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Nr. 3002

 

Die Kriegsschule

 

Es ist ein Schiff der Ladhonen – ein Siganese im geheimen Einsatz

 

Michael Marcus Thurner

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

Journal

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Mehr als 3000 Jahre in der Zukunft: Die Menschen – sie verstehen sich längst als Terraner – haben das Weltall erobert. Sie haben die Erde und das Sonnensystem hinter sich gelassen, in der Unendlichkeit des Alls treffen sie mit Außerirdischen aller Art zusammen. Auf Tausenden von Welten leben ihre Nachkommen, zahlreiche Raumschiffe reisen bis zu den entlegensten Sternen.

Perry Rhodan ist der Mensch, der von Anfang an mit den Erdbewohnern ins All vorgestoßen ist. Mit immer größeren Raumschiffen hat er das Universum bereist.

Zuletzt ist Perry Rhodan mit seinem Raumschiff, der RAS TSCHUBAI, zu einer langen Reise ins Unbekannte aufgebrochen. Mit an Bord sind unter anderem seine Frau Sichu und einige seiner alten Freunde, darunter der Mausbiber Gucky und der Arkonide Atlan.

Die Reise führt durch Raum und Zeit. Aber Perry Rhodan und seine Gefährten schaffen schließlich den Weg zurück in die heimatliche Milchstraße.

Sie erreichen eine neue Zeit: die Cairanische Epoche. Vieles ist anders geworden seit ihrem Aufbruch. Unter anderem glauben viele Menschen nicht mehr an die Erde, halten sie sogar für einen Mythos. Es gibt zudem neue Bedrohungen, die zwischen den Sternen der Milchstraße lauern. Ein Mann aus Rhodans Team stößt auf Weltraumpiraten – und auf DIE KRIEGSSCHULE ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Tenga – Der Siganese hat eine Schwäche für Pralinen und zeigt Stärke.

Adh Arradhu – Der Maat möchte stark sein, ist aber eine einzige Schwäche.

Nandh Nadhama – Der Ausbilder verkörpert Stärke und duldet keine Schwäche.

Perry Rhodan – Der Terraner kennt seine Schwächen und besinnt sich auf seine Stärken.

1.

 

»Autsch.«

Der Schmerz, der mit einer Transition verbunden war, kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel und hielt länger an als erwartet. Transitionen waren so ... altmodisch. Und in dieser modernen Zeit hatte der Siganese Sholotow Affatenga schlichtweg nicht damit gerechnet, sondern fest auf elegante, schmerzfreie Überlichtflüge gebaut.

Den Schmerz ignorieren. Den Schmerz weglächeln. Den Schmerz ersetzen.

Und er wusste auch schon, wie.

»Eine Praline zur Belohnung, weil du heute so gut drauf bist, Tenga. Eine Praline, weil du so wagemutig bist. Eine dritte Praline, weil du der Maximaldestruktor der RAS TSCHUBAI bist. Der beste Saboteur, den sie jemals zu bieten hatte.«

Sholotow Affatenga griff zu und schob sich eine Praline nach der anderen – Vollmilch-Krokant, Theobroma-Beeren-Ganache, Chili-Tee-Kurkuma-Trüffel – in den Mund, während er Routineüberprüfungen an der SCHOTE vornahm.

Mit nur zwanzig Zentimetern Körpergröße handelte es sich für den Siganesen bei jeder einzelnen der Miniaturpralinen aus Menschenfertigung immer noch um eine veritable Mundsperre, die er aber mit seiner Routine schnell zerlutschte. Und genoss.

Wie weit war das Ladhonenschiff wohl mit seinem blinden Passagier gesprungen?

Er griff nach der nächsten Praline, die wie ein brauner Barren mit Goldsprenkeln aussah. Aber ehe er sie nehmen konnte, riss ihn die nächste Transition erneut in den Schmerz.

