet zählten. So erging es mir auch mit dem Job als Archivarin in dem kleinen Stadtarchiv.

Wie ein Wink des Schicksals hatte ich es aufgefasst, als ich in der Zeitung die Anzeige las. Erst am Abend zuvor war ich auf Mike und Amanda getroffen.

Ich verfasste schließlich das Anschreiben, packte all die angeforderten Unterlagen in den Anhang und ging auf Senden. Zumindest glaubte ich, dies getan zu haben. Bei genauerer Durchsicht meines Emailaccounts fiel mir allerdings auf, dass ich lediglich einen Entwurf gespeichert hatte.

Die Dame am Empfangsschalter versuchte mich zu trösten, indem sie mir mitteilte, dass der Job ohnehin bereits unter der Hand vergeben worden war. Die Ausschreibung diente lediglich zur Einhaltung der Vorschriften.

Ja, und jetzt stand ich da und wusste nicht so recht, was ich mit mir anfangen sollte. Mir fehlte der rechte Schwung, die Sache anzupacken und mich aus dem Schlamassel zu ziehen.

Es half nichts. Der Tag war lang genug gewesen und versprach keine nennenswerte Besserung. Ich schlug die muffige Bettdecke zur Seite, legte mich in voller Montur auf das vergilbte Laken und zog die Beine an den Körper. Ich wagte es nicht einmal, die Schuhe auszuziehen. Zutiefst ekelte ich mich vor den Gerüchen und den Fantasien, die mir bezüglich des schäbigen Raumes durch den Kopf schossen.

Irgendwann in dieser Nacht fand ich dann doch in den Schlaf und träumte von dem Leben, wie es sein sollte, wie ich es mir sehnlichst wünschte und stets darauf hoffte, dass es so kommen möge. Ein Prinz auf einem weißen Pferd spielte darin keine unbedeutende Rolle.

Kapitel 2

 

 

Der nächste Tag begann, wie der vorherige endete: beschissen. Mein Nacken war verspannt und mein Kopf dröhnte. Ich schlief auf der Seite mit angewinkelten Beinen und wagte es die ganze Nacht nicht, mich zu bewegen. Meine Glieder schmerzten, während mir der modrige Geruch meiner Umgebung in die Nase stieg.

Nichts wie raus aus diesem Zimmer. Mein Entschluss stand fest. Zu Tante Anne konnte ich nicht zurück. Noch nicht. Ich würde mir eine andere Stelle suchen und ihr damit den Beweis liefern, dass ich es alleine schaffen konnte.

Mit dem Auto waren es nur 200 Meilen bis nach Chicago. Dort befanden sich so renommierte Museen wie das »Museum of Science and Industry« oder das »Chicago History Museum«, in dem ich während meines Studiums bereits ein Praktikum absolvieren durfte.

Auch wenn sie mich dort sicherlich nicht mit wehenden Fahnen empfangen würden, war es ein Anfang und vor allem ein Weg hier raus. Ich schämte mich nicht, Klinken putzen zu gehen. Im Gegenteil. Vielleicht fand ja eine Institution Gefallen an meinem Engagement und bot mir einen Job an. Einen Versuch war es wert.

Ich lief in meinen abgetretenen Sneakers in die Nasszelle. Von einem Bad konnte hier wirklich nicht die Rede sein. Der Duschvorhang hing in Fetzen von der Decke und die Badewanne wies Spuren auf, deren Ursprung ich nicht eingehender unter die Lupe nehmen wollte. Notdürftig wusch ich mir Gesicht und Hände mit kaltem Wasser.

Nach dem spärlichen Morgenritual packte ich meine wenigen Habseligkeiten in den kleinen Reisekoffer. Meine Anzughose und die weiße Bluse legte ich mit viel Sorgfalt zusammen. Schließlich würde ich diese die nächsten Tage öfter brauchen.

Nachdem ich offenkundig pleite war, entschied ich mich, per Anhalter zu reisen. »Stacy, steig nie bei fremden Menschen ins Auto ein! Vor allem nicht bei Männern! Hörst du?«, ermahnte mich Tante Anne in Gedanken.

Aber was für eine Alternative blieb mir? Schließlich konnte ich die ausstehenden 200 Meilen ja schlecht zu Fuß zurücklegen, auch wenn meine Figur recht sportlich war. Diesen Umstand verdankte ich allerdings nicht dem Fitnessstudio, sondern den guten Genen meiner Mutter. Ich aß gerne und viel, ohne danach übermäßigen Speck anzusetzen.

Mein knurrender Magen erinnerte mich daran, dass ich seit gestern Vormittag nichts mehr zu mir genommen hatte, und wie es aussah, würde es noch eine ganze Weile so bleiben. Verzweifelt kramte ich in meiner Handtasche nach einem Schokoriegel oder Ähnlichem. Bis auf Kaugummis und ein paar Bonbons, die sich bereits aus dem Papier gelöst hatten, wurde ich allerdings nicht fündig.

Ich hievte mein Gepäck in Richtung Ausgang. Nichts wie weg hier. So Gott wollte, würde mich diese schäbige Behausung nur noch von hinten sehen. Ich sehnte mich so nach einer ausgiebigen, heißen Dusche, um mich von der vergangenen Nacht reinzuwaschen.

Den Schlüssel meines Zimmers gab ich kommentarlos an der Rezeption ab. Das sicherlich nett gemeinte »War alles in Ordnung mit ihrem Zimmer?« der Dame hinter dem Tresen überhörte ich geflissentlich.

