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Dieser Roman erschien bereits 2010 als Lizenzausgabe bei der Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Augsburg, unter dem Titel «Ein Teil von dir».

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2011

Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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ISBN Printausgabe 978-3-499-25422-2 (1. Auflage 2011)

ISBN E-Book 978-3-644-44121-7

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-44121-7

Prolog

Lisas Blick ruhte auf dem sanft gewölbten Horizont. Sie liebte diese kostbaren Augenblicke am Morgen, die Zeit zwischen Traum und Tag, in der die Gedanken noch frei und leise waren.

Aus dem Flugzeugfenster sah sie, wie die ersten Sonnenschimmer das tiefdunkle Blau der Nacht allmählich in blendende Pastelltöne verwandelten, die auf einem Meer weißer Wolken zu tanzen schienen. Friedlich und unbekümmert, dachte Lisa, wie das Lächeln der farbigen Mädchen, die noch vor wenigen Tagen am Strand von Sansibar durch ihr blondes, glattes Haar gestrichen hatten. Aus den glänzenden Kinderaugen hatte pure Lebensfreude gestrahlt, und Lisa war ganz warm ums Herz geworden.

Bewegende Momente wie diese hatte es viele gegeben auf ihrer verspäteten Hochzeitsreise. Morgens nach dem Frühstück waren Erik und sie oft am Strand entlangspaziert. Die einheimischen Kinder liefen auf sie zu, als hätten sie schon lange auf ihren Besuch gewartet. Sie sprachen Swahili. Und auch wenn Lisa kein einziges Wort verstand, hatte es doch meist freundlich geklungen. Die Mädchen konnten auch ein paar Brocken Englisch. Sie fragten nach pencil und money. Während Erik stets etwas unbehaglich aus dem Kreis der sie umringenden Kinder ausbrach, genoss Lisa die Aufmerksamkeit. Mit Bewunderung wanderten die kleinen Finger von ihrem Kopf zum Schmuck an Hals und Händen. «Pass bloß auf deinen Ehering auf!», hatte Erik belustigt gerufen. Lisa ärgerte sich darüber ein wenig und überließ aus Trotz dem kleinsten der Mädchen ihr silberfarbenes Armband. Es war zwar bloß billiger Modeschmuck, sorgte aber doch für unbändige Freude. Dann griff sie in die Tasche ihres Jeansrocks und holte ein paar tansanische Schillinge hervor, die sie eigentlich für Postkarten eingesteckt hatte. Erik kommentierte ihr Verhalten nur mit einem amüsierten Kopfschütteln.

Lisa musste bei dem Gedanken daran lächeln. Der Urlaubszauber, der sich in ihren verspäteten Flitterwochen wie ein unerwartetes Geschenk über Erik und sie gebreitet hatte, hielt noch immer an. Und das, obwohl sie sich nach über sieben Stunden Nachtflug mittlerweile längst wieder über deutschem Boden befanden. Das jedenfalls zeigte der viel zu grell eingestellte Monitor zwei Reihen vor ihnen.

Erst jetzt begriff Lisa, was sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Die Stewardessen beeilten sich mit freundlicher Monotonie, die Passagiere zu wecken und mit einer Servierzange kleine, warme Handtücher zur Erfrischung zu reichen. Noch bevor eine der uniformierten Frauen auch Erik aufwecken konnte, deutete Lisa ihr, es nicht zu tun und ihr stattdessen beide Lappen zu überlassen. Lisa fuhr sich mit dem feuchten Tuch über ihr müdes Gesicht, dann beugte sie sich zu dem schlafenden Erik und pustete ihm sanft ins Gesicht.

«Aufwachen, du Schlafmütze!», flüsterte sie.

Doch Erik rührte sich nicht.

Typisch, dachte Lisa und musste schmunzeln bei dem Gedanken, dass ausgerechnet sie, die so einen leichten Schlaf hatte, an einen Mann geraten war, den nicht mal eine Herde vorbeitrampelnder Büffel wecken konnte!

Um sie herum herrschte bereits regsame Betriebsamkeit. Einige Passagiere vertraten sich die Beine oder machten sich geräuschvoll an den Fächern über ihnen zu schaffen.

Zaghaft zog Lisa nun an dem Gummiband von Eriks Schlafmaske. Eigentlich war es ja ihre Schlafhilfe. Sie hatte geahnt, dass die Strapazen der langen Reise und das mehrmalige Umsteigen sie vollkommen auslaugen würde. Doch auf diesem letzten Langstreckenflug von Daressalam nach Hamburg hatte Erik die Maske einfach an sich genommen, obwohl er sie im Gegensatz zu ihr gar nicht brauchte. Aber Lisa wollte sich nach diesen drei traumhaften Wochen, in denen sie beide sich glänzend verstanden und darüber hinaus ihr Liebesleben ordentlich aufgefrischt hatten, nicht aus Prinzip über irgendetwas ärgern. Vielmehr plagte sie noch immer das schlechte Gewissen über die chaotische Rückreise. Schließlich war es allein ihre Schusseligkeit gewesen, durch die sie den Flieger von Sansibar aufs afrikanische Festland verpasst hatten und über 300 US-Dollar für Ersatztickets ausgeben mussten.

Lisa seufzte. Schon die Safari in Tansania und der anschließende Badeurlaub auf Sansibar hatte ein halbes Vermögen gekostet. Geld, für das sie beide lange hatten sparen müssen. Trotzdem bereute Lisa nichts. Auch ihre Entscheidung, noch einmal zum Hotel zurückzukehren, um ihren vergessenen Ring zu holen, war richtig gewesen. Zwar hatten sie schon mehr als die Hälfte der rund einstündigen Strecke zum Flughafen hinter sich gebracht, aber ohne ihren Ehering hätte sie niemals ins Flugzeug steigen können!

