Bernard Cornwell

Stonehenge

Historischer Roman

Aus dem Englischen von Elke Bartels

Zum Andenken an

BILL MOIR

1943  1998

«Die Druidenhaine gibt’s nicht mehr –

umso besser;

Stonehenge dagegen steht noch –

aber was, zum Teufel, war es?»

 

Lord Byron, Don Juan

Canto XI, Vers XXV

ERSTER TEIL

Der Himmelstempel

Karte der Siedlung und der Tempel von Ratharryn, ca. 2000 v. Chr.

1. KAPITEL

Die Götter sprechen zu den Menschen durch Zeichen. Ein solches Zeichen kann ein Blatt sein, das im Sommer abfällt, der Schrei eines sterbenden Tieres oder die sich plötzlich kräuselnde Oberfläche eines stillen Gewässers. Auch könnte man dicht über den Boden dahinziehenden Rauch entdecken, einen Riss in der Wolkendecke oder die ungewöhnliche Flugbahn eines Vogels.

Aber an jenem Tag schickten die Götter ein Unwetter. Es war ein gewaltiges Unwetter, ein Sturm, an den die Menschen noch lange denken würden, obwohl sie das Jahr nicht nach diesem Naturereignis benannten. Stattdessen nannten sie es «das Jahr, in dem der Fremde kam».

Denn an dem Tag des Unwetters traf ein Fremder in Ratharryn ein. Es war an demselben Sommertag, an dem Saban um ein Haar von seinem Halbbruder ermordet worden wäre.

An diesem Tag sprachen die Götter nicht. Sie schrien.

 

Wie alle Kinder trug auch Saban im Sommer keine Kleidung. Er war sechs Jahre jünger als sein Halbbruder Lengar, und da er noch nicht die Riten durchlaufen und seine Mannhaftigkeit unter Beweis gestellt hatte, war er nicht von Stammestätowierungen oder Kampfnarben gezeichnet. Aber bis zu seiner Zeit der Prüfung lag nur noch ein Jahr vor ihm, und ihr Vater hatte Lengar angewiesen, Saban in den Wald mitzunehmen und ihm zu zeigen, wo sich die Hirsche aufhielten, wo die wilden Keiler lauerten und wo die Wölfe ihren Bau hatten. Lengar war empört darüber, dass ihm sein Vater diese lästige Aufgabe übertragen hatte; also hatte er seinen Bruder, statt ihn zu unterweisen, durch dorniges Gestrüpp und Dickichte geschleppt, sodass die sonnengebräunte Haut des Jungen aus zahlreichen Kratzwunden blutete. «Du wirst nie ein Mann werden», höhnte Lengar.

Saban war so vernünftig zu schweigen.

Lengar gehörte seit fünf Jahren zu den Männern – er trug die blauen Narben des Stammes auf der Brust und auf den Armen, die Tätowierungen eines Jägers und Kriegers. Seine Waffe bildete ein Eibenholz-Langbogen, der mit Hornspitzen beschlagen, mit Sehnen bespannt und mit Schweinefett eingerieben war. Sein Gewand bestand aus einem Wolfsfell, das lange schwarze Haar baumelte ihm als mit einem Streifen Fuchsfell zusammengebundener Zopf auf dem Rücken. Er war groß, hatte ein schmales Gesicht und galt als einer der tüchtigsten Jäger des Stammes. Sein Name bedeutete «Wolfsauge», denn seine Iris spielte leicht ins Gelbliche. Bei seiner Geburt erhielt er bereits einen Namen; aber wie so viele Stammesmitglieder wollte er ab dem Eintritt in das Mannesalter anders heißen.

Auch Saban war groß und hatte langes schwarzes Haar. Sein Name bedeutete «Der Wohlgestaltete», und viele im Stamm hielten ihn für durchaus passend; denn schon jetzt, mit seinen kindlichen zwölf Sommern, versprach Saban ein gutaussehender Bursche zu werden. Stark und geschmeidig, arbeitete er unermüdlich und lächelte häufig. Was Lengar nur selten tat. «Er hat eine Wolke im Gesicht», sagten die Frauen von ihm, allerdings lediglich hinter vorgehaltener Hand, denn Lengar würde wahrscheinlich der nächste Clanführer des Stammes werden. Lengar und Saban waren die Söhne von Hengall, dem derzeitigen Clanführer des Volkes von Ratharryn.

Den ganzen Tag über führte Lengar Saban durch den Wald. Sie trafen weder auf Damwild noch auf Wildschweine, Wölfe, Auerochsen oder Bären. Ziellos marschierten sie durch das Unterholz; am Nachmittag dann gelangten sie an den Rand des hochgelegenen Geländes und sahen, dass eine Wand dicker schwarzer Wolken das gesamte Land im Westen überschattete. Blitze zuckten durch die Finsternis, schlugen in den fernen Wald ein und tauchten die Umgebung sekundenlang in grelles Licht. Lengar hockte sich auf den Boden, eine Hand an seinem polierten Bogen, und beobachtete das sich nähernde Gewitter. Er hätte sich schleunigst auf den Rückweg machen sollen; aber er wollte, dass Saban es mit der Angst zu tun bekam, und deshalb tat er so, als kümmerte ihn die Drohung des Sturmgottes nicht.

Während dieses heraufziehenden Unwetters nun erschien der Fremde auf der Bildfläche.

Er ritt ein kleines graubraunes Pferd, das über und über mit Schweiß bedeckt war. Sein Sattel bestand aus einer zusammengefalteten wollenen Decke, die Zügel waren aus Nesselfasern geflochten, die er kaum brauchte; denn er war verwundet und wirkte vollkommen erschöpft. Deshalb überließ er es seinem Pony, sich einen Weg den Pfad hinauf zu bahnen, der sich die steile Böschung emporwand. Der Fremde hielt den Kopf gesenkt, und seine Fersen schleiften fast am Boden entlang. Unter einem wollenen, blaugefärbten Umhang trug er in der rechten Hand einen Bogen, während über seiner linken Schulter ein Lederköcher hing, gefüllt mit Pfeilen, an deren Schäften Federn von Seemöwen und Krähen steckten. Seine kurzen Barthaare waren schwarz, die in seine Wangen eintätowierten Stammesabzeichen grau.