Vor der Tür atmete ich die stickige Luft ein. Es war noch nicht einmal zehn Uhr und das Thermometer schien bereits die 30 Grad-Marke überschritten zu haben. Die Tatsache, gleich auf dem heißen Asphalt in der Sonne zu verglühen, trieb mir Freudentränen in die Augen.

Natürlich befanden sich weder Sonnencreme noch eine Mütze in meinem Gepäck. Warum auch? Eigentlich war ich hier, um ein Vorstellungsgespräch zu absolvieren, nicht um einen Wanderurlaub zu machen. Mann, Mann, Mann. Ich musste dringend etwas in meinem Leben ändern.

Lieber Gott, wenn ich in Chicago eine Stelle bekomme, versuche ich mein Leben in geordnete Bahnen zu lenken. Und außerdem schicke ich Tante Anne von meinem ersten Gehalt einen riesigen Blumenstrauß. Versprochen. Nur bitte steh mir dieses eine Mal bei!, schickte ich ein Stoßgebet gen Himmel.

Das Hupen eines Pick-ups riss mich aus meinen Gedanken. Ich schaffte es gerade noch, einen Schritt zur Seite zu gehen und mein Gesicht abzuwenden, um den aufwirbelnden Staub nicht in die Augen zu bekommen.

Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass ich nach wie vor an einem Stück war, warf ich dem Fahrer in dem dunkelblauen Cadillac Escalade einen bitterbösen Blick zu.

Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? Um ein Haar hätte mich dieser Idiot über den Haufen gefahren. Und was tat er? Anstatt besorgt dreinzuschauen und mir seine Hilfe anzubieten, taxierte er mich abschätzig mit seinem Blick.

Offensichtlich überlegte er gerade, ob sich der Halt lohnte. Während er genüsslich seinen Kaugummi kaute, verzog sich sein Mund zu einem freudigen Lächeln. Anscheinend bestand ich seine Musterung. Mit einem Wink forderte er mich auf einzusteigen.

Tante Anne riet mir im Geiste dringend davon ab. Nachdem ich allerdings bereits über eine Stunde in der glühenden Hitze gewartet hatte und mir der Schweiß aus allen Poren lief, war ich nicht gewillt, auf sie zu hören.

So packte ich meinen Koffer, wuchtete ihn auf die Pritsche und schwang mich beherzt auf den Beifahrersitz. Eines wusste ich bereits in diesem Moment ganz genau: Ein Gentleman steckte definitiv nicht in dem Kerl, vor allem aber nicht der Prinz auf dem weißen Pferd.

 

 

»Sag mal, machst du sowas öfter? Dir ist schon klar, dass ich ein potentieller Frauenmörder sein könnte und dich nur mitgenommen habe, um meine perversen Fantasien mit dir auszuleben«, setzte der Kerl, der mich beinahe über den Haufen gefahren hatte, zu einer Moralpredigt an.

»Danke, dass du mich auf den Umstand hinweist«, erwiderte ich distanziert, während ich mich anschnallte und meinen Blick fest auf die Fahrbahn vor uns heftete.

Jetzt musste der Typ auch noch den Moralapostel spielen. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ob ich ihn vielleicht auf den klitzekleinen Umstand hinweisen sollte, dass er mich vor nicht einmal fünf Minuten beinahe umgefahren hätte? Um keinen unnötigen Streit vom Zaun zu brechen, entschied ich mich dagegen und hoffte inständig, die Fahrt ginge schnell vorüber.

»Wo möchtest du eigentlich hin? Weiß deine Mutter, was du für Sachen machst?«, stichelte er weiter mit seinen penetranten Fragen, während er mit seinem prüfenden Blick über mich glitt.

»Ich möchte nach Chicago und meine Mutter ist seit acht Jahren tot. Sonst noch etwas?«, dabei sah ich ihm tief in die Augen und machte damit unmissverständlich klar, dass weitere Fragen unangebracht wären. Zumindest hoffte ich das.

»Nach Chicago also. Was hast du dort vor? Besuchst du jemanden?«

Genervt stöhnte ich auf und kramte in meiner Handtasche nach dem Etui meiner Sonnenbrille. Als ich sie schließlich fand, setzte ich sie auf und stellte mich für die nächsten Minuten schlafend.

Dass ich tatsächlich eingeschlafen war, bemerkte ich erst, als mich eine Hand an der Schulter berührte. »Hey Dornröschen, aufwachen! Wir sind bald da. Es sind nur noch dreißig Meilen bis nach Chicago. Wo genau soll ich dich dann raus lassen?«

»Was? So schnell?«, antwortete ich schlaftrunken.

»Schätzchen, du hast fast zwei Stunden geschlafen«, flachste mein Gegenüber.

»Oh, tatsächlich?«, hörte ich mich wie aus weiter Ferne sagen.

»Also, wo möchtest du hin? Was ist dein Ziel?«, hielt er hartnäckig an seiner Frage fest.

»Och, vielleicht am »Museum of Science and Industry«, wenn es keine allzu großen Umstände macht«, gab ich klein bei und offenbarte damit meine Planlosigkeit.

»Wartet dort jemand auf dich oder wieso möchtest du dorthin?«

Langsam, aber sicher, ging mir der Typ so dermaßen auf die Nerven, dass ich mich nur unter Aufbietung all meiner Kräfte davon abhalten konnte, ihm an die Gurgel zu springen. Was ging es ihn an, was ich wie mit wem wo machte? Mal ehrlich. Ich war keine sechzehn mehr. Ich brauchte keinen Beschützer. Vor allem keinen, den ich nicht einmal kannte.

