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1. Auflage
© 2018 Albino Verlag, Berlin
Salzgeber Buchverlage GmbH
Prinzessinnenstraße 29, 10969 Berlin

julian mars

lass uns
von hier
verschwinden

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Für Dich.

All alone in the danger zone
Are you ready to take my hand?

Blanche: «City Lights»

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Ich denke oft, dass das Leben doch viel schöner wäre, wenn es mehr Ähnlichkeit damit hätte, auf der Couch zu liegen und Netflix zu schauen. Auf jeden Fall käme man dann besser damit klar, und das liegt nicht nur daran, dass man in beschissenen Situationen einfach vorspulen könnte. Und die besonders schönen immer wieder erleben. Man könnte sich das Genre aussuchen, jeden Tag aufs Neue. Und man könnte sich vor allem darauf verlassen, dass einem der ganze Scheiß, mit dem man sich rumschlagen muss, in Portionen serviert wird, die man gerade noch irgendwie verdaut bekommt. Weil spätestens nach vierzig Minuten erst mal Schluss ist und man sich dann entscheiden kann, ob man noch fit genug ist für die nächste Runde. Oder ob man erst mal von allem eine Pause braucht.

Wenn ich aber eine Sache gelernt habe bisher, dann diese: Das echte Leben läuft eben nicht auf Netflix, und es besteht erst recht nicht aus einer Staffel im Jahr mit einem Cliffhanger pro Folge.

Im echten Leben passiert oft lange gar nichts.

Und dann alles auf einmal.

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Seit wir uns in den Ferien nach der vierten Klasse mit einem Perlenohrring meiner Mutter in die Zeigefinger gestochen und sie dann ganz fest aneinandergedrückt haben, ist Emilie mehr als meine beste Freundin. Sie ist meine Schwester.

«Jetzt sind wir blutsverwandt, Felix», hat sie damals gesagt. Und mir danach feierlich erklärt, was das bedeutet. Dass wir immer verbunden sein werden nämlich, auch wenn wir uns mal streiten. Und gestritten haben wir uns wirklich genug in den letzten siebzehn Jahren. Es gab sogar Phasen, in denen wir uns nicht mal besonders gut leiden konnten. Aber wir haben beide nie daran gezweifelt, dass zwischen uns diese ganz besondere Verbindung besteht. Für immer.

Ist natürlich kindisch, das nur auf die eine Sache mit dem Perlenohrring zu schieben. Und trotzdem ist es immer wieder diese Szene, die mir in den Sinn kommt, wenn ich über mein Verhältnis zu Emilie nachdenke. Dann sehe ich wieder dieses Mädchen mit dem Porzellangesicht, der Zahnlücke und dem blutenden Finger vor mir, das schon damals so schön war wie die Frau, die inzwischen aus ihm geworden ist. Obwohl es sich seltsam anfühlt, Emilie eine Frau zu nennen. Denn das würde ja bedeuten, dass aus mir ein Mann geworden sein muss. Ist ein komisches Wort, oder? Weil es so unumkehrbar erwachsen klingt, so nach «Er weiß immer, was zu tun ist». Dabei habe ich immer noch in erschreckend vielen Situationen nicht die geringste Ahnung, was zu tun ist.

Ich habe schon immer dazu geneigt, im Zweifelsfall den Kopf einzuziehen und einfach gar nichts zu machen, außer zu hoffen, dass sich alles irgendwie von selber regelt. Früher hat das sogar meistens funktioniert. Aber vielleicht ist das tatsächlich eines der ersten Anzeichen dafür, dass man erwachsen geworden ist: Wenn es immer mehr Situationen gibt, in denen man sich nicht mehr einfach wegducken kann, sondern sich entscheiden muss. Weil es niemanden mehr gibt, der einem das im Zweifelsfall abnimmt. So wie heute Nachmittag.

«Also los», sage ich, als Emilies Zug in den Bahnhof einfährt. «Umdrehen, damit ich dich noch mal umarmen kann.» Sie dreht mir folgsam den Rücken zu, und ich greife um sie herum und lege meine Hände auf ihren kugelrunden Bauch. «Wenn wir uns das nächste Mal sehen, bist du vielleicht schon eine Mama», flüstere ich ihr ins Ohr. Um sie zu ärgern.

«Mein Opa hat immer zum Abschied gesagt: ‹Wenn wir uns das nächste Mal sehen, bin ich vielleicht schon tot›», antwortet sie und macht sich von mir los, weil es Zeit zum Einsteigen ist. «Kann man jetzt drüber streiten, welche Aussicht die deprimierendere ist.»

«Tja», sage ich, während sie sich die zwei Stufen in den ICE hochkämpft. «Das Gute ist, dass wir das ja bald erfahren werden.» Ich reiche ihr die Reisetasche und versuche, ein zuversichtliches Gesicht dabei zu machen. «Kopf hoch, Em. Das haben schon ganz andere vor dir geschafft», schiebe ich noch schnell hinterher, obwohl ich schon in derselben Sekunde denke, dass sich von blöden Floskeln auch kein Mensch was kaufen kann. «Gute Fahrt. Und grüß Hamburg von mir.»

Ihre Antwort ist dieser typische Emilie-Blick, den ich schon seit zwanzig Jahren kenne und den ich auch in den letzten Tagen oft bei ihr gesehen habe: Eine Mischung aus Konzentration, Angst und einem unterdrückten Gähnen, die nur bedeuten kann, dass sie mit sich kämpft, weil sie mir irgendwas sagen will, aber es mal wieder nicht über die Lippen bringt. Doch jetzt ist es zu spät.

Vom Bahnsteig aus schaue ich dabei zu, wie sie sich auf ihren reservierten Fensterplatz setzt, und ich warte darauf, dass sie noch einmal zu mir rausschaut, damit ich ihr zum Abschied winken kann. Aber das tut sie nicht, obwohl sie genau weiß, dass ich noch da stehe. Stattdessen greift sie nach ihrem Handy und starrt angestrengt auf den Bildschirm.

Emilie war schon immer ein merkwürdiger Mensch. Ich kenne niemanden, der so gerne und vor allem so ausdauernd Geschichten erzählt wie sie, egal ob über ihren Arbeitstag, diese unverschämte Alte im Supermarkt oder über dieses wahnsinnig scharfe Kleid, das sie sich geleistet hat. Nur wenn es um die wichtigen Dinge geht, die echten Sorgen im Leben, habe ich mich schon lange daran gewöhnt, dass sie mich an dem, was in ihr vorgeht, nur in wohlüberlegten Dosen teilhaben lässt. Und das in der Regel auch erst dann, wenn sie alles schon längst mit sich selbst ausgemacht und abgehakt hat, sodass mich die meisten echten Neuigkeiten aus ihrem Leben erst mit ein paar Lichtjahren Verspätung erreichen. Wie bei einem Stern, der in weiter Ferne vor sich hin funkelt.