An ihrem vorletzten Urlaubstag war Lisa nach dem Frühstück noch einmal aufs Zimmer gegangen, um ihre Strandutensilien zu holen. Erik war bereits auf seiner obligatorischen Joggingrunde unterwegs, denn er mochte auch im Urlaub nicht auf sein tägliches Training verzichten. Lisa hatte beschlossen, noch ein Mal in den heftigen Wellen des Indischen Ozeans zu baden und anschließend mit einer vom Hotel organisierten Gruppe Beachvolleyball zu spielen. Für diese Aktivitäten – so hatte sie sich eingeredet – würde das Tragen von Schmuck hinderlich oder doch zumindest sehr risikoreich sein. Also legte sie den Ring zu den anderen Wertsachen in den kleinen Safe, der im Kleiderschrank aus Tropenholz eingebaut und mit einem Zahlencode gesichert war. Sie tippte das Datum ihrer Hochzeit ein – 1010, für den 10. Oktober – und versteckte den Ring unterhalb des dicken, grauen Filzstoffs, auf dem ihre Ausweise, die Flugtickets und Handys sowie noch ein wenig Bargeld lagen. Erik hätte sich über diese zusätzliche Vorsichtsmaßnahme sicher lustig gemacht. Lisa dagegen ärgerte es, dass Erik seinen Ring gleich zu Hause gelassen hatte. Für mögliche Einbrecher gut sichtbar lag er auf seinem Nachttisch in ihrer gemeinsamen Hamburger Wohnung.

Lisa trug ihren Ring dagegen Tag und Nacht, denn sie glaubte fest an die positive Wirkung, die dieses schmale, matte Schmuckstück aus Weißgold auf ihr Leben und ihr gemeinsames Glück hatte. Zumindest bildete sie sich ein, dass der Ring ihr stets Kraft gab. Wann immer sie eine verzwickte Entscheidung zu treffen oder sonst eine heikle Situation zu überstehen hatte, griff sie intuitiv zum Ring an ihrer rechten Hand und begann, spielerisch an ihm zu drehen. Augenblicklich wurde sie ruhiger und klarer in ihren Gedanken.

Die Angst, ihr Ring könne auf ominöse Weise aus dem Hotelsafe verschwinden, war ihr zwar peinlich. Aber es war das erste Mal in den acht Monaten, die sie verheiratet waren, dass sie ihn abnahm und ihn sicher versteckte. So sicher, dass sie ihn schließlich beim Packen selbst vergaß.

Erst auf dem Weg zum Flughafen, als Lisa aus dem Fenster des alten Minibusses einen Jungen beobachtete, der fröhlich und voller Hingabe eine lädierte Fahrradfelge vor sich herrollte, hatte ihr Herz einen riesigen Satz gemacht. «Verdammt!», rief sie. «Ich habe meinen Ring vergessen!»

Erik blickte sie irritiert an, doch Lisa hatte sich schon an den Fahrer gewandt: «We have to go back. Immediately!»

Der Mann hörte wohl an ihrer Stimme, dass es sich um etwas wirklich Wichtiges handelte, denn er stoppte sofort den Wagen. Erik hingegen sah Lisa nur mit hochgezogenen Augenbrauen an und versuchte anschließend, sie davon zu überzeugen, dass es sicher eine vernünftigere Lösung des Problems gab.

Meistens gab Lisa in solchen Diskussionen nach. Denn Erik vermochte es auf nüchterne Weise, seine rationalen Überlegungen gegen ihre emotionale Sicht der Dinge zu behaupten.

Doch diesmal gab Lisa nicht nach. Sie bestand darauf, zurückzukehren, statt sich auf die Integrität des Hotelpersonals zu verlassen oder mit einem Ersatzring vertrösten zu lassen. Es war schließlich ihr Talisman, ihr Glücksbringer. Und wenn Lisa etwas wirklich wichtig war, zeigte sie eine Entschlossenheit, der selbst Erik nichts Wirksames mehr entgegensetzen konnte. Da konnte er ihr durch seinen genervten Gesichtsausdruck noch so deutlich zu verstehen geben, wie albern er ihren Aberglauben fand. Zugegeben, in besonders sentimentalen Situationen war sie geneigt, an romantische Zeichen statt an banale Zufälle zu glauben. Aber für Lisa war der Ehering nun mal ein wichtiges Symbol ihres neuen, sichereren Lebensgefühls.

Nachdem der Fahrer geduldig die Diskussion der beiden abgewartet hatte, deutete ihm Erik widerwillig, er solle tatsächlich umkehren. «Hakuna matata!», hatte der Mann lachend erklärt und gleich darauf den Wagen gewendet.

Wie oft sie diesen Ausdruck in den vergangenen 20 Tagen schon gehört hatten! Bei jeder denkbaren Begebenheit war ein gleichmütiges «Hakuna matata. Kein Problem!» erklungen: beim Ordern ihrer Getränke an der Bar, bei der Zahlung von Trinkgeld, nachdem ihre Safari-Ausrüstung vom Wagen ins Hotelzimmer getragen worden war, und selbst als sie die aufdringlichen Ausflugsangebote der immer lächelnden Beachboys freundlich zurückgewiesen hatten. Mit kaum einem anderen Ausdruck als «Hakuna matata» ließ sich die entspannte Atmosphäre auf Sansibar besser beschreiben. Und so war Erik auf der ungeplanten Rückfahrt zum Hotel auch nichts anderes übrig geblieben, als wenigstens kurz zu schmunzeln – obwohl sein ständiger Blick auf die Armbanduhr seinen inneren Groll verriet.

Tatsächlich lag der Ring noch unberührt im Safe unterhalb der kleinen Filzmatte. Erik gab dem Pagen, der sie ins Zimmer begleitet hatte, ein großzügiges Trinkgeld und drängte zur Weiterfahrt. Eine halbe Stunde hatten sie bereits verloren; jetzt würden sie sich sehr beeilen müssen.