»Warum möchtest du das eigentlich wissen? Es kann dir doch vollkommen egal sein, was ich vorhabe. Wenn es dir nicht möglich ist, mich an dem Museum abzusetzen, dann eben nicht. Aber bitte hör auf, mir ein Loch in den Bauch zu fragen.« Wie auf Kommando begann mein Magen zu knurren. Auch meine Hand, die ich schützend davor gelegt hatte, war nicht in der Lage, das donnernde Geräusch einzudämmen.

»Da hab ich dir wohl tatsächlich bereits ein Loch in den Bauch gefragt. Scheint so groß zu sein, dass bereits dein Magen rebelliert. Ich werde am nächsten Diner Halt machen und dich auf ein paar saftige Burger einladen.«

»Das musst du nicht. Lass mich einfach irgendwo raus.« Betont gelassen versuchte ich die Einladung auszuschlagen, während mir der Gedanke an köstlich angebratenes Rindfleisch und ein paar fettige Fritten das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.

»Nichts da. Wir genehmigen uns jetzt erst mal eine Kleinigkeit. Wollte eh eine Pause machen, da ich schon eine ganze Weile unterwegs bin. Kann sicher nicht schaden.«

»Wie du meinst. Aber wie gesagt, mach dir wegen mir keine Umstände. Ich komm klar«, entgegnete ich halbherzig.

»Sicher doch«, kam wenig überzeugend die Antwort.

 

 

Wenige Minuten später saßen wir uns in einem Diner an der Interstate 55 gegenüber. Kurz nachdem das Essen auf dem Tisch stand, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und stürzte mich auf den Double Cheeseburger mit Pommes und dem in Mayo ertrunkenen Krautsalat.

Ich war mir absolut sicher, dass ich in meinem ganzen Leben noch keinen so guten Burger gegessen hatte. Vielleicht lag es auch daran, dass ich mittlerweile ziemlich ausgehungert war. Dennoch verputzte ich die ganze Portion in Windeseile und schüttete den halben Liter Diet Coke gleich hinterher.

Zufrieden strich ich mir über die kleine Wölbung, die sich unter meinem Shirt gebildet hatte. Für einen Moment gab ich mich der aberwitzigen Vorstellung hin, es könne doch noch alles gut werden. Während die aufgenommenen Kohlehydrate meinen Körper mit Energie fluteten, schien sich auch mein Geist zu entspannen.

»Ich heiße Stacy Brewster, bin 24 Jahre alt und auf dem Weg nach Chicago, um mir dort einen Job zu suchen.«

Meine plötzliche Offenheit verwunderte mich selbst. Ich hielt kurz inne, fasste mich dann aber gleich wieder, während ich auf die Reaktion meines temporären Weggefährten wartete.

»Okay, Stacy. Mein Name ist Mitch Havisham und ich bin 28 Jahre alt. Gerade befinde ich mich auf dem Heimweg zu meiner Familie. Ich bin Single und in meiner Freizeit angle ich gerne«, sprang er auf den Zug auf.

Wahnsinn. Der konnte ja regelrecht charmant sein. Was war aus dem gefühllosen Holzklotz von eben geworden? Und diese Augen. Waren die grün oder vielleicht doch eher blau? Oder beides? Sie strahlten auf jeden Fall und funkelten mich dabei so verführerisch an.

»Hey Dornröschen, du kannst ja lächeln. Das hätte ich wirklich nicht für möglich gehalten«, stellte Mitch freudestrahlend fest, während sich Grübchen auf seinen Wangen bildeten. Ein Lächeln hatte sich unbewusst auf meine Lippen geschlichen.

Als mir klar wurde, dass ich Mitch während meines Gedankenspiels wohl etwas zu intensiv musterte und ihm diese Tatsache offensichtlich aufgefallen war, schoss mir die Schamesröte ins Gesicht. Wie peinlich. Der musste ja denken, ich hätte Interesse an ihm, so wie ich ihn anstarrte.

Oh, menno. Reiß dich zusammen, Stacy. Das ist jetzt definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, um sich zu verlieben. Oberste Priorität hat die Jobsuche und dann natürlich Tante Annes Blumenstrauß. Alles andere musst du ausblenden, riet mir meine innere Stimme eindringlich.

»So langsam sollten wir aufbrechen. Findest du nicht auch? Wenn wir noch lange warten, erreiche ich bestimmt keinen mehr im Museum.«

Den Umstand, dass ich mich auch noch um einen Schlafplatz für die Nacht kümmern musste, erwähnte ich lieber nicht.

»Wie du meinst. Dachte, wir teilen uns vielleicht einen Brownie zum Dessert? Aber, wenn du schnell weiter möchtest, dann verschieben wir es eben auf ein andermal.«

Hatte ich gerade richtig gehört? Ein andermal? Hatte er etwa Interesse an mir oder warum wollte er mich wiedersehen? Ich weiß nicht warum, aber die Aussicht, Mitch nach diesem Tag ein weiteres Mal zu treffen, ließ die Schmetterlinge in meinem Bauch aus ihrem Winterschlaf erwachen.

»Das macht dann glatt 60 Dollar. Zahlen Sie bar oder mit Kreditkarte?«, riss mich die Stimme der Kellnerin, die zwischenzeitlich an unseren Tisch gekommen war, aus den Gedanken,

»Mit Karte, bitte!«, erwiderte Mitch und streckte der Dame eine goldene Mastercard hin.

 

 

Nachdem ich mich im Restroom frischgemacht hatte, setzten wir unseren Weg fort. Nur noch wenige Kilometer trennten mich von meinem vermeintlichen Ziel. Zweifel nagten an mir. War das wirklich die richtige Entscheidung gewesen? Was, wenn ich das Risiko vollkommen umsonst auf mich nahm?

