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Über dieses Buch:

Straßburg im 14. Jahrhundert: Die Häuser der jüdischen Bevölkerung stehen lichterloh in Flammen – Hass und Rachsucht regieren in den Straßen der Stadt. Ein blutdurstiger Mob macht die Juden für das Unheil der Pest verantwortlich, die über Straßburg hereinzubrechen droht. Auch die junge Maria Rosenkreuz und ihr Bruder müssen alles zurücklassen, wenn sie überleben wollen: ihren jüdischen Glauben, ihren Namen, ihre Familie. Von nun an führen sie ein Leben in den Schatten, stets auf der Flucht vor denen, die ihnen das geheime Wissen ihrer Ahnen entreißen wollen. Ein Wissen, das die Macht hat, die Welt zu erschüttern. Bald schon muss Maria sich entscheiden, ob sie bereit ist, für ihr Erbe jeden Preis zu bezahlen …

Über die Autorin:

Marie Klausen arbeitete nach ihrem Studium der Theaterwissenschaften als freie Künstlerin und schrieb unter anderem für Film und Fernsehen. Sie lebt mit ihrer Familie in Norddeutschland und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Rosenkreuzern und ihrer Geschichte.

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eBook-Neuausgabe November 2018

Copyright © der Originalausgabe 2011 by Marie Klausen

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock.com/MaxyM, Picksell, LiliGraphie und Vera Petruk

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-410-2

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Marie Klausen

Das Geheimnis der Rosenkreuzerin

Roman

dotbooks.

Für Maria

Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch;
was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist.
Wundere dich nicht, dass ich dir sagte:
Ihr müsst von neuem geboren werden.
Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen,
weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht.
So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.

Johannes 3, 6-8

... unsere Fähigkeit, das eigene Imaginäre zu beherrschen, ist verloren gegangen.

Ioan P. Culianu

Der Weg ist begonnen, vollende die Reise ...

Johann Wolfgang von Goethe

Kapitel 1

Ein Mann, mit Kippa und Kaftan bekleidet, sprang vom Esstisch auf und griff nach dem Brotmesser. Das fremdländische Aussehen des Schwarzbärtigen wirkte seltsam in der Stube, die ansonsten den Eindruck des Hauptzimmers eines süddeutschen Fachwerkhauses in früherer Zeit vermittelte. Bedrohlich stand ihm ein Priester zwischen zwei mit Messern und einer Keule bewaffneten Gestalten gegenüber, die man gut und gern zwielichtig nennen durfte. Im Kamin prasselte ein trügerische Behaglichkeit verbreitendes Feuer.

»Das Jüdlein will frech werden«, feixte der Geistliche.

»Was haben wir euch getan, Chorherr?«

»Ihr habt unseren Herrgott ermordet! Und wie heißt es doch so treffend: Sein Blut komme über euch!«

»Flieht, flieht«, rief der Schwarzbärtige seiner Frau und seinen Kindern auf Hebräisch zu. Auf dem Tisch dampfte in einer irdenen Schüssel eine Suppe. Daneben lagen Brotstücke auf einer Platte. Die kleine, rundliche Frau mit dem gütigen Gesicht stand auf und schob ihre beiden Kinder, einen etwa siebenjährigen Jungen und ein vielleicht zwölfjähriges Mädchen, vor sich her. Ein Mann mit Wolfsgesicht, der linker Hand des Priesters stand, stieß ihr im Vorübergehen seinen Dolch in die Seite. »Die wird nicht mehr weit kommen«, höhnte er.

»Keiner wird unserem Pogrom entkommen, Männer nicht, Frauen nicht, Kinder nicht. Keiner von euch Christusmördern«, triumphierte der Geistliche mit teuflischer Freude.

Kaum aus der Tür heraus, wankte die Frau auch schon und glitt langsam und sacht zu Boden, als gäben nur einfach ihre müden Beine nach. Der weiche Schnee umfing sie wie ein großes Daunenbett, während ihr Blick sich noch am Münster festzuhalten versuchte, das auf der gegenüberliegenden Seite des großen Platzes aufragte.

»Myriam, Myriam, was ist mit Mutter?«, fragte der Junge aufgeregt.

»Ruhig, ruhig!«, beschwor das Mädchen ihren kleinen Bruder, gleichsam die eigene Panik bekämpfend. Myriam spürte die Gefahr, doch wohin sollte sie sich wenden? Sie war ratlos und überfordert. Statt zu fliehen, hockte sie sich neben die Mutter und ergriff deren linke Hand. Jetzt spürte das Mädchen, wie das Leben dem Körper Grad um Grad entwich, während das Kinn des kleinen Bruders sich schmerzhaft in ihre Halsbeuge grub und er ihre Schulter mit heißen Tränen benetzte, die durch den dünnen Leinenstoff sickerten. Fieberhaft überlegte sie, wie sie das vergehende Leben hindern konnte, den Leib der Mutter zu verlassen. Verzweifelt drückte sie die erschlaffte Hand, in der Hoffnung, ihr auf diese Weise neue Lebensenergie zu übertragen. Dabei flüsterte sie, wie um sich zu betäuben, beschwörend: »Erhoben und geheiligt, sein großer Name, in der Welt, die er erneuern wird. Er belebt die Toten und führt sie empor zu ewigem Leben, er erbaut die Stadt Jeruschalajim und errichtet seinen Tempel auf ihren Höhen ...«

Der Tod umgab sie wie ein eiserner Käfig. Die Glocken des Münsters läuteten Sturm, und der Sensenmann schien ihr Glöckner zu sein. Wie konnte das Mädchen die Einsicht zulassen, dass ihre Mutter tot war? Sie hockte einfach bei ihr und hoffte auf ein Wunder. In ihrem Warten und Hoffen stimmte sie leise auf Hebräisch den siebten Psalm an, nur begleitet vom Wimmern ihres Bruders:

»Auf dich, HERR, mein Gott, traue ich!
Hilf mir von allen meinen Verfolgern
und errette mich, dass sie nicht
wie Löwen mich packen und zerreißen,
weil kein Retter da ist ...«

Die gutturale Sprache wärmte sie. Während das Mädchen sang, hoffte es mit allen Fasern seines fast noch kindlichen Herzens, dass entgegen aller Wahrscheinlichkeit ihr Vater die Mörder doch noch überwinden und zu ihnen stoßen, der Mutter die Hand auflegen und sie so heilen würde, denn sie war zutiefst davon überzeugt, dass ihr weiser Vater Wunderkraft besäße. Als vom Münster her Schreie, verursacht von entsetzlicher Qual, die ihr wie ein scharfes Messer durchs Herz schnitten, herüberdrangen, blickte sie in diese Richtung, bereute es aber sofort, denn vor ihren Augen fraßen sich gierig Flammen an den Leibern von Menschen empor, die man an Pfähle gebunden hatte. Die lodernden Menschenfackeln nahmen sich makaber aus im Schnee, gleich einem Feuer in der Kälte. Kurz darauf entdeckte sie einen Mann mit funkelnden blauen Augen unter einer hohen Stirn, der sich ihnen vom Münster näherte. Der Schnee vor seinen Füßen war von roten Rinnsalen durchzogen und mit Bußteilchen bedeckt, die kleinen schwarzen Inseln glichen. Um den hageren Leib schlackerte die Dominikanerkutte. Raumgreifend kämpften sich seine Schritte vorwärts, während er sein Gesicht mit heftiger Abneigung von den Scheiterhaufen abwandte. Das Mädchen kannte den Mönch, doch wirkte seine feine Nase heute ungewöhnlich spitz, sein sonst lustig runder Mund klein und hart. Der Dominikaner war ein enger Freund ihres Vaters. Doch besaßen die Juden überhaupt Freunde? Das Mädchen zweifelte daran, seit die grundlose Gewalt über sie wie das Armageddon hereingebrochen war.