Lengar flüsterte Saban zu, sich ganz still zu verhalten, dann verfolgte er den Fremden Richtung Osten. Der große Bruder hatte einen Pfeil in seinen Bogen eingespannt; aber der Fremde drehte sich kein einziges Mal nach etwaigen Verfolgern um – daher war Lengar vorerst bereit, den Pfeil auf seiner Bogensehne ruhen zu lassen. Saban fragte sich, ob der Reiter überhaupt noch lebte, denn er hockte so reglos und in sich zusammengesunken auf dem Rücken seines Pferdes wie ein Toter.

Der Mann musste von jenseits der Grenze sein. Selbst Saban konnte das erkennen, da nur die Fremdländischen solche zotteligen Pferdchen ritten und graue Tätowierungen im Gesicht hatten. Das fremdländische Volk war der Feind, dennoch schoss Lengar immer noch nicht seinen Pfeil ab. Er folgte dem Reiter einfach nur, und Saban folgte Lengar, bis der Unbekannte schließlich an den Waldrand gelangte, wo Adlerfarn wuchs. Dort hielt der Mann sein Pferd an und hob den Kopf, um auf die sanft ansteigende Landschaft hinauszustarren, während Lengar und Saban ungesehen hinter ihm im Unterholz kauerten.

Der Fremde erblickte Farngestrüpp und jenseits davon, wo das Erdreich über der darunterliegenden Kreideschicht dünn war, Grasland. Den flachen Kamm des Graslandes sprenkelten Grabhügel. Schweine wühlten im Laub, während auf den Weiden weiße Rinder grasten. Hier schien noch immer die Sonne. Der Fremde verharrte eine ganze Weile dort und hielt nach Feinden Ausschau, die jedoch ausblieben. Weit in der Ferne dehnten sich mit Dornenhecken umgebene Weizenfelder nordwärts, über die jetzt die ersten finsteren Wolken, Vorreiter des Unwetters, ihre Schatten jagten; aber unmittelbar vor ihm war die Landschaft noch von Sonnenlicht überflutet. Vor ihm befand sich Leben, hinter ihm Dunkelheit, und plötzlich stürmte das kleine Pferd unaufgefordert ins Gestrüpp. Der Reiter ließ sich von ihm tragen.

Das Tier erklomm die sanfte Anhöhe zu den Grabhügeln. Lengar und Saban warteten, bis der Fremde hinter der Horizontlinie verschwunden war, dann schlichen sie ihm nach; und als sie den Kamm des Walls erreichten, kauerten sie sich in die Vertiefung neben einem der Gräber, um festzustellen, dass der Reiter neben dem Alten Tempel angehalten hatte.

Donner grollte in der Ferne, und eine weitere heftige Windbö drückte das Gras nieder, wo das Vieh weidete. Der Fremde glitt zu Boden, durchquerte den mit Unkraut überwucherten Ringgraben des Alten Tempels und verschwand in den Haselnusssträuchern, die dicht innerhalb des geheiligten Kreises wuchsen. Saban nahm an, dass der Mann Zuflucht suchte.

Aber sein Bruder war hinter dem Fremden her, und Lengar neigte nicht dazu, Gnade walten zu lassen.

Das reiterlose Pferd, verängstigt durch den lauten Donner und die großen Rinder, trabte in westlicher Richtung auf den Wald zu. Lengar wartete, bis das Tier zwischen den Bäumen verschwunden war; dann kletterte er aus dem Versteck und rannte zu den Haselnusssträuchern.

Saban folgte ihm, und zwar dorthin, wo er in seinen ganzen zwölf Lebensjahren noch niemals gewesen war.

Zu dem Alten Tempel.

 

Früher einmal, vor so unendlich vielen Jahren, dass sich kein Lebender mehr an jene Zeiten erinnern konnte, war der Alte Tempel das größte Heiligtum des Herzlandes gewesen. In jenen Tagen, als die Menschen von weit her gekommen waren, um in den Steinkreisen des Tempels zu tanzen, war der hohe Wall aus kreidehaltiger Erde, der das Heiligtum umgab, so weiß gewesen, dass er im Mondschein leuchtete. Der schimmernde Ring maß einen Durchmesser von hundert Schritten; in den alten Zeiten war die geheiligte Fläche in seinem Inneren von den Füßen der Tanzenden platt getrampelt worden, während sie das Totenhaus umkreisten, das aus drei Ringen von behauenen Eichenstämmen bestand. Die nackten, glatten Baumstämme waren mit Tierfett eingeölt sowie mit Efeuranken und Stechpalmenzweigen behängt gewesen.

Jetzt überwucherten den Wall dichtes Gras und Unkraut. Kleine Haselbüsche wuchsen in dem Ringgraben, und weitere Haselnusssträucher hatten sich auf der weiten Fläche im Inneren des Walls angesiedelt; aus der Ferne wirkte der Tempel wie ein Wäldchen von Sträuchern und Büschen. Vögel nisteten jetzt dort, wo einst Menschen getanzt hatten. Ein Eichenpfeiler des Totenhauses ragte noch immer über dem Gestrüpp auf; doch der Pfahl stand mittlerweile schief, sein einst glattes Holz war rissig, schwarz verfärbt und dicht mit allerlei Pilzen überwachsen.

Denn die Menschen hatten den Tempel aufgegeben – dennoch vergessen die Götter ihre Heiligtümer nicht. Manchmal, an stillen Tagen, wenn milchige Nebelschwaden über dem Weidegrund lagen oder der riesige Vollmond reglos über dem Kreidering stand, erzitterten die Haselnussblätter, so, als ob ein Windhauch durch das Laub strich. Die Tanzenden waren verschwunden, aber die göttlichen Kräfte konnte man immer noch spüren.

Und jetzt war ein Fremder in das Heiligtum eingedrungen.

Die Götter schrien vor Zorn.

