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Bernd Stegemann

Die Moralfalle

Für eine Befreiung linker Politik

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Inhalt

Prolog: Der Wettlauf der Erzählungen

Was ist moralisch?

Der blinde Fleck der Moral

Der Moralismus der Heuchler und der schönen Seelen

Moral und Hypermoral

Warum überhaupt Moral?

Moralische Paradoxien unserer Zeit

Vom Widerspruch zum Paradox

Beispiele paradoxer Konstruktionen

Double Bind

Das postmoderne Paradox

Antidiskriminierung

Der Widerspruch von Kapital und Arbeit

Radical Chic

Das Deutschland-Paradox

Die Wege der Freiheit

Politischer Liberalismus

Ökonomischer Liberalismus

Politische Folgen

Linke Diskurse und die Moral

Identitätspolitik

Political Correctness und Kränkung

Das Theater der öffentlichen Stimmen

Die Moralisten

Der Gemeinschaftskundelehrer

Die Predigerin

Die Realisten

Die Migrationsdebatte

Europa

Die Sprache der Subalternen

Das Talkshow-Paradox

Der Streit als Improvisation

Moralisten treffen Realisten

Die Rahmenanalyse

Für eine neue Aufklärung

Nachwort: Zur Sammlungsbewegung Aufstehen

Anmerkungen

Prolog:

Der Wettlauf der Erzählungen

Wohl jeder kennt das Märchen vom Hasen und vom Igel. Der Igel fordert den Hasen zu einem Wettlauf heraus. Sie verabreden sich auf einem Feld und starten auf ein Zeichen in nebeneinanderliegenden Ackerfurchen ihr Rennen. Doch kaum kommt der Hase in der einen Furche herangestürmt, streckt am Ende der anderen Furche der Igel seinen Kopf heraus und ruft: »Ich bin schon da.« Der Hase kann das nicht glauben und will Revanche. Sie laufen in die andere Richtung, doch wieder ist der Igel vor ihm am Ziel. Bei der vierundsiebzigsten Wiederholung fällt der Hase schließlich mitten auf dem Feld um und bleibt tot liegen. Der Igel aber ruft seine Frau, die bekanntlich genauso aussieht wie er, vom anderen Ende der Furche und geht vergnügt mit ihr nach Hause, das Feld gehört nun ihnen.

Mit der Fabel vom Wettlauf zwischen Hase und Igel lässt sich gut beschreiben, in welcher Form die meisten gesellschaftlichen Widersprüche heute verhandelt werden. Indem die eine Seite ihre Position verdoppelt, kann die andere den Wettlauf nicht mehr gewinnen. Die Verdopplung des Standpunktes ist die Folge einer raffinierten Denkbewegung, die man seit der Antike Paradoxie nennt. In ihr werden zwei Positionen zugleich eingenommen, die sich jedoch gegenseitig ausschließen. Reckt der eine Igel seinen Kopf hervor, duckt sich der andere in die Furche. Gilt das eine, so gilt das andere gerade nicht. Wer nun versuchen will, die eine Position zu widerlegen, der wird sofort mit der anderen konfrontiert. Solange man einer Paradoxie also alleine gegenübersteht, ist es unmöglich, sie zu widerlegen. Darum ist derjenige, der als Erster seine Position in das passende Paradox gebracht hat, für längere Zeit unbesiegbar.

Ein aktuelles Beispiel aus der politischen Debatte zeigt, wie wirkungsvoll das Zusammenspiel zweier Positionen sein kann. Es gibt offensichtlich zu wenige Menschen, die für das geringe Gehalt den Beruf des Altenpflegers oder der Altenpflegerin ausüben wollen. Der Vorschlag des CDU-Gesundheitsministers besteht nun darin, Menschen aus Ländern mit niedrigeren Löhnen anzuwerben. Eine linke Politik müsste diesen Vorschlag kritisieren, weil er dazu führt, dass die Löhne niedrig bleiben oder sogar noch niedriger werden. Wie aber reagiert die Partei der Grünen? Sie begrüßt diesen Vorschlag als ein fremdenfreundliches Zeichen und unterstellt zugleich der sozialen linken Kritik Fremdenfeindlichkeit. Die moralische Forderung nach Einwanderung dominiert demnach die soziale Frage nach den Auswirkungen auf die Gehälter. So ergeben CDU-Vorschlag und Reaktion der Grünen ein gemeinsames Bollwerk, bei dem die Globalisierung des Arbeitsmarktes die Gewinnchancen des Kapitals steigert. Der CDU-Minister spielt also zusammen mit den Grünen die beiden Igel, zwischen denen der einsame Hase einer sozialen linken Politik ausgetrickst wird.