Als sie auf dem Weg zum Flughafen nur langsam vorankamen, wuchs Lisas schlechtes Gewissen ins Unendliche. Auf den engen Straßen drängten sich mittlerweile zahlreiche Menschen, und immer wieder war der Chauffeur gezwungen, Schritttempo zu fahren. In Stone Town gerieten sie sogar in einen kleinen Stau, weil eine Schotterpiste in Hakuna-matata-Manier in eine asphaltierte Straße verwandelt wurde. Dadurch verloren sie weitere 25 Minuten, in denen Lisa immer nervöser und Erik immer stiller wurde.

Lisa konnte es überhaupt nicht leiden, wenn Erik so verdächtig ruhig wurde. Dann war er in einer Welt, zu der sie keinen Zugang mehr hatte. Genauso wie beim Computerspielen, Lesen oder seinem exzessiven Sportprogramm. Er war dann vollkommen in sich gekehrt und nahm um sich herum nichts mehr wahr. Und nach fast drei Jahren kannte Lisa ihren Mann mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass der Versuch, ihn zum Reden zu ermuntern, in solchen Momenten bloß nach hinten losging.

Mit starker Verspätung kamen sie schließlich an dem kleinen Flughafen der Insel an. Die Halle war gespenstisch leer, und auch am Schalter gab es keine lange Schlange mit wartenden Passagieren, wie man sie von modernen Großflughäfen kennt. Nur zwei dunkelhäutige, junge Männer diskutierten lautstark mit einem Bediensteten in Uniform. Eriks höfliche Fragen wurden geflissentlich überhört.

Es blieben nur noch etwa fünfzehn Minuten bis zur eigentlichen Abflugzeit. Während der Fahrt hatte Lisa mehrfach erfolglos versucht, Erik mit dem Argument zu beruhigen, dass an einem so überschaubaren Flughafen wie diesem sicher auf jeden Passagier gewartet würde.

Erik wandte sich schließlich an die Dame, die die Ausreisevisa bearbeitete, und schob ihr einen Zehn-Dollar-Schein über den Schalter, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Doch anstatt sich zu beeilen, verschwand sie für eine gefühlte Ewigkeit in einem Hinterzimmer. Schließlich kam sie mit einem Formular zurück, in dem Lisa und Erik zunächst den Reiseverlauf des Hinwegs – von Hamburg über Addis Abeba und Nairobi, weiter zum Kilimanjaro-Airport und schließlich von Arusha nach Sansibar – und des Rückflugs eintragen mussten. Angeblich war das eine Vorsichtsmaßnahme, um einer weiteren Verbreitung der Schweinegrippe entgegenzuwirken. Alles Drängen half nichts.

Nach weiteren kostbaren Minuten kamen Lisa und Erik endlich an der Passkontrolle an, von wo aus sie durch die Abflughalle und direkt weiter Richtung Rollfeld rannten.

Lisa atmete auf. Vor ihnen stand eine Maschine der Precision Air, der tansanischen Fluggesellschaft, die sie aufs Festland bringen sollte. Doch ein älterer Herr hielt sie zurück und erklärte ihnen mit einem herzlichen, aber zahnlückigen Lächeln, dass sie zu spät waren. Mehrfach deutete er entschieden auf das Flugzeug, dessen Türen bereits verschlossen waren, und schüttelte bedauernd den Kopf.

Lisa und Erik sahen noch, wie die Maschine abhob. Dann liefen sie niedergeschlagen zurück in die Halle und kauften mit ihrer Kreditkarte Tickets für die nächste Maschine.

Immerhin waren sie auch damit noch rechtzeitig nach Daressalam gekommen und hatten ihren Anschlussflieger nach Deutschland erwischt.

Ein zweites Mal zupfte Lisa nun behutsam an dem Gummiband der Schlafmaske. Endlich regte sich Eriks Körper ein wenig. Er zuckte einmal heftig, dann befreite er seine Augen von der Schlafbrille und blickte Lisa überrascht an. Erik schien mit einem Schlag vollkommen da zu sein.

«Guten Morgen», flüsterte Lisa lächelnd. Und als Erik sich erschrocken umsah, fragte sie besorgt: «Alles in Ordnung? Du siehst ja aus, als hättest du einen Geist gesehen!»

«Hab ich auch», erwiderte Erik nach kurzem Zögern. Dann lehnte er sich erschöpft in seinen Sitz zurück, atmete tief durch und griff nach dem Waschlappen, den Lisa ihm hinhielt.

«Was ist denn? Hast du schlecht geträumt?»

Erik schloss kurz seine Augen, um sich mit dem Tuch übers Gesicht zu fahren. Dann sah er Lisa ernst an und sagte mit zitternder Stimme: «Ich hab geträumt, wir stürzen ab.»

1.

Vier Wochen später

Lisa stand am Küchenfenster und spielte gedankenverloren mit ihrem Ring am Finger. Zwei winzige Blaumeisen pickten ein paar Krümel vor der Mülltonne im Innenhof auf und flogen zurück zu einem großen Ahornbaum.

Schon als kleines Mädchen hatte Lisa Vögel, Schmetterlinge und natürlich auch die Elfen aus ihren Lieblingsbüchern darum beneidet, wie scheinbar mühelos sie durch die Luft schwebten und die Welt von oben betrachteten, wodurch sich so vieles hier unten relativierte. Doch in letzter Zeit war alles anders.