Der Mönch erreichte die Kinder im gleichen Moment, als die Feuerzungen laut prasselnd durch das Dach des Fachwerkhauses schlugen und Teile des Gebälks krachend einstürzten.

Schon stürzte mit viehischem Gesichtsausdruck der Chorherr in Begleitung zweier Männer aus dem Haus und hielt mit schmierigem Lächeln auf die Kinder zu. Der Chorherr fletschte unwillkürlich die Zähne, als er den Dominikaner entdeckte. Myriam spürte, wie der Mönch kräftig ihre Hand und die ihres Bruders packte und sie beide auf die Füße hochzog. Eilig nahm er das filigrane Kreuz von seinem Hals und hängte es dem Bruder wie einen wunderwirkenden Talisman um. Dann sah er beiden fest in die Augen und bat mit einem einzigen Blick um ihr Vertrauen. Mehr Zeit blieb ihm nicht, denn schon stand der Geistliche mit seinen Mordgesellen vor ihm. Wie in einer Gloriole des Satans ging in dessen Rücken das Haus des Rabbiners nun vollständig in Flammen auf. Einer der Mörder, der, dessen Gesicht einer Wolfsschnauze glich, hatte sich die goldene Kette ihres Vaters um den Hals gehängt. Die Beobachtung stimmte sie traurig, denn nun wusste sie mit Bestimmtheit, dass ihr Vater erschlagen worden war. Wie gern hätte sie dem Schinder einen scharfen Dolch in den Leib gerammt! Aber was konnte sie, ein zartgliedriges Mädchen, gegen solch vierschrötige Kerle schon ausrichten? Sie beschloss, sich die Gesichter der Mörder ihrer Mutter und ihres Vaters für jetzt und alle Zeit einzuprägen. Das Gedächtnis sollte ihr zur einzigen Waffe gegen die Hilflosigkeit werden.

»Was glotzt die mich so an?«, brüllte der Wolfsschnäuzige, dem der durchdringende Blick des Mädchens sichtlich unangenehm war.

»Lucifer hat ein neues Kleid bekommen,
das hat sich von selbst gesponnen
aus dem Mist aller kotigen Sünden«,

predigte der Dominikaner.

»Was redet das Mönchlein da?«, wandte sich der mit der Wolfsschnauze an den Chorherrn, doch der antwortete nicht, sondern fixierte den Predigerbruder, der dem Blick des Weltgeistlichen standhielt. Myriam spürte den unversöhnlichen Hass, mit dem sich der Mönch und der Chorherr musterten.

»Der Chorherr August von Virneburg bei christlicher Verrichtung!«, stellte der Mönch verächtlich fest.

»Geh in dein Kloster, Johannes!«, entgegnete Virneburg drohend. Der Weltgeistliche in seinem schwarzen Habit, auf dem dunkelbraune, noch feuchte Flecken glänzten, zügelte sichtlich seinen Zorn über das Eingreifen des Predigers, während der mit der Wolfsschnauze losbellte: »Wie haben wir's denn, Mönchlein?! Schleppst du Judenbälger fort? Bist vielleicht selbst ein verkleideter Christusmörder.«

»Dich soll der Teufel stäupen für all die Gülle, die aus deinem Mund kommt! Es sind christliche Kinder!«

»Christliche Kinder? Ich habe sie selbst in der Judenhütte dort gesehen. Was haben denn christliche Kinder beim Juden zu suchen?«

»Die Juden hatten sie verschleppt! Wage es nicht, sie anzurühren!« Instinktiv hielt Myriam ihrem kleinen Bruder den Mund zu, bevor er protestieren konnte, denn sie spürte, dass Johannes versuchte, ihr Leben zu retten. Von fern drang jetzt auf Hebräisch das Kaddisch an ihr Ohr, gesungen von einer hohen Stimme in nie gehörter Reinheit, die sich mit dem Rauch in den Himmel zu Gott erhob:

»Erhoben und geheiligt werde sein großer Name auf der Welt,
die nach seinem Willen von Ihm erschaffen wurde –
sein Reich erstehe in eurem Leben in euren Tagen
und im Leben des ganzen Hauses Israel,
schnell und in nächster Zeit, sprecht: Amen!
Sein großer Name sei gepriesen in Ewigkeit
und Ewigkeit der Ewigkeiten ...«

Tränen traten ihr in die Augen, denn es war ihr, als führte der Gesang die Seelen ihrer Eltern mit sich. Und das bedeutete, dass sie nun durch ein Leben getrennt voneinander waren. Doch für wie lange, vermochte niemand zu sagen. Niemand, außer der Allerhöchste, gelobt sei sein Name.

Der mit der Wolfsschnauze ließ indes nicht nach: »Ei, ei, christliche Kinder sollen es sein? Wie heißen denn christliche Kinder?«

»Nun, sie heißen Christian!«

»Christian? Ein feiner Name. Zu fein für den da! Und wie weiter?«

Johannes schaute auf den Jungen und dann auf das Kreuz. »Rosenkreuz. Christian Rosenkreuz. Und das ist Maria.«

Bis dahin hatte der Chorherr nur schweigend zugehört und die Zeit genutzt, den Jungen mit seinen Blicken genüsslich zu entkleiden. In den Augen des Kirchenmannes stand überdeutlich, worauf er sich bereits freute. Myriam staunte über die Festigkeit, die der zierliche Mönch gegen die vierschrötigen Kerle an den Tag legte.

Jetzt wandte sich August von Virneburg dem Dominikaner zu. »Nun lass es mit der Posse ein Bewenden haben, Bruder Johannes. Wie ich schon sagte, kehr brav in dein Kloster zurück und vergrab dich in die gelehrten Schriften der Doctores, aber lass uns unser christlich Werk vollenden! Der Junge geht mit mir, das Mädchen kannst du meinetwegen haben.«

Myriam entging nicht der drohende Unterton in der Stimme des Kirchenmannes. Der mit der Wolfschnauze brummte wütend, weil ihm das Mädchen zu entgehen drohte, wenn der Handel zustande käme.

»Hör gut zu, Chorherr, du lässt mich jetzt mit den Kindern gehen!«

»Andernfalls?«, fragte August von Virneburg höhnisch.