Hiermit hat man das erste Beispiel für eine Moralfalle, in der eine unliebsame Position stillgestellt wird. Die Moralfalle beschreibt also nicht den Vorgang, den konservative Kritiker meinen, wenn sie genüsslich feststellen, dass jemand seinen eigenen moralischen Ansprüchen nicht gerecht geworden ist. Die alkoholisiert autofahrende Bischöfin, der steuerhinterziehende Politiker oder der Bonusmeilen nutzende Abgeordnete sind also nicht das Thema. Die Moralfalle bezeichnet vielmehr das Problem einer bestimmten Kommunikationsstrategie, die vermeintlich der moralischen Seite nutzt, deren weitere Folgen die verfochtenen Werte jedoch schwächen. Erst wenn die Selbstfesselungstendenzen der Moralfalle verstanden sind, ist eine Befreiung linker Politik aus ihr möglich.

Schon dieses Beispiel zeigt, dass sich vor allem die moralische Haltung hervorragend für ein solches doppeltes Spiel eignet. Die Gründe hierfür liegen in der besonderen Eigenart der Moral und ihrer sozialen Funktion. Wenn im Folgenden diese Eigenarten untersucht werden, so wird Ethik von Moral und Moralismus unterschieden. Die Werte der Ethik stehen hier nicht zur Diskussion, sondern allein deren alltägliche Anwendung in der moralischen Kommunikation. Hierbei ist auffällig, dass die Verwendung von moralischen Argumenten in einem politischen Konflikt eine starke Tendenz zum Moralisieren aufweist. Woran das liegt und was das mit dem Trick der Paradoxien zu tun hat, wird im Folgenden das Thema sein.

Es ist wohl keine Übertreibung, wenn man feststellt, dass die liberalen westlichen Demokratien in eine neue Phase des Kulturkampfes geraten sind. Die Ausgangsthese dieses Buches ist, dass ein solcher Kampf immer wieder an der Verwendung von Paradoxien und moralisierender Kommunikation entflammt. Diese These erlaubt einen anderen Blick auf die Ursachen des Kampfes, als ihn die gängige Unterscheidung zwischen den progressiven und den reaktionären Kräften einnimmt. Nach deren Einteilung stehen die einen für eine weltoffene, humane und fortschrittliche Gesellschaft, die anderen wollen die Grenzen schließen, erklären die Fremden zur Ursache aller Probleme und hoffen auf die Rückkehr in eine hierarchisch geordnete Welt. Der Kampf zwischen diesen beiden Weltbildern ist jedoch schwieriger, als es der eindeutige Frontverlauf suggeriert. Jeder meint, sicher bestimmen zu können, welche Person oder welche Aussage gerade als politisch rechts oder links bewertet werden kann. Diese Selbstgewissheit könnte hingegen einer der Gründe sein, warum der Kampf gerade nicht gut für die linken Kräfte verläuft und warum die Rechten überall auf der Welt Auftrieb haben.

Das Problem besteht heute darin, dass sich sowohl Rechts als auch Links verdoppelt haben. Es gibt das Rechts des Ressentiments und Nationalismus und es gibt das Rechts des Neoliberalismus, das sich mit allen Attitüden der Weltoffenheit und Diversität schmückt. Es gibt das Links der sozialen Frage und es gibt das Links der Identitätspolitik, das sich vor allem mit den Fragen der Anerkennung und Diversität verbindet. Die komplizierten Verbindungen, die Rechts und Links in Gestalt von neoliberaler Politik und Identitätspolitik eingehen, führen im politischen Feld zu größten Orientierungsproblemen. Die parteipolitische Antwort besteht darin, dass CDU und Grüne zusammen regieren wollen.

Eine verbreitete Erklärung für das Erstarken der Rechten blendet diese Verdopplungen aus, indem konstatiert wird, dass es schon immer einen Anteil von fünf bis zehn Prozent in der Bevölkerung gegeben habe, der rechts im Sinne von rechtsradikal denkt. Solange sich die Zahl eher auf fünf als auf zehn Prozent belief, konnte man sich mit dieser resignativen Feststellung beruhigen. Doch nicht nur bei unseren europäischen Nachbarn werden inzwischen im rechten Lager Mehrheiten errungen, auch in Deutschland steigt die Zustimmung weit über die Marke von zehn Prozent. Die Erklärung, dass der Anteil von Rechten eine Art Naturgesetz ist, wird damit zu einer gefährlichen Verharmlosung. Es ist stattdessen an der Zeit, wieder neu über die Ursachen nachzudenken.