 

Wolkenschatten verdunkelten die Weide, als Lengar und Saban auf den Alten Tempel zurannten. Saban fror, und er hatte Angst. Lengar fürchtete sich ebenfalls; aber die Fremdländischen waren berühmt für ihren Reichtum, und seine, Lengars, Gier überwog seine Furcht, den Tempel zu betreten.

Der Fremde war durch den Rundgraben gekrochen und den Wall hinaufgeklettert; deshalb eilte Lengar zu dem alten Eingang an der Südseite, wo ein schmaler, erhöhter Fußweg in das überwachsene Innere führte. Hinter dem Fußweg ließ Lengar sich auf alle viere nieder und kroch durch die Haselnusssträucher. Widerstrebend tat Saban es ihm nach, weil er nicht allein auf der Weide zurückbleiben wollte, wenn sich der Zorn des Sturmgottes entlud.

Zu Lengars Überraschung war der Alte Tempel nicht vollkommen von Gestrüpp überwuchert; denn dort, wo einst das Totenhaus gestanden hatte, erstreckte sich eine gerodete Fläche. Irgendjemand aus dem Stamm musste noch immer den Alten Tempel besuchen, weil das Unkraut gejätet und das Gras mit einem Messer geschnitten worden war und ein einzelner Ochsenschädel in dem verfallenen Totenhaus lag, wo jetzt der Fremde saß, den Rücken gegen den letzten Tempelpfeiler gelehnt. Die Wangen des Mannes waren bleich, seine Augen geschlossen – aber seine Brust hob und senkte sich unter keuchenden, mühsamen Atemzügen. Er trug einen schmalen, langen Keil aus dunklem Stein an der Innenseite seines linken Handgelenks, mit Lederschnüren befestigt. Seine wollenen Beinlinge starrten vor Blut. Der Mann hatte seinen kurzen Bogen und den Köcher mit Pfeilen neben den Ochsenschädel fallen lassen und presste jetzt einen Lederbeutel gegen seinen verletzten Bauch. Drei Tage zuvor war er im Wald aus dem Hinterhalt überfallen worden. Er hatte seine Angreifer nicht gesehen, nur den plötzlichen stechenden Schmerz gespürt, als ein Speer ihn erwischte; dann hatte er seinem Pferd hastig die Fersen in die Flanken gedrückt und sich von ihm aus der Gefahrenzone tragen lassen.

«Ich werde Vater holen», flüsterte Saban.

«Du wirst nichts dergleichen tun!», zischte Lengar. Der Verwundete musste sie gehört haben, denn er riss die Augen auf, und sein Gesicht verzerrte sich zu einer gequälten Grimasse, als er sich vorbeugte, um nach seinem Bogen zu greifen. Aber der Schmerz beeinträchtigte den Fremden in seiner Beweglichkeit, und Lengar war sehr viel schneller als er. Er ließ seinen Langbogen fallen, sprang aus seinem Versteck und rannte hinüber zu dem Totenhaus, um mit einer Hand den Bogen des Fremden an sich zu raffen und mit der anderen dessen Köcher. In seiner Hast kippte er die Pfeile aus, sodass nur noch einer in dem Lederköcher zurückblieb.

Von Westen her ertönte gedämpftes Grollen. Saban erschauerte, voller Angst, dass das Geräusch anschwellen würde, um die Luft mit dem Zorn des Sturmgottes zu erfüllen – aber der Donner verhallte wieder, und danach herrschte tödliche Stille am Himmel.

«Sannas», sagte der Fremde, dann fügte er ein paar Worte in einer Sprache hinzu, die weder Lengar noch Saban sprachen.

«Sannas?», fragte Lengar.

«Sannas», wiederholte der Mann mit Nachdruck. Sannas war die mächtige Zauberin von Cathallo, überall kannte man sie – Saban nahm an, der Fremde wollte von ihr geheilt werden.

Lengar lächelte. «Sannas gehört nicht zu unserem Volk», erklärte er. «Sannas lebt nördlich von hier.»

Der Fremde verstand Lengars Worte nicht. «Erek», sagte er, und Saban, der die Szene noch immer vom Gestrüpp aus beobachtete, fragte sich, ob das der Name des Mannes war oder vielleicht der Name seines Gottes. «Erek», wiederholte der Verwundete matt; doch Lengar, der den einen Pfeil aus dem Köcher des Fremden herausgenommen und in den kurzen Bogen eingespannt hatte, begriff gar nichts. Der Bogen bestand aus schmalen Holzstücken und Geweihsprossen, zusammengeleimt und mit Sehnen bespannt, und Lengars Volk hatte eine solche Waffe nie benutzt. Sie bevorzugten den aus dem Holz der Eibe geschnitzten Langbogen, und der junge Krieger betrachtete die seltsame Waffe voller Neugier. Er zog die Sehne zurück, um ihre Kraft zu prüfen.

«Erek!», schrie der Fremde laut.

«Du bist ein Fremdländischer», sagte Lengar, «und hast hier nichts zu suchen.» Er zog die Sehne abermals zurück, überrascht von der Spannung in der kurzen Waffe.

«Hol eine Heilerin her. Hol mir Sannas», bat der Fremde in seiner eigenen Sprache.

«Wenn Sannas hier wäre», erwiderte Lengar, der nichts außer diesem Namen verstand, «würde ich zuerst sie töten.» Verächtlich spuckte er aus. «Das ist genau das, was ich von Sannas halte. Sie ist eine verschrumpelte alte Hexe, eine Schale böser, giftiger Krötenscheiße, die Menschengestalt angenommen hat!» Er spuckte abermals auf den Boden.

Der Fremde beugte sich vor, hob mühsam die Pfeile auf, die aus seinem Köcher gefallen waren, und fasste sie zu einem Bündel zusammen, das er wie ein Messer in der Hand hielt – als ob er sich damit verteidigen wollte. «Bring mir eine Heilerin», wiederholte er in seiner Sprache. Donner grollte im Westen, und die Haselnussblätter erzitterten, als eine kalte Windbö über die Hügel fegte, ein weiterer Vorbote des heraufziehenden Unwetters. Erneut blickte der Fremde flehend zu Lengar auf und fand doch keinerlei Mitleid in seinen Augen. Er sah dort einzig Mordlust. «Nein», krächzte er rau, «nein, bitte nicht!»