Seit ihrer Rückkehr aus den Flitterwochen wirkte jede Minute des Tages intensiver, obwohl nun fast ein ganzer Monat vergangen war. Aber den Schock bei ihrer Ankunft hatte Lisa noch immer nicht überwinden können. Noch immer hatte sie die emotional aufgeladene Begrüßung ihrer Mutter Irene im Ohr. «Gott sei Dank, ich bin so froh, dass ihr lebt!», waren ihre Worte gewesen. Sie hatte ihre Arme ausgebreitet und Lisa und Erik gleichzeitig fest an sich gedrückt. Erik reagierte auf so viel überschwängliche Wiedersehensfreude gereizt. Er war kaputt und müde nach der langen Rückreise, und seine Nerven lagen zusätzlich blank, weil das Gepäck in dem ganzen Durcheinander der Umbuchung nicht durchgecheckt, sondern zunächst irgendwo verloren gegangen war.

Doch Lisa war sofort klar, dass etwas passiert sein musste. Der Ton ihrer Mutter brannte sich ihr ins Gedächtnis und hallte seitdem ständig nach. Wie ein Film lief die Begrüßung am Hamburger Flughafen wieder und wieder vor ihrem geistigen Auge ab – etwa vor dem Einschlafen, beim Duschen oder wenn sie im Supermarkt in der Schlange stand. Und auch jetzt in der Stille ihrer leeren Wohnung waren die Details der Szene überdeutlich: Irene kämpfte mit den Tränen, und auch Lisas Vater Hans hatte glasige Augen, als er seine Tochter in die Arme schloss und von den schlimmsten Stunden seines Lebens berichtete. Wie sie auf Entwarnung gehofft hatten. Auf ein Lebenszeichen von Lisa und Erik.

Eine Nachbarin hatte am frühen Abend wild an ihrer Tür geklingelt und berichtet, dass sie im Radio gerade eine kurze Meldung über ein Flugzeugunglück im Indischen Ozean gehört habe. Die Maschine sei von Sansibar aus in Richtung Festland gestartet, aber aus noch ungeklärter Ursache kurz vor der Landung über dem Meer abgestürzt. Keiner der 48 Fluggäste und sechs Besatzungsmitglieder habe das Unglück überlebt.

Sofort suchten Irene und Hans im Internet nach weiteren Informationen. Die Schreckensmeldung durfte einfach nicht wahr sein! Aus einem dpa-Bericht erfuhren sie, dass unter den Passagieren angeblich auch sechs deutsche Urlauber waren. Da Lisa wie bei jeder Reise die Adresse der Hotels und des Veranstalters hinterlassen hatte – falls ihren Eltern oder ihrem Bruder Lenny und seiner Familie etwas zustoßen würde –, riefen sie umgehend bei der Reiseleitung an. Doch deren Anschluss war zunächst ständig besetzt. Durch weitere Recherchen ermittelten Irene und Hans schließlich die Flugnummer und riefen im Auswärtigen Amt an. Doch obwohl die Referentin am anderen Ende der Leitung überaus bemüht war, zu helfen, konnte sie die vor Sorge beinahe erstickten Eltern nicht beruhigen. Auch keiner der unzähligen Anrufversuche auf Lisas oder Eriks Handy glückte, sodass Irene und Hans sich in Gedanken bereits das Schlimmste ausmalten. Sie vermochten jedoch nicht, es laut auszusprechen. Nach über drei Stunden, in denen die Angst sie zu zerreißen drohte, war endlich, endlich der erlösende Anruf der Reiseleitung aus München gekommen. Die Dame erklärte, dass das Ehepaar Lisa und Erik Grothe zwar ursprünglich für die Unglücksmaschine gebucht war, aber aus irgendeinem Grund nicht eingecheckt hatte. Die beiden hätten kurzfristig umgebucht, befänden sich nach Angaben der tansanischen Flugbehörde jedoch bereits auf dem Flug nach Hamburg.

Lisa hob ihren Blick und starrte in den blauen Himmel. Jeder Versuch, die erschütternde Erkenntnis zu verdrängen, dass sie ihr Leben einem winzigen Zufall verdankten, war seither gescheitert. Wenn sie ihren Ehering nun nicht im Hotelsafe vergessen hätte? Wenn sie nicht umgekehrt wären? Wenn sie in dem ersten Flugzeug gesessen hätten …?

Lisa gruselte bei der Vorstellung, jemals wieder sicheren Boden verlassen zu müssen. Sie fragte sich, ob dieses bedrohliche Gefühl, das sich einstellte, wann immer sie in den Himmel blickte, jemals wieder verschwinden würde.

Es lässt sich schwer beschreiben, dachte sie, und nicht einmal Erik kann mir folgen, wenn ich versuche, diese Empfindung in Worte zu fassen. Obwohl auch er dieses Ereignis nicht einfach verdrängen konnte, das wusste Lisa. Denn Erik legte seitdem eine für ihn ungewöhnliche Unruhe an den Tag, wirkte abwesend und häufig gereizt.

Lisa dagegen spürte eine Lethargie und Gedämpftheit in sich. Und sie hatte nicht das Gefühl, Erik könne nachempfinden, was in ihr vorging. Schon mehrere Male hatte sie den Versuch unternommen, mit ihm über dieses einschneidende Ereignis zu reden. Ein Ereignis, das genau genommen gar keines gewesen war. Schließlich waren sie dem Unglück heil entkommen. Aber vielleicht hatte es gerade deswegen eine so gewaltige Wirkung auf sie, weil es eben nicht stattgefunden hatte.

Lisa blickte den Meisen hinterher, wie sie in den Ahornbaum flogen. Sie spürte eine seltsame Furcht, die sie bislang nur mit dem tiefen, dunklen Meer in Verbindung gebracht hatte. Obwohl sie das Wasser liebte, machte ihr die Vorstellung, allein auf offener See zurückzubleiben, nun noch mehr Angst. Es war wie ein wiederkehrender Albtraum. Und nun bereitete ihr auch der Himmel ein ähnliches Unbehagen wie die stumme Meeresoberfläche, deren Abgrund kilometerweit in unbekannte Tiefen reichte.