In diesem Buch soll darum ein anderer Blick auf das Problem geworfen werden. Hier wird in Form einer systemtheoretischen Analyse untersucht, welche Folgen die oben beschriebene paradoxe Kommunikation für die politische Auseinandersetzung hat. Kommunikation ist nicht nur der Austausch von Informationen, sondern sie bestimmt vor allem das Verhältnis zwischen den Beteiligten. In manchen Gesprächen fühlt man sich verstanden, in anderen missverstanden oder belehrt und manchmal sogar gedemütigt. Diese Unterschiede gelten nicht nur für das direkte Gespräch, sondern ebenso für die öffentliche Kommunikation. Auch hier wird nicht nur ein Sachverhalt besprochen, sondern es werden Macht und Ordnung in einem umfassenderen Sinne ausgehandelt. Ziel und Grundlage der öffentlichen Kommunikation ist es, sich über die Deutung der Realität zu verständigen. Über diese Deutung und darüber, wer die Hoheit über sie hat, ist heute ein heftiger Streit entbrannt. Nach einer langen Phase, in der soziale und liberale Ideen bestimmend gewesen sind, scheinen diese immer weiter in die Defensive geraten zu sein. Eine wesentliche Ursache des Niedergangs liegt, so die These, nicht in einer Stärke der Rechten, sondern in einer Schwäche der Linken, genauer gesagt, der linken Kommunikation. Daher soll hier untersucht werden, warum die Linken immer weniger überzeugen können und welchen Anteil daran die paradoxe Form moralischer Kommunikation hat. Es geht also um eine Selbstkritik linker Kommunikation.

Auch wenn manche Passagen sehr hart mit linken Denkweisen und Argumentationen ins Gericht gehen, so richtet sich diese Kritik nie gegen das Projekt einer sozialen und offenen Gesellschaft, sondern versucht es zu stärken, indem mögliche Fehlentwicklungen bei seiner kommunikativen Durchsetzung und Verteidigung analysiert werden. Dass dieser Versuch einer Selbstkritik von bestimmten Kräften aus dem linken Spektrum just als rechts diffamiert wird, gehört zu den Fehlern, die Teile der Linken immer öfter machen. Eine solche Reaktion ist zum einen die Folge der moralisierenden Kommunikation, die politische Positionen nach der moralischen Gesinnung und nicht nach Interessen und Konflikten beurteilt. Zum anderen scheint sie aus einer Angst vor den erstarkenden Rechten zu resultieren. Im linken Lager mehren sich die Anzeichen einer Art Bunkermentalität, die von allen fordert, zusammenzustehen und die ganze Energie auf die Abwehr des Feindes zu lenken. Die Welt wird in Freunde und Feinde eingeteilt1 und die Selbstreflexion als Schwächung der eigenen Position abgelehnt. Doch damit werden die Fundamente rechten Denkens kopiert und die beiden wichtigsten Eigenschaften linken Denkens preisgegeben: die Kraft zur Selbstkritik und der Mut, die Realität in ihren Widersprüchen zu begreifen.

Die Ausgangsthese dieses Buches ist, dass der Einsatz von Paradoxien, wie sie mit der Fabel vom Hasen und vom Igel beschrieben werden, fatale Folgen hat. Zum einen wiegen sich die Igel in der falschen Sicherheit, sie hätten die Deutungshoheit über ihr Feld, und zum anderen wird der Hase gedemütigt, indem ihm kein Platz eingeräumt wird. Diese Lage ist trügerisch und gefährlich zugleich: Die Deutungshoheit wurde durch einen Trick herbeigeführt, weswegen die richtigen Argumente selbst bei den Igeln immer mehr in Vergessenheit geraten. Zugleich entsteht die Frustration des Hasen nicht dadurch, dass er sich argumentativ widerlegt sieht, sondern sich von einer paradoxen Volte mundtot gemacht fühlt. Die fatale Folge dieses Tricks besteht also darin, dass die Sieger arrogant werden und vergessen, dass die Deutungshoheit kein Selbstzweck in einem Wettkampf ist, und die Verlierer wütend sind, weil sie den berechtigten Eindruck haben, dass ihre Stimme nicht gehört werden soll.

Die zweite These lautet darum, dass der einzelne Konflikt durch den Einsatz einer paradoxen Kommunikation zwar gewonnen werden kann, dadurch aber eine Entwicklung angestoßen wird, bei der immer mehr Menschen und Meinungen ausgeschlossen werden, sodass am Ende die Realität selbst zur Bedrohung wird. Eine solche Verarmung des öffentlichen Sprechens führt dazu, dass die Verteidiger der offenen Gesellschaft blutleer und belehrend wirken. An die Stelle des politischen Streits tritt die moralische Gängelung, und an die Stelle des Widerspruchs tritt die Bevormundung, reale Probleme nicht öffentlich benennen zu dürfen.

Am Beispiel der öffentlichen Debatte um die Flüchtlingskrise seit 2015 sind die Folgen einer paradoxen Kommunikation gut zu erkennen. Lange war in Deutschland die Unterscheidung zwischen Migration und Asyl gültig.2 Während Arbeitsmigration aus Ländern außerhalb der Europäischen Union aufgrund eines fehlenden Einwanderungsgesetzes fast unmöglich war, gab es durch zahlreiche internationale Verträge und das deutsche Grundgesetz ein Asylrecht für politisch Verfolgte. Als 2015 die EU-Außengrenzen überrannt wurden und die deutsche Regierung ihre EU-Binnengrenzen nicht geschlossen hat,3 wurde diese Unterscheidung faktisch aufgehoben, indem die individuelle Überprüfung der Asylberechtigung ausgesetzt wurde.

