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Nr. 3004

 

Der Vital-Suppressor

 

Im Straflager der Cairaner – sie sind Pilger der Ausweglosen Straße

 

Christian Montillon

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog

1. Geduld und Entzugserscheinungen

2. Vertrauen und Philosophie

3. Paragraphen und ein Sarg

4. Highlights und Prioritäten

5. Anflug und Codeknacker

6. Einbruch und Zellaktivator

7. Bündnisse und Feindschaften

8. Vitalität und Untergang

Epilog

Report

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Mehr als 3000 Jahre in der Zukunft: Längst verstehen sich die Menschen als Terraner, die ihre Erde und das Sonnensystem hinter sich gelassen haben. In der Unendlichkeit des Alls treffen sie auf Außerirdische aller Art. Ihre Nachkommen haben Tausende von Welten besiedelt, zahlreiche Raumschiffe fliegen bis zu den entlegensten Sternen.

Perry Rhodan ist der Mensch, der von Anfang an mit den Erdbewohnern ins All vorgestoßen ist. Mit immer größeren Raumschiffen hat er das Universum bereist.

Zuletzt ist Perry Rhodan mit seinem Raumschiff, der RAS TSCHUBAI, zu einer langen Reise ins Unbekannte aufgebrochen. Mit an Bord sind unter anderem seine Frau Sichu und einige seiner alten Freunde, darunter der Mausbiber Gucky und der Arkonide Atlan.

Die Reise führt durch Raum und Zeit. Aber Perry Rhodan und seine Gefährten schaffen schließlich den Weg zurück in die heimatliche Milchstraße.

Sie erreichen eine neue Zeit: die Cairanische Epoche. Vieles ist anders geworden seit ihrem Aufbruch. Unter anderem glauben viele Menschen nicht mehr an die Erde, halten sie sogar für einen Mythos. Und neue Machtstrukturen haben sich herausgebildet, neue Völker sind emporgestiegen. Um ihre Herrschaft zu sichern, kennen sie viele Wege. Einer davon ist die Ausweglose Straße – und DER VITAL-SUPPRESSOR ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Der Terraner verlässt sich auf den Schutz seines Zellaktivators.

Tsaras – Der Sliwaner hat kaum Überlebenschancen auf einer Welt ohne Sonne.

Giuna Linh – Die junge Frau weigert sich aufzugeben.

Doktor Spand – Der Arzt benennt eine Krankheit.

»Frieden bedeutet, die Situation unter Kontrolle zu halten.«

– Caluroc zugeschrieben, dem ersten Cairaner, der sich an die Völker der Milchstraße wandte –

 

Prolog

 

Die Sonne ging niemals auf und niemals unter.

Tsaras wunderte sich, dass er ausgerechnet das am meisten vermisste, bei all dem Elend, das das Leben auf der Ausweglosen Straße bereithielt.

Genau genommen gab es nicht mal eine Sonne in diesem abgeschlossenen, isolierten Straflager der Cairaner. Nur das Licht, das ständig und unablässig von überall und nirgends kam. Es mochte allgegenwärtig sein, bot aber weder Wärme noch Hoffnung.

Tsaras fror in jedem einzelnen Augenblick, wenn er genug Kraft aufbrachte, überhaupt etwas zu empfinden – falls er nicht apathisch vor sich hinvegetierte, am Leben gehalten durch die Hilfe zweier Mitgefangener.

Ob die Cairaner wussten, was sie ihm antaten, indem sie ihn auf die Ausweglose Straße verbannten? War ihnen nicht klar, dass sie Echsenartige wie die Sliwaner strenger bestraften als alle anderen? Ihr Körper benötigte die Wärme der Sonne, die sein Blut erhitzte und seinem Leib Aktivität und Geschmeidigkeit schenkte. Ohne das blieb er kalt, starr und träge.

Unfähig zu leben, aber auch unfähig zu sterben.