»Wirst du mit deinen Spießgesellen brennen!«

»Ei, guter Mann, weshalb denn das?« Der Chorherr hielt sich den Bauch vor Lachen, auch seine Knechte fielen in die böse Heiterkeit ein.

»Wegen widernatürlicher Unzucht! Weiß du denn nicht, dass der Papst uns die heilige Inquisition übertragen hat? Wage es ja nicht, den Generalinquisitor von Straßburg anzugreifen oder sich ihm in den Weg zu stellen!« Dann fasste er die Spießgesellen scharf ins Auge. »In den Staub mit euch elenden Sündern!«

Die Mörder sanken wider Willen auf die Knie, und der Chorherr schien für einen Moment tatsächlich unschlüssig. Der Mönch hatte sie zwar überrumpelt, aber das würde nicht allzu lange halten, denn wer hinderte die Verbrecher daran, ihn zu erschlagen und hinterher zu behaupten, es wären die Juden gewesen? Indes genügte dem Dominikaner die Zeit der Verwirrung, sich mit den Kindern aus dem Staub zu machen. Den Jungen nahm er auf den Arm und hielt ihm die Augen zu, als sie das schauerliche Spalier der Scheiterhaufen mit ihren brennenden oder in Asche verwandelten Leibern passierten. »Schau nicht hin, Mädchen, schau nicht hin. Ihre Seelen sind dennoch im Himmel«, rief er ihr eindringlich zu.

Sie hatten gerade die Ecke des Münsters erreicht, da hörte er trotz des Orkans aus Schreien, Weinen und Klagen die Anweisung des Chorherrn, das Mönchlein zu erschlagen, ihm das feine Knäblein aber zu bringen. Johannes wich gerade noch rechtzeitig einer Dachlawine aus, die wie der Zorn Gottes vom Münster heruntergesaust kam, und beschleunigte dann seinen Schritt. Aber die zwei Spießgesellen schlossen bedrohlich schnell auf. In seiner Not rief er fünf Männer zu sich, die gerade dabei waren, tote Juden ihrer Kleidung –und ihres Schmuckes zu berauben, und befahl ihnen im Namen des Herrn und der Heiligen Inquisition, seine Verfolger zu ergreifen und ordentlich durchzuprügeln. »Alles, was sich in ihren Taschen findet, gehört euch«, stachelte er den Ehrgeiz der zwielichtigen Gestalten an. Dann kam ihm ein böser Einfall, und auch wenn er Gott dafür später unzählige Male um Verzeihung bitten sollte, konnte er sich dessen nicht enthalten. Zu gewaltig war sein Zorn. »Es sind Juden, die sich für Christen ausgeben!«, behauptete er kühl, bedenkend, dass sich die Schläger des Chorherrn mit Kleidung und Schmuck des Rabbiners reichlich versorgt hatten. Sie sahen, was Jacken, Pelze und Schmuck betraf, tatsächlich wie halbe Juden aus.

»Juden, die sich für Christen ausgeben?«, fragte der Anführer mit grollender Stimme.

»Ja, Juden, die sich für Christen ausgeben!«, bestätigte Johannes mit wilder Freude. Am liebsten hätte er sich die Hände gerieben. »Macht mit ihnen, was ihr wollt, aber lasst diesen Frevel nicht durchgehen«, rief er ihnen zu, bevor er sie segnete. »Ego te absolvo a peccatis tuis in nomine patris et filii et spiritus sancti.« Für die Sünden, die sie gleich begehen würden, belohnt und sogar noch von ihnen losgesprochen zu werden, gefiel den Plünderern.

Wie im Taumel erreichte Myriam an der Hand des Dominikaners das Kloster der Predigerbrüder, das dem Heiligen Nikolaus geweiht war. Ihr geliebtes Straßburg hatte sich in wenigen Stunden für immer vollkommen verwandelt, als hätten sich die Pforten der Hölle aufgetan und ihre ganze Bosheit über die Stadt und ihre Bewohner ergossen. Sie wäre lieber tot als lebendig, lieber bei ihren Eltern, wo immer sie jetzt auch sein mochten, als in diesem dreckigen, stinkenden und blutigen Leben. Was der Mönch für eine Rettung hielt, empfand sie als Qual. Hätte nicht auch sie auf dem Rücken des Rauches in den Himmel steigen können?

Die Spannung, die den Mönch beherrschte, ließ auch innerhalb der Klostermauern nicht nach. Seine Wangen glühten. Die Gefahr saß ihnen immer noch im Nacken. Johannes schickte eilig einen Boten zu Mechthild von Helfta, der Oberin der Beginen. Dann lotste er die Kinder, möglichst ohne Aufsehen zu erregen, in sein Arbeitszimmer hinter dem Scriptorium. Je weniger Mönche von ihrem Aufenthalt wussten, umso besser.

Sie schaute sich nicht um, wozu auch. Ihr war, als ob das, was gerade geschah, nicht ihr widerfuhr. In diesem Moment war sie sich vollkommen fremd. Johannes setzte ihren Bruder auf die Dielen ab. Myriams Blick fiel auf den schmächtigen Knaben. Starr wie ein Eiszapfen, der bei der geringsten Berührung zerbrechen könnte, stand er inmitten des Arbeitszimmers. David so hilflos und fremd, so entrückt zu sehen, löste eine Welle des Mitleids bei ihr aus. Sie schämte sich, nur an sich gedacht zu haben. Ihr kleiner Bruder brauchte sie doch. Jetzt wusste Myriam, warum sie der Herr verschont hatte. Ihre Aufgabe bestand darin, sich jetzt anstelle der Eltern um David zu kümmern. Mit halbem Ohr vernahm sie, wie Johannes einen anderen Dominikaner, den er gerufen hatte und Bruder Odo nannte, bat, den Kindern unauffällig Ordenskleidung zu besorgen. Myriam nahm David zärtlich in die Arme und drückte ihn fest an sich, um ihn mit ihrem Körper aufzuwärmen. Sie spürte, dass seine Kälte aus dem Herzen kam.

»Ruhig, David, ruhig.«

»Ich will zur Mame!«

»Die Mame ist auf einer großen Reise.«

»Dann zum Taten«, sagte er trotzig, sich die Tränen aus den Augen wischend. Ein Wunder, dass sie nicht wie kleine Seen gefroren waren, dachte sie.

»Ach, mein David, glaubst du denn, dass der Tate die Mame allein reisen lässt?«

»Und was ist mit mir?«

»Für dich bin ich da. Die Mame und der Tate haben mir aufgetragen, mich um dich zu kümmern, solange sie unterwegs sind.«

»Aber wie lange wird das sein?«

»Solange sie eben brauchen. Es ist noch nicht einmal gewiss, ob wir uns hier oder woanders wiedersehen.«

Der Junge dachte nach. Wenigstens kam wieder Leben in ihn. Doch etwas erfüllte den Siebenjährigen mit Skepsis. Er biss sich auf die Lippen. »Aber die Mame hat doch vor dem Haus gelegen?«

Hilfesuchend schaute Myriam zu dem Dominikaner. Der beugte sich nun zu den Kindern. »Weißt du, kleiner Mann, es gibt auch Reisen, die man ohne den Körper macht.«

»Reisen ohne Körper?«

»Nur die Seele reist.«

»Wie Engel?«

»Ja, wie Engel.« So etwas wie ein Lächeln erhellte kurz die Augen des Jungen. Es war stolz. »Die Mame und der Tate reisen wie Engel?«

»Ja, sie reisen wie Engel. Willst du das lernen, mein Junge, zu reisen wie die Engel?«

»Geht das? Kann ich das wirklich lernen?«

»Ich bringe es dir bei. Ich schwöre es bei Gott.« Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach sie.