Wer nun weiterhin auf eine Unterscheidung pochte, die doch bis dahin gegolten hatte, der wurde reflexhaft der Menschenfeindlichkeit, des Nationalismus oder gar des Rassismus beschuldigt. Was war passiert? Die vormalige Unterscheidung war in einem neuen Wort aufgehoben worden. Statt Flüchtlinge und Arbeitsmigranten gab es nur noch Geflüchtete. In diesem Wort war der Widerspruch zu einem Paradox verschmolzen, gegen das kein einziger Hase mehr anrennen konnte.

Von Geflüchteten zu sprechen, appelliert an das moralische Mitgefühl und vermeidet dadurch die kühle Unterscheidung von berechtigter und unberechtigter Einwanderung. Durch die Aufhebung in einen moralischen Appell erscheint jede weitere Debatte als unmoralisch und kaltherzig. Wer dennoch versucht, Migration von Asyl zu unterscheiden, und dabei argumentiert, dass Fliehenden geholfen werden soll, aber über den Umfang der Arbeitsmigration mit den einheimischen Menschen ein Konsens gefunden werden muss, ist augenblicklich verloren. Sofort startet die moralische Seite mit ihrem paradoxen Wettlauf: Der Asylsuchende soll gleich in den Arbeitsmarkt integriert werden, man macht aus ihm also einen Arbeitsmigranten, obschon er doch vor einer Gefahr geflohen ist. Der Arbeitsmigrant, der vor Armut flieht, darf auch nicht abgewiesen werden, obwohl es über die Frage der Zuwanderung noch keine Einigung gibt. Das Gebot, ihm zu helfen, gilt ebenso absolut wie beim politischen Asyl. Dieser dauernde Wechsel der Argumentation führt zu einer Position, deren Kern in der Forderung mündet: Kein Mensch ist illegal, und die Grenzen müssen für alle Geflüchteten offen sein. Dass diese Geflüchteten dann sofort die volle Unterstützung des Wohlfahrtsstaates erhalten, wird ebenso wenig bedacht wie die daraus folgenden Verteilungskämpfe im ärmeren Teil der Gesellschaft und die Sogwirkung auf alle Elenden der Welt.

Dieses Beispiel zeigt, wie eine Position, die sich ein wirkungsvolles Paradox aufgebaut hat, jede rationale Kritik vermeiden kann. Wäre das Problem nicht von einer paradoxen Moral verstellt, sondern das tatsächliche Dilemma sichtbar, wäre der Schritt zu einem politischen Realismus möglich. Das Dilemma besteht darin, dass es mit den humanistischen Werten Europas unvereinbar ist, Menschen leiden oder gar sterben zu lassen, zugleich aber die Aufnahme aller Menschen in Not zu einer Zerstörung des humanistischen Europa führen würde. Denn schneller als die Flüchtlinge kämen, entstünden faschistische Bewegungen, die genau dieses verhindern wollten. Und auch die Fähigkeit zur Integration von Menschen, die nicht mit den europäischen Werten vertraut sind, ist in den aufnehmenden Gesellschaften begrenzt. Eine grenzenlose Hilfe für Menschen in Not droht die Gesellschaft zu zerstören, die aufgrund ihrer Werte diese Hilfe gewähren will.

Auch wenn die Flüchtlingsfrage das emotional bestimmende Thema unserer Zeit sein mag, so greift sie doch nicht so tief in den gesellschaftlichen Zusammenhalt wie die Paradoxien, mit denen der Neoliberalismus den Alltag eines jeden Menschen regiert. Die einfachste Formel für diesen paradoxen Zwang zur Freiheit besteht in der Aufforderung: Sei ganz du selbst, aber genau so, wie es der Arbeitsmarkt von dir verlangt! Die Wirkung dieses Befehls dringt in immer feinere Verästelungen des sozialen Lebens vor. Die Folge sind erschöpfte Menschen, denen die Sorge um ihre materielle Existenz das Leben vergällt, und atomisierte Einzelne, die kein Vertrauen mehr in eine solidarische Gemeinschaft haben. Täglich müssen sie mitansehen, wie eine Krankheit zu Arbeitslosigkeit führen kann, die dann schnell in Hartz IV mündet, oder sie erleben, wie der Kollege mit seiner kleinen Rente den bisherigen bescheidenen Lebensstandard nicht mehr halten kann. Und wenn dann noch eine unvorhergesehene Ausgabe hinzukommt, ist es wieder einer mehr, der sich zu den anderthalb Millionen Tafelberechtigten dazustellt.