Sämtliche Gefangenen litten unter vergleichbaren Symptomen, sobald sie die Ausweglose Straße erreichten. Dafür sorgte der Vital-Suppressor, jene schreckliche Maschine der Cairaner, die Lebenskraft und Energie unterdrückte ... wie immer diese grausame Technologie funktionieren mochte. Tsaras wusste es nicht, und er hatte genug damit zu tun, zu überleben, als dass er sich um solche Fragen kümmern könnte. Denn ihn traf es mehr als jeden sonst.

Allerdings fragte er sich, wieso er überhaupt weiterleben sollte. Was brachte ein Dasein in Qual, wenn er zu allem Überfluss seinen Begleitern Desach und Lirach ständig zur Last fiel? Die Heimatwelt der beiden Humanoiden war von den Cairanern befriedet worden. Desach und Lirach hatten mit ihrer Familie gegen diese Einmischung Widerstand geleistet und als Einzige aus ihrer Verwandtschaft die Friedensstiftung überlebt. Nur um danach als Kriegstreiber auf die Ausweglose Straße deportiert zu werden.

Tsaras verdankte ihnen sein Leben. Sie zogen ihn unablässig mit sich und versorgten ihn mit Nahrung. Seine Gegenleistung bestand darin, über ihren Schlaf zu wachen, denn als Sliwaner hatte er die Fähigkeit, beim geringsten Anzeichen von Gefahr sofort aufzuwachen und sich zu verteidigen.

Wobei das Verteidigen in dieser Strafanstalt, deren Kälte ihn nahezu zur Unbeweglichkeit verdammte, nicht mehr galt. Immerhin blieb die Möglichkeit, die anderen mit Rufen zu wecken, während er auf seiner Pritsche versuchte, die starren Glieder zu bewegen.

Für die aktuelle Schlafphase – von einer Nacht konnte bei der ständig gleichbleibenden Helligkeit keine Rede sein – nutzten sie einen heruntergekommenen Schuppen. Die windschiefe Baracke klebte am Rand eines kleinen Kraters, an dessen Grund ein See schillerte. Dieses Gewässer hielt natürlich nicht das, was es versprach. Es lieferte weder trinkbares Wasser noch Fische oder andere Nahrung ... sondern nur eine salzige Brühe.

Tsaras war vor wenigen Minuten erwacht und lauschte durch das Fensterloch in die Weite des Kraters. Die Geräusche waren eintönig und monoton. Der von den Maschinen der Ausweglosen Straße künstlich erzeugte Wind pfiff eine ewige, scharrende, unmelodiöse Melodie. Im See blubberten die Schwaden eines aufsteigenden Giftgases, das sich am Kraterboden verteilte wie leichter Nebel.

Plötzlich erklang noch etwas anderes.

Ein neuer Laut: Schritte.

Aber von wem? Näherte sich ein Gefangener? Ein Raubtier? Wer wollte sich zu ihnen gesellen – ein Flüchtender oder der Tod, der in zahlreichen Erscheinungsformen durch das Straflager strich?

Tsaras versuchte, eine Entscheidung zu fällen.

Desach und Lirach brauchten dringend Schlaf. Wenn sich ihre Körper nicht regenerierten, würden sie bald versagen. Sogar wenn er die ständige auszehrende Wirkung des Vital-Suppressors nicht in Rechnung stellte, hatten sie in den letzten Wochen mehr geleistet, als man irgendjemandem zumuten sollte. Sie sahen von Tag zu Tag ausgezehrter aus und verloren Haare – was bei ihrem Volk als schlechtes Zeichen galt.

Sie nannten sich selbst Menschen, und ihre Vorfahren hatten angeblich auf einem Planeten namens Terra gelebt. Von Terra hatte Tsaras gehört, eine Welt, die es in manchen Geschichten gab, die viele jedoch als reines Phantasiegebilde betrachteten. Ob Lirach und Desach von dort kamen, war ihm aber gleichgültig – sie halfen ihm.

Für sie war er ein Echsenwesen, die Schuppenpanzerung, die starren Augen empfanden sie als fremdartig. Das Gleiche hätte er über ihre bleiche, wehrlos dünne Haut sagen können. Es zählte nur, dass sie sich gegenseitig beistanden.