Von ihrer Schwangerschaft hat sie mir erst erzählt, als sie sicher war, dass sie das Kind behalten würde. Und wer weiß, wenn sie sich anders entschieden hätte, hätte ich möglicherweise nie davon erfahren. Man muss vielleicht dazusagen, dass Emilie keine besonders gute Schauspielerin ist. Normalerweise merke ich ziemlich schnell, wenn sie irgendwas beschäftigt. Aber wenn ich dann nachfrage, kriege ich immer die gleiche Antwort: «Ach, Honey, das renkt sich schon wieder ein», sagt sie nur und wuschelt mir lächelnd durch die Haare, bevor sie das Thema wechselt.

Und das beruhigt mich jedes Mal zumindest ein bisschen, weil ich dann weiß, dass ihr Problem so schlimm nicht sein kann. Emilie ist der einzige Mensch, der mich Honey nennen darf. Damit hat sie angefangen, nachdem ich ihr erzählt hatte, dass ich schwul bin, an ihrem siebzehnten Geburtstag. Und von diesem Privileg macht sie ausufernden Gebrauch. Felix nennt sie mich nur, wenn es ernst wird, für mindestens einen von uns beiden. Und solange sie noch nicht so verzweifelt ist, denke ich mir immer, ist wahrscheinlich alles noch mehr oder weniger in Ordnung.

Mein Handy klingelt, als ich mich gerade auf die Rolltreppe stelle, die vom Gleis in die Bahnhofshalle führt. Ich ziehe es aus der Hosentasche und sehe, dass Emilie anruft. Also drehe ich mich schnell wieder um und mache einen großen Schritt zurück auf den Bahnsteig. Ich schaue zu ihrem Zug, der sich gerade langsam in Bewegung setzt.

«Alles okay?», frage ich, nachdem ich den Anruf angenommen habe. Zwei Sekunden lang kann ich sie noch sehen, bevor sie aus meinem Blickfeld rollt. Doch sie schaut mich immer noch nicht an.

«Felix, eigentlich wollte ich dich die ganze Zeit was fragen», sagt sie dann, und ihre Stimme klingt dabei so brüchig, dass mir auf einmal ganz flau wird im Magen. «Aber ich hab mich nicht getraut.»

«Ist mir gar nicht aufgefallen.» Ich lehne mich vorsichtshalber an die nächste Betonsäule. «Und traust du dich jetzt?»

Ein paar Sekunden lang ist es still in der Leitung, dann höre ich sie Luft holen. «Ich bin dir nicht böse, wenn du nicht möchtest, okay?», sagt sie schließlich. «Und du darfst mir auch nicht böse sein, dass ich dich überhaupt frage. Aber möchtest du der Vater meines Kindes werden?»

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Das alles aufzuschreiben, war Annas Idee. Im Gegensatz zu Emilie ist Anna meine richtige Schwester, auch wenn sie sich eher aufführt, als wäre sie meine zweite Mutter. Und das liegt nur zum Teil daran, dass sie volle zehn Jahre älter ist als ich. Aber ich beschwere mich gar nicht, denn auch wenn ich es ihr gegenüber niemals zugeben würde, weiß ich ganz genau: Es waren nicht zuletzt Annas großzügig dosierte therapeutische Arschtritte, die dafür gesorgt haben, dass ich inzwischen sowas Ähnliches wie erwachsen bin. Zumindest habe ich mich bis heute Nachmittag so gefühlt. Also bis zu dem Moment, in dem Emilie sich entschieden hat, mal eben die Probe aufs Exempel zu machen.

Es war dann auch Anna, die ich als Erstes angerufen habe. Ich lehnte immer noch an dieser Betonsäule und hielt mir mit zitternden Fingern das Handy ans Ohr.

«Hey, was machst du gerade?», fragte ich, nachdem sie ans Telefon gegangen war. «Kann ich kurz bei dir vorbeikommen?»

«Dann hat sie dich also tatsächlich gefragt?»

«Du wusstest davon?», rief ich einmal über den halben Bahnsteig. Tolles Gefühl, offenbar der Letzte zu sein, der von diesem grandiosen Plan erfuhr. Doch ich war vor allem überrascht, weil Anna und Emilie nicht unbedingt die besten Freundinnen sind. «Wann hat sie mit dir gesprochen?», fragte ich.

«Setz dich in die S-Bahn», seufzte Anna. «Ich hab schon den Tisch gedeckt.»

«Also», fragte ich, als wir auf ihrem Balkon saßen und den Kirschkuchen aßen, den sie gebacken hatte. «Was meinst du dazu?»

«Was meinst du dazu?», gab sie aber mal wieder nur zurück.

«Vielleicht kannst du mir deine Meinung ausnahmsweise mal direkt sagen, anstatt sie mir so unterzujubeln, dass ich sie nachher für meine eigene halte!»

Sie legte ihre Gabel weg. «Schön», sagte sie dann. «Emilies Frage hat dich aufgebracht. Warum?»

Typisch Psychologin. Kann sich echt nicht vorstellen, dass sie es ist, die die Leute in den Wahnsinn treibt.

«Ich ärgere mich nicht, weil sie mich gefragt hat», erwiderte ich. «Ich ärgere mich höchstens darüber, dass sie mich so spät gefragt hat.»

«Also ziehst du es in Erwägung?» Anna bemühte ihren schönsten Therapeutinnentonfall, der absolut nichts darüber verriet, wie sie die Sache sah. Ich zuckte mit den Schultern. Zog ich es in Erwägung? Eigentlich nicht. Aber dann hätte ich Emilie auch gleich sagen können, dass sie ihr Balg alleine großziehen kann. Oder?

«Wie stellt sie sich das überhaupt vor?», fragte Anna weiter. «Konkret?»

«Nicht die leiseste Ahnung.» Ich schaute zur Seite und ließ meinen Blick über den Chamissoplatz schweifen, von wo das Geschrei spielender Kinder zu uns hochdrang. Am Horizont braute sich ein Sommergewitter zusammen. «Ich soll den Gedanken erst mal sacken lassen, hat sie gesagt. Den Rest will sie in den nächsten Tagen klären.»

«Wird auch Zeit dann. Ist ja nicht mehr lange hin bis zur Mondlandung.»

«Na ja, noch gut einen Monat», erwiderte ich. Aber das war nicht das Problem. «Sie hat uns schon einen Termin beim Jugendamt besorgt. Um die Formalitäten zu erledigen.» Und zwar in zehn Tagen.

Anna holte tief Luft. «Die traut sich was», murmelte sie. Dann zündete sie sich eine Zigarette an.

«Sie hatte halt Angst, dass wir nachher keinen mehr bekommen», sagte ich schnell. Eigentlich hatte ich keine Lust, Emilie zu verteidigen. Aber vor Annas Wut würde ich so ziemlich jeden in Schutz nehmen. «Absagen kann man immer noch, meinte sie.»