Trotz dieser sozialen Verwerfungen hat linke Politik ein ganz anderes Betätigungsfeld für sich entdeckt. Die Beschäftigung mit allen ethnischen und sexuellen Minderheiten verspricht seit Jahren mehr öffentliche Aufmerksamkeit als die uncoole Klasse der Armen. So hat sich die Linke in einen identitätspolitischen und einen sozialpolitischen Flügel gespalten. Beide haben sich inzwischen so weit voneinander entfernt, dass die Bezeichnung »links« auseinanderzubrechen droht. Während die sozialpolitische Linke weiterhin an die solidarische Verabredung des Wohlfahrtsstaates glaubt, hat sich die identitätspolitische Linke immer öfter von den Strategien und Zielen des Neoliberalismus4 vereinnahmen lassen.

Was unter dem Label der Identitätspolitik stattfindet, ist die moralische Anwendung des neoliberalen Paradoxes. Das Ziel ist es, einer marginalisierten Gruppe dadurch Anerkennung zukommen zu lassen, dass sie in ihrer Besonderheit für den Rest der Gesellschaft sichtbar gemacht wird. Die Prämisse dieser Forderung ist die Beobachtung, dass die Identität der Mehrheitsgesellschaft eine ebensolche Konstruktion ist, die jedoch nicht auffällt, da sie eben die Normalität darstellt. Warum die Identitätspolitik trotz dieser zutreffenden Prämisse in eine verhängnisvolle Schieflage geraten ist, liegt an ihrer paradoxen Konstruktion. Das identitätspolitische Paradox besteht darin, dass eine Gleichberechtigung dadurch hergestellt werden soll, dass einzelne Gruppen anhand ihrer religiösen, ethnischen, geschlechtlichen, sexuellen oder kulturellen Eigenarten herausgehoben werden. Gleichheit wird also durch eine Betonung der Ungleichheit behauptet. Da die Vertreter der Identitätspolitik besonders ungehalten auf Kritik reagieren, sei hier noch einmal betont, dass die Kritik sich in keiner Weise gegen die Werte und Ziele der identitätspolitisch erreichten Gleichberechtigung richtet. Es kann für linke Politik nicht darum gehen, über den Sinn und die Ziele von Egalität zu streiten. Wenn man aber über die Mittel nachdenkt, mit denen sie herbeigeführt werden soll, muss man feststellen, dass eine bestimmte Form der moralischen Kommunikation immer öfter das Gegenteil dessen bewirkt, wozu sie einmal erfunden worden ist, und außerdem immer öfter von Rechten und Nationalisten übernommen wird.

Die parallele Entwicklung der neoliberalen und der identitätspolitischen Paradoxien vertieft die Spaltung in der deutschen Gesellschaft. Dass diese Spaltung zu immer heftigeren Angriffen auf die offene Gesellschaft führt, ist kein zufälliger Fehler, sondern eine logische Folge aus den herrschenden Paradoxien. Wenn jede soziale Kritik im Hase-und-Igel-Wettlauf zum Scheitern verurteilt ist und rationale Argumente zu moralisch verwerflichen Aussagen erklärt werden, dann führt das nicht zu einer Befriedung der Konflikte, sondern heizt sie auf gefährliche Weise an. Es ist niemandem, der über ein prekäres Leben klagt, damit geholfen, wenn man ihn belehrt, dass es in einer globalen Welt eben keine Gewissheiten und Grenzen mehr geben könne und der Wunsch nach Heimat eine reaktionäre, wenn nicht gar faschistische Sehnsucht sei, die es zu bekämpfen gelte.5 Solch eine aggressive Moral führt zu Konflikten, die sie selber nicht mehr befrieden kann, denn es ist unwahrscheinlich, dass sich Menschen von einer demütigenden Belehrung umerziehen lassen. Wahrscheinlich ist hingegen, dass sie ihrer Stimme an anderer Stelle Gehör verschaffen.

Die doppelmoralischen Igel mögen sich lange ihre Siege geglaubt haben. Doch je mehr Verlierer durch ihre unfaire Strategie vom Feld schleichen, desto größer wird deren Wut und desto öfter dämmert es ihnen, dass etwas mit der herrschenden Moral nicht stimmen kann. Es gibt also überhaupt keinen Grund, diesen Trick weiterzutreiben, denn wir nähern uns dem Punkt, wo seine Anwendung zu einer Gefahr für alle sozialen und liberalen Ideen wird. Wenn die ökonomischen und moralischen Verlierer damit beginnen, ihre Wut gegen die beiden Igel zu richten, dann droht ein viel größerer Schaden als der eines verlorenen Wettlaufs.

Es ist also an der Zeit, diese Strategie zu überdenken, wenn man ein Interesse daran hat, die Bedingungen einer offenen Gesellschaft zu retten. Doch das ist leichter gesagt als getan. Das linksliberale Denken ist fast vollständig mit einer paradoxen Anwendung der Moral verschmolzen. Indem es seine Begriffe von Freiheit, Selbstbestimmung und Offenheit zu Kampfbegriffen im neoliberalen Arbeitsregime hat werden lassen, hat es sich selbst in eine widersprüchliche Position gebracht. Der moralische Aufwand, der zur Verteidigung der falschen, da unsozialen Politik betrieben werden muss, führt darum zu immer aggressiveren Verrenkungen.