Und das hieß momentan, dass er sie nicht wecken durfte. Andererseits konnte jedes Zögern ihren Tod bedeuten, sobald ein Raubtier sie als Opfer witterte.

Tsaras musste die Starrheit seiner Glieder abschütteln! Er erhob sich mühsam. Wenn es nur etwas wärmer wäre! Nur ein klein wenig!

Es gelang ihm, sich aufzustemmen und an der Wand in die Höhe zu ziehen, bis er auf den Hinterbeinen stand. Er versuchte, sich mit dem Echsenschwanz abzustützen, um das Gleichgewicht zu halten. Endlich konnte er durch das Fensterloch nach draußen sehen.

Nichts.

Es gab nur die karge Kraterwand und den in der ewigen, gleichbleibenden Helligkeit schillernden Salzsee.

Hatte er sich das Geräusch von Schritten nur eingebildet? Es wäre nicht das erste Mal, dass ihn Halluzinationen plagten, wenn ihn der Lebensmut so sehr verließ, dass sein Bewusstsein kapitulieren wollte.

Kälter als an diesem Ort konnte es selbst nach dem Tod nicht sein. Oder? Philosophen der Sliwaner beschäftigten sich seit jeher mit der Frage, ob es im Danach überhaupt Temperatur gab. Nicht einmal Harness, der weiseste Denker dieser Generation, vermochte darauf eine gültige Antwort zu liefern. Sein Denkansatz lautete, dass es gar keinen Körper mehr gab, der Wärme benötigte. Eine Auffassung, die Tsaras immer besser gefiel, je länger er sich in der Ausweglosen Straße quälen musste.

Plötzlich hörte er das Klackern eines Steins, der wegrutschte, nach unten kullerte, gegen einen anderen stieß und ihn mit sich in die Tiefe riss. Eine kleine Lawine prasselte den Krater hinab. Sie nahm neben dem Unterschlupf ihren Anfang, in jenem Bereich, den Tsaras nicht einsehen konnte.

Etwas schlich sich an, und es war schlau genug, sich zu verbergen.

Der Sliwaner öffnete den Mund und rollte die Zunge aus. Sie pendelte einen halben Meter weit. Er schloss die Augen, um sich voll auf die Geruchswitterung zu konzentrieren. Was er sah, trog womöglich – was er roch, entsprach immer der Wahrheit.

Es stank nach wilder Aggression und schäumendem Blutdurst.

Tsaras zog die Zunge ein. Der Geschmack der instinktiven Gier überwältigte ihn schier und umklammerte sein Herz.

Er nahm den Kopf zurück. »Desach«, rief er. »Lirach!«

Die Worte kamen kraftlos und leise. Die Freunde wachten nicht auf. Um Zeit zu gewinnen, wählte er eine simple Methode: Er ließ seinen schweren Körper fallen und krachte auf alle viere. Eine abstehende Schuppe schrammte misstönend über den harten Boden.

Die beiden Humanoiden schreckten hoch. Desachs Hand tastete nach der rostigen Messerklinge, die neben seiner stinkenden Matte lag. Lirach setzte sich auf und sank sofort wieder zurück. Seine Arme zitterten, er ächzte.

»Ein Raubtier«, sagte Tsaras. »Ich konnte es nicht sehen, aber es schmeckt nach einem Yiru-Löwen.« Die sehnigen, sechsbeinigen Jagdkatzen waren offenbar Lieblinge der Cairaner – mindestens zwei Dutzend von ihnen lebten auf der Ausweglosen Straße.

»Ein Rudel?«, fragte Desach. Manchmal schlossen sich die Yirus zusammen – dann galt ein Entkommen als unmöglich.

»Ich glaube nicht«, sagte Tsaras.

»Lirach, komm!« Desach streckte seinem Bruder die Hand hin, doch der blieb liegen.

»Ich kann nicht.« Lirachs Augen blickten starr ins Leere.

