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UNSERE WELT IST HEILIG

Gespräche auf dem Weg zu einer globalen Spiritualität

Christoph Quarch (Herausgeber)

INHALT

Vorwort von Christoph Quarch

Globale Spiritualität: Ein tragfähiges Fundament für das Miteinander auf Erden

Willigis Jäger

Ich bin ein Tanzschritt, und Gott ist der Tanz

Thich Nhat Hanh

Vor allem eines – Achtsamkeit

Pir Zia Inayat Khan

Gott erklingt als Symphonie

Sebastian Painadath

Die Harmonie der Herzen entdecken

Angaangaq

Das Leben ist ein Fest

Neale Donald Walsch

Wir sind alle eins

Annette Kaiser

Umhüllt vom Duft der Liebe

Richard Rohr

Die Seele will lieben

Stanislav Grof

Sich hinwenden zum Ganzen

Jetsunma Tenzin Palmo

Im tiefsten Grund sind wir gesund

Galsan Tschinag

Der Himmel ist locker und die Geister sind lustig

Awraham Soetendorp

Eine Melodie der Seele

Abdulaziz Sachedina

Der inneren Schönheit Ausdruck verleihen

Seán ÓLaoire

Unablässig perlt der Geist

Thich Tien Son

Einander zuhören, miteinander reden, innehalten

Claudio Naranjo

Die Zukunft gehört dem Schamanismus

Laurence Freeman

Einssein im Reich der Liebe

Christoph Quarch – Vorwort

Globale Spiritualität: Ein tragfähiges Fundament für das Miteinander auf Erden

Einig zu sein, ist göttlich und gut; woher ist die Sucht denn unter den Menschen, dass nur Einer und Eines nur sei? (Friedrich Hölderlin)

Vorbei sind die Zeiten, zu denen es einem Europäer egal sein konnte, wenn in China ein Sack Reis umfällt. Heute wissen wir: Für die globale Wirtschaft könnte dieses Ereignis folgenreich sein. Wir wissen auch, dass der umfallende Reissack unser Wetter beeinflussen kann – ganz so wie der berühmte Flügelschlag eines Amazonas-Falters. Und nicht nur das: Wir wissen, dass der Abrieb der Gummireifen unserer Autos das Eis der Arktis schmelzen lässt. Wir wissen, dass der Hunger der Welt uns nicht gleichgültig sein kann. Wir sehen, wie ein Virus in Mexiko die ganze Welt in Angst versetzt; und ahnen, dass sie durch unsere Waffen in Schutt und Asche gelegt werden kann. Kurz: Wir wissen, dass alles mit allem in Beziehung steht. Wir wissen, dass die Menschheit vor gravierenden Aufgaben steht. Und wir wissen, dass wir diesen globalen Herausforderungen nur werden begegnen können, wenn wir ein globales Bewusstsein ausprägen. Wir könnten es jedenfalls wissen. Wenn wir wollten. Und wenn wir wollten, könnten wir es nicht nur wissen, sondern auch diesem Wissen gemäß handeln. Aber davon sind wir weit entfernt. Und das ist – gelinde gesagt – ein Problem.

„Der weiteste Weg im Leben eines Menschen ist der Weg vom Gehirn zur Hand.“ So sagt es Angaangaq, der Schamane eines Eskimo-Stamms in Westgrönland. Und er sagt auch, dass dieser Weg durchs Herz führt – dass er aber unbegehbar wird, wenn das Herz in uns gefroren ist. Weil dann die Quelle unseres Handelns vereist ist; weil wir dann nicht mehr beherzt sein können – leidenschaftlich, couragiert, tapfer; weil wir uns dann nicht mehr berühren lassen von dem, was vorgeht in der Welt; weil wir dann den Sinn für unsere Verbundenheit mit allem verlieren und stattdessen selbstbezogen um unser Ego kreisen. „Solange wir das Eis in unseren Herzen nicht zum Schmelzen bringen, wird sich nichts ändern“, sagt Angaangaq. Was so viel heißt wie: Solange wir nicht empfänglich sind für das Sein dieser Welt – solange wir uns nicht vom Sein dieser Welt in Anspruch nehmen lassen, werden wir keine passenden Antworten auf die Herausforderungen dieser Zeit finden und unsere Verantwortung als Menschen nicht genügen können.

