Nora Bossong

Kreuzzug mit Hund

Gedichte

Suhrkamp

Kreuzzug mit Hund

»Mein Ort ist der Ortlose, meine Spur ist das Spurlose.«

Dschalāl ad-Dīn Muhammad ar-Rūmī

Inhalt

Kurzes Asyl

Ach Europa,

Stationiert

Alte Tante Politik

Hanseträume

Der diskrete Charme der Ziegen

Kurzes Asyl

Perlmutt und Rhetorik

Unde malum

Bürgerliche Existenzen

Bürgeramt

Sachbearbeiterin K

Anlage 4

Urkunden

Formblatt 2

Bitte wenden

Jahreswechsel

Im letzten Moment November

Frostschutzmittel

Grenzfluss

Verfallsstudie

Zwei Jahreszeiten

Traditionen

Schlossansicht

Corveyer Traditionen

Hugenottenstadt

Flachs

Robespierre

Schlechtwetterfront

Gespenster

Regenten

Hotel

Diktion

Spinnenjagd

Sperrwerk

Wüssten wir nur

Versuch über Provinz

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

Okzidentien

Sintra

Sevilla

Madrid

Wien

Genua

Rom

Palermo

Zypern

Levante

Altes neues Land

Fisch. Hafen, Akkon

Anker. Zitadelle, Akkon

Licht. Grabeskirche, Jerusalem

Tauben. Sankt Anna, Jerusalem

Himmel. Felsendom, Jerusalem

Stein. Stadt David, Jerusalem

Atem. Klagemauer, Jerusalem

Könige. King David Hotel, Jerusalem

Sand. Corniche, Tel Aviv

Felsen. Sankt Peter, Jaffa

Mysterien

Willkommen

Pistazien

Kreuzzug mit Hund

2000 Rial

Fundstücke

Wellen

Tulpenfieber

Gefiedersturm

Kurzes Asyl

Ach Europa,

auch nur dieses kleine, gerüttelte Wiesending, Königstochter

mit einer panischen Angst vor Stieren, wer nimmt ihr das übel

nach alldem. Kriege hatte sie wie andere Leute Erkältungen.

Eine Schürze voller Länder über die Ebene geschüttelt, Babel

an jedem Grashalm errichtet, Verwaltungschaos drapiert in

Brüsseler Spitze. Ein Panoptikum aus Irren und Ehrenbürgern,

Bagatellen und bösen Geistern. Die Sumpfdotterblume wäre

die sichere Wahl, doch irgendetwas liegt uns an ihr, Europa,

dieser verschreckten Zwergin am Ende der Welt. Wir muntern

sie auf und beteuern, dass es einmal gut ausgeht mit ihr.

Stationiert

Krieg sagt er dieses Wort aus der Kindheit ein Wort das nicht

stimmt kein Gewicht hat nur die Gedanken von Kindern

können es heben und ich sehe doch sagt er auf der Straße

zerfledderte Katzen als hätte man sie über Jahrzehnte zerlesen

Ritterromane Soldatenlieder worüber hätten all die Dichter

geschrieben wenn es uns nicht gäbe sie brauchen mich sagt er

wie ich Strategie ohne die gäbe es nichts einen Haufen Menschen

ein verwildertes Wir keine Operation keinen Angriff wir wären nichts

sagt er keine Strophe kein Ton edel waren noch die Wälder als

Macduff in sie zog glaubst du an mich fragt er an Macbeth an den

Ritter Cid der Krieg ist doch die verlässlichste Sprachfigur die älteste

Art miteinander zu reden und früher sagt er wurde man dafür geliebt

doch es ist ja so dass wir noch immer wirklich sind die Lage wird

heute durch Mohnanbau bestimmt durch Zeissoptik beschossen

ich höre ihm zu mein Kopf auf dem Kissen Birken sagt er Kiefern

das hat hier aufgehört Erinnerung ist ein Bild das als Echse in

Wüstenlöcher kriecht es gelten ja nur noch die äußeren Gleichen

bis selbst die abreißen nicht mehr Tag nicht Nacht die Sonne hier

hat Kaliber vier Punkt vier sie gibt nicht nach gleißend weiß

bisweilen gelb dann ahnen wir die Einschussstelle hat sich infiziert

doch wir werden letztendlich von uns selbst stillgelegt die Träume

huschen vorbei nicht greifbar schon fort der Schlaf bleibt aus

ein Kamerad ging zurück war nur noch leer ein Hüllenwesen

in seinem Inneren nicht mehr stationiert sagt er der zog dann

in einen Wald aus Pillen klein weiß gepresst was soll man

denn sonst machen mit den Toten die noch am Leben sind

weißt du sagt er die Welt ist ja nicht immer so groß wie wir

denken nur eine Handbreit zwischen Panik und Verschwinden

Alte Tante Politik

Sie wohnt feudal, doch im Nebenraum:

Nationalgalerie, zweiter Stock links. Dort

steckt sie fest in einem Bild von sich selbst,

kommt nicht heraus, nicht vor, nicht zurück,

ein Porträt, das versucht zu gehen, Öl ohne Feuer.

Ihre Nahrung Tee und lang getunkte Kekse, das Licht

der Wächter, die sichern, dass sie keiner stiehlt.

Ihre Zeit streckt sich maßlos, dieses graue Tier

mit elastischem Rücken, und ein Kratzen im Hof

hält sie wach, sie ist alt, sie ist endlos müde, träumt

vom Rücktritt, würde gern in den Farben untergehen.

Doch sie bleibt, und da hängt sie: Raum zwölf, Zweite

von rechts. Das ist ihr Aufstand nach Vorschrift.

Hanseträume

Sie kamen an in dreizehn Kisten, Containergut mit leisem Klang:

Fliegen aus anderen Fruchtregionen, wie fremde Vokabeln

belagerten sie die Fracht. Während zwei Reeder nach den

Insekten griffen, ihren Anspruch auf jede ihrer Äußerungen

prüften, Kaufleute die unsichtbaren Flügel zählten, trat plötzlich

Stille ein. Moorige Ruhe dehnte sich vom Hafen aus über die Stadt.

Kein Balkenknarren in der Vorstadt, Peterswerder, der Deich

gab sanfter nach als sonst, sogar die Mädchen in der Linie

zwanzig schwiegen. Nur die Insekten senkten sich als friedliche

Gewitterwolke in den Himmel, aus jeder Richtung stob ihr Sirren.

Ein Prokurist versuchte noch, ihm eine Ordnung aufzuzwingen.

Da trafen schon die Kammerjäger ein.

Der diskrete Charme der Ziegen

Schräg am Hang die kahle Wiese, ausgedroschen

von den Schritten der graziösen Herdendamen.

Ihr gelber, irrer Ziegenblick fraß das Gras und

fraß die Aussicht mit. Unten floss die Elbe.

Die ganze Nacht am Futterhäuschen, dessen Schloss

geborsten war. Weich schwang Emmas Ziegenkiefer