Die ersten paar Meilen verbrachten wir beide schweigend. Ich überlegte fieberhaft, wo ich die Nacht verbringen konnte, ohne einen Penny dafür zu zahlen. Dabei war mir Lindsey eingefallen. Sie war meine ehemalige Studienkollegin. Wir hatten uns auf dem Campus zeitweise sogar ein Zimmer geteilt.

In den letzten Prüfungsmonaten waren wir ein unzertrennliches Dreamteam, allerdings nur, was das gemeinsame Lernen anging. Besonders gefestigt war unsere Freundschaft nicht, dennoch würde ich sie später anrufen. Soweit ich mich erinnern konnte, lebte sie mittlerweile mit ihrem Mann in Chicago.

Hoffentlich konnte sie mir für die nächsten Tage Obdach gewähren. Wenn nicht, stand es ziemlich schlecht um mich.

Auch Mitch schien in Gedanken. Sein Blick richtete sich starr auf die Straße vor uns. Eine Sonnenbrille bedeckte seine Augen, sodass ich nicht sehen konnte, was ihn umtrieb. Aber dass da etwas war, konnte ich seiner angespannten Körperhaltung entnehmen. Immer wieder begann er sich zu räuspern, während er den Mund leicht öffnete, als wenn er etwas sagen wollte. Doch dann schloss er diesen wieder und fuhr weiter, als wäre nichts.

Einerseits war ich dankbar dafür, dass er die Annäherungsversuche aus dem Diner unterließ. Anderseits kränkte es mich. Erst flirtete er mit mir – nun gut, vielleicht beruhte das Ganze auch auf Gegenseitigkeit – und machte mir Hoffnungen auf ein baldiges Wiedersehen und jetzt saß er da und nahm kaum Notiz von mir.

Merkwürdiger Kerl. War vielleicht besser so. Wenn er mich weiter so angestrahlt hätte, wäre ich seinem Charme sicherlich erlegen. Das war wohl gerade nochmal gut gegangen.

Mühevoll kramte ich mein Smartphone aus der Tasche, um Lindsey eine Nachricht zu schreiben. Hoffentlich war die Nummer noch aktuell. Wir hatten die letzten Monate kaum Kontakt gehabt. Angestrengt überlegte ich, wie ich meine Lage in die wenigen Zeilen quetschen konnte, ohne dass meine Hilflosigkeit gleich offensichtlich wurde. Dennoch musste ich auch die Dringlichkeit meines Anliegens deutlich machen. Das war wirklich zum Haareraufen.

Nervös tippte ich mit meinem Zeigefinger an die Unterlippe, während mir einfach nicht die rechten Worte einfallen wollten. Das konnte doch wirklich nicht so schwer sein. Während ich immer verbissener auf die kleine Tastatur meines Displays starrte, räusperte sich Mitch zum gefühlten hundertsten Mal. Doch diesmal blieb es nicht dabei. Langsam begann er zu sprechen. Leider. Hätte er doch besser geschwiegen.

Kapitel 3

 

 

»Du möchtest, dass ich was tue? Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein«, kreischte ich entrüstet los, nachdem mir Mitch sein unmoralisches Angebot unterbreitet hatte.

»Es wäre doch nur für eine Woche. Komm schon, Stacy. Du würdest mir damit einen riesigen Gefallen tun. Überleg doch mal. Außerdem schaden wir ja keinem damit«, versuchte Mitch mich zu beschwichtigten.

»Ich kann wirklich nicht verstehen, warum du deine Familie so hinters Licht führen willst. Was hast du denn davon?«, weigerte ich mich, Verständnis zu zeigen.

»Das ständige Gerede und die permanenten Fragen würden aufhören und ich könnte vielleicht wirklich eine angenehme Woche im Kreise meiner Liebsten verbringen. Nachdem meine kleine Schwester die nächsten Tage heiraten wird, kommen sicherlich noch mehr nervige Kommentare über meinen Beziehungsstatus. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie anstrengend das ist. Immer muss ich mich rechtfertigen. Wobei keinen interessiert, warum ich mich bewusst für das Singledasein entschieden habe.« Mit diesen Worten brachte er mich zum Nachdenken.

Mich würde es allerdings sehr interessieren, warum Mitch Single blieb. Was bewog ihn dazu, alleine zu sein? Für einen Frauenhelden, der jede Woche eine andere aufriss, um sie ins Bett zu kriegen, hatte ich ihn nicht gehalten. Nein, so würde ich ihn wirklich nicht einschätzen. Aber, was gab mir denn die Gewissheit dazu? Ich kannte ihn viel zu kurz, um mir ein Bild von ihm machen zu können. Dennoch war ich davon überzeugt, dass es einen anderen Grund geben musste.

»Ich würde mir liebend gerne die nervigen Fragen meiner Familie anhören. Aber da ist leider keiner mehr außer meiner Tante. Weißt du eigentlich, wie gut du es hast? Sie wollen doch nur wissen, wie es dir geht. Wollen ein Teil deines Lebens sein. Ich finde es nicht in Ordnung, wenn du ihre Gefühle dermaßen mit Füßen treten willst«, blieb ich hart.

»Bitte, Stacy.«

Zwischenzeitlich fuhr Mitch vom Highway ab und machte Halt auf einem kleinen Rastplatz. Die Sonnenbrille nahm er ab, woraufhin sich sein trauriger Blick tief in meine Iris grub. Das liebevolle »Bitte, Stacy« hallte wie ein Mantra in meinem Kopf wider. Wie unter Hypnose antwortete ich schließlich:

»Okay, ich mach`s. Aber nur unter einer Bedingung«, dabei löste ich mich mühevoll von seinem Blick und fixierte den Punkt zwischen seinen Augen, um standhaft zu bleiben.