Der erste Schritt dazu ist, dass wir uns freimachen von spirituellen, moralischen oder ideologischen Konzepten, wie Mensch und Welt zu sein hätten. Solange wir nur um unsere Konzepte kreisen, werden wir in unserer Seele nicht die Kraft und Begeisterung finden, die wir bräuchten, um die Welt zu verändern. Oder umgekehrt: Wenn wir irgendetwas für diese Welt tun wollen, wenn wir irgendwie den globalen Herausforderungen der Menschheit mit einem globalen Handeln begegnen wollen – dann müssen wir eine Konversation mit dem Sein beginnen: uns angehen lassen von den Ansprüchen, die das Leben, die Natur, die Wesen an uns haben. Überall auf der Welt. Und wenn wir die An- und Rückbindung an das Sein wie die Lateiner Religio nennen, dann können wir sagen: Die stimmige Antwort auf die globalen Herausforderungen an die ganze Menschheit ist eine globale Religio – die freilich ganz etwas anderes ist, als das, was wir in Kenntnis der großen religiösen Systeme der Welt als Religionen kennen

Damit soll nichts gegen Religion und Moral gesagt sein. Im Gegenteil. Religionen und Morallehren weisen oft die richtige Richtung. Hans Küngs Eintreten für ein Weltethos verdient unser aller Dank und Ehrfurcht. Denn das Weltethos ist gleichsam ein Leuchtfeuer, das den Schiffen der unterschiedlichen Religionen und Kulturen die Richtung weist. Doch es treibt sie nicht an. Es füllt ihre Segel nicht mit Wind. Der Wind weht von woanders her. Er weht aus der Begeisterung des Herzens. Er weht aus der Begegnung mit dem Heiligen Sein dieser Welt. Er kündet von der Erfahrung des göttlichen Geistes. Wir können diesen Wind Spiritualität nennen. Er ist die Frucht gelebter Religio – der Konversation mit dem Heiligen Sein. . Und er weht auf allen sieben Meeren. Er ist global.

Der Wind des globalen Geistes weht auch durch die siebzehn Gespräche, die in diesem Band versammelt sind. Er weht dabei aus wechselnden Richtungen. Und er fühlt sich jeweils anders an. Denn die Menschen, die er bewegt, sind sehr unterschiedlich. Aber sie sind doch erkennbar des gleichen Geistes Kind. Ein jeder und eine jede von ihnen gibt etwas von dem einen Geist der Weisheit und Lebendigkeit zu erkennen, der jede und jeden inspiriert – von diesem Geist, den die Menschheit so dringend braucht, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen zu sein. Es ist mein innigster Wunsch, dass dieses Buch dabei hilft, diesen Geist zu Bewusstsein zu bringen und einer globalen Religio und einer globalen Spiritualität (die ihren Namen wirklich verdient) den Weg zu bereiten.

Globale Spiritualität – was ist das? Und was ist sie nicht? Der Begriff ist sperrig, und daher ist es angezeigt, ein mögliches Missverständnis auszuschließen. Globale Spiritualität ist keine Super-Religion, die sich anschickt, die religiösen Traditionen der Vergangenheit zu überbieten oder abzulösen. Sie ist nicht – um sich des berühmten Bildes aus Lessings Nathan der Weise zu bedienen – der wahre Ring, von dem die Ringe des Judentums, Christentums und Islam lediglich Kopien wären. „Der wahre Ring, vermutlich, ging verloren“, sagt der weise Richter in Lessings Drama – und trägt damit der Wahrheit Rechnung, dass jede Religion immer nur eine mögliche Perspektive auf das Ewige und Grenzenlose eröffnen kann, es nie aber vollständig und ganz zu fassen bekommt. Globale Spiritualität – um im Bilde zu bleiben – gleicht eher dem Golde, aus dem ein jeder Ring gefertigt wurde. Sie ist die Substanz, die jede konkrete Religion und jede Weisheitslehre, ja jede einzelne Frau und jeder einzelne Mann, auf ihre ganz besondere Weise gestaltet und formt. Und die folglich in jeder Religion und jeder Weisheitslehre jederzeit präsent ist.

Globale Spiritualität ist immer plural. Sie ist nicht eine transkonfessionelle Spiritualität, die in einem evolutionären Überstieg über die bekannten konfessionellen Spiritualitäten der bekannten Religionen hinausführte in eine übergeordnete, gemeinsame Sphäre. Globale Spiritualität – so verstanden – wäre zumindest nicht das, was das Gros der Gesprächspartner dieses Buches nahelegt. Und das scheint mir gut so. Denn eine konfessionsneutrale globale Spiritualität wäre keine verlockende Perspektive. Schlimmstenfalls wäre sie eine Art Airport-Spiritualität, die – ganz wie die Duty-Free-Shops in den Flughäfen aller Herren Länder – überall auf der Welt gleich aussehen würde: steril, gesichtslos, langweilig.