Lengar spannte den Bogen. Er stand nur fünf Schritte von dem Fremden entfernt, und der kleine Pfeil traf sein Ziel mit tödlicher Wucht, ließ den Mann ruckartig auf die Seite fallen. Der Pfeil grub sich so tief in das Fleisch, dass nur noch eine Handbreit des schwarz- und weißbefiederten Schafts aus der linken Brustseite des Getroffenen herausragte. Saban dachte, der Arme müsse tot sein, weil er eine ganze Weile vollkommen reglos dalag; aber dann glitt das Bündel Pfeile aus seiner Hand, als er sich langsam, sehr langsam in eine sitzende Position hochstemmte. «Bitte», röchelte er.

«Lengar!» Hastig kroch Saban aus seinem Versteck und kam herbeigerannt. «Lass mich Vater holen!»

«Sei still!» Lengar hatte einen seiner eigenen, schwarzen Pfeile aus dem Köcher genommen und ihn in den kurzen Bogen eingespannt. Er ging auf Saban zu, zielte und grinste breit über den Ausdruck panischer Angst auf dem Gesicht seines Halbbruders.

Der Fremde richtete ebenfalls den Blick auf Saban und sah einen großen, schönen Jungen mit zerzaustem schwarzen Haar und intelligenten, erschrockenen Augen. «Sannas», flehte er Saban an, «bring mich zu Sannas.»

«Sannas lebt nicht hier», erwiderte Saban, der nur den Namen der Zauberin verstand.

«Wir leben hier», verkündete Lengar und zielte erneut auf den Fremden, «aber du bist ein Fremdländischer, und ihr stehlt unser Vieh, macht unsere Frauen zu Sklavinnen und betrügt unsere Händler.» Damit schoss er den zweiten Pfeil ab, und genau wie der erste bohrte er sich mit voller Wucht in die Brust des Fremden, diesmal jedoch in die Rippen seiner rechten Körperseite. Wieder schlug es den Mann zur Seite, und abermals zwang er sich mit äußerster Kraftanstrengung hoch, als ob sein Geist sich weigerte, seinen gequälten Körper zu verlassen.

«Ich kann dir Macht verschaffen», äußerte er stoßweise, während ein Rinnsal schaumigen hellroten Blutes aus seinem Mund quoll und in seinen kurzen Bart sickerte. «Macht», flüsterte er.

Aber Lengar verstand die Sprache des Mannes nicht. Er hatte zwei Pfeile auf ihn abgeschossen, und noch immer weigerte sich der Fremde zu sterben; deshalb hob Lengar seinen Langbogen vom Boden auf, spannte einen Pfeil ein und wandte sich erneut zu seinem Opfer um. Er zog die straffgespannte Sehne zurück und zielte sorgfältig.

Der Fremde schüttelte den Kopf; doch er kannte jetzt sein Schicksal und starrte Lengar unverwandt in die Augen, um ihm zu zeigen, dass er keine Angst vor dem Ende hatte. Er verfluchte seinen Mörder, obwohl er bezweifelte, dass die Götter ihn erhören würden – denn er war ein Dieb und ein Flüchtiger.

Lengar ließ die Bogensehne zurückschnellen, der schwarzbefiederte Pfeil traf den Fremden mitten ins Herz. Er musste eigentlich tot sein – dennoch bäumte er sich ein letztes Mal auf, als wollte er die Pfeilspitze aus Feuerstein abwehren; dann fiel er hintüber, erzitterte einige Herzschläge lang und blieb zuletzt verkrümmt liegen.

Eilends spuckte Lengar in seine rechte Hand und verrieb die Spucke auf der Innenseite seines linken Handgelenks, wo die Bogensehne des Fremden seine Haut gepeitscht und einen brennenden Schmerz hinterlassen hatte; und Saban, der seinen Halbbruder beobachtete, begriff plötzlich, warum der Fremde den schmalen Steinkeil an der Innenseite seines Unterarms trug. Lengar tanzte ein paar Schritte, um seinen Sieg zu feiern, aber gab das rasch auf. Tatsächlich zweifelte er, ob der Mann wirklich tot war; denn er näherte sich dem reglosen Körper sehr vorsichtig und stieß ihn mit dem mit Horn verstärkten Ende seines Bogens an, bevor er hastig zurücksprang, für den Fall, dass der Leichnam plötzlich wieder zum Leben erwachen und sich auf ihn stürzen würde; doch der Fremde rührte sich nicht mehr.

Wieder bewegte sich Lengar vorsichtig auf den Toten zu, riss den Beutel aus dessen leblosen Händen und wich erneut ein paar Schritte zurück. Einen Moment lang starrte er in das aschfahle Gesicht des Leichnams, dann, endlich überzeugt, dass der Geist des Mannes wirklich aus seinem Körper entflohen war, zerrte er hastig an der Lederschnur, die den Beutel verschloss. Er spähte in das Innere, verharrte einen Augenblick abwartend, dann schrie er laut auf vor Freude. Macht! Er hatte Macht bekommen!

Saban, erschrocken über den Aufschrei seines Bruders, wich zurück, dann kam er neugierig wieder näher, als Lengar den Inhalt des Beutels in das Gras neben dem ausgeblichenen Ochsenschädel schüttete. Für Saban sah es so aus, als ob ein Strahl von Sonnenlicht aus dem Lederbeutel glitt.

Im Gras lagen Dutzende von goldenen Rauten, jede ungefähr so groß wie der Daumennagel eines Mannes, und vier größere rautenförmige Schmuckplatten, so groß wie eine Männerhand. Sowohl die großen als auch die kleinen Gegenstände wiesen winzige Bohrlöcher an den schmaleren Enden auf, sodass sie auf eine Sehne gefädelt oder an ein Kleidungsstück genäht werden konnten; alle bestanden aus dünngewalzten Goldplatten, in die gerade Linien eingeritzt waren; aber Lengar konnte mit dem Muster nichts anfangen. Ärgerlich riss er Saban eine der kleinen Rauten aus der Hand, die dieser aufzuheben gewagt hatte; dann klaubte er alle Stücke, groß und klein, zusammen und schichtete sie auf einen Haufen. «Weißt du, was das hier ist?», fragte er seinen jüngeren Bruder und wies auf den Stapel.