 

*

 

Sholotow Affatenga hasste Transitionen, das war ihm nun klar.

Dabei war der Schmerz nicht einmal das Schlimmste.

Auch nicht die Orientierungslosigkeit.

Nein, das Schlimmste war, dass er danach immer so fürchterlich hungrig war.

Der Schwebekorb mit den Pralinen war, wie er zu seinem Entsetzen feststellte, zu mehr als der Hälfte geleert. Er würde nach der Rückkehr von seiner Erkundungsmission ein ernstes Wörtchen mit dem Proviantmeister der BJO BREISKOLL reden müssen.

Sofern ich von dieser Mission zurückkehre ...

Seine Mission. Ja, klar.

Eine Aufklärungsmission, so ungefähr jedenfalls. Wie hatte es Perry Rhodan noch mal formuliert?

Ich will, dass du diesen Raumponton infiltrierst. Vermutlich werden die Ladhonen die Entführungsopfer dorthinbringen. Sammle Informationen!

Die Ladhonen schienen ein neues Volk in der Milchstraße zu sein, jedenfalls waren sie vor fünfhundert Jahren kein Thema gewesen und hielten gegenwärtig die galaktische Öffentlichkeit in Atem. Allem Anschein nach handelte es sich um eine Art Piraten, die die Raumfahrt milchstraßenweit terrorisierten. Und auch vor Planetenbevölkerungen nicht zurückschreckten, wie Tenga hatte erleben müssen.

Die Ladhonen hatten die Welt der Olubfaner überfallen und etliche dieser Wesen entführt, dicke, tonnenförmige Giganten mit vier säulenförmigen Beinen und einer bräunlichen Haut. Warum, wusste niemand, aber Perry Rhodan und so gut wie alle anderen Besatzungsmitglieder der BJO BREISKOLL hatten beschlossen, ihnen die Entführten wieder abzujagen.

Und ihm, Tenga, dem Siganesen, war die Aufgabe zugefallen, das in die Wege zu leiten. Dazu hatte er sich mit seinem winzigen Schiff, der SCHOTE, auf dem Ladhonenschiff verankert und machte nun dessen Flug mit.

Sechsmal innerhalb kürzester Zeit waren die Ladhonen seit dem Verlassen des Olubneasystems mittlerweile mit wechselndem Kursvektor transitiert – vielleicht hofften sie, mit Zickzacksprüngen die Verfolger zu irritieren. Hoffentlich konnte die BJO BREISKOLL der Spur folgen und seine Signale empfangen, sonst wäre er bald ein ziemlich einsamer Siganese.

»Ach, was sollen die trüben Gedanken?« Tenga verlagerte das Gewicht ein wenig und schob seine Rechte zurück in die Steuersenke. Die Position im Inneren der SCHOTE war nicht sonderlich angenehm. Er lag auf dem Bauch in seiner Holomulde, der Blick war auf die Steuersymbolik von KORN gerichtet.

KORN, die Positronik seines Spezialschiffs, verhielt sich ihm gegenüber immer spröde, meist sehr kritisch – und bildete damit einen idealen Partner. Sie holte Tenga auf den Boden der Realität zurück, sobald er wieder einmal übermütig wurde.

Er schloss die Überprüfungen ab, zwinkerte zweimal zum Zeichen, dass er die Befehlsgewalt über sein Schiff an die Positronik abgab, und entspannte seine Augen ein wenig. Der Blickkontakt mit dem Fadenvisier-Steuersystem KORNS war anstrengend. Schon die geringste Fehlfokussierung konnte zu Steuerproblemen der SCHOTE führen.

Tenga atmete tief durch. Der Platz im Schiff war sonderbar eng geworden während der letzten paar Monate.

»Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich nun doch etwas mehr als ein Kilogramm wiege. Ich sollte auf mein Gewicht achten. Nun, vielleicht noch zwei, drei Pralinchen zum Trost für meinen Kummer, bevor ich mit der Einsatzdiät anfange.«

Tenga nahm eine Handvoll Schokostücke und schob sie sich in den Mund, bevor sie schmelzen und den Handschuh seines SERUN-DS verunreinigen konnten. Die Mischung schmeckte nach Rosmarin, Salz, Rosinen und Karamell.

»Ich will eine detaillierte Lageanalyse«, verlangte er von KORN.

»Wir sind nach wie vor sicher auf dem Ponton der Ladhonen verankert«, sagte die Positronik mit ihrer bedächtigen Stimme. »Der Deflektorschirm ist zugeschaltet. Ich beschränke mich auf die Aufrechterhaltung der systemrelevanten Aggregate, die Abstrahldämpfung läuft auf Maximum. Was ich allerdings nicht verhindern kann ...«

»... ist die Entdeckung durch Roboter der Ladhonen, die die Außenhülle des Pontons absuchen, ich weiß. Sie lassen sich nicht so leicht täuschen und könnten jederzeit über die SCHOTE stolpern. Weiter! Ich muss wissen, wo sich die entführten Olubfaner befinden.«

»Das kann ich nicht sagen, Sholotow.«

»Ich habe dir bereits tausendmal befohlen, mich Tenga zu nennen! So, wie es jedes andere Bordmitglied der BJO BREISKOLL macht.«

»Ich bin kein Bordmitglied, Sholotow. Ich bin eine Positronik.«

»Ja, ja, schon gut.« Wie oft hatte er sich über diese kleine Marotte des Schiffsrechners aufgeregt? Wie oft hatte er sich bei den Technikern beschwert und ratloses Achselzucken geerntet? Niemand vermochte ihm zu sagen, warum KORN darauf beharrte, ihn mit seinem ungeliebten Vornamen anzureden.

»Erzähl mir etwas über den Schiffskommandanten!«, forderte er. In abgehörten Funkgesprächen war der Kommandant als harter, erbarmungsloser Mann erschienen, der seinen Willen konsequent und ohne Rücksicht auf Verluste durchsetzte.

»Es gibt in den Bordarchiven des Raumschiffs nur wenige Fakten, an die ich herankann.«

Ein Holo erschien vor Tengas Augen. Es zeigte Bodh Aputhar, einen klein gewachsenen Ladhonen. Er war 1,60 Meter groß. Er strahlte Stolz, Verachtung und Beherrschtheit aus.

Ladhonen waren interstellare Piraten. Die Geißel dieser neuen Zeit, wenn man den Gerüchten glaubte.

Sie waren im weiteren Sinne menschenähnliche Geschöpfe mit einem dritten Arm, der aus dem Rücken wuchs und der zur Abstützung diente. Das zentrale Facettenauge glitzerte und glänzte in unterschiedlichen Farben. Es glitt auf einer Art Schiene hin und her, die Bodh Aputhar ein Blickfeld von 220 Grad gewährleistete. Der Mund war von Lamellen überzogen. Sie dienten als Membran zur Sprachverstärkung, vermutlich als Filter beim Trinken und beim Atmen.

Bodh Aputhar hatte, wie alle Mitglieder seines Volkes, einen Hautkamm, der sich über den Schädel zog. Darunter war das Hörorgan verborgen; aber auch die Emotionen vermochte er durch Farbveränderungen des Hautkamms zu verdeutlichen.

Tenga ballte die Hände. Die Ladhonen waren auf der Welt Ollfa gelandet, hatten die harmlosen Bewohner angegriffen und einige von ihnen entführt. In einem tortenstückähnlichen Beiboot, das sie Ponton nannten. Tengas Aufgabe war es, die Gefangenen zu befreien. Nun ja: Eigentlich sollte er sie nur aufspüren und eine klassische Aufklärungsmission meistern. Aber von da war es nur ein kleiner Schritt zur Befreiung. Wer würde ihn dafür kritisieren, wenn er erst einmal Erfolg gehabt hatte?