»Alles, was du willst«, hörte ich Mitch jubeln.

»Wenn ich dich nach dieser Woche verlasse, meldest du dich nicht mehr bei mir und schenkst deiner Familie reinen Wein ein. Deal?«

Ich pokerte hoch. Eigentlich hätte ich die Klappe halten sollen. Schließlich brauchte ich die 500 Dollar, die er mir dafür bot, dringend. Die sieben Tage würden schnell vorbeigehen, wobei die genauen Details noch geklärt werden mussten. Ich kannte seine Familie nicht einmal und dennoch verspürte ich den unnachgiebigen Drang, Mitch vor Augen zu führen, wie gut er es hatte.

Völlig unerwartet und für meine Verhältnisse vielleicht eine Spur zu schnell vernahm ich seine Entscheidung: »Deal.«

 

 

Ich hatte einen Pakt geschlossen. Blieb nur zu hoffen, dass es keiner mit dem Teufel war. Dennoch würden mich meine Taten in die Hölle bringen. Da war ich mir sicher. Warum nur um alles in der Welt ließ ich mich auf diese beschissene Idee ein?

Mitch drehte das Radio lauter und pfiff die Melodie des Liedes, das bereits seit Wochen von den Sendern auf und ab gespielt wurde. Ich konnte es nicht mehr hören. Immer das gleiche Gedudel. Außerdem passte es mir nicht, dass Mitch nun so ausgelassen wirkte.

»Ich glaube, es gibt da noch einige Dinge, die wir besprechen sollten«, gab ich mürrisch zu bedenken.

»Was meinst du?«

»Naja, so banale Dinge wie Wo haben wir uns kennengelernt? Seit wann sind wir ein Paar? Das Übliche eben, was deine Familie fragen könnte, wenn du plötzlich in Begleitung zuhause aufmarschierst und die Frau an deiner Seite als deine Freundin präsentierst.«

»Oh, das meinst du. Okay. Wie du meinst. Sprechen wir darüber. Dachte schon, du wolltest wissen, welche Dienste ich im Einzelnen für meine großzügige Entschädigung erwarte«, dabei grinste er mich schelmisch an, während er mir vielsagend zuzwinkerte.

»Pah. Du hast sie ja wohl nicht mehr alle. Wenn du dich mir auch nur ein einziges Mal unsittlich näherst, dann erzähl ich deiner Familie, was sie da für einen tollen Sohn und Bruder haben«, dabei verschränkte ich wutschnaubend meine Arme vor dem Körper.

»Oh. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass dich ein Hauch von Mutter Theresa umhüllt. Interessante Wortwahl: unsittlich! Bist du in eine Klosterschule gegangen oder warum wirfst du mit solch antiquierten Formulierungen um dich?«

Das brachte mein Fass zum Überlaufen.

»Die Sache ist gestorben. Ich mach nicht mehr mit. Such dir doch eine andere Dumme für deine Spielchen. Lass mich an der nächsten Tankstelle raus!«, forderte ich unnachgiebig.

»Ach, komm schon, Stacy. Tut mir leid. Es war nicht so gemeint. Aber, was meinst du, was meine Eltern davon halten würden, wenn ich frischverliebt dort antanze und meine Freundin weder in den Arm nehme noch küsse?«

»Ich bin katholisch erzogen. Kein Sex vor der Ehe. Wäre doch ein gutes Argument. Ich werde dich auf jeden Fall nicht küssen. In den Arm kannst du mich meinetwegen nehmen, aber mehr auch nicht. Kein Händchenhalten und kein Hinterntätscheln. Dass das klar ist!«, versuchte ich die Oberhand zu behalten.

»Okay, okay. Ich verklickere meinen Eltern, dass ich mich in eine eiserne Jungfrau verliebt habe. Du bekommst ein eigenes Zimmer und ich küsse dich allerhöchstens auf die Wange. Gut so?«

»Besser.«

 

***

 

Na, also. Geschafft. Die Kleine würde sich prima als seine Freundin machen. Entsprach sie doch ziemlich genau dem, was man sein Beuteschema nennen konnte. Sportlich, zierlich, hübsch. Das war alles, worauf es ihm ankam. Er hatte kein Faible für eine besondere Haarfarbe oder dergleichen. Solches Machogehabe war ihm zuwider.

Außerdem schien Stacy nicht auf den Mund gefallen zu sein. Er fand es regelrecht prickelnd, wie sie ihm Kontra gab. Das kannte er nicht. Mit Samantha war das anders gewesen. Die hatte getan, als wäre sein Wille auch ihrer. Bis zu dem einen Abend vor nicht einmal drei Monaten.

Er schob die Bilder beiseite. Die Erinnerung schmerzte zu sehr. Im Radio lief die Nationalhymne Alabamas »Sweet home Alabama« und er konzentrierte sich wieder auf das Wesentliche.

In wenigen Minuten würden sie sein Elternhaus erreichen. Dann galt es, sich nichts anmerken zu lassen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

Wegen Stacy hatte er keine Bedenken. Sie würde sich an ihre Abmachung halten. Wirklich schade, dass er sie gerade jetzt kennengelernt hatte. Sie schien nett zu sein. Vielleicht hätte es für sie eine Chance gegeben, wenn die Sache mit Samantha nicht passiert wäre. Aber so würde er sie auf Distanz halten. Das war für sie beide das Beste.