«Was gibt’s da draußen zu sehen?»

Lisa zuckte vor Schreck zusammen, als Erik plötzlich in der Tür stand.

«Was machst du denn hier?», fragte sie irritiert.

«Ich wohne hier», entgegnete Erik mit einem Schmunzeln und trat auf Lisa zu.

Wie eigentlich jeden Abend kam er nach einem anstrengenden Tag in der Praxis gegen 20.30 Uhr von seinem anschließenden Triathlon-Training nach Hause. Normalerweise küsste er Lisa kurz auf die Lippen und ließ ihre Nasenspitzen aneinanderstupsen. Doch heute – wie auch an all den anderen Abenden der vergangenen vier Wochen – hielt er sie einen Moment lang einfach nur fest im Arm. Beide wussten, woran der andere gerade dachte, aber sie sprachen ihre Gefühle nicht aus. Vielmehr redeten sie nur indirekt über all die großen und kleinen Veränderungen, die der Schrecken über das Flugzeugunglück in ihnen ausgelöst hatte. Etwa die Unsicherheit, wie man Kollegen oder Nachbarn von dem Ereignis berichten sollte. Darüber, was geschehen oder eben nicht geschehen war. Oder von dem Unbehagen, ins Auto zu steigen, in der vollkommen irrationalen Befürchtung, das Schicksal werde doch noch zuschlagen. Es könne sie vielleicht nur ausgetrickst haben und würde schon noch dafür sorgen, dass sie beide vorzeitig durch ein Unglück aus dem Leben schieden.

Vieles war seitdem anders. Zum Beispiel das traditionell ausgedehnte Frühstück am Wochenende, bei dem Lisa und Erik bislang immer scherzhaft um den Reiseteil ihrer Zeitung stritten. Lisa hatte einfach kein Interesse mehr daran, sich auszumalen, in welch exotische Länder sie noch reisen konnten. Sie stieß Erik nicht mehr in die Seite, um ihn trotz ihres mit Nutella-Brötchen vollgestopften Mundes darauf aufmerksam zu machen, wie günstig die Flüge nach Kanada oder Bali doch waren und welch schönes Hotel auf den Kapverden eröffnen würde.

Erik dagegen hielt es meist gar nicht mehr lange am üppig gedeckten Tisch aus. Er trieb jetzt auch am Wochenende extrem viel Sport.

Erik löste sich aus der Umarmung, nahm Lisas Kopf in seine starken Hände und atmete den wohltuenden Duft ihrer Haare ein.

«Hallo», hauchte er liebevoll.

«Na?», entgegnete Lisa leise. «Wie war dein Tag?» Sie ließ sich auf die dunkle Holzbank fallen, die ihre Küche so wunderbar wohnlich machte.

«Okay, wie immer», antwortete Erik, und in seiner Stimme lag etwas ungewöhnlich Ernstes. «Wie gestern und vorgestern, wie morgen, übermorgen und überübermorgen.» Er setzte sich auf einen Stuhl auf der anderen Seite des quadratischen Holztischs und rieb sich mit den Händen erst die Augen und dann das ganze Gesicht.

«Du siehst ziemlich müde aus», sagte Lisa leise und wunderte sich selbst, wie mütterlich dieser Satz klang. Überhaupt kam es ihr so vor, als ob sie Erik in letzter Zeit schon fast erdrückte mit ihrer behütenden Art. Wenn er ins Auto stieg, sagte sie: «Fahr vorsichtig!» Wenn er später als gewöhnlich nach Hause kam, rief sie ihn an. Das hatte sie früher nie getan, allein schon weil sie wusste, dass ihn das bloß nervte. Eigentlich war Lisa auch kein ängstlicher oder misstrauischer Mensch. Ganz im Gegensatz zu ihrer engsten Freundin Jutta, die sogar heimlich die Handys und Hosentaschen ihrer Freunde kontrollierte, um sich der Treue des anderen zu versichern.

Aber seit sie aus den Flitterwochen zurückgekehrt waren, hatte Lisa das Gefühl, überall lauerten Gefahren. Und sie musste sie zumindest einmal im Kopf durchdenken, damit sie ja nicht wahr werden würden. Sie bildete sich ein, sie müsse sich nur dankbar genug zeigen gegenüber Gott, dem Universum, dem Schicksal oder was auch immer, um weiterleben zu dürfen. Sie hoffte, dass auch Erik irgendwann diesen entsetzlichen Albtraum aus seinem Kopf verbannen könnte, den er bereits im Flugzeug gehabt hatte. Lisa sehnte sich nach unbekümmerter Lebensfreude.

Erik holte tief Luft, als wolle er etwas wirklich Wichtiges loswerden. «Ich bin auch müde», seufzte er. «Und weißt du was?»

Er schaute Lisa in die Augen und doch irgendwie durch sie hindurch. Lisa ermunterte ihn mit einem fragenden Blick, weiterzusprechen.

«Manchmal bin ich sogar richtig lebensmüde», fuhr er fort.

Lisa spürte plötzlich ihr Herz heftig schlagen. «Was heißt das denn?», fragte sie und versuchte, dabei nicht allzu ängstlich zu klingen.

«Ich weiß, das hört sich bescheuert an, aber …» Erik zögerte.

«Aber?»

Lisa stand von der Bank auf, ging um den Tisch herum und setzte sich auf seinen Schoß. Sie streichelte ihm über sein hellbraunes Haar, das er seit der Reise nicht mehr hatte kurzschneiden lassen.

«Ich krieg das irgendwie nicht auf die Reihe», erklärte Erik mit einer latenten Aggressivität in der Stimme. «Ich muss immer wieder an den komischen Traum vom Absturz denken. Und gleichzeitig komme ich mir dabei komplett verrückt vor.»