Die Politik in Deutschland ist seit der Flüchtlingskrise von 2015 von drei Erzählungen dominiert. Die rechtspopulistische Erzählung zeichnet ein düsteres Bild der Lage, die liberalpopulistische Erzählung6 verbreitet Optimismus, und die linke Erzählung schwankt zwischen Zuversicht und Kritik. Die rechte und liberal-populistische Erzählung sind symmetrisch zueinander. Wo die einen von »Kontrollverlust« und »Unrechtsstaat« sprechen, sagen die anderen »Wir schaffen das« und beschwören »ein Land, in dem wir gut und gerne leben«. Die Ängste, die von den einen geschürt werden, sollen durch die Zuversicht der anderen wieder verdeckt werden.

Die linke Erzählung steht etwas ratlos vor diesem Schauspiel, bestand doch bisher ihre Aufgabe darin, die Ungerechtigkeiten der Gesellschaft anzuprangern. Nun befindet sie sich in dem Dilemma, dem Alarm von rechts zu widersprechen und zugleich den einschläfernden Parolen des liberalen Populismus nicht zu folgen. Der Niedergang der Sozialdemokratie ist nicht nur in Deutschland, sondern europaweit eine Folge dieser Zwangslage.

Unbeeindruckt davon kollaboriert ein Teil der linken Parteien mit dem Liberalismus des Weiter-so und ein anderer Teil sucht in immer kleineren Bereichen nach Problemen, mit denen neue identitätspolitische Erregungswellen starten könnten. Beide Optionen gehen in die falsche Richtung, da sie den Kern linker Politik aus dem Auge verlieren: die Kritik an der Ungleichheit der materiellen Lebensbedingungen.

In der aktuellen politischen Landschaft fehlt eine linke Erzählung, die die soziale Frage ins Zentrum stellt. Eine solche Politik wurde von den besitzenden Klassen schon immer angefeindet, und eine ihrer wichtigsten Waffen im Klassenkampf war die bürgerliche Moral. Die aktuelle Lage ist insofern neu, als die Ablehnung der Klassenfrage inzwischen auch aus dem linken Milieu kommt. Die Kollaboration mit der regierenden Macht oder die Empörung in der Nische scheinen größere Anziehungskraft zu haben als die Kritik der Ungleichheit. Bei diesen Bemühungen bleibt die wichtigste Frage unbeantwortet: Warum bestehen die identitätspolitischen Linken so vehement darauf, dass es vor allem kulturalistische Gründe sein sollen, die Menschen zum rechten Denken treiben, und nicht die ökonomischen Verhältnisse?

Linke Politik ist in Deutschland in genau die Schieflage geraten, in die der Neoliberalismus sie bringen wollte. Ihr Fortschrittsglaube wird zum Gehilfen der Kapitalinteressen und ihre Kritikfähigkeit verheddert sich in Partikularismen, wo die Kämpfe um kleinste Differenzen alle Energien binden. Dass dieser missliche Zustand keine zufällige Fehlentwicklung ist, sondern aus der ideologischen Form des Neoliberalismus folgt, soll im Folgenden gezeigt werden.

Wie gefährlich die selbst verschuldete Ohnmacht der Linken ist, zeigt das Erstarken rechter Parteien. Je mehr Menschen zu der Meinung kommen, dass allein die Rechten eine Alternative zum schlechten Ganzen anbieten, desto dringlicher wird eine konkrete und realistische linke Politik in Europa gebraucht. Da diese Kraft nur aus den linken Milieus selbst erwachsen kann, ist es zwingend notwendig, sich gegen die Ideologie des Neoliberalismus zu wappnen, der selbst die Moral zu seiner Waffe gemacht hat.

Was ist moralisch?

»Ich gehe ohne weitere Erläuterung davon aus, daß die akademische Ethik gescheitert ist.«7

Niklas Luhmann

Der blinde Fleck der Moral

Moral kommt immer dann ins Spiel, wenn es um die Zuteilung von Achtung oder Missachtung geht. Die Achtung, die ein Mensch erfährt, ist also keine Eigenschaft, über die er verfügt, sondern sie muss ihm durch andere Menschen entgegengebracht werden. Heute wird in diesem Zusammenhang auch gerne von Respekt oder Anerkennung gesprochen. Wer Respekt erwartet, darf nicht immer damit rechnen, dass ihm ein solcher auch gezollt wird, und wer auf Anerkennung hofft, wird nicht selten enttäuscht. Die Achtung umfasst alle diese Bereiche und stellt darum ein kompliziertes soziales Feld dar. Besonders auffällig ist an der Achtung, dass ihr Gegenbegriff, die Missachtung, nicht einfach die Abwesenheit von Achtung meint, sondern eine verschärfte Form der Ablehnung bedeutet.