 

***

 

»Wie heißen deine Eltern eigentlich?«, durchbrach ich die Stille, die sich beklemmend zwischen uns niedergelassen hatte.

»Wer?«

»Na, wie deine Erzeuger heißen. Weißt schon, diejenigen, die dich in diese Welt gesetzt haben und denen du gleich das Herz brechen wirst.«

»Ach, die beiden. Mom und Dad.«

»Ha, ha, ha. Selten so gelacht«, erwiderte ich gereizt.

»Komm schon. Der war lustig.«

»Fand ich nicht.«

»Nicht mal ein klein wenig?«

»Na, gut. Vielleicht ein klitzekleines bisschen«, gab ich mich geschlagen. »Aber wie heißen sie denn nun? Verrätst du`s mir jetzt endlich oder muss ich erst raten?«

»Abigail und James. Meine Eltern heißen Abigail und James Havisham. Mein Vater ist pensionierter Finanzbeamter und meine Mom ist Hausfrau. Sie engagiert sich ehrenamtlich in vielen Vereinen. Die beiden reisen gerne in ferne Länder und Sonntagnachmittag gibt es immer um Punkt 16 Uhr Kaffee und Kuchen. Komme, was wolle. Das ist, seit ich denken kann, schon immer so.«

»Okay, Abigail und James. Das sollte ich mir merken können. Und wie heißt deine Schwester?«

»Ich habe zwei. Die eine, die in wenigen Tagen heiraten wird, heißt Sue und die andere Emily. Sie sind Zwillinge.«

»Ist notiert. Gibt es sonst noch jemanden, den ich kennen sollte?«

»Buzz. Er ist etwas speziell. Kommt nicht unbedingt mit jedem klar, aber wenn er einen ins Herz geschlossen hat, gibt er ihn so schnell nicht mehr her.«

»Wie alt ist Buzz? Klingt so, als wäre er noch ziemlich jung.«

»Buzz ist älter als ich. Er müsste dieses Jahr vierzehn oder fünfzehn werden.«

»Du veräppelst mich doch schon wieder. Weißt du, wenn das jetzt die ganze Woche so weitergehen soll, dann zieh ich lieber gleich jetzt und hier die Reißleine. Auf diese Art von Späßchen kann ich echt verzichten. Ich hab es nicht nötig, mich von einem Spaßvogel wie dir ständig aufs Glatteis führen zu lassen. Dafür ist mir meine Zeit zu kostbar.«

»Sorry, Stacy. Ich versteh gerade nur Bahnhof. Womit hab ich dich denn jetzt wieder verärgert? Buzz ist ein Jack Russell. Nach langem Hin und Her hab ich zu meinem dreizehnten Geburtstag von meinem alten Herrn endlich einen Hund bekommen. Tja, und das war Buzz.«

»Ach so. Buzz ist ein Hund.« Jetzt konnte ich mir das Lachen wirklich nicht mehr verkneifen.

»Was hast du denn gedacht?«

Trotz der Missverständnisse und Neckereien war die Stimmung zwischen uns wieder ausgeglichener. Wenn wir die nächsten Tage auf engstem Raum vor Publikum bestehen wollten, mussten wir dringend einen guten Draht zueinander finden.

Mir lag nicht daran, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Dazu sah ich die ganze Sache ziemlich realistisch. Wir hatten eine Abmachung. Ich würde eine Woche seine Freundin spielen und er würde mich im Gegenzug dafür bezahlen. Nicht mehr und nicht weniger.

Mit der Kohle konnte ich mir dann ein Zimmer suchen und nach und nach die potentiellen Arbeitgeber der Umgebung abklappern. Vielleicht hatte ich ja Glück. Man durfte die Hoffnung nie aufgeben.

Wenn keine Stelle zu finden war, dann konnte ich immer noch zurück zu Tante Anne in das verschlafene Nest, das sich seit nahezu acht Jahren mein Zuhause nannte. Aber dann hatte ich es zumindest versucht und nicht nur darauf gewartet, dass das Schicksal an meine Türe klopft.

»Wir sind da«, hörte ich Mitch sagen.

Ich wischte die Gedanken über meine ungewisse Zukunft beiseite und war überrascht, als wir an einem großen Eisentor Halt machten. Die prächtig gearbeiteten Rosetten gaben mir eine vage Vorstellung davon, was mich gleich erwarten würde.

»Befindet sich dahinter dein Elternhaus?«, fragte ich überrascht.

In Gedanken stellte ich mir Mitchs Familie in einem kleinen wohligen Heim vor. Auf der Veranda stand ein alter Schaukelstuhl und der Anstrich der Holzfassade begann bereits zu bröckeln. Der Blick auf die sich selbst öffnenden Flügeltüren, die uns Einlass auf das riesige Gelände gewährten, offenbarte mir, dass ich mit meiner Einschätzung ziemlich daneben lag.

»Sag mal, Mitch. Willst du mir vielleicht erklären, was hier Sache ist?«, gab ich leicht panisch von mir. Eine plötzliche Unruhe ergriff meinen ganzen Körper und ich hatte große Mühe, mich daran zu hindern, meine Fingernägel anzuknabbern.