»Ich muss wissen, wie ich vom Ponton ins Innere des Schiffs gelange.«

KORN projizierte einen Aufriss des Transportpontons und des Ladhonenschiffs, an dem er angedockt war. Das eigentliche Schiff hatte die Anmutung eines Doppelkeils. Die beiden Teile wurden nach vorne hin schmaler, am Heck waren sie miteinander verbunden. Tenga erinnerte die Bauart an eine doppelläufige Waffe mit einem zentralen Griff.

»Der Ponton ist mit seiner Spitze im Ladhonenschiff arretiert und mit Fesselfeldern gesichert«, fuhr KORN fort. »Rechts von der Spitze, rund fünfzig Meter hinter der Leitstelle des Pontons, erfolgt derzeit ein Transfer, wahrscheinlich die entführten Olubfaner. Die Schutzschirme am Schott werden nach einem bestimmten Algorithmus geöffnet, um von Zeit zu Zeit größere Maschinenelemente in Richtung Ponton durchzulassen. Zwar sind die Sicherheitsvorkehrungen groß, aber ein geschickter Pilot könnte die SCHOTE an dieser Schnittstelle ins Innere der POD-2202 bringen.«

Die POD-2202. So hieß der Raumer unter Bodh Aputhars Befehl.

»Ich bin ein geschickter Pilot«, sagte Tenga. »Wie groß ist das mögliche Zeitfenster für die Einschleusung?«

»Uns bleiben drei Sekunden für eine Wegstrecke von vierzig Metern. Die Chance, unbeobachtet ins Innere der POD-2202 zu gelangen, liegt bei etwa achtundvierzig Prozent.«

»Warum versuchen wir es nicht an einer Außenschleuse des Schiffs? Warum sollten wir diesen komplizierten Umweg über den Ponton gehen?«

»Die POD-2202 ist ausgezeichnet geschützt. Nur über den Ponton sehe ich eine Möglichkeit, ins Innere des Raumers zu gelangen.«

»Na schön. Achtundvierzig Prozent sind eh gut. Besser als das, was du mir sonst anbietest. Warum aber kannst du uns nicht selbstständig ins Innere bringen? Was ist meine Aufgabe?«

»Es existiert im Übergangsbereich zwischen Schiff und Ponton ein Prüffeld, in dem nach positronischen Aktivitäten gesucht wird. Meiner Ansicht nach würde ich dort trotz der besten Abschirmung erkannt werden. Ich muss mich also für einige Sekunden desaktivieren.«

»Das hört sich nach einer interessanten Herausforderung an.« Der Unternehmungsgeist in Tenga erwachte, er zügelte sich mühsam. Es ging um andere Dinge als um sein persönliches Ego. »Berechne mir ein Einsatzszenario und mach die SCHOTE bereit. Wir versuchen unser Glück.«

Er griff nach der Pralinenschüssel.

Die Diät musste noch ein wenig warten.

 

*

 

Die SCHOTE war 58 Zentimeter lang und damit fast dreimal so groß wie Tenga. Das Kleinstschiff war windschnittig geformt. Es ähnelte vage einem Gleitertyp, der vor einigen Jahrhunderten Aufsehen erregt hatte und Käfer genannt worden war. Wo er diesen Spitznamen herhatte, vermochte Tenga nicht zu sagen.

Die SCHOTE konnte in Planetennähe ohne Einsatz von Steueraggregaten und mithilfe der beweglichen Doppelfinne durch die Atmosphäre gelenkt werden. Im Weltall wurden die Finnen nicht benötigt und blieben eingeklappt.

Tenga liebte sein Schiff. Es war perfekt für seine Bedürfnisse adaptiert, wie auch sein SERUN-DS. Wobei DS für Downsize stand und auf einen prächtig gewachsenen Siganesen mit der ebenso prächtigen Körpergröße von 22 Zentimetern zugeschnitten war.