Lisa atmete tief durch und suchte nach den richtigen Worten, um ihn zu beruhigen und ihn gleichzeitig zum Weiterreden zu animieren. Bisher hatten sie das Thema nur selten gemeinsam behandelt.

«Du bist nicht verrückt», erklärte sie. «Ich kapier das alles ja auch nicht. Aber irgendeinen tieferen Sinn wird das Ganze schon haben.»

Erik verdrehte seine Augen, so, wie er es immer tat, wenn Lisa ihm zu gefühlsduselig wurde. Bei jedem Happy End im Kino oder wenn sie ein rührendes Buch ausgelesen hatte und noch völlig ergriffen war, grinste er sie schief an und gab ihr damit das Gefühl, eine hoffnungslose Romantikerin zu sein.

Diesmal blieb Lisa aber ernst und hielt seinem Blick stand. «Glaub meinetwegen an einen Zufall, wenn es dir hilft. Aber ich bleibe dabei: Wenn irgendwas oder irgendwer gewollt hätte, dass wir in der Unglücksmaschine sitzen, wäre es auch so gekommen.»

Erik wirkte überrascht. Mit so viel Gegenwind hatte er offenbar nicht gerechnet. Einen Moment schien er zu überlegen, ob er das Gespräch vertiefen sollte. Doch dann überspielte er seine Verunsicherung wie immer mit einem Scherz.

«Und wie gedenkt dieser Jemand, etwas gegen meinen Riesenhunger zu tun?»

Lisa musste schmunzeln, obwohl sie lieber noch eine Weile über das stechende Thema gesprochen hätte. Doch sie ahnte, dass jedes weitere Wort Eriks Verschlossenheit und Verwirrung im Moment nur noch größer machen würde. In letzter Zeit hatten sie ohnehin viel zu viel diskutiert. Und meistens waren danach beide niedergeschlagen zurückgeblieben.

Lisa stand auf und sah Erik über die Schulter spöttisch an. «Ich denke, dieser Jemand weiß, dass du groß genug bist, dir selber ein Brot zu machen oder eine Pizza in den Ofen zu schieben.»

Erik verzog das Gesicht und setzte ironisch nach: «Alles muss man selber machen! Wozu habe ich eigentlich geheiratet?»

Mit einem Satz drehte sich Lisa zu Erik um und kniff ihm zur Strafe in seine rechte Wange. Erik schrie übertrieben auf, griff dann blitzschnell nach einem hölzernen Kochlöffel, der wie etliche andere Küchenutensilien in einem silberfarbenen Blumentopf steckte, und deutete an, ihr damit den Hintern zu versohlen.

Mit einem Jauchzen flüchtete Lisa durch den langen Flur und sah sich mehrfach amüsiert nach Erik um, der siegesgewiss hinter ihr herrannte. Doch Lisa machte einen unerwarteten Schlenker ins Wohnzimmer und schaffte es, ihn kurzeitig abzuhängen. Erst als sie laut lachend im Schlafzimmer landete, holte Erik sie ein und warf sie mit sich aufs Bett. Beide atmeten schwer.

Zunächst zaghaft, dann etwas leidenschaftlicher begann Erik, ihren Hals zu küssen. Seine Lippen wanderten an seine Lieblingsstelle hinter ihrem Ohr. Er atmete erneut ihren Duft ein, langsam und tief durch die Nase.

Lisa schmiegte sich in seinen Arm, in dem sie sich bislang so unendlich sicher gefühlt hatte. Dann spürte sie, wie seine Hand langsam unter ihr T-Shirt wanderte. Und als seine Fingerspitzen die Höhe ihrer Brüste erreichten und unter den dünnen, seidigen Stoff ihrer Wäsche glitten, durchfuhr sie ein wohliger Schauer. Ihr ganzer Körper wurde von dem Verlangen nach Eriks Berührung durchströmt.

Endlich, dachte Lisa, endlich verspürt auch Erik wieder Lust.

Das letzte Mal hatten sie sich im Hotelzimmer auf Sansibar geliebt, untermalt vom Meeresrauschen unter einem wehenden Moskitonetz. Doch damals hatte sich ihr Leben noch so viel unbeschwerter angefühlt.

2.

Als Lisa am nächsten Morgen in die Küche kam, war von Erik keine Spur. Nur ein kleiner Zettel hing am Kühlschrank.

Hi Motte,

lasse Sport heute sausen.

Wollen wir mal wieder ins Kino?

Eiskonfekt für zwei?

Knutsch dich ...

Lächelnd nahm Lisa die Notiz und küsste mehrfach die Stelle mit dem «Knutsch dich», obwohl sie sich dabei ziemlich albern vorkam.

Das warme Gefühl der vergangenen Nacht war noch immer spürbar. Vor allem aber war da diese große Erleichterung. Erleichterung darüber, dass Erik offenbar wieder der Alte war. Eine gefühlte Ewigkeit hatte er ihr nämlich schon keine Liebesbotschaften mehr geschrieben. Dabei war das in den letzten Jahren ihre Art geworden, einander «Ich liebe dich» zu sagen – dafür zumindest standen die drei Pünktchen in den SMS oder auf Zetteln wie diesem.

Als sie zusammenzogen, entwickelte sich aus diesen kleinen Notizen ein intimes Ritual. Erik sah darin fast schon eine sportliche Herausforderung. Denn er versteckte die liebevollen Botschaften meist dort, wo Lisa es am wenigsten vermutete – etwa in ihren Schuhen, im Buchdeckel ihrer momentanen Einschlaflektüre oder sogar unterm Klodeckel. Die banaleren oder dringenderen Nachrichten hingegen wurden mit Magneten am großen, silberfarbenen Kühlschrank hinterlassen, den sie von Eriks Mutter Renate zur Hochzeit bekommen hatten. Das Geschenk beinhaltete auch eine «Erstausstattung mit Vorgekochtem». Denn Renate hatte den Kühlschrank mit allerlei Lebensmitteln und einigen Portionen zum Einfrieren gefüllt, gewürzt mit dem Kommentar «weil deine Lisa doch immer so viel arbeitet».