Globale Spiritualität, wie sie mir und einigen meiner Gesprächspartner vorschwebt, ist anders: Sie ist bunt, vielgestaltig, sinnenfroh. Sie hat viele Gesichter und existiert nur in ihnen. Sie spricht viele Sprachen und ist kein Esperanto. Sie ist nicht eine die Religionen und Weisheitslehren getrennt zurücklassende Spiritualität, sondern sie ist eine die Religionen und Weisheitslehren tragende und verbindende Spiritualität, die sich aus der immer neuen und immer anderen Religio an das Heilige Sein dieser Welt speist. Sie ist nicht transkonfessionell, sondern subkonfessionell. Damit meine ich: Sie ist der Wurzelgrund, der Humus, aus dem die vielen schönen Gewächse der jeweiligen Religionen und Weisheitslehren hervorgegangen sind und hervorgehen werden. Sich diesem Grund zuzuwenden, bedeutet deshalb immer: sich vertiefen in die Wurzeln des eigenen Baumes, sich annähern an die Quelle des eigenen Stroms, sich vorwagen zu den Fundamenten des eigenen Hauses, sich hinzugeben an den tragenden Grund allen Lebens: das Heilige Sein dieser Welt. Globale Spiritualität – um es mit dem Theologen Paul Tillich zu sagen – vollzieht nicht nur den Schritt von der Oberfläche der Konfession in die Tiefe der Erfahrung: sie meint darüber hinaus die Erfahrung der Tiefe unseres und aller Dinge Sein.

Und das ist es, was das Zu-Bewusstsein-Bringen der ursprünglichen Religio und einer globaler Spiritualität zu dem wohl einzigen tragfähigen Fundament für das interreligiöse Gespräch macht. Kurz vor seinem Tod sagte mir in unserem letzten Gespräch mein damals 100jähriger Lehrer Hans-Georg Gadamer, die philosophische Aufgabe zu Beginn des 21. Jahrhunderts sei es, eine Hermeneutik des interreligiösen Dialogs zu entwickeln – das heißt: die Grundlagen zu klären, auf denen eine wirkliche Verständigung zwischen Menschen unterschiedlicher kultureller und religiöser Prägungen gelingen kann. Aus Gadamers Mund war das eine echte Herausforderung: Die von ihm entwickelte philosophische Hermeneutik bietet wenig Anhaltspunkte für die Lösung dieser Aufgabe, hatte Gadamer doch mit Virtuosität gezeigt, wie sehr das Verstehen darauf angewiesen ist, dass Menschen einen gemeinsamen geschichtlichen und kulturellen Bezugsrahmen haben; eine Voraussetzung, die in der interreligiösen Begegnung nun aber gerade nicht gegeben ist. Denn der interreligiöse Dialog ist gerade dadurch qualifiziert, dass in ihm unterschiedliche Bezugsrahmen aufeinandertreffen. Ihm fehlt der gemeinsame Horizont, vor dem Verständigung geschehen kann. Weshalb sie wohl auch so oft ausbleibt beziehungsweise gar nicht erst versucht wird. Denn nur allzu oft lässt es der real existierende interreligiöse Dialog daran vermissen, dass in ihm wirkliche Verständigung über zentrale Fragen zu Gott und der Welt gesucht wird. Allzu oft findet unter dem Label „interreligiöser Dialog“ stattdessen ein gar zu fruchtloser Austausch von Wahrheitsansprüchen und Argumentationen statt, der weder der einen noch der anderen Seite irgendeine neue Einsicht, geschweige denn irgendein tieferes Verstehen eröffnen könnte.

Anders aber ist es, wenn sich die Gesprächspartner auf ihre persönliche Erfahrung beziehen und dabei ihren heimischen Bezugs- und Deutungsrahmen hintanstellen. Das kann zwar nie vollständig geschehen, aber – wie die Gespräche in diesem Buch bezeugen – doch zu einem hohen Maße. Und wenn dies geschieht, dann öffnet sich darin hinter den jeweiligen Bezugsrahmen und trotz aller Individualität der Erfahrung doch ein gemeinsamer, menschlicher Horizont, der nicht nur wechselseitiges Verstehen ermöglicht, sondern darüber hinaus ein tieferes Verständnis von Mensch, Welt und Gott zulässt: ein Verständnis, das aus der Erfahrung des einen und umfassenden Heiligen Seins der Welt erwächst.