»Herein«, rief Johannes, und Bruder Odo kehrte mit einem Bündel Kleider auf dem Arm zurück. »Das habe ich von den kleinen Novizen geholt.«

»Danke, Bruder Odo, du kannst gehen.« Johannes legte die Sachen auf seinen Arbeitstisch. »Trennt euch von allem, was ihr tragt. Wir werden es verbrennen müssen. Und zieht das da an.« Johannes zeigte auf den Kleiderhaufen, dann wandte er sich ab.

Myriam half ihrem Bruder, die Ordenstracht der Dominikaner anzulegen. Anschließend musterte sie ihn mit gemischten Gefühlen. Niemand würde jetzt mehr in dem kleinen Dominikanernovizen den Sohn des Rabbiners ausmachen können. Sosehr es sie auch erleichterte, sosehr tat es ihr weh. Nachdem sie auch sich selbst umgekleidet hatte, wandte sie sich an den Mönch. »Dürfen wir das Habit überhaupt tragen? Wir sind doch Juden.«

»Anders kann ich euch nicht retten.«

»Verleugnen wir nicht Gott dadurch?«

»Was liegt daran, ob ihr Juden oder Christen seid, beten wir nicht alle zu demselben Gott, zu dem Allerhöchsten, den vollkommen zu benennen uns nie gelingen wird? Um zum Allerhöchsten, den man auch den Überguten nennt, zu kommen, müssen wir alle Äußerlichkeiten ablegen, Stück für Stück. Sich auf den beschwerlichen Weg zu ihm zu machen, bedeutet, die Prägungen der profanen Welt zu überwinden, denn es sind die Prägungen des Teufels. Vom Profanum zum Fanum!«

Myriam zweifelte, ob sie dem Christen, wenn er auch der Freund .ihres Vaters war, glauben durfte, ob sie einfach leugnen durfte, Jüdin zu sein, und damit den Gott verraten, der einen Bund mit ihrem Volk geschlossen hatte. Würde sie den Bund dadurch nicht sogar brechen? Stellte Gott sie auf die Probe wie einst Hiob? Andererseits leuchtete ihr ein, was der Mönch sagte. Ach, wenn sie nur den Vater um Rat bitten könnte! Plötzlich wurden ihr Entscheidungen abverlangt, die zu fällen sie sich für zu jung und für zu unerfahren hielt.

Der ausgesandte Bote führte unterdessen eine Frau in einem grauen Kleid herein und zog sich sogleich wieder zurück. Johannes erklärte ihr in kurzen Sätzen, worum es ging. Die Frau verstand sofort. Sie hockte sich ebenfalls zu den Kindern. Myriam sah die vielen kleinen Falten um Mund und Augen der Frau, die wohl ihre Eltern an Jahren überragte, aber dennoch jung wirkte. Ihr Lächeln besaß einen mädchenhaften Charme, weil es aus dem Herzen kam.

»Du kommst mit zu uns Beginen.«

»Beginen?«, fragte Myriam erstaunt.

»Ja, wir leben ganz auf uns allein gestellt in einem großen Haus. Dienen Gott und verdienen unser Geld mit Putzarbeiten, Nähen und Krankenpflege.«

»Und was sagen eure Männer dazu?«

»Wir haben keine Männer. Deswegen leben wir ja zusammen, weil wir weder ins Kloster gehen noch verheiratet werden wollten! Wir sind eine Gemeinschaft frommer Frauen, die Christus nachstreben.«

Myriams runde Augen wurden vor Staunen noch größer. Frauen, die ganz allein und nur auf sich gestellt lebten.

Mechthild strich dem Mädchen übers Haar und schaute sie mitleidig an. »Ach, ihr beiden. Wir können euch nur schützen, wenn wir euch trennen.«

Myriam umklammerte ihren Bruder und schüttelte heftig das Haupt. Nie und nimmer würde sie von ihrem Bruder scheiden, er war doch das Einzige, was sie auf der Welt noch besaß.

»Wenn etwas Gras über die Geschichte gewachsen ist, dürft ihr euch natürlich heimlich besuchen«, versuchte Johannes, sie zu trösten. »Willst du, dass dein Bruder lebt, dass es ihm gut ergeht, er weder an geistiger noch an körperlicher oder seelischer Nahrung jemals Mangel leiden soll? Oder ziehst du es vor, dass er dem Chorherrn in die gotteslästerlichen Pfoten fällt?« Myriam vermochte dem klaren Blick der Begine nicht standzuhalten.

Johannes schloss die beiden Kinder fest in seine Arme. »Verabschiedet euch nun voneinander! Myriam kommt zu den Beginen, während David bei mir bleibt. Du heißt ab heute Maria und bist die Tochter von Seilern, die an der Pest starben, und du bist Christian Rosenkreuz, Sohn eines Ministerialen, der ebenfalls mit der ganzen Familie an der Seuche zugrunde ging. Kinder, ich kann euch nicht anders retten. Schnell, schnell, wir haben keine Zeit zu verlieren«, sprach er auf sie ein.

»Nein!«, schrie jetzt der siebenjährige Junge.

Myriam küsste ihn auf die Stirn. »Ach David, es muss sein. Du willst doch reisen wie die Engel und den Taten und die Mame wiedersehen?« Woher die Kraft kam, die Myriam diese Worte ruhig und klar sprechen ließ, wusste sie selbst nicht und würde es auch niemals erfahren, sooft sie sich später auch an diese Begebenheit erinnern sollte. Mechthild nahm Myriams Hand in die ihre und zog sie mit sanftem Druck mit sich fort. Willenlos ließ das Mädchen es geschehen.

»Warte, warte!«, rief der Junge aufgeregt. Sie wandte sich um, da stand der kleine Mann vor ihr und wirkte ganz ernst. Er nahm das Kreuz von seinem Hals und brach es entzwei. Die obere Hälfte reichte er ihr. »Eines Tages kommen wir wieder zusammen! Dann wird auch das Kreuz wieder heil werden.«

Johannes schaute erstaunt auf den Sohn des Rabbiners, und auch in Mechthilds Augen war Bewunderung zu lesen.