»Du musst.« Als keine Reaktion kam, ergänzte Desach: »Für Tsaras. Er braucht uns.«

Die Worte waren wie ein Dolchstoß für den Echsenartigen, und sie halfen ihm, eine längst überfällige Entscheidung zu fällen. »Vielleicht ist meine Zeit gekommen. Ich glaube, ich darf euch endlich etwas von dem zurückgeben, was ihr mir geschenkt habt. Der Löwe soll sich mit mir beschäftigen, während ihr flieht.«

»Unfug!« Desach hob die Klinge. »Wir kämpfen.«

Lirach stand auf, aber er brach wieder in die Knie. Er bot ein Bild des Elends, seiner Kraft und seines Lebenswillens wegen des ständigen Überlebenskampfes und durch den Vital-Suppressor beraubt.

»Das können wir nicht«, sagte Tsaras. »Nicht mehr.«

»Hinter mich!« Desach hob die Waffe und umklammerte den Griff so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Flieht!, wollte der Sliwaner erneut rufen, da explodierte die Wand des Schuppens.

Der Yiru-Löwe brach in einem Regen aus Holzsplittern hindurch. Braungelbes Fell schimmerte im Licht. An einem der Läufe war es blutverkrustet. Das Tier krachte auf und brüllte. Geifer rann von den Reißzähnen.

Desach schrie und sprang auf die Raubkatze zu. Das rostige Messer beschrieb einen Bogen in der Luft, als er ausholte und zustach. Er wollte die Schneide in den Hals des Löwen rammen, doch traf nur ein Vorderbein.

Der Yiru hieb mit der anderen Vorderpranke zu und schleuderte Desach von sich, der seine einzige Waffe nicht losließ. Sie wurde aus der Wunde gerissen. Blutstropfen lösten sich von der Klinge.

Die Verletzung machte die Bestie nur wütender. Sie sprang auf ihren Angreifer zu.

Tsaras sah seine Chance, sein Angebot in die Tat umzusetzen. Ob seine beiden Freunde es wollten oder nicht ... er würde sich für sie opfern. Er kam in die Höhe und ließ sich zur Seite fallen, gerade als das Raubtier an ihm vorbeisprang. Der Yiru erwischte ihn, riss ihn mit sich und schüttelte sich ärgerlich.

»Nein!«, hörte er Desachs Ruf, dann krachte Tsaras gegen die hölzerne Wand der Baracke. Er spürte, wie ihm dicht unterhalb des Kopfes Schuppen aus dem Panzer brachen – in der Kälte waren sie hart, aber leichter als sonst in seinem Fleisch verankert.

Blut floss aus der Wunde, und die milde Wärme, immerhin ein wenig mehr als die Luft um ihn her, fühlte sich köstlich an.

Vielleicht war es dieser Geruch von Angst und wilder Entschlossenheit, möglicherweise lediglich instinktive Wut, die den Löwen dazu brachte, nun Tsaras als seine erste Beute zu sehen. Die Raubkatze sprang, prallte gegen ihn, und während der Sliwaner glaubte, zerquetscht zu werden, barst die hölzerne Wand des Schuppens, und gemeinsam brachen sie hindurch.

Er fiel.

Tiefer, als er gedacht hätte, sekundenlang die steil abfallende Kraterwand hinab, bis er endlich aufschlug. Der verhärtete Schuppenpanzer milderte das Schlimmste ab, aber während er weiter hinabschlitterte, sah er Schuppenplatten über sich, Teile seines Körpers. Die Bestie versuchte geifernd, Halt zu finden.

Tsaras wollte sich krümmen, doch seine Glieder gehorchten ihm nicht.

Dann: Wasser.

Er stürzte in den Kratersee. Das Salzwasser brannte wie lodernde Flammen in seinen Wunden. Es spülte in seinen Mund und schmeckte schweflig nach dem Giftgas, das in dicken Blasen aufstieg.

Als heiße Blasen.

Mitten im Schmerz, in der Panik und der allgegenwärtigen Schwäche spürte Tsaras etwas von dem, was er längst für immer verloren geglaubt hatte: ein wenig jener Kraft, die den Sliwanern einen legendären Ruf verlieh, kehrte in seinen Körper zurück.