«Gold», riet Saban.

«Macht», erklärte Lengar. Er warf einen Blick auf den Toten. «Weißt du, was man mit Gold machen kann?»

«Es tragen?», schlug Saban vor.

«Dummkopf! Man kauft Männer damit.» Lengar lehnte sich auf die Fersen zurück. Die Wolkenschatten wurden immer dunkler, und der zunehmende Wind zerrte an den Haselnusssträuchern. «Mit Gold kauft man Speerwerfer», triumphierte er. «Man kauft Bogenschützen und Krieger! Man kauft Macht!»

Saban schnappte sich eine der kleinen Rauten, dann wich er rasch zur Seite aus, als Lengar sie ihm wegzunehmen versuchte. Der Junge lief über die gerodete Fläche, und da es schien, als würde Lengar ihn nicht jagen, ging er in die Hocke und betrachtete das Stückchen Gold stirnrunzelnd. Es schien ein merkwürdiges Ding zu sein, um Macht damit zu erkaufen. Saban konnte sich vorstellen, dass Männer bereit waren, für Nahrung oder für Töpfe zu arbeiten, für Feuerstein oder für Sklaven oder auch für Bronze, die man zu Messern, Äxten, Schwertern und Speerspitzen hämmerte – aber für dieses helle Metall? Es war nicht hart genug, um zu schneiden, sondern war einfach nur da – und dennoch erkannte Saban selbst an diesem bewölkten Tag, wie wundervoll das Metall glänzte. Es glänzte so herrlich, als ob ein Stück der Sonne in seinem Inneren eingeschlossen wäre, und plötzlich schauderte es ihn. Nicht weil er nackt war und fror, nicht weil er noch nie zuvor Gold berührt hatte – sondern weil er noch nie ein Stückchen der allmächtigen Sonne in der Hand gehalten hatte. «Wir müssen es zu Vater bringen», sagte er ehrfürchtig.

«Damit der alte Idiot seinen Schatz damit aufstocken kann?», meinte Lengar verächtlich. Er ging zu dem Toten zurück und schlug den Umhang über den Pfeilschäften zurück – um zu entdecken, dass die Beinlinge des Fremden an einem Gürtel befestigt waren, dessen Schnalle aus einem dicken Klumpen schweren Goldes bestand, während er noch mehr von den kleinen Rauten an einer Sehne um den Hals trug.

Lengar warf einen verstohlenen Blick auf seinen jüngeren Bruder, leckte sich über die Lippen; dann hob er einen der Pfeile auf, die dem Fremden aus der Hand geglitten waren. Er hielt immer noch seinen Langbogen griffbereit und spannte jetzt den schwarz- und weißbefiederten Pfeil in die Sehne ein. Einen Moment starrte er in das Dickicht der Haselnusssträucher, wich ganz bewusst dem Blick seines Halbbruders aus … doch Saban begriff jäh, was Lengar im Sinn hatte. Wenn Saban entwischte, um ihrem Vater von diesem Schatz zu erzählen, dann würde Lengar das kostbare Gold verlieren oder würde zumindest erbittert darum kämpfen müssen; aber wenn Saban tot aufgefunden werden würde, mit dem schwarz- und weißbefiederten Pfeil eines fremdländischen Bogenschützen zwischen den Rippen, dann würde niemand argwöhnen, dass Lengar ihn getötet hatte – es würde auch niemand auf die Idee kommen, dass Lengar einen großen Schatz für seine eigenen Zwecke gestohlen hatte. Das Donnergrollen im Westen wurde deutlich lauter, und der kalte Wind drückte die Wipfel der Bäume flach. Lengar zog die Bogensehne zurück, obwohl er noch immer nicht zu Saban hinschaute. «Sieh dir das hier an!», schrie Saban auf einmal und hielt die kleine Raute hoch. «Sieh doch nur!»

Lengar lockerte den Druck der Bogensehne ein wenig, als er auf die Raute starrte, und in dem Moment flitzte der Junge davon wie ein Hase, der plötzlich aus dem Gras schießt. Er stürmte durch die Haselnusssträucher und floh quer über den breiten Weg, der zu dem Sonneneingang des Alten Tempels führte. Dort ragten noch mehr verfaulte Holzpfeiler aus dem Boden, genau wie derjenige beim Totenhaus. Er schlug einen Zickzackkurs ein, um den morschen Stümpfen auszuweichen, und gerade als er sich einen Weg zwischen ihnen hindurchbahnte, sirrte Lengars Pfeil dicht an seinem Ohr vorbei.

Ein ohrenbetäubendes Krachen zerriss den Himmel in Fetzen, als der erste Regen herniedertrommelte. Ein greller Blitzstrahl traf den gegenüberliegenden Hang. Saban hetzte weiter, während er sich zwischen den Pfeilern hindurchwand, und er wagte es nicht, sich umzuschauen, ob Lengar ihn verfolgte. Der Regen prasselte stärker und immer stärker vom Himmel, erfüllte die Luft mit seinem bösartigen Tosen, bildete jedoch eine Art schützenden Schirm um den Jungen, als dieser in nordöstlicher Richtung auf die Siedlung zurannte: Er schrie gellend um Hilfe, in der Hoffnung, dass vielleicht noch einer der Hirten auf dem Weidegrund wäre; aber er entdeckte niemanden, bis er die Grabhügel am Rand des Hügels hinter sich gelassen hatte und den schlammigen Pfad zwischen den kleinen Weizenfeldern entlangstürmte, die von dem peitschenden Regen arg in Mitleidenschaft gezogen wurden.

Galeth, Sabans Onkel, und fünf andere Männer waren gerade in die Siedlung zurückgekehrt, als sie die Schreie des Jungen vernahmen. Sie marschierten wieder den Hügel hinauf, und da jagte Saban durch den strömenden Regen herbei, um hilfesuchend nach dem Hirschledergewand seines Onkels zu greifen. «Was hast du denn, Junge?», fragte Galeth überrascht.