«Das ist ja beruhigend!» Sie blies den Rauch aus der Nase, und obwohl mir wirklich nicht nach Lachen zumute war, musste ich ein bisschen grinsen, weil sie nun endlich ihre bemühte Sachlichkeit über Bord warf. «Und der Vater?», fragte sie weiter. «Also, der richtige Vater. Was ist mit dem?»

«Du weißt genau, dass ich das nicht weiß.» Diese Frage hatte ich Emilie nur ein einziges Mal gestellt, und sie hatte mit nicht viel mehr als einem tiefen Seufzen darauf geantwortet. Allerdings hatte ich nun schon das Gefühl, dass ich da vielleicht noch mal nachhaken sollte.

«Wird wahrscheinlich irgendein Kiezlude sein», brummte Anna, und ich verdrehte die Augen. Als stolze Feministin kommt sie einfach nicht darüber hinweg, dass Emilie die Tochter eines Puffbesitzers ist und sogar ihre Ausbildung bei ihm gemacht hat. In der Verwaltung, versteht sich.

«Wieso hat sie eigentlich ausgerechnet dir davon erzählt?», fragte ich, um sie von dem Thema abzubringen.

«Sie hat mich vor ein paar Tagen angerufen.» Anna drückte ihre halb aufgerauchte Zigarette aus. Ihr neuester Trick, um langsam damit aufzuhören. Sehr langsam. «Weil sie meine Meinung hören wollte, ob sie dich überhaupt fragen darf oder ob sie dich damit in eine blöde Lage versetzt, weil du dich vielleicht nicht Nein zu sagen traust.»

«Und was hast du ihr gesagt?»

«Jetzt hat sie dich ja gefragt. Ist also auch schon egal.» Sie verschränkte die Arme und schaute eine Weile sehnsüchtig auf ihre Kippenschachtel. «Wahrscheinlich kam sie eh nur deshalb zu mir, weil sie gehofft hat, dass ich es dir sofort weitererzähle», knurrte sie dann. «Und sie dich nicht selber fragen muss.»

Das war tatsächlich gut möglich. Ich seufzte, und für ein paar Minuten schwiegen wir beide, während es in der Ferne zu donnern begann.

«Zumindest Mama wird begeistert sein, dass sie doch noch ihr Enkelkind bekommt», sagte Anna irgendwann, und wir mussten beide bitter lachen.

«Ein uneheliches Enkelkind, mit dem sie überhaupt nicht verwandt wäre», erwiderte ich. «Mit Emilie als Mutter, und vom Vater wollen wir gar nicht erst anfangen.» Mama hatte sich zwar verändert in den letzten Monaten. Aber sich darüber zu freuen, war immer noch viel verlangt. «Also», sagte ich zum zweiten Mal, weil Anna schon wieder den Mund aufmachte, um irgendwas Gemeines über Mama zu sagen, und ich dafür jetzt absolut keine Nerven hatte. «Was denkst du jetzt über die Sache?»

«Ich denke, dass du mit niemandem darüber reden solltest, bevor du dir nicht ein Bild von deinen Gefühlen gemacht hast. Unbeeinflusst.»

«Toller Rat!»

«Danke.» Sie lächelte süßlich. «Finde ich auch.» Dann stand sie auf und lief in die Küche, wo sie anfing, in einem der überall herumstehenden Umzugskartons zu kramen. Nach einer Ewigkeit zog sie triumphierend eine Tupperbox heraus, öffnete sie und blies kräftig hinein. Meine Schwester gehört nämlich zu den Menschen, die der Meinung sind, dass Dinge hygienischer werden, wenn sie einmal drüberpusten. Danach begann sie, ein paar Kuchenstücke hineinzuschaufeln. «Du gehst jetzt nach Hause und schließt die Tür hinter dir ab», rief sie auf den Balkon hinaus. «Und dann fängst du an, alles aufzuschreiben, was dir in den Sinn kommt. Über dich und Emilie und die Frage, wie es sich für dich anfühlt, vielleicht bald Vater zu sein.»

«Verdammt bald», murmelte ich. «Ich hab schon auf Sachen von Amazon länger gewartet.»

«Ich meine es ernst, Felix.» Sie kam zurück nach draußen und stellte mir die Box auf den Tisch. Doch sie setzte sich nicht mehr hin, um klarzumachen, dass sie mich tatsächlich rausschmiss. «Nach Hause gehen, nachdenken, aufschreiben. Wie damals bei der Sache mit Martin. Hat dir doch geholfen, oder nicht?»

Die Sache mit Martin. Die ist wirklich das Allerletzte, worüber ich jetzt auch noch nachdenken sollte. Dafür würden die zehn Tage bis zu dem Termin beim Amt nämlich sicher nicht ausreichen.

Drei Jahre ist es jetzt her, seit ich schon einmal an meinem Küchentisch saß und alles aufgeschrieben habe, was mir in den Sinn kam. Obwohl der damals noch in Hamburg stand und nicht in Berlin. Und obwohl es sich anfühlt, als wären mindestens zwanzig Jahre vergangen, und gleichzeitig, als wäre es gestern gewesen. Kurz danach bin ich aus Hamburg geflohen, weil ich es dort einfach nicht mehr ausgehalten habe. Ich habe mir seither echt Mühe gegeben, dieses Leben irgendwie auf die Reihe zu kriegen, und ich muss sagen, dass ich das – im Großen und Ganzen – relativ gut hinbekommen habe. Obwohl ich vor ein paar Wochen auch noch wesentlich besser dastand als heute. So betrachtet, hatte sich Emilie einen ziemlich beschissenen Zeitpunkt ausgesucht für ihre Frage. Aber so ist das nun mal, wenn man die Dinge ewig vor sich herschiebt. Dann muss man irgendwann mit dem arbeiten, was man kriegt.

Das Erstaunliche ist, dass ich den Gedanken trotz allem nicht total abwegig finde. Nachdem Emilie mir endlich gesagt hatte, dass sie schwanger ist, habe ich mich sowieso drauf eingestellt, dass sie Hilfe brauchen würde. Und ich habe eh schon überlegt, die ersten paar Wochen nach der Geburt zu ihr nach Hamburg zu ziehen, um ihr so gut wie möglich zur Hand zu gehen. Ich habe auch damit gerechnet, dass sie mich fragen würde, ob ich Patenonkel werden will. Aber Vater? Ganz offiziell, mit Brief und Siegel?