Von dieser Erfahrung reden alle meine Gesprächspartner. Und das Wunderbare dabei ist: Sie alle stimmen darin überein, dass diese Erfahrung das Herz öffnet und das Bewusstsein weitet. So sehr weitet, dass es die ganze Erde umspannt. So weit, dass es das Ganze umfasst. So weit, dass es die Verbundenheit von allem mit jedem spürt und sich die daraus erwachsene Verbindlichkeit zu Herzen nimmt. Eine aus der Religio an das Heilige Sein der Welt gewachsene globale Spiritualität erweist sich hier als die Tiefendimension jeder spirituellen oder religiösen Tradition, in der die Verbundenheit unserer spirituellen oder religiösen Traditionen zu Bewusstsein kommt. Und nicht nur zu Bewusstsein kommt, sondern mit einem achtsamen und offenen Herzen umarmt wird. Wenn es Worte gibt, in denen globale Spiritualität zur Sprache kommen kann, dann sind es Konversation, Empfänglichkeit, Liebe und beherztes Handeln. Eine Konversation mit dem, was ist; eine Empfänglichkeit, die ins Hier und Jetzt führt, eine Liebe, die nichts negiert und alles integriert – die in doppelter Hinsicht global ist: weil sie alles umschließt und weil sie allem zugrunde liegt; und weil sie die Erde mit der auf ihr lebenden Menschheitsfamilie und sie beseelenden Natur als Gegenüber ihres beherzten Handelns liebt.

Wenn dieses Buch für eine globale Spiritualität wirbt, dann meint es damit diese Spiritualität der Konversation mit und der Liebe zu dieser Welt. Diese Spiritualität ist nicht jenseits der Religionen und Weisheitslehren. Sie maßt sich nicht an, diese evolutionär zu überwinden. Vielmehr weiß sie sich zuhause in vielen Häusern. Und jedes von ihnen liebt sie beherzt und offen – ohne dass sie dabei ihre je eigene Herkunft verleugnen müsste.

Dieses Buch versteht sich mithin als Einladung zu einer neuen Religio – einer Konversation und mit dem Sein dieser Welt und einer Spiritualität, die sich von ihm begeistern lässt; als Einladung: dort, wo Sie gerade stehen, in die Tiefe zu gehen, den Schutt abzutragen und die reine Essenz ihrer Lebendigkeit zu entdecken. Es ist eine Einladung, eingeschliffene Gedankenmuster loszulassen und das Herz zu öffnen. Wenn Sie das tun, haben Sie bereits einen ersten Schritt in Richtung globale Spiritualität vollzogen. Sie machen sich weit und hören auf die Worte von Priestern, Schamanen, Gelehrten – auf Worte von Christen, Muslimen und Juden, auf Worte von Buddhisten und auf Worte von Menschen, die in keiner Religion zuhause und dabei doch religiös sind.

Die Auswahl meiner Gesprächspartner folgt keinem Plan. Und sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie hat sich aus Begegnungen ergeben, die mir im Verlaufe zweier Jahre geschenkt wurden. Und sie vertraut darauf, dass globale Spiritualität nicht daran gebunden ist, dem üblichen Proporz zu folgen. Dass kein Repräsentant hinduistischer Spiritualität darunter war, schmerzt mich dennoch. Dass nur zwei Frauen zu Wort kommen, ebenso. Auch wüsste ich Dutzende zu nennen, die ich gerne für dieses Buch gewonnen hätte. Aber so sollte es nicht sein. Und am Ende ist das wohl auch ganz gut so. Denn diejenigen, deren Gedanken Sie hier finden, sind genau die Richtigen. Sie sind es vor allem dann, wenn sie – wie Seàn ÓLaoire oder Claudio Naranjo – der Idee einer globalen Spiritualität eher kritisch gegenüberstehen.

Überhaupt werden Sie erhebliche Differenzen und Unterschiede zwischen den einzelnen Protagonisten dieses Buches finden. Ich habe mich darüber sehr gefreut, denn gerade darin zeigt sich auf eindrucksvolle Weise die besondere Qualität dessen, was eine globale Spiritualität auszeichnet: dass sie Widersprüche und Differenzen zulassen – ja: sich an ihnen erfreuen – kann; dass sie den Facettenreichtum der Wahrheit anerkennt; dass sie nicht auf Einheit starrt, sondern den Einklang liebt. Liebt – denn weil sie in ihrer Essenz in den Augen aller Gesprächspartner Liebe ist – nur deshalb ist sie kraftvoll und beseelt. Sie ist – um ein altes Bild von Nikolaus von Kues zu verwenden – eine coincidentia oppositorum: der Zusammenfall der Gegensätze; die Harmonie des Geistes, die viele Stimmen so zusammenstimmen lässt, dass jede darin ihre Schönheit entfalten und sich gleichzeitig in die Schönheit des Ganzen fügen kann.

Genauso die Stimmen meiner Gesprächspartner. Jeder und jedem von ihnen bin ich von Herzen dankbar. Ich durfte von ihnen so viel lernen. Jedes Gespräch geriet zu einem Fest. Ich wünsche mir und Ihnen, dass die Begeisterung, die mich oft erfüllte, auf sie überspringt. Und ich wünsche mir und Ihnen, dass diese Begeisterung Ihnen Lust darauf macht, den achtsamen und liebevollen Austausch mit Menschen anderer Religionen und Kulturen zu suchen – und beherzt dafür einzutreten, dass das Leben auf Erden in Schönheit erblüht.