Schiff und SERUN, würden ihm bei diesem Hochrisikoeinsatz zur Befreiung der gefangen genommenen Olubfaner gute Dienste leisten.

Tenga memorierte mehrmals jenen Kurs, den er fliegen musste. Er simulierte die Manöver auf einer virtuellen Prüfstrecke. KORN bewertete seine Arbeit und gab ihm Hinweise, wie er sich verbessern konnte.

»Deine Finger sind zu steif, die Blicksteuerung ist ein wenig unstet. Die Iriden bewegen sich um null Komma drei Prozent abweichend von der geforderten Präzision, vor allem im letzten Drittel des Prüfbereichs. Ausgerechnet dort, wo du am genauesten arbeiten solltest. Und du schwitzt. Die Nässe beeinträchtigt die Funktionalität der Sensorflächen um weitere null Komma eins Prozent.«

»Siganesen schwitzen nicht«, behauptete Tenga. »Los jetzt! Noch ein Testlauf. Der allerletzte.«

Die Simulation begann nach einem Countdown. Er wurde in eine virtuelle Umgebung gestoßen, die nur zum Teil die Realität widerspiegelte. KORN hatte es bislang nicht geschafft, den gesamten Prüf- und Grenzbereich zwischen Ponton und Doppelkeilschiff visuell zu erfassen. Also bekam er immer wieder konturlose Graubereiche zu sehen, die ihm die Arbeit erschwerten.

Drei ... zwei ... eins. Los!

Tenga setzte die SCHOTE in seiner Simulation in Bewegung. Er folgte einem Muster, das er eingeübt hatte und das etwa vierzig verschiedene Befehle innerhalb von drei Sekunden erforderte. Er musste Blicke mit Hand- sowie Fingerbewegungen koordinieren. Dazu kamen zwei leichte Körperverlagerungen, die es ihm erlaubten, das Kleinstschiff »umzulegen«.

Die Simulation endete. Das Abschlussbild zeigte die von Strahlschüssen erfasste und zerfetzte SCHOTE.

»Das war der schlechteste Versuch von allen«, sagte KORN. »Damit kommst du keine zehn Meter weit.«

»Dann ist ja alles gut.« Tengas Herz klopfte laut und vernehmlich. »Eine verpatzte Generalprobe führt immer zu einer gelungenen Premiere.«

»Das ist ein dummer Spruch. Zumal es nur diese eine Premiere geben wird.«

»Ja, ja, schon gut.« Tenga zerbiss eine Beruhigungspraline. Die Kokos-Haselnuss-Kreation zerging zart schmelzend auf seiner Zunge. »Wie lange dauert es bis zur nächsten Öffnung eines Zeitfensters?«

»Etwa vier Minuten. Du solltest dir vom SERUN ein Muskelrelaxans verabreichen lassen.«

»Nein, danke.«

Der SERUN ... Mit seiner Hilfe wäre die Steuerung des Kleinstschiffs problemlos gewesen. Aber er musste den Anzug ebenso desaktivieren wie die Positronik. Myriaden energetischer Fühler waren während der Passage in Richtung der SCHOTE gerichtet. Die Steuerimpulse des Schiffs würden dank der Warentransporte im Übergangsbereich unbemerkt bleiben. Der Einfluss einer Positronik nicht, und wenn sie noch so klein war wie die des SERUN-DS.

»Zwei Minuten. Mach dich bereit, Sholotow.«

Tenga griff nach der vorletzten Praline – Camana-Cous-Salz – und ging ein letztes Mal den Kurs durch. Es mochte sein, dass die Umgebung ganz anders gestaltet war, als er es in der Simulation wahrgenommen hatte. Er musste auf alle möglichen Probleme vorbereitet sein. Auf Arbeitsroboter, die ihm dazwischenfunkten, auf eine Abänderung des Algorithmus für die Steuerung der Schutzschirme am großen Schott zwischen Ponton und Ladhonenschiff, auf falsche Simulationsdaten ...