Saban klammerte sich wie ein Ertrinkender an seinen Onkel. «Er hat versucht, mich zu töten!», keuchte er. «Er hat versucht, mich zu töten!»

«Wer?», drang Galeth in ihn. Er war der jüngste Bruder von Sabans Vater, groß, bärtig und berühmt für seine Kraftakte. Galeth, so hieß es, hatte einst einen ganzen Tempelstützpfeiler hochgestemmt, und nicht etwa einen der kleinen, sondern einen mächtigen Baumstamm, der hoch über den anderen Pfosten aufragte. Wie seine Gefährten, so trug auch Galeth eine Axt mit einer schweren Bronzeklinge, denn sie hatten soeben Bäume gefällt. «Wer hat dich zu töten versucht?», beharrte er.

«Er!», schrie Saban und zeigte den Hügel hinauf, wo Lengar erschienen war, seinen Langbogen hochgereckt, in den er einen neuen Pfeil eingespannt hatte.

Lengar blieb stehen. Er sagte nichts, blickte nur auf die Gruppe von Männern, die jetzt seinen Halbbruder schützten. Schweigend nahm er den Pfeil von der Sehne.

Galeth starrte seinen älteren Neffen finster an. «Du hast versucht, deinen eigenen Bruder zu töten?»

Heiser lachte Lengar auf. «Ich doch nicht! Es war ein Fremdländischer, nicht ich.» Langsam kam er den Hügel herunter. Sein schwarzes Haar war klatschnass vom Regen und klebte glatt an seinem Kopf, was ihm ein furchteinflößendes Aussehen verlieh.

«Ein Fremdländischer?», fragte Galeth und spuckte schnell auf den Boden, um Unheil abzuwehren. Es gab viele in Ratharryn, die anstelle von Lengar lieber Galeth als nächsten Clanführer hätten; aber die Rivalität zwischen Onkel und Neffe verblasste neben der Gefahr eines Überfalls durch das feindliche Volk. «Da oben auf der Weide sind Fremdländische?», fragte Galeth alarmiert.

«Nur der eine», gab Lengar lässig Auskunft. Er schob den Pfeil des Fremden in seinen Köcher. «Nur der eine», wiederholte er, «und der ist jetzt tot.»

«Dann kann dir jetzt ja nichts mehr geschehen, Junge», sagte Galeth zu Saban. «Du bist jetzt sicher.»

«Er hat versucht, mich zu töten», wiederholte Saban beharrlich, «wegen des Goldes!» Er hielt die kleine Raute als Beweis hoch.

«Gold, wie?», fragte Galeth, als er dem Jungen das winzige Stück aus der Hand nahm. «Ist es das, was du da hast? Gold? Wir sollten es besser deinem Vater bringen.»

Lengar warf Saban einen hasserfüllten Blick zu, aber jetzt war es zu spät. Saban hatte den Schatz gesehen sowie den Mordanschlag überlebt, und deshalb würde ihr Vater von dem Gold erfahren. Grimmig spuckte Lengar auf den Boden, dann machte er kehrt und floh wieder den Hügel hinauf. Er verschwand im Regen, riskierte den Zorn des Sturmgottes, um den Rest des Goldes für sich zu retten.

Das war der Tag des Unwetters, an dem der Fremde Zuflucht in dem Alten Tempel suchte, der Tag, an dem Lengar Saban zu töten versuchte, und der Tag, an dem sich die Welt von Ratharryn grundlegend änderte.

 

In jener Nacht wütete der Sturmgott auf der Erde. Sintflutartige Regenfälle drückten das Getreide platt und verwandelten die Hügelpfade in reißende Bäche. Sie überfluteten die Marschgebiete nördlich von Ratharryn; der Fluss Mai trat über seine Ufer, schwemmte umgestürzte Bäume aus dem steilen Tal, das sich durch das höhergelegene Gelände wand, bis es die große Schleife erreichte, wo Ratharryn erbaut war. Das Wasser in den Gräben von Ratharryn trat über die Ufer, der Sturm rüttelte an den Reetdächern der Hütten und heulte um die Holzpfeiler der Tempelkreise.

Keiner wusste, wann die ersten Menschen in das Gebiet am Fluss gekommen waren oder wie sie entdeckt hatten, dass Arryn der Gott des Tales war. Dennoch musste sich Arryn diesen Menschen offenbart haben, denn sie benannten ihr neues Zuhause nach ihm und bebauten die Hügel um sein Tal herum mit Tempeln. Es waren schlichte Weihestätten, nichts weiter als Lichtungen im Wald, wo man einen Kreis aus Baumstämmen hatte stehen lassen; und jahrelang – niemand wusste, wie viele Jahre lang – pflegten die Stammesmitglieder den Waldpfaden zu jenen Baumkreisen zu folgen, wo sie die Götter um Schutz anflehten. Im Laufe der Zeit rodete Arryns Volk den größten Teil der Wälder, fällte Eichen und Ulmen, Eschen und Haselnussbäume, baute Roggen oder Weizen auf den kleinen Feldern an. Sie fingen Fische in dem Fluss, der Arryns Gemahlin Mai geweiht war; sie hüteten Rinder auf den Weiden und Schweine in den Waldungen; die jungen Männer des Stammes jagten Wildschweine und Damwild, Auerochsen, Bären und Wölfe in den Urwäldern, die jetzt hinter den Tempeln zurückgedrängt lagen.

Die ersten Tempel zerfielen, neue wurden erbaut, und mit der Zeit wurden auch die neuen wieder alt und morsch; dennoch blieben es weiterhin Ringe aus Baumstämmen, obwohl die äußeren Ringe nun aus glatten, behauenen Holzpfählen bestanden, die innerhalb eines Walles und eines Rundgrabens errichtet wurden, welche einen größeren Kreis um den Ring aus Stämmen bildeten. Immer handelte es sich um Kreise, denn das Leben war ein in sich geschlossener Kreis, und der Himmel war ein Kreis, und der Rand der Welt war ein Kreis, und vor allem die Sonne – auch der Mond wuchs zu einem Kreis an, und das war der Grund, warum die Tempel bei Cathallo und Drewenna, bei Maden und Ratharryn, ja sogar in fast allen über das Land verstreuten Siedlungen kreisförmig angelegt wurden.