»Naja, die Sache ist die: Meine Eltern sind recht wohlhabend, musst du wissen. Aber keine Angst. Wir sind ganz normale Leute. Wir essen weder von goldenen Tellern, noch trinken wir ständig Champagner.«

»Pah. Das sagt sich so leicht. Du hast mich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hierher gelockt. Schau mich doch mal an. So kann ich deinen Eltern auf gar keinen Fall das erste Mal unter die Augen treten. Meine Shorts sind ausgewaschen und mein Shirt ist löchrig, von meinen Sneakers gar nicht erst zu sprechen. Außerdem hab ich dringend eine Dusche nötig. Was hast du dir bloß dabei gedacht?«

»Bitte? Ich hab nie behauptet, bettelarm zu sein. Da musst du dich schon an die eigene Nase fassen. Außerdem finde ich deinen Aufzug vollkommen okay. Was juckt es dich überhaupt, was meine Eltern von dir halten? Wenn du dich erinnerst, ist unsere kleine Abmachung zeitlich begrenzt. Und was deine Körperhygiene angeht: Erstens konnte ich dich die ganze Fahrt über gut riechen«, dabei grinste er mich wieder so vielsagend an, »und zweitens kannst du dich ja gleich nach der Begrüßung frisch machen gehen. Das ist dann die perfekte Ausrede, um erstmal in Ruhe anzukommen. Wir schaffen das. Meine Eltern sind wirklich keine reichen Schnösel. Keine Angst.«

Merkwürdigerweise beruhigten mich seine Worte. Meine Panik war wie weggeblasen und ich spürte, wie sich mein Körper zu entspannen begann. Es war lange her, dass jemand diese Wirkung auf mich hatte.

Außerdem konnte es mir wirklich egal sein, was seine Eltern von mir hielten. In einer Woche würde ich gehen und sie vermutlich nie wieder sehen. Dennoch versetzte es mir einen Stich ins Herz, als er die Dinge so klar beim Namen nannte.

»Stacy? Ist alles okay mit dir?«

»Ja, ich denke schon.«

»Was meinst du? Wollen wir es wagen?«

»Von Wollen kann gar keine Rede sein. Ich fühle mich lediglich dazu verpflichtet, meinen Teil der Vereinbarung einzuhalten«, gab ich pampig zu Protokoll. Dass ich die 500 Dollar dringend brauchte, behielt ich für mich.

»Na, dann sehe ich mal zu, dass wir möglichst schnell dort oben ankommen. Ich möchte auf gar keinen Fall daran schuld sein, dass du deine Pflichten vernachlässigst.«

Dabei trat er aufs Pedal und rauschte in Windeseile die Auffahrt zu seinem Elternhaus empor, für meine Verhältnisse etwas zu schnell. So hatte ich nicht mehr die Gelegenheit, mir einen ersten Überblick über meine Umgebung zu verschaffen.

Als wir oben ankamen, erschlug mich der Anblick des Kolosses aus weißem Stein, dessen überdachtes Portal von klassischen Säulen getragen wurde. Das Haus war mindestens so groß wie das Weiße Haus, wenn nicht sogar größer. Unzählige hohe Fenster säumten die Vorderseite des Anwesens. Davor war ein kleiner Brunnen angelegt, der emsig das Wasser in kleinen Fontänen in die Höhe katapultierte.

Das war es also. Hier würde ich wohnen. Das war mein Zuhause für die nächsten sieben Tage.

Mitch stellte den Motor ab und warf mir einen aufmunternden Blick zu. Daraufhin stieg er aus, lief um den Wagen und öffnete mir, ganz Gentleman, die Türe. Als er mir schließlich seine Hand bot und Anstalten machte, mir beim Aussteigen behilflich zu sein, durchzuckte mich ein Gefühl, das ich lieber im Verborgenen gewusst hätte.

Gemeinsam liefen wir die wenigen Schritte bis zur Haustür. Am Absatz angelangt, rebellierte mein Magen und hätte sich am liebsten übergeben. Jetzt gab es kein Zurück mehr. In wenigen Sekunden war es soweit. Ich würde Mitchs Eltern kennenlernen, ihnen einen Bären aufbinden und gleichsam ihre Gastfreundschaft schändlich ausnutzen.

Mitch spürte meine innere Unruhe. Nachdem er seinen Schlüssel aus der Tasche gekramt und im Schloss versenkt hatte, sah er erneut zu mir auf, griff wie selbstverständlich nach meiner Hand und umschloss sie zärtlich.

Ich wehrte mich nicht dagegen. Dennoch warf mich seine körperliche Nähe dermaßen aus der Bahn, dass ich erst zu mir kam, als ich ihn rufen hörte:

»Mom? Dad? Wir sind da!«

Kapitel 4

 

 

»Ich komme gleich runter«, ertönte eine melodische Frauenstimme aus dem oberen Stockwerk. Der Anblick des riesigen Eingangsbereichs und der imposanten Steinwendeltreppe, die sich schwungvoll ins Obergeschoss schlängelte, verschlug mir den Atem.

Wenn ich mich bei dem wundervoll gearbeiteten Eisentor bereits unwohl fühlte, so wünschte ich mir nun sehnlichst ein Mauseloch, in das ich mich verkriechen konnte.

Mit offenem Mund scannte ich aufmerksam meine Umgebung. Jeder einzelne Gegenstand schien sündhaft teuer zu sein, von dem edlen Marmorboden ganz zu schweigen. Über all dem hing ein riesiger Kronleuchter, dessen Kristallbehang tief in den Raum hineinragte.

Das Entrée allein war größer als das Haus, das ich mir mit Tante Anne teilte. Diese Erkenntnis trug nicht sonderlich dazu bei, dass ich mich wohler in meiner Haut fühlte. Während ich noch überlegte, ob es nicht besser wäre, einfach zu gehen, vernahm ich Mitchs Antwort:

»Okay, Mom. Wir gehen solange in die Bibliothek.«

»Wir?«, dröhnte der ungläubige Aufschrei seiner Mutter lautstark in der Halle wider.