»Bald schon, Bruderherz, bald schon. Versprich mir eins!« Wortlos hob der Junge die Schwurfinger. Sein Gesicht drückte Bereitschaft aus. »Folge in allem Bruder Johannes, er ist unser Freund. Sage immer, dass du Christian Rosenkreuz heißt, und verrate niemandem, wer wir in Wahrheit sind. Sprich nicht hebräisch, singe keine jüdischen Lieder, habe zu niemanden sonst Vertrauen!« Myriam ließ ihren Teil des Kreuzes in der linken Faust verschwinden. Dann presste sie die Hand ans Herz, lächelte ihrem Bruder noch einmal zu und ging, gefolgt von der Begine, während Johannes hinter David stehend seine Arme über dem Oberkörper des Jungen kreuzte.

Kapitel 2

Marta spürte, dass jemand heftig an ihr rüttelte. »Mama, jetzt wach doch endlich auf! Wach auf! Benjamin weint!«, hallte es unerbittlich in ihren Ohren. Mühsam befreite sich Marta aus den Fängen des Traums, starrte ihre dreizehnjährige Tochter mit weit aufgerissenen Augen an und blickte sich dann ungläubig im Zimmer um. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie begriff, dass sie die Kinderärztin Marta Luther war und in ihrem Bett in ihrer Hamburger Wohnung lag. So sehr hatte sie der Traum in seinen Bann gezogen. Marta sprang auf. Ihr wurde schwarz vor Augen, und sie schwankte, weil sich ihr Kreislauf noch im Tiefschlaf befand. Sie stützte sich am Fensterbrett ab.

»Was ist mit Benjamin?«, fuhr sie die Tochter heftig an. Sie bereute den rauen Ton sofort, denn ihr Verhältnis gestaltete sich von Tag zu Tag gespannter. Statt zu antworten, zog sich Katharina wieder hinter die Fassade ihres gelangweilten Gesichtsausdrucks zurück, an dem jede weitere Frage hoffnungslos zerschellte und der Marta zur Weißglut trieb. Aber für Wut hatte sie jetzt keine Zeit. Mühsam bekam sie ihren Kreislauf unter Kontrolle. Sie stürzte ins Schlafzimmer des Sohnes, verzichtete aber darauf, die Lampe anzuschalten, weil sie ihn nicht blenden wollte. Der schwache Lichtschein durch die Tür des Schlafzimmers genügte, der Mond und der sternenklare Himmel taten ein Übriges.

Benjamin saß in seinem Bett unter einem riesigen Tigerposter, das er sehr liebte, und schrie herzzerreißend. Mit aller Kraft presste er seinen Schlafgesellen, einen kleinen Plüschtiger, an seine Brust. Dass Benjamins Weinen sie nicht geweckt hatte, wunderte sie, denn sie hatte eigentlich einen leichten Schlaf. Nicht einmal ein Hüsteln der Kinder entging ihr. Aber vielleicht war sie nach der emotionalen Achterbahn der letzten Monate einfach zu erschöpft.

»Beruhig dich, Benni! Was hast du denn?«, fragte Marta und streichelte ihm tröstend übers Haar. Ein süßlich beißender Geruch stieg ihr in die Nase. Ihr siebenjähriger Sohn hatte ins Bett gemacht. Marta nahm ihn auf den Arm, obwohl er für die zierliche Frau inzwischen eigentlich zu schwer war.

Sie setzte Benjamin vor der Badewanne ab und zog ihm die Schlafsachen aus, die sie in eine kleine Wanne warf. Dann duschte sie ihn. »Das ist nicht schlimm, Benni. Wirklich nicht. So was kann passieren«, sprach sie begütigend auf ihn ein. Marta zwang sich, gelassen zu wirken. Als Kinderärztin wusste sie, dass plötzliches Bettnässen auf psychische Probleme, vielleicht sogar auf ein Trauma hinwies. Sie trocknete den Sohn mit dem großen blauen Handtuch ab und wollte ihm einen Kuss geben, doch er wandte den Kopf ab. Wenigstens weinte er nicht mehr. Bevor sie ihn wieder ins Bett bringen konnte, klingelte ihr Handy. Sie wusste genau, wer sie mitten in der Nacht anrief. »Geh schon mal vor«, rief sie ihrem Sohn zu und sah ihm einen Augenblick lang nach. Er schämte sich. Wie ein begossener Pudel, dachte sie, und das Bild brannte sich in ihr Gehirn, denn sie zweifelte nicht daran, dass die Ursache für das Malheur bei ihr lag. Das Handy gab keine Ruhe. Mit einem leisen Fluch nahm sie den Anruf an. »Marta Luther!«

»Marta, du musst sofort in die Klinik kommen. Karl ist ausgefallen. Eine Not-OP«, brüllte am anderen Ende der Leitung Stationsarzt Gundolf, der Nachtdienst hatte.

»Bin schon unterwegs«, hörte sie sich routiniert antworten. Sie schaltete das Handy aus und spürte Katharinas kalten Blick auf sich. »Es tut mir leid, Katharina.«

»Kari!«

»Es tut mir leid, Kari, aber eine Not-OP ...«

»Ich weiß, du musst mal wieder Leben retten. Geh schon, ich kümmere mich um Benni.« Kalt und gelangweilt hatte ihre Tochter das gesagt, ohne auch nur die geringste Neigung zu einer Diskussion erkennen zu lassen. Sie wirkte nicht einmal mehr zornig

So schroff Katharina auf ihre Mutter reagierte, so liebevoll ging sie mit ihrem Bruder um. »Komm Benni, kannst bei mir schlafen.«

»Wirklich?!« Marta konnte der Stimme ihres Sohnes förmlich anhören, wie seine Augen leuchteten.

»Ja, wirklich«, antwortete Katharina liebevoll.

Schnell zog Marta Jeans, einen Pullover und den Mantel an. Als sie auf die Straße trat, knirschte Neuschnee unter ihren Schuhen. Schneeflocken tanzten wie kleine Wattesterne durch die Luft, als spielten sie mit den Lichtstrahlen der Laternen Haschen. Die Luft war feucht, zu feucht, als dass die weiße Pracht liegen bleiben würde. Sie blickte noch einmal zu den Fenstern ihrer Wohnung hinauf. Das Licht im Zimmer der Tochter erlosch. Wahrscheinlich würde sie Benjamin leise noch eine kleine Geschichte erzählen, bevor auch sie weiterschlafen würde. Beim Einsteigen in ihren VW Polo nahm sie sich vor, mit Katharina ein ernstes, ein Gespräch von Frau zu Frau zu führen. Aber wie oft hatte sie das im letzten halben Jahr schon tun wollen und es schließlich doch immer wieder verschoben. Als sie losfuhr, wurde sie kurz durch Scheinwerfer im Rückspiegel geblendet. »Noch ein Nachtschneeanbeter«, sagte sie mit einem Lächeln zu sich selbst. Anscheinend war sie nicht die Einzige, die zu so später oder so früher Stunde unterwegs sein musste.