Cathallo und Ratharryn galten als die Zwillingsstämme des Herzlandes. Sie waren durch Blutsverwandtschaft miteinander verbunden und so eifersüchtig wie zwei Ehefrauen. Ein Vorteil für den einen Stamm stellte einen Affront für den anderen dar, und in jener Nacht brütete Hengall, Clanführer des Volkes in Ratharryn, über dem Gold der Fremdländischen. Er hatte darauf gewartet, dass Lengar ihm den Schatz bringen würde, und obwohl Lengar tatsächlich mit einem Lederbeutel nach Ratharryn zurückkehrte, betrat er nicht die Hütte seines Vaters. Als Hengall einen Sklaven zu seinem Sohn schickte, mit dem Befehl, ihm unverzüglich die Schätze zu übergeben, hatte Lengar ihm erklärt, dass er zu erschöpft sei, um zu gehorchen. Deshalb fragte Hengall jetzt den Hohepriester des Stammes um Rat.

«Er will dich herausfordern», verkündete Hirac.

«Söhne sollen ihre Väter herausfordern», erwiderte Hengall. Der Clanführer war ein großer, stämmiger Mann mit einem narbenbedeckten Gesicht. Seine Haut war wie die der meisten Leute dunkel vor eingedrungenem Ruß und Schmutz, Schweiß und Rauch. Unter der Schmutzschicht wiesen seine Arme zahllose blaue Male auf, die bezeugten, wie viele Feinde er im Kampf getötet hatte. Sein Name bedeutete schlicht «Der Krieger», obwohl Hengall den Frieden weitaus mehr liebte als Krieg.

Der sehr viel ältere Hirac war mager, sein weißer Bart ziemlich schütter, seine Gelenke schmerzten. Hengall mochte zwar der Anführer des Stammes sein, aber Hirac sprach mit den Göttern, und deshalb hörte jeder auf seinen Rat. «Lengar wird dich bekämpfen», warnte Hirac den Clanführer.

«Das wird er nicht.»

«Er könnte es aber tun, er ist jung und stark», erwiderte Hirac. Der Priester war nackt, seine Haut bedeckte eine getrocknete Schicht aus Kreide und Wasser, in die eine seiner Ehefrauen mit den Fingerspitzen spiralförmige Muster eingezeichnet hatte. Um den Hals trug er eine Lederschnur mit einem aufgefädelten Eichhörnchenschädel, während sich um seine Taille ein Gürtel aus Nussschalen und Bärenzähnen schlang. Sein Haar und der Bart waren dick mit rötlichem Schlamm eingeschmiert, der in der starken Hitze von Hengalls Feuer allmählich trocknete und rissig wurde.

«Und ich bin alt und stark», knurrte Hengall, «wenn er mich bekämpft, werde ich ihn töten.»

«Wenn du ihn tötest», zischte Hirac, «dann wirst du nur noch zwei Söhne haben.»

«Nur noch einen», fauchte Hengall, und er sah den Hohepriester finster an, weil er es gar nicht leiden konnte, daran erinnert zu werden, wie wenig Söhne er gezeugt hatte. Kital, Clanführer des Stammes bei Cathallo, besaß acht Söhne; Ossaya, der der Clanführer von Maden gewesen war, bevor Kital den Ort erobert hatte, hatte sechs gezeugt; und Melak, Clanführer der Leute von Drewenna, sogar elf. Deshalb schämte Hengall sich, dass er nur drei Söhne gezeugt hatte, und als noch größere Schande empfand er die Tatsache, dass einer dieser Söhne ein Krüppel war. Natürlich hatte er auch Töchter gezeugt, und einige von ihnen waren am Leben geblieben, aber Töchter konnte man nicht mit Söhnen vergleichen. Und seinen zweiten Sohn, den verkrüppelten Jungen, den stammelnden Schwachsinnigen namens Camaban, wollte er nicht als sein eigen Fleisch und Blut gelten lassen. Lengar erkannte er an und Saban ebenfalls, aber nicht den mittleren.

«Außerdem wird Lengar mich nicht zum Kampf herausfordern», fuhr Hengall fort. «Das wird er nicht wagen.»

«Er ist kein Feigling», warnte der Priester.

Hengall lächelte. «Nein, das ist er nicht; aber er kämpft nur dann, wenn er weiß, dass er siegt. Das ist der Grund, warum er ein guter Clanführer sein wird, wenn er überlebt.»

Der Priester hockte neben dem Mittelpfosten der Hütte. Zwischen seinen Knien lag ein Haufen dünner Knochen: die Rippen eines Kindes, das im vergangenen Winter gestorben war. Er stocherte mit einem langen, kreidebeschmierten Finger in den Knochen herum und schob sie zu willkürlichen Mustern zusammen, die er mit schiefgeneigtem Kopf betrachtete. «Sannas wird das Gold haben wollen», murmelte er nach einer Weile; dann legte er eine Pause ein, um diese Feststellung wirken zu lassen: Genau wie jeder andere Sterbliche, so hatte auch Hengall einen Heidenrespekt vor der Zauberin von Cathallo; aber er schien den Gedanken mit einem Achselzucken abzutun. «Und Kital hat viele Speerwerfer», fügte Hirac als weitere Warnung hinzu.

Hengall stieß den Priester an und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. «Die Speere lass nur meine Sorge sein, Hirac. Sag mir lieber, was das Gold zu bedeuten hat. Warum ist es hierhergekommen? Wer hat es geschickt? Was soll ich damit machen?»

Der Priester sah sich in der großen Hütte um. Auf einer Seite hing ein Ledervorhang, um die Sklavinnen abzuschirmen, die Hengalls neue Ehefrau bedienten. Hirac wusste, dass bereits ein großer Schatz in der Hütte verborgen war, unter dem Fußboden vergraben oder unter einem Stapel von Fellen versteckt. Hengall hatte schon immer gehortet, niemals verschwendet. «Wenn du das Gold behältst», orakelte Hirac, «dann werden andere es dir wegzunehmen trachten. Dies ist kein gewöhnliches Gold.»