Ehe Mitch etwas antworten konnte, kam eine zierliche Gestalt von maximal 1.60 m die Treppe hinuntergerannt. Bei jedem ihrer hastigen Schritte überkam mich die Sorge, sie könnte auf den glatten Steinstufen ausrutschen und stürzen. Wobei das Wippen jeder einzelnen ihrer Lockensträhnen im Gleichklang der rhythmischen Bewegung geradezu drollig wirkte und ich mir nur mühevoll ein Schmunzeln verkneifen konnte.

Während sie sich uns bis auf wenige Meter näherte, schien das Strahlen ihres Lächelns den ganzen Raum zu erhellen. Ohne von ihrem Sohn Notiz zu nehmen, kam sie auf mich zugestürmt und schloss mich ganz fest in ihre Arme.

Da ich Abigail nahezu um einen Kopf überragte, sah ich erschrocken zu Mitch auf, der mir mit seinem Blick zu verstehen gab, dass das Verhalten seiner Mutter vollkommen normal sei.

Nun, vielleicht für ihn, nicht für mich. Noch einen Moment länger in diesem Schraubstock und ich konnte für nichts garantieren. Nachdem mir bereits das Atmen schwerfiel, zeigte er dann doch Erbarmen mit mir und meldete sich schließlich zu Wort.

»Hey Mom, könntest du Stacy bitte wieder loslassen? Du zerquetschst sie ja. Weißt du, ich brauch sie noch«, dabei sah er mich prüfend an. Offensichtlich interessierte ihn, was ich von seinem letzten Satz hielt. Ich reagierte nicht, sondern sah unumwunden in das Gesicht seiner Mom, die mich überschwänglich in ihrem Haus willkommen hieß.

»Stacy, entschuldige bitte die stürmische Begrüßung. Du musst wissen, Mitch hat bisher nie eine Freundin nach Hause gebracht«, dabei wandte sie sich zu ihrem Sohn und begann ihn mit dem Zeigefinger zu ermahnen.

»Warum hast du denn nicht gesagt, dass du in Begleitung kommst? Dann hätte sich doch die ganze Familie eingefunden, um deine Freundin kennenzulernen.«

So langsam, aber sicher bekam ich ein Gefühl dafür, was mir Mitch während der Fahrt über seine Familie klarmachen wollte. Ob ihn der Umstand, ein weibliches Wesen mit nach Hause gebracht zu haben, allerdings aus der Schusslinie brachte, wagte ich zum jetzigen Zeitpunkt stark zu bezweifeln.

»Mom, ich wollte keine große Sache daraus machen. Schließlich heiratet Sue in wenigen Tagen. Da sollte das Hauptaugenmerk auf der Hochzeit liegen und nicht auf Stacy und mir. Findest du nicht auch?«, versuchte Mitch seiner Mutter den Wind aus den Segeln zu nehmen.

»Ach, papperlapapp. Deine Schwester hat sicher nichts dagegen. Ich muss sie gleich anrufen. Wir könnten heute Abend ein kleines Dinner geben?«

Die Frage war wohl rein rhetorischer Natur, denn auf eine Antwort von uns beiden wartete sie gar nicht mehr. Vielmehr warf sie ihrer Armbanduhr einen prüfenden Blick zu, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand hinter einer der zahllosen Türen, die von der Eingangshalle abgingen.

»Puh. Was war das denn?«

»Darf ich vorstellen: das war die Art und Weise, wie meine Mom längst überfällige Gäste willkommen heißt. Ich weiß, ein Tornado ist nichts dagegen.«

Meine entsetzte Miene ließ ihn noch ergänzen: »Spaß beiseite. Sie hat das Herz am rechten Fleck und meint es in 99% aller Fälle nur gut. Jetzt hast du sie gleich mal in Aktion erleben dürfen. Kannst du nachvollziehen, warum es für mich mit dir an meiner Seite leichter ist?«

»Ehrlich gesagt, eigentlich nicht. Wirst du durch mich nicht erst so richtig in den Mittelpunkt gezerrt? Das Dinner heute Abend – für das ich übrigens nichts anzuziehen habe – findet ja wohl nur statt, weil du hier mit mir aufgekreuzt bist.«

»Glaub mir, es ist dennoch besser so. Und für deine Abendgarderobe leihen wir uns etwas bei meiner Schwester. Emily wohnt hier im Haus und müsste ziemlich genau die gleiche Kleidergröße wie du haben. Auf den Rodeo Drive kann ich dich heute leider nicht mehr schicken, Pretty Woman. Ein andermal vielleicht«, scherzte er, wobei sich halbmondförmige Grübchen auf seinen Wangen bildeten.

Mitch wusste, wie man eine Frau um den Finger wickelte. Zwar sträubte ich mich innerlich immer noch dagegen, sein Vorhaben gutzuheißen, dennoch ließ ich mich darauf ein.

Nachdem ich seine Mutter kennenlernen durfte, machte mich Mitch mit den Räumlichkeiten im Erdgeschoss vertraut. Mein Lieblingszimmer stand gleich fest.

In der Bibliothek schienen tausende Bücher in meterhohen Regalen aus massiver Eiche untergebracht. Langsam ging ich an den einzelnen Schränken vorbei und besah mir die Buchrücken näher.

Manchmal verweilte ich kurz vor einem, nahm mir ein Exemplar heraus und tauchte ab in eine Welt, die mir seit dem Tod meiner Eltern eine tröstliche Zuflucht bot.

Insbesondere die Märchen der Brüder Grimm hatten es mir angetan. Wie erbaulich die Vorstellung doch ist, am Ende einer jeden Geschichte ein Happy End vorzufinden.