Willigis Jäger

Ich bin ein Tanzschritt, und Gott ist der Tanz

Alle Religionen weisen über sich selbst hinaus in die Erfahrung eines namenlosen Urgrundes, der sich in jedem einzelnen Wesen manifestiert. Diesen Urgrund zu erfahren ist Mitte und Essenz einer transkonfessionellen und globalen Spiritualität, sagt der Zen-Meister und Benediktiner-Pater Willigis Jäger.

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Willigis, Sie sind ein Benediktiner, der sich mehr und mehr der Kirche ab- und einer transkonfessionellen Spiritualität zugewandt hat. Wo liegt das Problem der Kirchen?

Die Kirchen befinden sich in einer großen Krise. Sie ahnen nicht einmal, dass sich die Tradition, die sie verkörpern, erschöpft hat. Die Menschheit von heute hat ein vollkommen anderes Weltverständnis und Menschenbild als das, was die Kirchen verkünden. Gehe ich in eine Kirche, dann fühle ich mich ins 14. oder 15. Jahrhundert zurückversetzt. Ich finde Pfarrer und Priester, die weder bereit noch willens sind, sich auf das vollkommen andere und neue Weltbild der Gegenwart einzustellen. Ich hingegen versuche den Menschen Jesus Christus und das Christentum so zu deuten, dass es in ihre Welt im 21. Jahrhundert passt.

Wie beschreiben Sie dieses neue Weltbild?

Das neue Weltbild ist nicht zuletzt geprägt von den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft. Wir wissen, dass unsere Welt nur ein Wimpernschlag des Universums ist. Es gab uns nicht und wird uns eines Tages in dieser Form auch nicht mehr geben. Mit diesen Erkenntnissen stellt sich völlig neu die Frage: Woher kommen wir? Wer sind wir eigentlich? Warum sind wir da? Was sollen diese wenigen Augenblicke in einem zeitlosen Universum? Aber auf diese Fragen geben unsere Kirchen keine zufriedenstellende Antwort mehr.

Sollten es aber?

Natürlich! Wenn es eine Aufgabe der Religionen gibt, dann ist es diese: Die Menschen in eine neue Erfahrungsebene führen, von der und aus der sie Antworten auf ihre Sinnfragen finden.

Was ist das für eine Erfahrungsebene – und worin unterscheidet sie sich von unserer Alltagserfahrung?

Wir haben uns aus einem prähominiden Leben in ein magisches, mythisches und mentales Bewusstsein entwickelt. Wir werden da nicht stehen bleiben. Immer mehr Menschen erfahren eine Ebene, die eine rationale Deutung übersteigt. Es ist die mystische Ebene, die alle Religionen kennen, aber zu wenig vermitteln. Kaum war die Fähigkeit da, Ich und Du zu sagen, hat Kain den Abel erschlagen. Dieser Mythos ist auf entsetzliche Weise bis heute Wirklichkeit. Es ist der Mythos der Dualität: Hier Ich, dort Du. Dieses Denken prägt unser alltägliches Leben. Es bestimmt unser Handeln. Unsere ganze Wirtschaft lebt davon. Es gibt eine Ebene, sagen uns alle Weisen, die in uns Menschen angelegt ist, die unsere Rationalität übersteigt. Sie muss nur offengelegt, erschlossen werden.

Warum bleibt diese Erfahrungsebene oft unbeachtet?

Sie wird zumeist überlagert von unserer Ich-Aktivität. Damit ist nichts gegen die Ich-Aktivität gesagt. Sie macht uns zu Menschen, sie ist kostbar. Gleichzeitig aber schränkt sie uns ein. Das zu verstehen, das anzuerkennen, fällt den Menschen ungeheuer schwer. Weil sie sich mit ihrem Ich identifizieren. Wissenschaftler, Theologen, selbst Psychologen – sie alle weigern sich einzusehen, dass unser Ich uns eine bestimmte Weltsicht aufzwingt, die nun gerade nicht die wirkliche Wirklichkeit ist.

Und es wäre Aufgabe einer zeitgemäßen Spiritualität, diese Weltsicht in ihrer Vorläufigkeit bloßzustellen und Wege zur wahren Wirklichkeit zu bahnen?

Ja, wir müssen lernen, den Vorhang des Ich-Bewusstseins durchsichtig zu machen. Damit wir erkennen und begreifen, was unser eigentliches Wissen und unser eigentliches Wesen ist.