Seit ich von Anna nach Hause gekommen bin, habe ich eine halbe Flasche Wein getrunken. Jetzt sitze ich an meinem Küchentisch, schaue dem Wind dabei zu, wie er den Regen gegen das Fenster peitscht, und lausche dem Donnergrollen. An meiner Kühlschranktür hängt immer noch das Polaroid, das Gabriel, Emilie und ich am letzten Abend in meiner Hamburger Wohnung geschossen haben. Das war sechs Wochen nach der Sache mit Martin, und auf dem Bild sind unsere Münder noch ganz rot von den Spaghetti, die wir direkt davor gegessen hatten. Also, die von Gabriel und mir zumindest. Emilie sieht immer perfekt aus, egal ob nach einer durchgemachten Nacht oder mit vierzig Grad Fieber, und wahrscheinlich wird sie auch noch perfekt aussehen, direkt nachdem sie ihr Kind auf die Welt gesetzt hat. Keine Ahnung, wie sie das schafft. Aber wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, sie hätte sich auf dem Polaroid gephotoshopt. Ich sitze zwischen den beiden und habe meine Arme um sie gelegt. Zu der Zeit habe ich versucht, mir über Wochen etwas heranzuzüchten, das einem Dreitagebart ähneln sollte, weil ich die Schnauze voll davon hatte, mit vierundzwanzig noch wie ein sechzehnjähriger Junge auszusehen. Auf dem Foto lächle ich tapfer in die Kamera und sehe trotzdem ganz schön wehmütig dabei aus. Und Gabriel, na ja … er sieht halt aus wie Gabriel. Wie jemand eben, der in den zwei Jahren davor mehr Zeit mit seiner Doktorarbeit über Heraklit’sche Semiotik verbracht hat als mit echten Menschen – und mit dem Machwerk ist er übrigens bis heute noch nicht durch. Stolz wie Bolle grinst er in die Kamera, weil er kurz davor ganz alleine meinen Kleiderschrank auseinandergeschraubt hat – und das ohne jegliches handwerkliches Talent. Aber wenn man einen waschechten Hochbegabten wie ihn etwas machen lassen kann, dann das: eine Aufbauanleitung auswendig lernen und die dann ohne zu spicken rückwärts abspulen, bis von zweieinhalb Metern Schrank nur noch fein säuberlich gestapelte Bretter und ein Sack voller Schrauben übrig sind.

«Ich weiß jetzt übrigens, was Martin mit dir gemacht hat», sagte er, während er den Schraubendreher in Emilies Werkzeugkoffer fallen ließ und sich danach seine Harry-Potter-Brille zurechtrückte. «Ghosting nennt man das. Scheint gerade in zu sein, lief nämlich sogar bei Galileo was drüber. Da kommen oft interessante Sachen.»

«Mhm», machte ich nur, während ich aus dem Augenwinkel beobachtete, wie Emilie ihm hektische Zeichen gab, dass er das Thema Martin um Gottes willen nicht vertiefen solle. Aber zwischenmenschliche Interaktionen sind nun mal etwas komplizierter als sechzehn Seiten Aufbauanleitung. Für Gabriel zumindest.

«Da verschwindet man einfach von der Bildfläche», fuhr er unverdrossen fort, «und geht auch gar nicht mehr ans Telefon.»

Oder man meldet einfach direkt seine Nummer ab und zieht nach Madrid, ohne mir ein Wort davon zu sagen, dachte ich. Oder wenigstens vorher anständig Schluss zu machen, nach zwei Jahren Beziehung. Mein Blick fiel auf das Dachfenster, unter dem bis vor einer Stunde noch mein Bett gestanden hatte, und sofort hatte ich wieder einen Kloß im Hals. Unter diesem Fenster hatten Martin und ich unsere erste gemeinsame Nacht verbracht.

«Gehört zu diesem Ghosting auch dazu, dass man nach einem Jahr plötzlich wieder auftaucht und ernsthaft weitermachen will, als ob nie was gewesen wäre?», fragte ich. «Oder war das Martins persönlicher Twist?»

«Das kann ich dir leider nicht sagen», antwortete Gabriel geknickt. «Musste dann los zum Unisport, hab den Beitrag nicht zu Ende gesehen.»

«Gabriel, wie läuft’s denn mit deiner Doktorarbeit?», fragte Emilie in lieblichem Ton, während sie gleichzeitig diskret noch etwas Wein in meinen Plastikbecher füllte. Diese Art von Multitasking hatte sie beim Thekendienst im ‹Haus der schönen Geheimnisse› gelernt, dem nobelsten Puff ihres Vaters.

«Och, kann mich nicht beklagen. Hab gestern endlich dieses Kapitel über die Polis als – »

«Schön, schön», flötete sie. «Dann sei doch so gut und trag schon mal den Karton hier in den Transporter, okay?»

Zwei Stunden später saßen wir todmüde auf den letzten Umzugskisten und sahen uns in meinem leeren Schlafzimmer um.

«Du bist echt reich genug, um ein paar Lastenschlepper anzuheuern», maulte Emilie matt vor sich hin. «Und wir sind so blöd und helfen dir umsonst.»

«Es geht doch um das Ritual», sagte ich. «Und so viel war es gar nicht.» Alten Krempel wegzuwerfen, hatte mich schon immer auf die gleiche Art befriedigt, wie Payback-Punkte zu sammeln oder mir ein Mitesserpflaster von der Nase zu ziehen. Deshalb hatte ich in den letzten Tagen mehr Zeug in Container geworfen als in Pappkartons. «Außerdem muss ich sparen, weil ich nicht weiß, wie lange ich noch reich bin», fuhr ich fort. «Keine Ahnung, ob meine Mutter mir jetzt noch weiter Geld überweist.»

«Findet sie nicht so toll, dass du jetzt auch noch wegziehst, oder?», fragte sie.

«Na ja, ich glaube, meine Schwester hat sie in den letzten Jahren nicht so sehr vermisst», grinste ich. Das Verhältnis zwischen den beiden war schon immer … kompliziert gewesen. «Außerdem hab ich es ihr noch gar nicht gesagt.»

«Deine Mutter weiß nicht, dass du morgen nach Berlin ziehst?», rief Emilie empört.

«Kennt ihr das?», fragte Gabriel. «Sobald man irgendwo was über eine neue Sache gehört hat, fällt einem das plötzlich überall auf. Geht mir gerade mit diesem Ghosting so.»

Ich seufzte. «Wenigstens behalte ich meine Handynummer. Und ich werd’s ihr schon noch sagen. Obwohl sie es eh nie merken würde. Weil sie nämlich noch kein einziges Mal in dieser Wohnung war. Und wenn sie will, dass ich mal wieder vorbeikomme, fahre ich halt schnell aus Berlin rüber. Dauert keine zwei Stunden.»

«Das perfekte Verbrechen», kommentierte Gabriel.

«Fährst du für mich auch schnell aus Berlin rüber?», fragte Emilie.

«Versprochen», sagte ich und versuchte mich an einem Lächeln. «Hoch und heilig.»