»Warum sind die Sicherheitsvorkehrungen eigentlich so rigoros?«, fragte er KORN. »Ein Schutzschirm im Bereich eines angeflanschten Schiffsteils ist ungewöhnlich.«

Die Positronik antwortete mit merkbarer Verzögerung. »Es scheint so, als würden an Bord der POD-2202 besonders strikte Regeln gelten. Mehr kann ich nicht sagen, weil mir der Vergleich fehlt.«

Dieses Schiff der Ladhonen war also etwas Besonderes. Was unterschied es von anderen Raumern seiner Art?

»Noch eine Minute bis zum Einsatz. Ich gehe unmittelbar davor in Stand-by, die Positronik deines SERUNS ebenfalls.«

Tenga zwang sich zu einer regelmäßigen Atmung. Eine Klammer umfasste seinen Kopf, wodurch der Blickkontakt mit der Schiffssteuerung fixiert wurde. Ein Fadenkreuz erschien unmittelbar vor ihm. Er führte die üblichen Konvergenzbewegungen durch, um die Sehachsen zusammenzubringen.

Die SCHOTE hatte sich während der letzten halben Stunde unbemerkt an ein Wartungsschott herangearbeitet. Es würde in 33 Sekunden aufgehen, das Schiffsprotokoll der POD-2202 würde den Vorgang als Wartungsfehler verbuchen. Zumal KORN einen Meteoroideneinschlag in der Nähe des Öffnungsmechanismus simulieren würde. Und zwar in 18 Sekunden.

Letzte, gleichmäßige Atemzüge. Die Einsatzpraline. Pfefferminzgeschmack, scharf und wohltuend.

Die Schleusentür reagierte auf die Simulation eines Meteoroidentreffers und öffnete sich in Zeitlupentempo. KORN nahm einige Wahrnehmungen aus dem Ponton-Inneren auf und leitete sie augenblicklich auf das virtuelle Sichtfeld vor Tengas Augen weiter. Die Eindrücke verschwammen für kurze Zeit, er blinzelte. Das letzte Mal vor Beginn des Kurzeinsatzes – und vielleicht das letzte Mal in seinem Leben.

»Für Siga!«, sagte er leise.

KORN glitt in einen positronischen Schlummer, die Steuerung seines SERUNS ebenfalls. Die Hand- und Fingerbewegungen fielen Tenga nun schwerer, doch darauf war er vorbereitet.

Drei Sekunden Anlaufzeit. Die Umgebung im Inneren erfassen. Orientieren und visualisieren. Den einstudierten Kurs mit den realen Bedingungen in Einklang bringen.

Die Aktivortung funktionierte auf geringem Energieniveau. Tenga erhielt jene Daten, die er brauchte. Das Bild vor seinen Augen wurde klarer. Vor ihm schwebten riesige, milchig weiße Teile in einer endlos wirkenden Reihe, Olubfaner sah er keine. Antigravplattformen bewegten die Paneele vorwärts. Ihren Zweck verstand Tenga nicht, es interessierte ihn auch nicht. Kein Ladhone war zu sehen, mehrere unförmige Roboter verrichteten unweit voraus ihre Arbeit. Fast alles geschah automatisch. Etwa dreißig Meter vor ihm entdeckte er jene Flanschstelle, die den Übergang zur POD-2202 markierte.

Drei Sekunden waren vergangen, mehr Zeit blieb ihm nicht zur Orientierung.

»Los jetzt!«, feuerte er sich an.

Tenga beschleunigte die SCHOTE. Das Schiff raste an einer milchig weißen Platte vorbei, passierte mehrere Infrarotmesspunkte, übersprang im Schutz eines würfelförmigen Arbeitsroboters eine energetische Kontrollstelle ...