Lisa legte den Zettel zur Seite, trat an die Küchenzeile und betätigte mit mechanischen Griffen die Kaffeemaschine.

Der Vorschlag mit dem Kinobesuch würde zwar nicht in die Zettelsammlung mit den romantischsten Inhalten wandern, dennoch freute sie sich sehr darüber, dass Erik ihr zuliebe heute mal auf sein größtes Hobby verzichten würde. Und besonders froh war sie darüber, dass er endlich mal wieder ihren Kosenamen als Anrede gewählt hatte. Den Ausdruck «Motte» benutzte er, seit er Lisa einmal mitten in der Nacht von ihrer Nähmaschine weggezerrt und zu sich ins Bett geholt hatte. Beinahe eifersüchtig behauptete er, sie würde mit ihren Stoffen schon genauso eine symbiotische Beziehung eingehen wie eine kleine Motte. Seitdem haftete ihr der Spitzname an.

Lächelnd nahm Lisa den Stift zur Hand, der mit einem Bändchen am Kühlschrankgriff befestigt war, und schrieb auf die Rückseite des Zettels:

Ich freu mich, bis später!

Küsschen ...

Anschließend schob sie das kleine Blatt unter einen der zahlreichen Magneten und versuchte, sich auf ihr Frühstück zu konzentrieren. Doch ihre Gedanken schweiften immer wieder ab.

Sie sehnte sich danach, Erik endlich wieder so nah zu sein wie vor und zu Beginn ihrer Ehe. Denn in den letzten Wochen machte ihr Eriks ohnehin schon extreme Introvertiertheit zu schaffen. Lisas größte Angst dabei war, dass er ihr nach dem Schrecken des Flugzeugabsturzes immer mehr entgleiten könnte.

Nach den Entbehrungen und der mangelnden Nähe in der letzten Zeit hatte Lisa auch deshalb das Liebesspiel gestern Abend so extrem berührt. Sie hatte das intime Zusammensein mit Erik so sehr genossen, dass ihr ein paar Tränen über die Wangen gelaufen waren, kurz nachdem sie beide gleichzeitig zum Höhepunkt gekommen waren. Und als sie anschließend glücklich schweigend in seinen Armen lag, hatte sie sich das allererste Mal vorgestellt, wie es wohl sein würde, mit ihm ein Kind zu zeugen.

Der Gedanke daran hatte zwar nur wenige Momente gedauert. Doch als sie an diesem Morgen die Wohnung verließ, um zur Arbeit zu gehen, schlich er sich schon wieder in ihr Bewusstsein.

Sie war so in ihre Überlegungen versunken, dass sie im Treppenhaus beinahe über das Bobbycar von dem niedlichen Nachbarsjungen gestolpert wäre, der mit seinen jungen Eltern das Erdgeschoss bewohnte.

Lisa trat aus dem Haus und schüttelte amüsiert den Kopf. Sie sollte sich jetzt besser auf ihren Weg zur Arbeit konzentrieren!

Der Mode-Laden, den sie zusammen mit Jutta im Frühling eröffnet hatte, lag nur rund zehn Gehminuten von ihrer Eimsbütteler Wohnung entfernt. Aber weil sie etwas früher dran war als gewöhnlich, machte Lisa an diesem Morgen spontan einen kleinen Umweg, um sich bei anderen Schaufenstern Ideen abzugucken. Schließlich hatten sie beide bislang kaum Erfahrung im Einzelhandel gesammelt, abgesehen von kurzen Aushilfsjobs während ihres Design-Studiums an der Fachhochschule. Dort hatten sie sich gleich in der Einführungswoche kennengelernt. Und schon damals träumten beide von einem gemeinsamen Label und einer eigenen Boutique. Nach kürzester Zeit konnten sie auch schon mit einem passenden Namen dafür aufwarten: JuLi – eine Zusammensetzung aus ihren Vornamen.

Aber es brauchte erst die Finanzkrise und eine große Portion Mut, bis sie sich im vergangenen Jahr tatsächlich dazu entschlossen, einen leerstehenden Ladenraum anzumieten und ihre eigene Mode zu entwerfen. Neben dem hellen Verkaufsraum gab es auch noch eine kleine Teeküche und ein weiteres Zimmer, das sie mit wenigen Mitteln zu einem Atelier umfunktioniert hatten.

Vor der Gründung ihres Labels hatte Lisa ein Volontariat bei einem großen Hamburger Verlag absolviert und danach einige Jahre als Mode-Redakteurin für verschiedene Magazine gearbeitet. Eine Zeit lang gefiel ihr das auch sehr gut. Aber als der Druck wuchs und immer mehr Anzeigenkunden wegbrachen, wurde ein Großteil der Festangestellten in die freie Mitarbeit geschickt.

Lisa machte aus der neuen Situation das Beste und genoss es anfangs sogar sehr, sich ihre Zeit wieder frei einteilen zu können. Immerhin konnte sie auch mal einen Auftrag ablehnen, wenn ihre Chefredakteurin anrief und sie zu einem Termin schicken wollte, auf den sie absolut keine Lust hatte. Doch mit der Zeit wuchs der Wunsch, lieber selbst Mode zu entwerfen, anstatt über Trends und Ideen anderer zu berichten.

Lisas große Leidenschaft waren schlichte Kleidungsstücke, die auf den ersten Blick im Vergleich zur hippen Konkurrenz vielleicht etwas langweilig wirkten. Doch wenn man sie geschickt mit Accessoires kombinierte oder mit anderen Teilen der Kollektion variierte, bestachen sie durch charmante Zeitlosigkeit. Auf jeden Fall mochte sie die Mode abseits des gängigen H&M-Mainstreams.