Wir sahen uns an, und plötzlich fiel es mir wieder schwer zu schlucken. Obwohl ich es bis vor einer Minute geschafft hatte, diese ganze Sache mit der nötigen Ironie zu betrachten, musste ich mich auf einmal stark zusammenreißen, um nicht sofort loszuheulen. Denn es war ja nicht einmal so, dass ich wegziehen wollte. Ich hatte einfach nur das Gefühl, dass ich verdammt dringend einen Neuanfang brauchte. Weit weg von Martin, von meinen Eltern und vor allem von dem Nichtsnutz, als der ich mich in den letzten Jahren aufgeführt hatte. Ich musste mich dringend auf die Reihe kriegen, und ich war mir sicher, dass ich das in Hamburg nicht schaffen würde.

Emilie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und lehnte sich an meine Schulter. «Alle verlassen mich», murmelte sie leise vor sich hin. «Nicht mal die schwulen Männer kann ich halten.»

«Tamara hat auch nichts mehr von sich hören lassen?», fragte ich sie, doch sie schüttelte nur traurig den Kopf.

«Ich finde es übrigens auch nicht so toll, dass du wegziehst», sagte Gabriel plötzlich, und Emilie und ich sahen uns erschrocken an, weil das gerade so ziemlich der dramatischste Gefühlsausbruch war, den wir je bei ihm erlebt hatten.

«Wir stoßen jetzt noch einmal an», sagte ich schnell und hob meinen Becher. Ich räusperte mich. «Auf die letzten Jahre!»

«Und auf die kommenden», flüsterte Emilie mit brüchiger Stimme.

«Und auf neue und bessere Männer», fiel mir noch ein. «Für jeden von uns.»

«Habe nichts mehr anzumerken», stimmte Gabriel ein, und wir tranken alle in einem Zug aus.

Ob die Männer, die danach kamen, dann wirklich so viel besser waren als die davor, ist natürlich wieder eine ganz andere Frage. Ein paar neue waren aber auf jeden Fall dabei.

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Der erste von ihnen war Alexander, und den hatte ich auch bitter nötig.

Mal eben irgendwo ein neues Leben anzufangen, entpuppte sich nämlich auch als eines der Dinge, die ich mir immer deutlich einfacher vorgestellt hatte. Und das Problem war nicht einmal, dass ich mit falschen Erwartungen nach Berlin gezogen wäre. Sondern eher, dass ich überhaupt keine gehabt hatte. Na ja, außer der einen vielleicht: Wenn ich erst mal raus bin aus Hamburg, wird alles gut. Ist klar.

Ich zog in eine Wohnung in Schöneberg, die eigentlich viel zu groß für mich war und die ich überhaupt nur deshalb bekam, weil sie zufällig gerade frei wurde und der Besitzer einer von Annas reichen Künstlerfreunden war. Auf dem freien Markt hätte ich ohne offizielles Einkommen nämlich eher schlechte Chancen gehabt – und dass man jeden Monat einen Batzen Kohle von seiner steinreichen, aber manisch-depressiven Mutter rübergeschoben kriegt, die nur leider keine Bürgschaft unterschreiben kann, weil sie nämlich gar nicht wissen darf, dass man überhaupt umzieht, kann ja schließlich jeder behaupten.

Das gesamte Zeug aus meiner alten Wohnung passte in ein einziges der drei riesigen Zimmer, und weil ich keine Lust hatte, vom Bett aus zwanzig Meter den Flur runterlaufen zu müssen, bevor ich fernsehen konnte, packte ich auch tatsächlich alles, was ich aus Hamburg mitgebracht hatte, in denselben Raum. Aus praktischen Gründen entschied ich mich für den, der zwischen Bad und Küche lag. Im Gegensatz zu den anderen beiden Zimmern gingen die Fenster dort nämlich zur Straße raus und nicht in Richtung des alten Friedhofs, als dessen Mauer die Rückwand des gesamten Hauses fungierte. Ich meine, wer baut denn so was?

Ich weiß noch, dass ich mir in den ersten Wochen hier vorkam wie in einem Spukschloss. Nach Einbruch der Dunkelheit hatte ich jedes Mal eine Scheißangst, wenn ich noch mal aus meinem Zimmer rausmusste und mein Blick auf die großen Flügeltüren der beiden anderen Räume fiel. Die hatte ich natürlich sorgsam verriegelt. Aber ein Geist, der eine Hausfassade hochklettert und danach durch ein geschlossenes Fenster diffundiert, würde sich wohl kaum von einer Holztür aufhalten lassen, dachte ich. Schon gar nicht, wenn die ein Schlüsselloch hat von der Größe eines Glory Holes.

Inzwischen war es November geworden, es wurde also leider immer früher dunkel. Und auch wenn das im Nachhinein alles auf eine schräge Art sogar fast lustig klingt, war mir in diesen Wochen überhaupt nicht nach Lachen zumute. Ich kam immer mehr zu der Überzeugung, dass der ganze Umzug eine absolute Schnapsidee gewesen war, denn in Berlin ging es mir kein Stück besser als in Hamburg. Ganz im Gegenteil. Ich vermisste Emilie und Gabriel. Und sogar Martin, auch wenn ich mich dafür hätte ohrfeigen können. Gut, dass ich den Zettel mit seiner neuen Handynummer, den er mir bei unserem letzten Treffen zugesteckt hatte, in tausend Fetzen gerissen und im Wind verstreut hatte. Sonst hätte ich nämlich für nichts garantiert.

Die meisten Tage verbachte ich im Bett oder auf dem Sofa, das ich direkt daneben gestellt hatte. Ich las schnulzige Liebesromane, schaute irgendwas auf Netflix oder hörte auch mal ein paar Stunden lang einfach nur Musik. Nicht dass ich die Jahre davor nicht auch hauptsächlich so verbracht hätte. Das Schlimme war, dass mir plötzlich nichts davon mehr Spaß machte. Nicht einmal Grey’s Anatomy konnte mich noch aufheitern, dabei hatte es die Serie sonst immer am zuverlässigsten geschafft, mich aus einem Tief zu holen. Doch inzwischen fühlte ich mich nur noch alt beim Zuschauen, weil da so viele neue Gesichter dabei waren, dass ich mich gar nicht mehr auskannte. Und auch dass die ausnahmslos alle furchtbar gut aussahen und selbst in größter Verzweiflung noch so zum Kotzen telegen in die Kamera weinten, machte mich nur noch wütend. Ich sah nämlich bestimmt nicht gut aus, wenn ich weinte. Und ich weinte viel in dieser Zeit.

Die Wohnung verließ ich eigentlich nur, wenn ich einkaufen musste, obwohl ich mir das meiste gleich liefern ließ. Und um meine Schwester zu besuchen, die jetzt statt zwei Stunden im ICE nur noch eine Kurzstrecke mit der U7 von mir weg wohnte. Was aber nicht nur Vorteile hatte, weil sie in dieser Phase endgültig damit anfing, sich als meine Ersatzmutter aufzuführen.

«Hast du abgenommen?», fragte sie mich ständig, aber in einem Tonfall, der klarmachte, dass sie das nicht als Kompliment meinte. «Was isst du eigentlich den ganzen Tag?»