Während sie fuhr, ging ihr der seltsame Traum nach. Sein Inhalt war ihr so fremd, dass sie sich irritiert fragte, woher er kam. Er stimmte mit nichts überein, was sie jemals gesehen, gehört, gelesen oder gar erlebt hatte. Bis zu diesem Alp war ihr nicht einmal bekannt, dass es im Mittelalter ein Pogrom gegen die Juden in Straßburg gegeben haben sollte. Auch die Namen, die ihr im Schlaf so geläufig gewesen waren, sagten ihr im Wachen nichts. Wie also kamen diese Bilder in ihr Unterbewusstsein? Oder genauer: Woher stammten sie? Irgendetwas stimmte mit ihr nicht. Übermüdung? Sie gab sich alle erdenkliche Mühe, dieser Erklärung Glauben zu schenken. Dagegen sprach allerdings, dass der Traum in seinem Detailreichtum ihr eher wie ein Film vorkam, den jemand in ihrem Gehirn abgespielt hatte und an den sie sich jetzt erinnerte.

In der Klinik angekommen, ging alles sehr schnell, Einweisung in den Fall des vierjährigen Mädchens, dessen Leben am seidenen Faden hing, Anziehen der OP-Sachen, Desinfektion und Anästhesie. Marta schaute auf das blasse Gesicht des Kindes. Dann ließ sie sich von der OP-Schwester das Skalpell geben. Alles, was nicht mit der Operation in Zusammenhang stand und sie bis eben noch beschäftigt hatte, war restlos ausgelöscht. Die Müdigkeit hatte einer stählernen Konzentration Platz gemacht.

Als Marta drei Stunden später vollkommen geschafft und durchgeschwitzt den OP-Saal verließ, leuchtete die Sonne bereits durch die hohen Krankenhausfenster, brach ein neuer Tag an, auch für das vierjährige Mädchen, das Dank ihr weiterleben würde.

Marta freute sich schon auf eine heißkalte Dusche, während sie dem mit weißen und roten Kacheln gefliesten Klinikflur folgte. Aber die Erfüllung dieses Wunsches musste sie erst mal verschieben. Denn vor ihrem Dienstzimmer erwartete sie eine Frau, Mitte dreißig, streng gescheiteltes Haar mit einer ovalen Brille, Katharinas Klassenlehrerin. Der frühe Besuch konnte nichts Gutes bedeuten. Mit klopfendem Herzen ging Marta auf sie zu. Plötzlich fühlte sie wieder das Blei in den Knochen, diese verfluchte Müdigkeit, die ihr Leben zu beherrschen begann, als flöße ihr jemand pausenlos Valium ein.

Mit professionellem Lächeln hielt sie auf die Besucherin zu. Ihre zielstrebigen Schritte hallten energisch. »Guten Morgen, Frau Hiller, was führt Sie zu mir?«

Der Lehrerin war sichtlich unangenehm, was sie ihr mitzuteilen hatte. »Was soll ich lange um den heißen Brei reden. Wissen Sie, dass Ihre Tochter die Schule schwänzt?«

Die Mitteilung traf Marta wie ein Schlag in die Magengrube. Sie mobilisierte all ihre Selbstbeherrschung, um sich nichts anmerken zu lassen, und bat die Lehrerin in ihr Zimmer.

Auf dem grünen Linoleumboden stand ein einfacher Holzstuhl hinter einem weiß gestrichenen Schreibtisch, auf dem sich der übliche Computer langweilte. Davor waren zwei mit braunem Kunstleder bezogene Polsterstühle postiert. Eine Liege und ein Arzneischrank komplettierten den spartanisch eingerichteten Raum. Keine Pflanze zierte das Fensterbrett, im Grunde enthielt das Zimmer nichts Persönliches.

Dass die Lehrerin auf dem Patientenstuhl saß, half Marta zumindest äußerlich, sich gelassen zu geben. Sie ließ sich alle Fehltage Katharinas aufzählen und die Veränderung, die mit ihrer Tochter vorging, minutiös beschreiben. Überraschung empfand sie nicht, denn alles, was die Lehrerin schilderte, beobachtete auch Marta an ihr, ohne es sich freilich eingestehen zu wollen. Es stimmte sie nur unendlich traurig. Beim Zuhören verwandelte sich ein fröhliches und freundliches Mädchen zusehends in einen düsteren und ruppigen Teenager. Nach der etwa halbstündigen Unterredung verabschiedete sie sich mit professioneller Freundlichkeit, hinter der sie ihre Erschütterung verbarg. Kaum hatte sie die Tür hinter der Lehrerin geschlossen, da kamen ihr auch schon die Tränen. Ihr Sohn urinierte ins Bett, und ihre Tochter schwänzte die Schule. Erfolgreicher konnte man in Sachen Erziehung kaum sein. Sie warf sich vor zu versagen. Wie gern würde sie jetzt nach Hause, zu ihren Kindern gehen. Eine so elementare Sehnsucht hatte sie in ihrem Leben noch nie empfunden. Aber nun begann erst einmal die reguläre Tagesschicht, die quälende zehn Stunden dauern würde. Wenn sie nach aufreibender Parkplatzsuche gegen 18 oder 18.3 o Uhr ihre Wohnung betreten würde, blieb kaum noch Zeit, um die Probleme ernsthaft anzugehen. Sie unterdrückte einen Fluch. Wie sollte sie diesen Teufelskreis nur durchbrechen?

Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass Katharina jetzt für Benjamin und für sich selbst Frühstück machen und ihren Bruder anschließend in die Privatschule bringen würde. Was sie danach unternehmen würde, das wusste Marta seit heute Morgen nicht mehr. Ein Abgrund der Ratlosigkeit hatte sich vor ihr aufgetan. Den Impuls anzurufen, um ihre Stimmen zu hören, ließ sie verebben, denn sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Das Gefühl, dass ihre Kinder ihr langsam, aber unaufhaltbar entglitten, schnürte ihr die Kehle zu. Dabei schien die Lösung sehr einfach zu sein, sie benötigte einfach mehr Zeit.

Als Chirurgin in der Unfallklinik für Kinder, die notorisch mit Ärzten unterbesetzt war, konnte sie davon allerdings nur träumen. Andererseits brauchte sie den Job und die bezahlten Überstunden, da ihr geschiedener Mann, der Schönheitschirurg Prof. Dr. Alexander Rubin, nur den vom Gericht festgelegten Satz zahlte. Nicht aus Armut oder Geiz, vielmehr aus Berechnung überwies er das Geld immer so spät wie möglich, außerdem nie vollständig, stets fehlte ein gewisser Betrag, den sie dann mühselig nachfordern musste. Rubins teurem Anwalt war es im Scheidungsprozess nicht gelungen, ihr das Sorgerecht zu nehmen. Nun versuchte ihr Exmann, mittels Zermürbungstaktik neue Fakten zu schaffen. Er wollte die Kinder – ganz gleich, welche Mittel er dafür anwenden musste – aus reinem Narzissmus. Sollte Katharina noch einmal den Unterricht schwänzen, hatte die Lehrerin gesagt, müsse sie das Jugendamt verständigen. Und das war genau das, worauf Prof. Dr. Rubin wartete. Er hatte eine unentrinnbare Falle aufgestellt. Und sogar ihre eigene Mutter stand auf der Seite ihres Exmannes. Es war ein Elend.