Jutta hingegen war viel flippiger und hatte schon als Teenager verrückte Taschen und Schmuck gefertigt. Damals hatte sie sogar Waschlappen und Nudeln zweckentfremdet und sich im Baumarkt nach originellen Materialien umgesehen. Heute bildeten die beiden ein gutes Team, und sie waren längst zu besten Freundinnen geworden, die sich alles erzählten.

Als Lisa in die Osterstraße einbog, auf der sich ein Geschäft an das nächste reihte, hörte sie plötzlich ein fieses Röcheln hinter sich. Sie sah sich um und erblickte einen obdachlosen Mann. Er saß unweit der Eingangstür ihres Lieblingsbäckers und hustete sich fast die Seele aus dem Leib. Lisa hatte ihn schon öfter hier sitzen sehen, aber sich jedes Mal bemüht, ihn nicht anzustarren, weil er einen ziemlich griesgrämigen Eindruck machte.

Auch jetzt schaute er sie böse an, sodass Lisa schnell wegsah und so tat, als hätte sie ihn nicht bemerkt. Eilig steuerte sie den Bäcker an, und da kein Kunde im Laden war, wurde sie auch direkt bedient. Wie so häufig erstand sie drei leckere Müslistangen. Eine davon wollte sie sofort anbeißen, obwohl sie morgens eigentlich meist keinen Hunger verspürte. Die beiden anderen würde sie später mit Jutta zum obligatorischen Nachmittagskaffee essen.

Als sie wieder auf die Straße trat, schielte Lisa doch noch einmal schüchtern in Richtung des Herrn Griesgram. Ob sie ihm einfach eine Müslistange anbieten sollte? Doch er schaute weg. Also drehte Lisa sich in die entgegengesetzte Richtung, um ihren Weg fortzusetzen, und stieß prompt mit einem kleinen Mädchen zusammen. Erschrocken entschuldigte sie sich sofort.

Die Kleine hatte ein niedliches Gesicht mit einem schelmischen Grinsen und schaute Lisa mit einer entwaffnenden Direktheit an, die sie nun ebenfalls zum Lächeln animierte. Jetzt registrierte Lisa auch die anderen Kleinkinder, die an diesem Morgen den ohnehin lebendigen Stadtteil bevölkerten.

Eine Frau nahm das niedliche Mädchen an die Hand, obwohl sie bereits alle Mühe hatte, auch die anderen Kinder im Gänsemarsch zusammenzuhalten. Die Kleine winkte zum Abschied.

Lisa blieb irritiert zurück, denn die Geste berührte sie. Normalerweise gehörte sie nicht zu den Frauen, die vor Verzückung gleich ausflippten, wenn sie ein Baby oder Kleinkind sahen. Aber heute tat ihr Herz einen Sprung vor Entzückung. Ob das Muttergefühle waren?

Lisa musste an zwei ihrer engsten Freundinnen denken, mit denen sie seit der Schulzeit jeden Liebeskummer und jeden Partyspaß geteilt hatte. Beide ließen nach der Geburt ihrer Kinder den Kontakt zu Lisa einschlafen. Andererseits hätte auch Lisa die Persönlichkeitsveränderungen der beiden durch den neuen Mutterstatus nicht länger ertragen können. Früher war sie sich beim Gespräch über die leidige K-Frage häufig wie eine Aussätzige vorgekommen. Sie hatte sich einfach nicht konkret vorstellen können, selbst Kinder zu haben. Doch heute kam sie sich beinahe lächerlich vor, wenn sie vorsichtig andeutete, dass sie ihre biologische Uhr langsam ticken hörte. Seit ihrem letzten Geburtstag im Juni war es auch nicht mehr einfach bloß ein lautes Ticken, sondern in manchen Situationen unüberhörbar ein schriller Alarmton. Ein Alarmton, der ihr 35. Lebensjahr eingeläutet hatte wie die letzte Runde bei einem Wettrennen.

«Na?! Schläfst du noch?»

Beinahe wäre Lisa an ihrem eigenen Laden vorbeigegangen. Sie war vollkommen in Gedanken versunken gewesen und hatte gar nicht bemerkt, dass Jutta längst die Tür aufhielt und breit grinste.

«Du hast es wirklich nicht gesehen, oder?», wollte ihre Freundin gleich wissen.

«Was meinst du?», fragte Lisa irritiert und schob ironisch ein strenges «Guten Morgen erst mal!» nach, als sie den Laden betrat und ihre Jacke über einen Stuhl hängte.

Jutta riss ihr die Brötchentüte aus der Hand und stieß einen kleinen Freudenschrei aus. Sie fischte eine der duftenden Müslistangen heraus und biss beherzt rein.

«Was?», fragte Lisa und sah ihre Freundin fast schon ein wenig gereizt an, weil sie nicht verstand, was diese Anspielung sollte. «Hab ich was verpasst?»

«Aber hallo! Der Monteur war da und hat –»

«Das Schild?», fragte Lisa aufgeregt.

«Das Schild!», erklärte Jutta triumphierend. «Die haben mich aus dem Bett geklingelt.»

«Und dann?»

«Dann bin ich gerade noch rechtzeitig hier gewesen. Obwohl heute Samstag ist, stand der Typ schon um 8 Uhr auf der Matte und hat es gleich wie vereinbart angebracht!»

«Ja und? Wie sieht es aus?» Lisa wollte gerade aus dem Laden laufen, um draußen nachzusehen. Da dämpfte Jutta ihren Enthusiasmus.

«Unscheinbar.»

«Unscheinbar?» Lisa schaltete augenblicklich von Begeisterung auf Enttäuschung. «Wie meinst du das?»