Die Verteilung von Achtung oder die Androhung von Missachtung folgt historischen Entwicklungen. Was gestern als achtbar galt, kann schon heute Unverständnis oder sogar Missachtung hervorrufen. Die sorgende Mutter der 1950er Jahre muss sich heute den Vorwurf anhören, sie verkörpere ein veraltetes Frauenbild, und der zum Duell bereite Offizier des 19. Jahrhunderts würde heute im Gefängnis sitzen. Wessen Einsatz für den Artenschutz der Natur noch gerade gelobt wurde, muss sich in einer sich radikalisierenden Gesellschaft den Vorwurf gefallen lassen, unpolitisch zu sein. Da die Veränderungen immer schneller getaktet sind und die meisten Menschen es kaum schaffen, ihr Leben immer wieder neu auszurichten, gibt es eine wachsende Spaltung in diejenigen, die mit der Achtungszuteilung konform gehen, und diejenigen, die sich hiervon ausgeschlossen fühlen. Da die Achtung der Mitmenschen eines der wesentlichen Kriterien für das Selbstbild ist und die Missachtung existenzielle Ängste vor dem Ausschluss wachruft, gehören beide Affekte zu den wichtigsten Bedingungen des sozialen Lebens. Die Kriterien, nach denen sie zugestanden oder angedroht werden, entscheiden über den Zusammenhalt oder das Auseinanderbrechen von sozialen Räumen.

Der Überbegriff der Moral versammelt alle diese Eigenarten, indem er eine Verbindung zwischen einem Wertegerüst und dem konkreten Verhalten herstellt. Damit gehört die Moral vor allem in vormodernen Gesellschaften zu den mächtigsten Instanzen in einer Gesellschaft. Die Hüter der Moral konnten Leben zerstören und Fortschritt verhindern. Sie konnten aber auch das Alltagsverhalten zivilisieren und davor bewahren, dass Konflikte in Gewalt und Krieg mündeten. Die Organisation der Moral gehört darum zu den zentralen Fundamenten von Herrschaft. In diesem Zentrum ist mit dem Übergang von der modernen zur postmodernen Gesellschaft einiges durcheinandergeraten. Eine Untersuchung der alltäglichen Anwendung von moralischer Kommunikation kann helfen, die Auswirkungen dieser Entwicklung besser zu begreifen.

Die Kommunikation, in der Moral eingesetzt wird, teilt also Achtung oder Missachtung zu. Im Alltag kommt dieses häufig als Lob und Tadel vor, es zeigt sich aber auch darin, wer zum Beispiel zu einem Fest eingeladen wird und wer nicht, wem in einer öffentlichen Ansprache gedankt wird und wem nicht, oder wessen Texte von anderen Autoren zitiert werden und wessen Gedanken ohne Nennung kopiert werden. Überall wird Achtung zugeteilt oder entzogen. Diese Funktion ist durchaus vergleichbar mit anderen zweiwertigen Codierungen. So gibt es im System der Wirtschaft die Zahlung oder die Nichtzahlung, in der Wissenschaft die Wahrheit oder die Unwahrheit und in der Religion den Glauben oder den Unglauben. Solche und andere Codierungen in unserer Gesellschaft lassen sich nicht ohne Probleme miteinander in Beziehung setzen. Ist die Wahrheit besonders gut verkäuflich oder ist der Unglaube wahrer als der Glaube? Die Besonderheit der moralischen Kommunikation besteht nun darin, dass sie sich in alle anderen Systeme hineindrängen kann. Dafür verwendet sie ihre Codierung von Achtung und Missachtung und verbindet sie mit der Wertung von Gut und Böse.

Wird moralisch kommuniziert, so können zum Beispiel Zahlungen, Glaube oder Wahrheit als gut und ihre jeweiligen Gegenbegriffe als böse bezeichnet werden. Sofort fällt auf, dass durch eine solche Verdopplung der ursprünglichen Codierungen deren Funktion verändert wird. Wenn Zahler gut und Nichtzahler böse sein sollen, so führt das zu unberechenbaren Rückwirkungen auf das System der Wirtschaft. Denn wie reagiert man etwa darauf, dass der Zahler gut ist? Gewährt man ihm einen Rabatt, während der böse Nichtzahler in die Hölle kommt? Dort mag er zwar bestraft werden, aber zahlt immer noch nicht, was wiederum der Wirtschaft schadet. So setzt die Wirtschaft das Mittel der Moral zwar ein, um der Notwendigkeit der Zahlung Nachdruck zu verleihen, ihr System käme aber zum Einsturz, wenn die moralische Wertung ihre eigene Codierung dominieren würde. In der Konsequenz wäre dann der moralisch gute Mensch von Zahlungen befreit, da seine Güte wichtiger ist als seine Zahlungsfähigkeit. Besonders raffinierte Teilnehmer des Wirtschaftssystems versuchen genau diese Balance zu ihren Gunsten zu beeinflussen, indem sie eine hohe Zahlungsmoral für sich reklamieren, um daraus Vorteile für ihre Zahlungen zu ziehen. Die schwarze Null der deutschen Regierung ist genau ein solches Mittel. Da ihr Haushalt besonders solide wirkt, sind die Kosten der Refinanzierung gerade bei null oder sogar darunter.8