Sie hielt inne, ging zum Waschbecken und blickte in den Spiegel. Das verheulte, aber immer noch mädchenhaft wirkende Gesicht einer vierundvierzigjährigen Frau starrte ihr daraus entgegen. Tränen waren in ihrem Alter einfach indiskutabel, entschied sie, und wusch sie weg. Ihr Verstand setzte ein, und sie tadelte sich wegen des hysterischen Ausbruchs. Schließlich existierte für alles eine Lösung, wenn man nur gründlich genug nachdachte und sich nicht dunklen Emotionen überließ. Ja, sie brauchte Zeit für ihre Kinder. Sie konnte nicht auf den Urlaub warten, in der Hoffnung, dann alles in Ordnung zu bringen, weil es dann vielleicht zu spät dafür war. Was nützte es, fremde Kinder zu retten, wenn ihre eigenen Kinder dafür den Preis bezahlten? Opferte sie ihrem Idealismus das Glück ihrer Kinder, wie ihr ihre Mutter beim letzten Streit vorgeworfen hatte? Auch dieser Vorwurf war nur eine andere Formulierung für den Hohn ihres geschiedenen Mannes, der vor dem Scheidungsrichter böse behauptet hatte, dass sie selbstsüchtig selbstlos wäre. Sie griff zum Telefon, um Katharina ans Herz zu legen, in die Schule zu gehen. Auch wenn das vermutlich nicht zum Erfolg führen würde, wollte sie nichts unversucht lassen. Auf einen kleinen Disput am Telefon hatte sie sich eingestellt, nicht aber darauf, dass sie beim Anrufbeantworter landen würde, weil Katharina entweder mit Benjamin schon aufgebrochen war oder einfach nicht ans Telefon ging. Sie legte den Hörer auf. Es klopfte an der Tür. Frech, verspielt, unbekümmert. Sie wusste, wem der grazile Fingerknochen, der an die Tür getrommelt hatte, gehörte. So klopfte nur einer an. Deshalb versteckte sie noch den kleinsten Rest einer Gefühlsregung hinter einem gleichmütigen Gesichtsausdruck. »Herein«, rief sie kühl.

Karl betrat den Raum, wie einer Arztserie des deutschen Fernsehens entstiegen: überbezahlt, makellos und mit einer gefährlich dummen Ausstrahlung. »Danke, dass du für mich eingesprungen bist. Ich hatte eine Autopanne«, sagte er und ließ zweiunddreißig extrageweißte Zähne aufblitzen. Sie spürte, dass der Schönling sie anlog. Wahrscheinlich hatte er mal wieder nicht aus den Federn gefunden und sich darauf verlassen, dass Marta seine Bereitschaft übernehmen würde, die immer und ewig hilfsbereite und engagierte Marta.

Sie schluckte. Die primitive Lüge beleidigte ihre Intelligenz. Hatte er es nicht einmal mehr nötig, sich etwas mehr Mühe zu geben, um sie hinters Licht zu führen? Im ersten Moment wollte sie ihn fragen, was es für das vierjährige Mädchen bedeutet hätte, wenn auch Marta nicht zu erreichen gewesen wäre. Aber ein Blick auf den schlanken jungen Mann mit den dichten schwarzen Haaren, der teuren Titanbrille und dem solariumgebräunten Gesicht überzeugte sie von der Nutzlosigkeit eines moralischen Appells. Er würde auf der Kinderunfallstation nur die notwendigen sozialen Meriten einsammeln, um anschließend Karriere zu machen. Ein Halbgott in Weiß. Genauso hatte es ihr Exmann auch gehalten, nur dass sie beide zuvor für Ärzte ohne Grenzen gearbeitet hatten, bevor er seine gutgehende Praxis für Schönheitschirurgie an der Elbchaussee eröffnete. Beim Medienpöbel, der immer irgendeine Verschönerung benötigte und dank sprudelnder Gebühren dafür exorbitant gut zahlte, machte es sich besonders gut, wenn Alexander Rubin mit seinem sozialen Engagement prahlte. Von einem Mann, der farbigen Babys das Leben gerettet hatte, geliftet zu werden, war fast so, als hätte man selbst afrikanische Kinder vor dem Tod bewahrt.

Diese Bigotterie hatte ihre Liebe erdrosselt. Und Karl war aus dem gleichen Holz geschnitzt wie ihr Exmann. Ihr kam ein besserer Einfall. Sphinxhaft lächelte sie ihn an. »Keine Ursache, Karl. Habe ich gern getan. Aber weißt du, was ich jetzt mache?«

»Einen Kaffee mit mir trinken gehen? Du bist natürlich eingeladen. Sogar auf zwei Kaffee«, griente er wie ein Gebrauchtwagenhändler.

Arschloch, dachte sie und zog ihren Kittel aus. »Nein. Ich schaue jetzt noch einmal zu der kleinen Prinzessin. Kannst ja mitkommen, wenn du willst. Und dann gehe ich nach Hause, weil du sicher gern meine Schicht übernimmst.« Sie hatte es in einem Ton gesagt, der keinen Widerspruch zuließ. Dem Schönling fiel die Kinnlade herunter. Das interessierte sie schon nicht mehr, es zog sie nur noch mit einer existenziellen Gewalt, die sie nie zuvor erlebt hatte, zu ihren Kindern.

Kapitel 3

Das bisschen Schnee, das sich draußen auf die Wege und die Straßen verirrt hatte, verwandelte sich schon wieder in eine grau-schwarze Masse, aus der wie durch ein Wunder noch kleine weiße Flächen aufleuchteten, als hätte der Schmutz vergessen, sie sich einzuverleiben. Beim Verlassen der Klinik verunsicherte sie wieder der Traum, der ihr noch immer durch den Kopf ging. Sie war noch nie in Straßburg gewesen, wieso also dann in ihrem Traum? Hinzu kam, dass der beeindruckende Dominikaner, den sie im Schlaf gesehen hatte, völlig dem Klischee des sadistischen Inquisitors widersprach, das sich aus irgendeinem unerfindlichen Grund bei ihr festgesetzt hatte. Allerdings interessierte sie sich auch nicht sonderlich dafür. Das Fach Geschichte hatte sie als Schülerin gehasst, und auch heute verschwendete sie ihre Zeit nicht mit Vergangenem. Hielt die Gegenwart nicht mehr als genug an Aufgaben bereit? Die Toten sollten für sich selber sorgen, Marta Luther hatte mit ihren kleinen Patienten mehr als genug zu tun. Gerade dadurch, dass der Traum wie eine Erinnerung an etwas Selbsterlebtes wirkte und Menschen in ihm vorkamen, von denen sie zwar noch nie etwas gehört hatte, die ihr aber dennoch vertraut vorkamen, vertraut wie ihre Kollegen und vertraut auch wie – sie schreckte zunächst vor dem Gedanken zurück, vermochte ihn aber dennoch nicht abzuschütteln – ja, vertraut wie sie selbst, ließ er sich nicht so einfach abschütteln. Nicht wie ein Nachtgespinst, sondern wie eine Botschaft erschien er ihr. Doch von wem und wofür? Sie rieb sich verstohlen die Augen und gähnte etwas gekünstelt.