«Quinoa-Avocado-Salat, Snickers und Vollkornbrot mit veganem Aufstrich.»

«Sehr witzig!», schimpfte sie und klatschte mir noch einen Schöpfer Gulasch auf den Teller. Anna kann echt gut kochen. Aber selbst ihr Essen schmeckte mir nicht mehr. «Wie kommst du mit der Wohnung voran?»

«Super!», log ich. «Hab mir gestern ein Bücherregal ausgesucht.» Ich hatte ursprünglich vorgehabt, mich komplett neu einzurichten und aus meiner Wohnung einen Hundertvierzig-Quadratmeter-Traum wie aus dem Westwing-Katalog zu machen. Und Anna hatte zähneknirschend zugestimmt, mir die Zeit dafür zu geben, bevor sie mich mit ihren Lebensplanungsbüchern erschlug. Sie hatte mir nämlich recht gegeben, dass man erst mal ein schönes Zuhause braucht, bevor man sich Größerem zuwenden kann. Doch dann hatte ich festgestellt, dass ich mich eigentlich wohlfühlte in meinem einen Zimmer mit all meinen Sachen in Griffweite und dass ich daran gar nichts ändern wollte. Also wohlfühlte, so gut es zu dieser Zeit halt ging.

Heute ist mir klar, dass ich damals eine handfeste Depression hatte. Nur wollte ich das ums Verrecken nicht wahrhaben. Anna hat das natürlich auch gemerkt, dafür war sie ja schließlich ausgebildet. Und ich weiß noch gut, wie sie eines Abends nach dem Tatort den Fernseher ausmachte, mich ernst ansah und sagte: «Reg dich jetzt bitte nicht auf, aber ich bin überzeugt davon, dass du Hilfe brauchst. Und zwar Hilfe, die ich dir nicht geben kann, weil ich deine Schwester bin. Aber ich habe dir ein paar Nummern aufgeschrieben von – »

«Ich rege mich nicht auf», unterbrach ich sie. «Aber ich gehe jetzt nach Hause. Und deine Nummern kannst du behalten.»

«Was soll ich dazu sagen, Felix?», seufzte Emilie nur, als ich sie noch auf dem Heimweg anrief und ihr davon erzählte. «In dem Punkt hat sie leider recht. Und ich weiß, dass du das eigentlich auch weißt.» Ich schwieg. «Ich meine, was wäre denn so schlimm daran, es mal mit einer Therapie zu versuchen?», fuhr sie fort. «Ist doch heutzutage kein Drama mehr.»

Ich konnte es ja nicht einmal in Worte fassen, warum ich mich so sehr dagegen wehrte. Denn dass ich grundsätzlich eine brauchen konnte, hatte ich inzwischen auch selber schon kapiert. Wahrscheinlich lag es am ehesten daran, dass ich so furchtbare Angst davor hatte, mich auf der Suche nach meinem verlorenen Glück Schicht für Schicht durch die ganze Scheiße graben zu müssen, die ich am liebsten einfach nur vergessen hätte.

«An mir ist absolut nichts komischer als an den ganzen anderen Leuten in unserem Alter», antwortete ich trotzig. «Zumindest hier in Berlin. Wir wissen nur noch nicht genau, was wir mit unserem Leben anfangen sollen, und das macht uns vielleicht ein bisschen unausgeglichen.»

«Dass keiner von euch da drüben richtig tickt, heißt noch lange nicht, dass ihr nicht alle Hilfe braucht», sagte Emilie bestimmt. «Und als Allererstes würde ich mir mal ’ne andere Wohnung suchen. Ist ja kein Wunder, dass du wahnsinnig wirst mit so vielen toten Schwulen im Garten.»

Der Friedhof hinter meinem Haus war tatsächlich bekannt dafür, dass dort viele Opfer der großen Aids-Epidemie begraben lagen. Aber zu denken, dass mir das als Abschreckung gedient hätte, ist leider der falsche Schluss. Denn Sex in irgendwelchen Kellerbars war die dritte Sache, für die ich mich neben den Fahrten in den Supermarkt und zum Abendessen bei Anna überhaupt noch aus der Wohnung quälte (wobei ich meistens versuchte, direkt alles in einem Aufwasch zu erledigen). Doch nicht einmal wilder Sex mit fremden Männern machte mir noch wirklichen Spaß. Stattdessen kam er mir inzwischen schon während wir noch dabei waren so sinnentleert und erbärmlich vor, wie es sich früher höchstens im Nachhinein angefühlt hatte.

Ich hasste mich. Ich hasste mein Leben. Und ich hasste vor allem, dass ich einfach zuließ, dass mein Leben so hassenswert war. Ein paar Tage lang ignorierte ich Annas Anrufe, bis sie mir schrieb, dass ich kleines Arschloch mich gefälligst melden solle, weil sie sich ernsthaft Sorgen mache. Also dachte ich zuerst lange angestrengt nach. Dann duschte ich mal wieder, zog mein letztes sauberes Oberteil an und fuhr zu ihr. Um mit ihr einen Vertrag auszuhandeln.

«Du hast recht», sagte ich, «ich muss mich in den Griff kriegen. Aber ich will keine beschissene Therapie machen, okay? Das muss doch irgendwie anders gehen.»

«Gut.» Sie stand von der Couch auf, lief in den Flur und kam mit einem Block und einem Kugelschreiber zurück, die sie mir beide entgegenstreckte. «Also, aufschreiben.» Ich guckte irritiert, doch dann nahm ich ihr die Sachen ab und wartete. «Erstens», diktierte sie nach kurzem Überlegen, und ich schrieb. «Ich will jeden zweiten Tag joggen gehen, und zwar bei Tageslicht. Egal bei welchem Wetter. Zweitens, ich esse dreimal täglich, und zwar Obst und Gemüse.»

«Dein Ernst?», fragte ich. «Ich bin keine vier mehr.» Der Blick, den sie mir zuwarf, ließ mich aber schnell wieder verstummen.

«Drittens», fuhr sie ungerührt fort und begann dabei, mit verschränkten Armen vor dem Fernseher auf und ab zu laufen, «ich lese die Texte, die meine große Schwester für mich aussucht, und besuche sie einmal pro Woche, um mich mit ihr darüber auszutauschen. Viertens, ich suche mir einen Verein, dem ich beitreten kann, um neue Menschen kennenzulernen.» Ich seufzte. «Fünftens», sprach sie laut über meine Gefühle hinweg, «ich besuche jede Woche ein Museum und lasse mich darauf ein, was es dort zu sehen gibt. Sechstens», nun warf sie mir einen strengen Blick zu, «keinen Sex mehr, nach dem ich mich schlechter fühle als davor.»

«Wie soll ich das denn vorher wissen?», fragte ich halblaut, doch ich schrieb brav weiter.