Die Moral unterscheidet sich von anderen zweiwertigen Codierungen nicht nur darin, dass sie sich selbst aufdrängt, um andere Codierungen zu überlagern, sondern auch darin, dass ihr zweiter Wert, die Missachtung, nicht einfach das Gegenteil von Achtung bedeutet. Die Ablehnung, die sich in der Missachtung ausdrückt, gehört zu den schärfsten Waffen, die eingesetzt werden können, bevor es zur Anwendung von Gewalt kommt. Die soziale Ausgrenzung greift tief in das Selbstbild des Menschen ein. Zwar führt eine Ausgrenzung nicht mehr wie in vormodernen Gesellschaften zum wahrscheinlichen Tod, aber die Stigmatisierung erfüllt in der symbolischen Ordnung die gleiche Funktion, wie sie in der realen Welt die körperliche Disziplinierung hat. Der Einzelne wird stark geschädigt, die strukturellen Ursachen bleiben aber davon unberührt.

Die moralische Wertung eignet sich also für die Verbindung mit anderen Systemen, ihre Anwendung erfordert jedoch ein bestimmtes Geschick, denn hat man ihr einmal Zugang gewährt, so entwickelt sie ein Eigenleben, das weder vom Wirtssystem noch von der Moral selber wieder einzufangen ist. Im Falle der Wirtschaft erfolgt dieser Umschlag zum Beispiel dann, wenn das Gewinnstreben eines Einzelnen als böse verurteilt wird oder einzelne Zahlungen als unmoralisch gebrandmarkt werden. Dadurch wird die Fehlentwicklung dem moralisch verwerflichen Handeln einzelner Akteure zugeschrieben, statt auf die systemischen Ursachen zu schauen. Der Einzelne mag dann böse sein, das System bleibt davon aber unbeeindruckt. So dient Moral der Entlastung von unangenehmen Fragen, indem sie Sündenböcke findet.9

Moralische Kritik hat also einen blinden Fleck. Sie sieht nicht die tatsächlichen Ursachen, sondern behauptet eine Fehlerhaftigkeit des Individuums. So ersetzen moralische Urteile die konkrete Analyse. Ein solcher Weg ist häufig nicht nur einfacher, sondern er verspricht auch schnellen Erfolg in der öffentlichen Kommunikation. Hat man einen vermeintlich Schuldigen dingfest gemacht, scheint das Problem gelöst. Dass in komplexen Systemen die Handlungsmacht des Einzelnen beschränkt ist und es eines Zusammenspiels zahlreicher Faktoren bedarf, damit Entwicklungen positiv oder negativ beeinflusst werden, gerät so aus dem Blick. Um beim Beispiel der Wirtschaft zu bleiben, so sind die Struktur von Anreizen, die Auswahl der Mitarbeiter, das Selbstbild des Unternehmens, seine Geschichte und Arbeitsorganisation und vieles mehr wesentliche Faktoren, die von einem einzelnen Schuldigen nur unzureichend verkörpert oder beeinflusst werden können. Die Vorliebe für Sündenböcke ist also eine notwendige Folge des blinden Flecks, der durch moralische Kommunikation entsteht.

Die moralische Kommunikation, die zwischen Gut und Böse unterscheidet, kann zu Problemen führen, die sie selber nicht mehr lösen kann. Die zunehmende Gereiztheit in öffentlichen Auseinandersetzungen, ein Argwohn gegenüber Informationen, der ans Paranoide grenzt, und die Spielarten populistischer Kommunikation gehören zu den wesentlichen Folgen. Um der Gefahr von Bruchlinien, die innerhalb der Gesellschaft nicht mehr gekittet werden können, entgegenzuarbeiten, wurde der Moral immer eine Aufsicht zur Seite gestellt, die den blinden Fleck der moralischen Unterscheidung bedenken soll. Der blinde Fleck der Moral besteht darin, dass sie selbst nicht entscheiden kann, ob ihre Unterscheidung zwischen Gut und Böse selbst gut oder böse ist. Im Fall der Wirtschaft scheint es evident, dass eine Unterscheidung der Zahler und Nichtzahler in Gut und Böse nicht gut ist.10 Das heißt, es braucht eine Reflexionsinstanz, die darüber entscheidet, wo die moralische Unterscheidung überhaupt angewendet werden soll und wo gerade nicht. Diese Aufgabe hat seit der Antike die Ethik übernommen. Doch spätestens seit der frühen Neuzeit ist die Ethik zusehends von dieser Aufgabe überfordert und ihre Autorität ist in der Moderne weitestgehend zerstört.