Er bremste abrupt ab. Heiliges Siga! Die Schutzschirme stellen auf einen neuen Algorithmus um, ausgerechnet jetzt! Du musst improvisieren, Junge!

Er hielt die SCHOTE im Schutz eines der großen Plattenelemente und trieb behäbig zurück, für mindestens eine Sekunde. Rechts und links von ihm, entlang der Wände, klebten kaum erkennbare Sensorstreifen. In sie waren Fühler und Messsonden integriert, die auf Veränderungen der Luftmischung, energetische Ladungen, Verwirbelungen und viele andere Faktoren reagierten.

Tenga wusste nicht, wie lange er seinen Steuerrhythmus beibehalten könnte. Mehr als fünf Sekunden war er bereits der Tortur immens rascher und konzentrierter Bewegungen ausgesetzt. Es war wie ein kontrolliertes Zittern, das dazu diente, ladhonische Messpunkte links, rechts, oben und unten davon zu überzeugen, dass die SCHOTE gar nicht existierte. Er blendete die Geräte, neutralisierte ihre Wirkung, gaukelte ihnen etwas vor.

Er passte sich dem Algorithmus an. Ein weiteres Maschinenelement schwebte – scheinbar – durch den Schutzschirm, der den Ponton vom Mutterschiff trennte.

Er hätte warten und im Schutz des nächsten Elements überwechseln sollen. Doch er hatte keine Geduld, keine Kraft dazu. Also bewegte er sich vorwärts. Der Schutzschirm umschmiegte das entgegenkommende Plattenelement beinahe vollkommen – aber nur beinahe. Links und rechts davon blieben dreißig Zentimeter Sicherheitsabstand zur Platte. Er steuerte die SCHOTE darauf zu, raste in Handsteuerung an der linken Seite des plattenförmigen Dings vorbei, nutzte den ladhonischen Schirm zu seinem Vorteil und glitt gerade rechtzeitig daraus hervor, bevor ein Sensor den Fremdkörper registrieren konnte.

Geschafft!

Tenga steuerte die SCHOTE in die erstbeste dunkle Nische, landete das Kleinstschiff auf dem Boden, aktivierte KORN und löste sich aus der Steuerung.

Die Positronik des SERUNS erwachte aus ihrem kurzen Schlummer. Sie maß seine Körperwerte an und sendete einen kleinen Alarm an das Medosystem im Tornister des Anzugs.

Alles tat Tenga weh. Seine Augen, seine Finger, die Beine, der Magen ...

»Das ist bemerkenswert«, hörte er KORN sagen. »Du hast es trotz der unvorhersehbaren Verzögerung geschafft. Und das, obwohl mir die Manöveraufzeichnung zeigt, dass die Präzision bei bloß sechsundneunzig Prozent lag.«

»Ich brauche eine Erholungsphase«, sagte Tenga, ohne auf die Worte des Rechners einzugehen. »Gib mir einige Minuten Zeit.«

KORN erfüllte seinen Wunsch ohne Widerwort. Der Deflektorschirm war ein hyperenergetisches Feld, das das von ihm umschlossene Schiff unsichtbar machte. Dazu kamen ein ausgezeichneter Ortungsschutz und die maximale Abstrahldämpfung.

Die SCHOTE war nicht nur ein Raumschiff; es war Tenga trotz der beengenden Umstände zum Rückzugsort geworden. Hier drin fühlte er sich wohl. Vor allem, wenn die eine oder andere Stresslinderungspraline zur Verfügung stand.

 

*

 

Tenga erholte sich ebenso schnell, wie er sich verausgabt hatte. Trotz seiner relativen Jugend von vierzig Jahren ging bereits eine lange Liste an Einsätzen auf sein Konto.