Wie geht das?

Es gibt uralte Wege, die zu allen Zeiten den Menschen geholfen haben, das Ich-Bewusstsein zu durchstoßen und eine andere Ebene zu erreichen. Diese Wege zielen häufig auf eine Bewusstseinsvereinheitlichung. Dafür laden sie ein zur Fokussierung unseres Geistes: Ich muss mein streunendes Bewusstsein binden – etwa an einen äußeren Fokus oder an den Fluss meines Atems oder an einen Laut, einen Schritt. Man bemüht sich, bei diesem Fokus zu bleiben und nicht mit seinem Bewusstsein ständig davonzulaufen. Das ist schwierig. Denn das Ich bietet uns alle drei Sekunden etwas anderes an, mit dem wir uns beschäftigen sollen; ob wir wollen oder nicht. Wir sind nun einmal nicht Herren im eigenen Haus. Wir werden gelebt. Das zu durchschauen ist der erste Schritt auf dem Weg.

Auf den ein zweiter folgt.

Genau. Wem es gelingt, bei einem Fokus zu bleiben, der erfährt, dass das Ich dabei langsam in diesen Fokus einschmilzt; und dass da am Ende keiner mehr ist, der von dem Fokus unterschieden wäre: kein Atmender, der den Atem beobachtet, stattdessen nur noch Atem und Einheit. Wo dieser Zustand erreicht ist, öffnet sich unser Bewusstsein in einen umfassenderen Hintergrund. Und mit dem Bewusstwerden dieses umfassenderen Hintergrunds stellt sich eine neue Deutung des Lebens ein. Diese Deutung ist anders als das, was uns Intellekt und Wissenschaft nahelegen. Es ist ein umfassendes Verständnis der Einheit von allem und eine ganz neue Wertung unserer personalen Existenz.

Ein Verständnis, bei dem religiöse oder spirituelle Prägungen nebensächlich werden?

Es geht um das Eintauchen in die wahre Wirklichkeit. Es geht um das Bewusstwerden des eigentlichen Urgrundes meiner Existenz – um eine Bewusstheit, um eine reine Potenz, die in einer vorpersonalen oder transpersonalen Ebene liegt. Sie lässt uns begreifen, dass wir eine Manifestation eines zeitlosen Urgrundes sind, die Inkarnation eines rational nicht begreifbaren Geschehens. Das zu begreifen und daraus zu leben, wäre die Aufgabe. „Gott will gelebt, nicht verehrt werden.“

„Gott will gelebt werden.“ Ist das die Summe der Spiritualität?

Ja, Gott will nicht verehrt werden, Gott will leidenschaftlich gelebt werden. Gott ist ein Tanz, und ich bin ein Schritt seines Tanzes. Der Sinn meines Lebens liegt darin, mich als dieser Tanzschritt zu erleben – ja, zu begreifen, dass ich selbst „Mittänzer“ bin. Oder in einem anderen Bild: Ich bin die Welle des „Ozeans Gott“. Der eine Urgrund, Gottheit, Gott, Leerheit – das ist der Ozean. Von oben gesehen ist der Ozean nicht mehr als eine Ansammlung von Wellen. Aber wenn ich ihn von unten sehe, begreife ich sofort, dass alle Wellen Ozean sind. ER/ES drückt sich aus in Formen und Strukturen, die aber alle nichts anderes sind als der eine Ozean. Das ist das Entscheidende: dass ich mich erfahre als eine Ausdrucksform dieses einen Urgrundes, dieser strukturlosen Potenz, die wir Christen Gott nennen, den Zen Leerheit nennt. Diese Erfahrung ist für mich die globale Spiritualität – die Spiritualität, in die jede Konfession führen sollte.

Was meinen Sie, wenn Sie von Konfessionen reden?

Konfessionen weisen drei unterschiedliche Dimensionen auf. Sie haben eine institutionelle Dimension: Kirchen, Gemeinschaften; aber auch Liturgien und Gebäude. Die zweite Dimension nenne ich die intellektuelle Ebene. Konfessionen entwickeln theologische Systeme, philosophische Lehren, Dogmen und Katechismen. Auf diese Weise versuchen sie, den Menschen intellektuell etwas zu sagen. Darüber hinaus aber haben sie alle eine dritte Dimension: die Dimension der Erfahrung und der Mystik. Diese Dimension vernachlässigen die Religionen zumeist. Dabei sollten sie genau dorthin führen. Denn dort ist ihre eigentliche Einheit. Und in dieser Einheit überschreiten sie sich selbst. Diese dritte Ebene – die Ebene der mystischen Spiritualität – ist transkonfessionell und global.