«Wir wissen doch gar nicht, ob es das Gold von Sarmennyn ist», wandte Hengall ein, wenn auch ohne große Überzeugung.

«Doch, das ist es», beharrte Hirac und wies auf die eine kleine Raute, die Saban mitgebracht hatte und die jetzt zwischen ihnen auf dem festgestampften Lehmboden schimmerte. Sarmennyn war ein fremdes Land, viele Meilen weiter westlich, und seit den vergangenen beiden Monaten machten zahlreiche Gerüchte die Runde, dass die Bewohner von Sarmennyn einen großen Schatz verloren hätten. «Saban hat den Schatz gesehen», fuhr Hirac fort, «und es ist das fremdländische Gold, und die Fremdländischen beten Slaol an, obwohl sie ihn anders nennen …» Er hielt inne, während er sich an den Namen zu erinnern versuchte, aber er wollte ihm nicht einfallen. Slaol war der Gott der Sonne, ein mächtiger Gott, der jedoch in Lahanna, der Göttin des Mondes, eine ebenbürtige Rivalin hatte; und die beiden, einstmals Liebende, hatten sich inzwischen entfremdet. Das war die Rivalität, die Ratharryn beherrschte und die jede Entscheidung quälend machte; denn eine Geste an den einen Gott verärgerte den anderen, und Hiracs Aufgabe bestand darin, alle rivalisierenden Götter – nicht nur die Sonne und den Mond, sondern auch den Wind und die Erde, den Fluss und die Bäume, die wilden Tiere und das Gras und das Farnkraut und den Regen, alle die unzähligen Götter und Geister und unsichtbaren Mächte – zufriedenzustellen.

Der Priester hob die kleine goldene Raute vom Boden auf. «Slaol hat uns das Gold geschickt», begann er von neuem, «und Gold ist Slaols Metall – aber die Raute ist Lahannas Symbol.»

Hengall zischte: «Willst du damit sagen, dass das Gold Lahanna gehört?»

Hirac blieb eine ganze Weile stumm. Der Clanführer wartete. Es war die Aufgabe des Hohepriesters, die Bedeutung seltsamer Ereignisse zu ermitteln … obwohl Hengall sein Bestes tun würde, um diese Auslegung zum Vorteil des Stammes zu beeinflussen. «Slaol hätte das Gold in Sarmennyn lassen können», sagte Hirac schließlich. «Aber das hat er nicht getan. Also sind es die Leute dort, die den Verlust erleiden. Dass das Gold hierhergekommen ist, ist kein schlechtes Omen.»

«Gut», grunzte Hengall.

«Andererseits», gab Hirac zu bedenken, «sagt uns die Form des Goldes, dass es einst Lahanna gehört hat, und ich glaube, sie wollte es sich zurückholen. Hat Saban nicht gesagt, der Fremde hätte nach Sannas gefragt?»

«Doch, das hat er.»

«Und Sannas verehrt Lahanna mehr als alle anderen Götter», fasste der Priester zusammen, «also muss Slaol uns das Gold geschickt haben, um zu verhindern, dass es in ihre Hände gelangt. Aber Lahanna wird eifersüchtig sein und von uns eine Gegengabe wollen.»

«Ein Opfer?», fragte Hengall argwöhnisch.

Der Priester nickte, und Hengall zog ein finsteres Gesicht, während er bei sich überschlug, wie viele Rinder der Priester in Lahannas Tempel würde schlachten wollen; aber Hirac schwebte keine solche Plünderung des Stammesvermögens vor. Das Gold war wichtig, sein Auftauchen außergewöhnlich, und der Dank dafür musste entsprechend großzügig ausfallen. «Die Göttin wird eine Seele wünschen», teilte der Hohepriester ihm mit.

Hengalls Miene hellte sich wieder auf, als ihm klar wurde, dass sein Vieh sicher war. «Du kannst ja diesen Trottel Camaban nehmen», bot der Clanführer seinen verstoßenen zweiten Sohn an. «Mach ihn nützlich, schlag ihm den Schädel ein!»

Hirac lehnte sich auf die Fersen zurück, die Augen halb geschlossen. «Er ist von Lahanna gezeichnet», erwiderte er ruhig. Camaban kam mit einem halbmondförmigen Muttermal auf dem Bauch zur Welt, und der Halbmond war, genau wie die Raute, eine dem Mond geweihte Form. «Lahanna könnte zornig werden, wenn wir ihn töten.»

«Vielleicht würde sie sich über seine Gesellschaft freuen?», schlug Hengall listig vor. «Vielleicht ist das der Grund, warum sie ihn gezeichnet hat? Damit er zu ihr geschickt wird?»

«Das könnte durchaus zutreffen», räumte Hirac ein, und der Gedanke ermutigte ihn, eine Entscheidung zu treffen. «Wir werden das Gold behalten», erklärte er, «und Lahanna mit der Seele von Camaban versöhnlich stimmen.»

«Gut», willigte Hengall ein. Er wandte sich zu dem Ledervorhang um und rief einen Namen. Ein Sklavenmädchen kam demütig herbeigeschlichen und trat in den Lichtschein des Feuers. «Wenn ich morgen mit Lengar zu kämpfen habe», sagte der Clanführer zu dem Hohepriester, «dann sollte ich jetzt besser einen weiteren Sohn zeugen.» Er winkte das Mädchen zu dem Stapel von Fellen, der ihm als Lagerstatt diente.

Der Hohepriester sammelte die Kinderknochen wieder ein, dann eilte er durch den ständig zunehmenden Regen, der die Kreide von seiner Haut wusch, zu seiner eigenen Hütte zurück.

Der Sturm tobte weiter. Blitze zuckten auf die Erde herab, machten die Welt kohlrabenschwarz und kreideweiß. Die Götter brüllten vor Zorn, und die Menschen konnten sich nur ducken.