»Beautricce-Drei und der Untergang des Kundschafterschiffs YOUNION«, sagte er leise. »Der Kampf gegen tefrodische Einsatzteams auf Terra. Der Fall Widrum auf Lepso. Dieser mysteriöse Fall mit der vorgeblichen Wiedererweckung Ronald Tekeners ...«

»Du redest zu viel mit dir selbst, Sholotow«, mäkelte KORN. »Konzentrier dich auf deinen Einsatz.«

Die Positronik verstand nicht. All diese Einsätze waren überaus präsent in seinen Erinnerungen. Für ihn lagen sie bloß einige Monate oder Jahre zurück.

Tenga war an Bord der RAS TSCHUBAI geblieben, als diese eine Reise ins Zeitenchaos angetreten hatte – und hatte dabei fünfhundert Jahre übersprungen.

Verlorene Jahrhunderte.

Hatte er noch Familie? Gab es irgendwo Archive, in denen sein Name verewigt war?

Er tat sich schwer, diese neue Zeit zu begreifen, zu verinnerlichen. Er war noch nicht ganz angekommen.

Tenga konzentrierte sich neu. Er ließ sich jene Eindrücke liefern, die die SCHOTE während der letzten Minuten zusammengefasst hatte. Sie befanden sich nach wie vor an der Heckperipherie des Doppelkeilschiffs. Der offene Funkverkehr innerhalb des ladhonischen Raumers war zwar zum Teil entschlüsselt worden, doch er lieferte nur wenige neue Informationen. KORN arbeitete daran, die verschlüsselte Kommunikation zu verstehen und zu interpretieren. Immerhin hatte er bereits einige Befehlscodes aufgefangen und ihren Zweck interpretiert.

»Ich mag die Sprachen der Ladhonen nicht«, sagte Tenga. »Sie reden viel zu schnell und zu abgehackt.«

»Das ist ein völlig sinnloses Werturteil, Sholotow.«

Tenga verzichtete auf eine Erwiderung. »Ein direkter Hyperfunkkontakt mit der BJO BREISKOLL ist so gut wie ausgeschlossen«, sagte er. »Ich würde mich sofort verraten, sollte ich es versuchen. Ultrageraffte eng gebündelte Peilimpulse hingegen ...«

»... haben wahrscheinlich den gleichen Effekt. Die Ladhonen sind sehr aufmerksam, um nicht zu sagen: paranoid. Hätten sie sonst diese vielen Sprünge so schnell nacheinander durchgeführt? Wir dürfen ihnen keine Gelegenheit geben, Verdacht zu schöpfen. Zumal die POD-2202 in den nächsten Minuten erneut transitieren dürfte – wir sind schon viel zu lange an einem Ort geblieben, nur wegen dieses Warentransfers. Er muss also bedeutsam für die Piraten sein.«

Tenga dachte nach. Der Löschvorgang der Ladung – woraus mochte sie noch bestehen außer den Olubfanen? – hatte eine gute halbe Stunde gedauert. Für Paranoia-Piraten ließen sich die Ladhonen gehörig Zeit. Sie benahmen sich plötzlich, als hätten sie keinerlei Verfolgung zu befürchten. Und das, nachdem sie eine Welt überfallen hatten und Schiffe der Friedenswächter aufgetaucht waren, der Cairaner.

»Da stimmt etwas ganz und gar nicht«, sagte er laut. »Die Ladhonen sind für meinen Geschmack viel zu selbstbewusst.«

»Sie kennen die Reaktionen der Cairaner. Es scheint ein etabliertes Katz-und-Maus-Spiel zwischen den beiden Parteien zu sein.«

Es war müßig, länger über das Thema zu diskutieren. Tenga musste aktiv werden, wollte er mehr über die Ladhonen herausfinden und die Olubfaner befreien.

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Illustration: Swen Papenbrock

»Ich will einen Überblick haben«, forderte er von KORN. »Wie komme ich an Daten und Archive heran? Wo finde ich die Gefangenen und wie gelange ich zu ihnen?«

»Die Datenlage ist noch zu gering, um ...«

»Gib mir alles, was du bis jetzt hast.«