«Siebtens, ich erzähle Mama, dass ich nach Berlin gezogen bin.» Ich schluckte. Doch ich widersprach nicht. «Und achtens: Wenn ich irgendwann wieder richtig im Kopf bin und erkenne, was ich meiner Schwester alles zu verdanken habe, erspare ich uns beiden eine peinliche Szene und kaufe ihr stattdessen etwas Hübsches bei Cartier.»

Wieder richtig im Kopf. Tolle Psychologin. «Fertig?», fragte ich.

«Fast. Neuntens, wenn ich innerhalb von drei Monaten ab heute keine ausreichend großen Fortschritte mache oder mutwillig gegen meine Auflagen verstoße, beginne ich eine Therapie. Und zwar ohne Diskussion.»

«Und wer bestimmt, welche Fortschritte ausreichend sind?», fragte ich, nachdem ich fertig geschrieben hatte.

«Rate mal!», antwortete sie. «Jetzt unterschreiben. Und dann her damit.»

Wie gesagt, im Nachhinein klingt das vielleicht lustig. Aber das war es nicht. Inzwischen würde ich mich durchaus als wieder richtig im Kopf bezeichnen. Aber der Weg dorthin war wirklich nicht leicht. Und auch wenn ich gerne über Annas übergriffige Geschwisterliebe schimpfe, weiß ich, dass ohne sie alles noch viel schlimmer gekommen wäre.

Obwohl es arschkalt war, zwang ich mich am nächsten Tag, einmal bis zum Bundestag und wieder zurück zu joggen. Und nach einem vitaminreichen Mittagessen (Döner mit extra Salat) las ich den ersten Text, den Anna mir direkt am Vorabend noch mitgegeben hatte.

«Deine Schwester ist die anstrengendste Frau, die ich kenne, Honey. Und ich arbeite mit Nutten!», kommentierte Emilie das Ganze, als sie mich später am Nachmittag von der Arbeit aus anrief, weil ihr mal wieder langweilig war. Im ‹Haus der schönen Geheimnisse› herrschte aufgrund des gehobenen Preisniveaus ohnehin nie so viel Betrieb wie in den anderen Bordellen ihres Vaters. Aber die beginnende Vorweihnachtszeit verbrachten offenbar selbst die wohlhabendsten Schwerenöter lieber bei ihren Familien als in den Armen einer kasachischen Schlampe (und das ist Emilies Wortwahl, nicht meine). «Aber recht hat sie trotzdem, das muss ich leider zugeben.»

«Weiß ich ja», brummte ich. «Es ist trotzdem so unfassbar schwierig, sich auch nur an die Hälfte von diesem ganzen Zeug zu halten. Vor allem, wenn das jetzt monatelang so geht. Ich weiß echt nicht, ob ich das schaffe.»

Sie seufzte. «Okay, pass auf», sagte sie dann. «Ich verstehe, dass du dich schlecht fühlst. Wirklich. Und dass dir diese Liste auf den Sack geht, verstehe ich gleich zweimal. Aber du musst dir das Ganze wie in einem Film vorstellen, okay? Dann ist das jetzt die Szene, wo irgendwas ganz Schwieriges, was eigentlich ewig lange dauert, auf eine Minute zusammengeschnitten wird. Du weißt, was ich meine. Wenn irgendwer ein altes Haus renoviert. Oder Skateboard fahren lernt oder sich bei zehn Schauspielschulen bewirbt und zehn Absagen aus dem Briefkasten zieht.»

«Ich weiß, was du meinst», sagte ich. «Aber – »

«Du musst jetzt einfach ein paar beschissene Wochen überstehen. Und ich weiß, dass du auch schon einige hinter dir hast. Aber wenn irgendjemand mal jemand einen Film über dein Leben dreht, wird diese ganze verfickte Zeit höchstens eine Minute lang sein, verstehst du? Und es läuft sogar Musik dabei.» Sie überlegte kurz. «Bisher kann man schon zeigen, wie du dir lustlos einen runterholst, beim Fernsehen in der Nase popelst und dich vor deiner eigenen Wohnung fürchtest. Und jetzt kommt halt noch dazu, dass du schwierige Texte liest, in irgendeinem Museum stehst und zum Schluss durch den ganzen Tiergarten joggst, ohne auch nur einem einzigen Kerl an den Schwanz zu fassen. Und ganz am Ende stehen wir beide im KaDeWe, und ich sage dir, welchen Armreif du deiner irren Schwester aussuchen sollst als Dankeschön. Okay?»

«Du fehlst mir», sagte ich.

«Glaub ich dir sofort.»

«Willst du nicht auch hierherziehen? Sag deinem Vater, er soll expandieren.»

«Pf!», machte Emilie. «Bisher ist noch jeder, den ich kenne, übergeschnappt, nachdem er in diese Stadt gegangen ist. Hab dich ja vorgewarnt. Und jetzt muss ich Schluss machen, gerade hat’s geklingelt.»

«Wird ’ne Razzia sein», sagte ich.

«Keine Sorge, Honey. Da hätte uns jemand vorgewarnt. Baba.»

Anna und Emilie behielten recht. Damit, dass es in den kommenden Wochen ganz langsam bergauf mit mir ging – und damit, dass es unglaublich anstrengend war. Am vierten Advent fühlte ich mich immerhin wieder fit genug, um zu einer von Anna ausgerichteten Weihnachtsparty zu gehen. Andererseits hatte ich aber auch keine Wahl, weil ich sie nur durch diesen Kuhhandel von der blödsinnigen Idee abbringen konnte, ich müsste Mama noch vor Ende des Jahres meinen Umzug beichten.

«Ich dachte schon, du kommst nicht mehr», begrüßte sie mich an der Wohnungstür. Sie hatte sich eine grüne Geschenkschleife in ihre roten Haare gebunden, trug einen dieser hässlichen Weihnachtspullis und umarmte mich nur mit links, weil sie in der rechten Hand ein Cocktailglas hielt. Aus der Küche roch es nach Glühwein und im Wohnzimmer nach Nelken. «Alles okay?», fragte sie und strich mir schnell über die Wange. Ich nickte. «Dann los, ich stell dich vor. Die werden dich mögen, wart’s ab.»

Die Hälfte ihrer Gäste waren Kollegen aus der Klinik, in der sie arbeitete. Der Rest bestand aus Künstlern und Salonintellektuellen, mit denen sie einer ihrer vielen Ex-Freunde bekannt gemacht hatte, bevor er dann plötzlich ein Sachbuch bei einem ziemlich rechten Verlag veröffentlichte und seither lieber von allen totgeschwiegen wurde. Sie besorgte mir zuerst einen Drink und zerrte mich dann einmal durch die gesamte Gesellschaft, doch schon nach dem dritten Händeschütteln konnte ich mir keinen Namen mehr merken. Ich bemühte mich aber auch nicht.