Wie wirkt sich diese Erfahrung, diese globale Spiritualität auf das Miteinander der Menschen auf unserem Planeten aus?

Wenn Menschen – egal welcher Tradition – in die höhere Bewusstseinsebene durchbrechen (oder doch wenigstens eine Ahnung davon bekommen), dann erfahren sie Einheit. Sie spüren, dass sie nicht isoliert sind. Sie erleben sich als eine Masche in dem großen Netz des Lebens. Diese Einheitserfahrung mündet in eine universale Liebe. Diese Liebe ist nicht die Liebe zu diesem oder jenem, sondern sie ist eine existenzielle Verbundenheit, die das Leid anderer Menschen spürt und als eigenes Leid erfährt. In dieser bedingungslosen Liebe besteht kein Zweifel daran, dass ich in Wahrheit mir selbst helfe, wenn ich dem anderen beistehe. Und im Bewusstsein dieser existenziellen Verbundenheit begreife ich, dass das Grundprinzip des Lebens und der Evolution nicht darin besteht, den Gegner auszuschalten oder zu bezwingen, sondern in der Kooperation. Das Leben besteht nur da fort, wo sich Wesen in Liebe verbunden wissen. Nicht der mit dem giftigsten Stachel und dem größten Gebiss hat in der Evolution überlebt, sondern das Biotop. Liebe meint jene Einheitserfahrung, die dem Menschen seine Verbundenheit bewusst werden lässt, – auch dort, wo andere Ansichten aufeinanderstoßen; auch dort, wo wir einer anderen Kultur angehören. Die Erfahrung der Einheit bedeutet nicht, dass mir fortan alle Katzen grau sind. Differenzen hören nicht auf zu existieren – aber sie werden doch integriert in einem gemeinsamen Weg, der keinen ausklammert oder diffamiert.

Könnte man sagen, dass die Erfahrung der Verbundenheit dann auch ein Bewusstsein einer Verbindlichkeit schafft, die nicht aus moralischen Imperativen kommt, sondern aus der Tiefe des Seins?

Die Moral mit all ihren Regeln und Empfehlungen hat uns keinen Schritt weitergebracht. Im Gegenteil: Sie hat unsere Egozentrik verstärkt und damit viel Unheil über die Menschen gebracht. Wenn unsere Spezies zu einem einvernehmlichen Leben finden und gut in die Zukunft kommen will, dann muss sie über das duale Denken und all seine Moral hinausfinden in die Erfahrungsdimension einer globalen Spiritualität. Wenn wir diesen Schritt nicht gehen, dann fallen wir über den Rand. Es gab uns nicht immer in diesem Universum. Und es wird eine Zeit kommen, in der es uns nicht mehr geben wird.

Wie verhält sich globale Spiritualität zu dem, was wir als interreligiösen Dialog kennen?

Alle interkonfessionellen und interreligiösen Gespräche sind wichtig. Die Religionen sollen ihre Lehrgebäude und äußeren Formen behalten. Aber sie müssen doch begreifen, dass ihre Lehren und Sichtweisen nicht die letzten und abschließenden Deutungen des Lebens sein können. Sie müssen erkennen, dass ihre Lehrgebäude über sich hinausweisen in eine Erfahrungsebene, die unser Alltagsbewusstsein übersteigt – und von der ich glaube, dass sich unsere Spezies evolutionär zu ihr hin entwickelt.

Globale Spiritualität ist für Sie also eine Dimension, die in den Religionen und Konfessionen als Erfahrungsdimension angelegt ist, die aber über die Engführungen der konfessionellen Dimension der Religionen hinausgeht?

Genau so ist es. Globale Spiritualität lässt alles Intellektuelle zurück. Allerdings steht sie dabei immer vor der Schwierigkeit, die überintellektuelle Erfahrungsdimension auf der intellektuellen Ebene verbalisieren zu müssen. Das macht es so schwierig, sie zu vermitteln. Es ist nicht leicht, einem Menschen zu erklären, dass es etwas gibt, das über alles ihm Be- kannte hinausführt. Andererseits steckt die Ahnung von der Erfahrungsdimension in vielen Menschen.

Woran erkennen Sie das?

Ich erkenne am Menschen oft sehr viel mehr, als er sagt. Eine tiefe Erfahrung führt in eine umfassende Liebe. Oft sind Menschen zutiefst erschüttert und sehen sich, ihr Leben und das ihrer Mitmenschen ganz neu. Viele sind über 40 Jahre alt. Die Kinder sind aus dem Haus, und die Frage bricht auf: Was nun? Kommt noch etwas? Soll das alles gewesen sein? Und dann stellen sie fest, dass nichts mehr kommt; dass sie nichts mehr zu erwarten haben. Viele stürzen sich dann ins Leben hinein, immer auf der Suche nach einem besonderen Kick. Aber letztlich ist darin keine endgültige Sinndeutung des Lebens zu erkennen. Und sodann stellt sich die Frage nach einer guten Deutung des Lebens aufs Neue. Immer mehr Ungetaufte kommen in unsere Kurse und viele, die aus den Kirchen ausgetreten sind. Dort erhalten sie keinerlei Hinweise auf eine mystische Erfahrungsdimension, aus der allein die Frage nach dem Sinn des Lebens eine wirkliche Antwort erhält.