Der Weg durch das morgendliche Hamburg kam ihr überraschend fremd vor. Als befände sie sich in einer anderen Stadt. Ein einsamer Opel hatte offensichtlich den gleichen Weg wie sie. Kurz nachdem sie den Klinikparkplatz verlassen hatte, war ihr der Wagen aufgefallen, der in gleichbleibendem Abstand hinter ihr blieb. Wenn sie sich für bedeutend oder reich hielte, wäre sie vielleicht auf den Gedanken verfallen, dass ihr jemand folgte. Aber wer sollte sich dieser Mühe unterziehen? Die einzige halbwegs plausible Erklärung, die ihr einfiel, war, dass ihr geschiedener Mann einen Privatdetektiv engagiert hatte, um Beweise dafür zu sammeln, dass sie nicht in der Lage wäre, ihre Kinder zu erziehen. Sie entschied sich, lieber an einen Zufall zu glauben. Zudem hätte er sicher keinen derartigen Stümper engagiert, dessen Verfolgung selbst ihr auffallen musste.

Die wieder aufflackernde Sorge um ihre Tochter verdrängte den Opelfahrer jedoch schnell. Irgendwo hier draußen trieb sich Katharina herum. Und es gab gefährliche Ecken in der Stadt. Kreuzgefährlich sogar für ein überhebliches und zutiefst verunsichertes Mädchen wie ihre Tochter. Siedend heiß wurde ihr bewusst, welcher Gefahr Katharina sich aussetzte und dass es möglicherweise ihre letzte Chance war, die wuchernden Probleme in den Griff zu bekommen. Ihr Instinkt warnte sie, diese Chance ungenutzt verstreichen zu lassen. Es war höchste Zeit, eine Entscheidung zu treffen.

Sie griff nach dem Handy und wählte die Nummer des Stationsarztes. »Hallo Gerd, ich brauche dringend eine Woche Urlaub«, sagte sie ohne Umschweife.

»Das geht nicht! Wie stellst du dir das vor?«, hörte sie ihn mit aufsteigender Panik in der Stimme.

Er würde wie immer versuchen, sie moralisch unter Druck zu setzen, was bei ihr der einfachste Weg war, weil die Argumente Verantwortung und Pflicht sie stets entwaffneten. Doch diesmal hielt die Angst um ihre Tochter ihr Denken in eisernem Griff. »Doch, Gerd, das geht. Diesmal muss es gehen! Ich bin in einer Woche zur Frühschicht wieder im Krankenhaus«, beendete sie das Gespräch und atmete erleichtert aus. Unmittelbar darauf klingelte das Handy. Marta brauchte nicht aufs Display zu schauen, um zu wissen, dass ihr Chef versuchen wollte, sie umzustimmen. Um am Ende nicht doch seinen Argumenten, Appellen und Versprechungen zu erliegen, nahm sie den Anruf erst gar nicht an, sondern schüttelte nur den Kopf und gab unwillkürlich Gas.

Ein Versuch, wenig später ihre Tochter zu erreichen, schlug fehl. Im Grunde hatte sie nichts anderes erwartet. Also hinterließ sie auf Katharinas Mailbox die dringende Bitte um Rückruf. Dann rief sie die Lehrerin an, die ihr mitteilte, dass ihre Tochter auch heute nicht zum Unterricht erschienen sei. In der Sorge, die Lehrerin könnte ihre Drohung, dem Jugendamt Mitteilung zu erstatten, in die Tat umsetzen, griff sie zu einer Lüge und erklärte, sie befinde sich auf dem Weg nach Hause, was stimmte, weil ihre Tochter erkrankt sei, was eindeutig nicht stimmte. Von einer vagen Hoffnung getrieben, erkundigte sie sich möglichst beiläufig, ob ein anderer Junge oder ein anderes Mädchen mit Katharina gemeinsam die Schule geschwänzt hätte. Die Lehrerin verneinte und wünschte Katharina gute Besserung. Marta bedankte sich automatisch, denn ihre Aufmerksamkeit galt bereits wieder ihrer Tochter. Katharina war somit entweder alleine oder mit Leuten unterwegs, die sie, Marta, nicht kannte und über die sie nicht das Geringste wusste. Das gefiel ihr überhaupt nicht.

Vor ihrem Haus angekommen, stellte sie überrascht fest, wie leicht es um diese Zeit war, einen Parkplatz zu finden. Beim Aussteigen fiel ihr auf, dass sie fast einen halben Meter vom Bürgersteig entfernt geparkt hatte. Wenn ihr das sonst passierte, rangierte sie gewöhnlich so lange, bis sie perfekt stand, doch heute nahm sie es lediglich desinteressiert zur Kenntnis. Sie hoffte inständig, ihre Tochter zu Hause anzutreffen. Das hielt sie, je näher sie ihrer Wohnung kam, sogar für sehr wahrscheinlich, schließlich konnte Katharina nicht damit rechnen, dass Marta jetzt schon nach Hause käme. Sie redete sich sogar ein, dass die Wohnung aus Katharinas Sicht der sicherste und attraktivste Ort sein musste. Was sollte sich das Mädchen dem nasskalten Erkältungswetter aussetzen?

Mit schnellen Schritten stürmte sie die zwei Treppen hoch, angelte auf dem Weg nach oben die Schlüssel aus ihrer schwarzen Lederhandtasche, schloss die mit der Zeit nachgedunkelte schwere Holztür mit dem Spion auf Brusthöhe auf und betrat die Wohnung. Sie nahm sich vor, nicht zu schimpfen und ruhig mit der Tochter zu reden. Aber Katharina war nicht da. Die Enttäuschung machte Marta hilflos und die Hilflosigkeit zornig.

Die Teller und Becher in der Spülmaschine verrieten ihr, dass ihre Tochter das Frühstück gemacht und danach die Küche aufgeräumt hatte. Ein Telefonat mit der Privatschule informierte sie, dass Benjamin pünktlich abgegeben worden war. Aber wo steckte Katharina?

Im Zimmer der Tochter auf und ab laufend, zerbrach Marta sich den Kopf darüber. Kurz erwog sie, Katharinas Sachen zu durchsuchen, verwarf den Gedanken allerdings angewidert. Das wollte sie ihr und sich selbst nicht antun. Dann hielt sie es nicht mehr zu Hause aus. Sie musste irgendetwas tun, und wenn es noch so sinnlos wäre, aber das Warten brachte sie um den Verstand. Nur, wo sollte sie mit der Suche beginnen? Marta lief die Lieblingsecken ihrer Tochter in Altona ab, zumindest die, die sie kannte, den Spielplatz, den Markt. Vergebens. Von Sorge gepeinigt trieb es sie zur Reeperbahn. Während sie die berüchtigte Straße mit ihren Sex-Angeboten entlanglief, die ein wenig wie Ramschangebote im Schlussverkauf wirkten, überkam sie das beschämende Gefühl, einem Boulevardzeitungsklischee aufzusitzen. Junges Mädchen von Zuhälter verführt.