Verstohlen schaute ich auf die Uhr und überlegte schon, wie lange ich wohl bleiben musste, ohne dass Anna mir den Bruch unserer Abmachung vorwerfen konnte, als plötzlich ein Mann aus dem Bad kam, der mich diesen Gedanken gleich wieder vergessen ließ. Er war groß, blond, vielleicht Mitte dreißig, mit einem Gesicht wie eine Renaissancestatue (plus Dreitagebart) und dazu noch dieser aristokratischen Welle in den Haaren, die ich schon immer so wahnsinnig sexy fand. Solange dir so einer nicht egal ist, besteht vielleicht noch Hoffnung für dich, du Tröte, dachte ich. Und ich beobachtete heimlich, wie der schöne Fremde ebenfalls diskret auf seine Armbanduhr schielte. Ein Leidensgenosse.

«Dachte ich mir schon», sagte Anna, die plötzlich wieder neben mir stand und meinem Blick folgte. «Komm mit.» Sie griff nach meinem Handgelenk und zog mich zu ihm rüber. «Alexander, das ist Felix, mein Bruder.» Sie lächelte uns beide an. «Er ist auch schwul», schob sie hinterher und ließ uns dann einfach stehen, aber nicht ohne sich nach ein paar Schritten noch einmal zu uns umzudrehen.

Viel bekam sie allerdings nicht zu sehen. Denn der schöne Alexander schaute mich so lange überrumpelt an, bis ich ihm vor lauter Verzweiflung die Hand hinstreckte und mich noch einmal vorstellte: «Hi, ich bin Felix.»

«Alexander», antwortete er. Er griff nach meiner Hand, doch ich merkte schon an der Art, wie er sie schüttelte, dass das mit uns wahrscheinlich nichts werden würde.

«Ich wollte mir gerade noch was zu trinken holen», sagte ich nach einer weiteren peinlichen Pause, um die Situation irgendwie aufzulösen. «Soll ich dir was mitbringen?» Letzter Versuch.

«Danke, aber ich habe noch irgendwo ein Glas stehen.» Er lächelte verlegen. «Ich muss es nur wiederfinden.»

«Na, dann viel Erfolg dabei.» Ich nickte und machte, dass ich wegkam.

Eine halbe Stunde später hatte ich zwei weitere Godfather getrunken, pflichtschuldig meinem Vermieter Hallo gesagt und mich eine Weile mit Tina unterhalten, einer der wenigen von Annas Freundinnen, die ich schon vor diesem Nachmittag gekannt hatte. Nun lehnte ich alleine an der Balkonbrüstung, genoss die kalte Luft in meinen Lungen und ließ meinen Blick über die Dunkelheit schweifen, während hinter mir Gelächter und Frank Sinatra aus der Wohnung drangen. Ich hatte mich schon immer gern auf Balkone geflüchtet, wenn mir alles zu viel wurde und ich eine Weile meine Ruhe haben wollte. Denn ich liebte dieses Gefühl, die Tür hinter mir zuzuziehen und den Partylärm gleichzeitig ein- und auszusperren. Vor einer Weile war einer dieser Fluchtversuche allerdings gewaltig nach hinten losgegangen, und daran musste ich jetzt wieder denken. Zum tausendsten Mal.

«Kann ich mich zu dir stellen?», fragte plötzlich jemand, und ich zuckte zusammen.

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass die Balkontür geöffnet worden war, doch ich erkannte die Stimme sofort. Sie war tief und warm und klang irgendwie weihnachtlich. Ohne mich umzudrehen, sagte ich: «Klar.»

Alexander stellte sich neben mich und zündete sich eine Zigarette an. «Stört dich hoffentlich nicht», sagte er, und ich schüttelte den Kopf.

Eine Weile standen wir schweigend nebeneinander und blickten in die Ferne, doch die Stille kam mir jetzt nicht mehr ganz so peinlich vor.

«Ich fühle mich beobachtet», sagte er nach einer Weile, und ich sah ihn erstaunt an. «Nicht von dir», fügte er hinzu, ohne sein Gesicht zu mir zu drehen. «Nur, wir stehen hier draußen an einer recht exponierten Stelle, findest du nicht? Und wer weiß, wer gerade alles hinter uns am Fenster steht.» Ich wollte mich schon erschrocken umdrehen, doch er legte mir schnell die Hand auf den Arm und sagte mit einem leisen Lächeln: «Nicht! Sie darf nicht merken, dass wir Angst vor ihr haben.»

Endlich verstand ich ihn. Ich musste grinsen. «‹Er ist auch schwul›», äffte ich die tiefe Raucherstimme meiner Schwester nach, und Alexander nickte immer noch lächelnd, bevor er sich selbst einen weiteren Zug von seiner Zigarette genehmigte. Er hatte ein schönes Lächeln.

«Die Frage ist», sagte er dann bedächtig, «wem von uns beiden sie damit den Gefallen tun wollte.»

Ich kannte die Antwort natürlich, aber ich hatte keine Lust, meine ganze Leidensgeschichte vor ihm auszubreiten. «Ist doch egal», sagte ich deshalb schnell, «solche Gefallen braucht nämlich eh kein Mensch. Ich meine, ich sage doch auch nicht: ‹Hey, Anna, darf ich vorstellen? Das ist meine Freundin Susi, die ist auch immer so scheiße drauf, wenn sie ihre Tage hat›, oder?»

Jetzt sah er mir zum ersten Mal direkt in die Augen, und ich merkte einmal mehr, dass mir Alkohol einfach nicht besonders gut bekam. «Interessanter Vergleich zwischen Homosexualität und Menstruationsschmerzen», sagte er dann.

Mir wurde flau im Magen, weil ich wirklich nicht scharf darauf war, eine Grundsatzdiskussion übers Schwulsein vom Zaun zu brechen. Nicht schon wieder. «Na ja», antwortete ich. «Ich bin zumindest nicht nur einmal im Monat schwul.» Sondern wirklich viel, viel öfter.

Endlich lächelte er wieder, und ich atmete erleichtert durch. Er drückte seine Zigarette in Annas überfülltem Aschenbecher aus, dann sagte er: «Ich muss jetzt leider aufbrechen. Ich habe deiner Schwester gesagt, dass meine Mutter heute Abend ihren Geburtstag feiert.»

«Oh, okay. Dann mach’s gut.»

«Die Sache ist allerdings die, dass ich gelogen habe», fuhr er fort. «Nichts gegen Annas Partys, aber am Sonntagabend bin ich lieber allein. Allerdings würde ich jetzt doch gerne noch ein bisschen bleiben. Dumm gelaufen, oder?»

«Na ja, du könntest sagen, dass du doch noch nicht losmusst, weil deine Mutter plötzlich ins Krankenhaus gekommen ist», antwortete ich und konnte an seinem Gesichtsausdruck schon wieder nicht ablesen, ob er das lustig oder komplett daneben fand.

«Oder ich verabschiede mich, und du sagst deiner Schwester, dass du mich noch ein Stück begleitest», schlug er vor, ohne eine Miene zu verziehen.