Warum?

Weil sich vor allem in der transrationalen Erfahrung die Deutung erschließt, und auch die Frage nach Tod und Weiterleben von dort her beantwortet werden kann. Der Tod ist nicht das Ende, sondern ein Neubeginn auf einer anderen Ebene. Vielleicht entwickeln wir uns als Menschen einmal so weit, dass wir unseren Tod feiern wie eine Geburt, weil wir erfahren, dass das Leben weitergeht. Leben kann nicht sterben. Das ist die Botschaft der Auferstehung.

Und dieses Wissen steht allen Menschen offen – unabhängig davon, in welcher religiösen oder kulturellen Tradition sie aufgewachsen sind?

Die Erfahrung steht jedermann offen. Allerdings braucht es dafür eine Horizonterweiterung. Es bedarf einer inneren Reife. Viele Menschen befinden sich noch auf einer magisch-mythischen Bewusstseinsstufe. Sie tun sich schwer, eine ihr rationales Begreifen übersteigende Wirklichkeit wahrzunehmen. Oft wird der Mensch nur durch Krisen und Schicksalsschläge auf die Einsicht gestoßen, dass Leben mehr ist als das, was sie bisher kannten – dass da noch etwas sein muss, was ihnen in diesem zeitlosen Universum wirklich Halt und Deutung geben kann.

Dann müsste ja eigentlich die aktuellen Weltkrisen eine gute Gelegenheit dafür sein, dass Menschen innerlich aufbrechen und neu nach dem Sinn ihres Daseins fragen.

Krisen und Scheitern sind für mich ein Aufruf, neu zu beginnen: „Du musst nach Sinn und Erfüllung tiefer suchen, als du es bislang getan hast!“ Krisen sollen uns aufwecken und in eine andere Richtung führen. Scheitern ist für mich nichts Negatives, sondern eine Chance zum Neubeginn. Es scheint mir zum Bewusstseinswandel beizutragen, wenn Menschen in einer Wirtschaftskrise lernen, dass ein Konkurs nicht nur negativ gesehen werden muss und nicht das Ende bedeutet – dass er vielmehr trotz finanzieller Einbußen ein Neubeginn sein kann.

Doch dafür braucht es Seelsorger, die Menschen in der Krise begleiten und ihnen diese Perspektiven vermitteln. Sind hier nicht doch die Kirchen gefragt – oder gar in der Pflicht?

Die Kirchen geben Hilfestellung, aber ihre Aufgabe wäre es, die Menschen über ihre Lehre auch in die Erfahrung zu führen. Die spirituellen Gruppierungen außerhalb der Kirchen werden immer zahlreicher, weil die Kirchen diese ihre Aufgabe versäumen. Daher sehe ich im Benediktushof einen zentralen Auftrag, Menschen in Krisen und Neuorientierungsphasen zu unterstützen und ihnen die nächste Ebene unseres Menschseins zu erschließen, auf der die wirkliche Deutung unseres Lebens zu finden ist.


Wie tun Sie das?

Wir halten Kurse und lehren die Menschen die alten hergebrachten spirituellen Wege. Sie führen in eine Tiefendimension, die über das Rationale hinausgeht und dem Leben eine tiefere Deutung geben, um daraus dann das individuelle Leben als Inkarnation des göttlichen Urgrundes zu leben. Die Erfahrung bringt ein absolutes Ja zum Leben. „Gott will gelebt und nicht verehrt werden.“

Willigis Jäger, geb. 1925 in Hösbach

Zen-Meister, Konteplationslehrer und
Benediktinermönch. Er verkörpert eine
konfessionsunabhängige zeitgenössische Spiritualität
und ist Begründer des Seminarzentrums Benediktushof
in Holzkirchen

www.benediktushof-holzkirchen.de

Thich Nhat Hanh

Vor allem eines – Achtsamkeit

Nur wenn wir lernen, achtsam miteinander umzugehen und bewusst zu konsumieren, haben wir eine Chance, diesen Planeten zu retten. Achtsamkeit ist die Essenz aller Weisheitstraditionen, meint der buddhistische Mönch und Weisheitslehrer Thich Nhat Hanh.

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