Er hob den Kopf aus dem See. Giftige Schwaden trieben um ihn her. Er versuchte, nur flach einzuatmen, um möglichst wenig Giftgas in sich hineinzulassen, aber er kostete die Hitze und das Leben aus, das die Dunstwolken durch seinen Leib pulsten.

Als der Löwe auf allen sechsen im Wasser stand, das Maul aufriss und ihn fixierte, sah Tsaras keinen Jäger mehr, sondern Beute. Er wich dem ersten Angriff mühelos aus, umrundete die Raubkatze, kam in ihren Rücken, sprang hinauf und biss ihr in den Nacken. Zweimal. Dreimal. Bis sie sich nicht mehr regte. In ihrem Blut verbarg sich weiteres, warmes Leben.

Der Sliwaner zerrte das Biest aus dem Wasser und ein Stück den Kraterrand empor, bis die Kälte zurückkehrte.

Und mit ihr die Schwäche.

Tsaras ließ los und sah seine Freunde, die den Kraterabhang hinunterkletterten, nur noch wenige Meter entfernt. Die schmutzige Kleidung hing über Desachs Brustkorb in Fetzen, aber die Kratzwunden sahen nicht tief aus.

Am liebsten wäre Tsaras in die Hitze der giftigen Schwaden zurückgekehrt, doch das Giftgas machte es unmöglich. Was nützte es, stark zu sein und im nächsten Moment unter Krämpfen zu sterben?

»Ich habe etwas für euch«, sagte er, und jedes Wort fiel ihm bereits schwerer als das vorherige.

Das Fleisch des Yiru schmeckte gebraten besser als das der meisten Tiere im Straflager ... wobei viele gar nicht essbar waren. Das Yirufleisch aber würde ihnen für einige weitere Tage Kraft verleihen.

Falls sie überlebten und die nächste Gefahr sie nicht umbrachte.

So war es eben, das Leben und Sterben auf der Ausweglosen Straße.

1.

Geduld und Entzugserscheinungen

 

»Erinnerst du dich an jenen Tag«, sagte Giuna Linh, »an dem wir unseren Sessel durch den Transmitter schickten? Wie teuer es war?« Sie lachte oder versuchte es zumindest. »Und wie die Akonen am Empfangsgerät das klobige Ding angestarrt haben? Sie dachten, wir wären verrückt.«

Sie sprach zu ihrem Mann, aber Lanko Wor antwortete nicht. Natürlich nicht. Er lag im Koma, seit sie ihn aus der Ausweglosen Straße befreit hatte. Mehr als zwei Wochen war er nun schon ein zerschlagenes, blasses, hinfälliges Etwas in der körperlichen Hülle des Menschen, den sie liebte. Und die Cairaner trugen daran die Schuld, im Namen des Friedens, den sie über die Milchstraße brachten.

»Na ja«, meinte sie, »vielleicht stimmte das ja auch. Wir dachten, die Galaxis gehört uns.« Und damit waren Lanko und sie lange durchgekommen. Sie hatten sich da und dort entlanggemogelt und am Ende eine interessante, herausfordernde Arbeit in der Baustelle eines akonischen Etappentransmitters gefunden.

Oder nein, das eigentliche Ende dieses Abschnitts ihres Lebens bildete jener Augenblick, als sich Lanko einem Cairaner widersetzte und auf die Ausweglose Straße deportiert wurde. Wie lange war das her?

Eine Ewigkeit.

Monate.

»Was denkst du?«

Giuna zuckte zusammen, als sie die Worte hörte. Einen winzigen Moment dachte sie, ihr Mann hätte gesprochen. Lächerlich. Sie drehte sich um und sah Spand an, den Ara, der Lanko medizinisch versorgte. Doktor Spand, um genau zu sein. Auf diesem Namenszusatz bestand er.

»Willst du es wirklich wissen?«, fragte sie.

»Wieso sollte ich dich fragen, wenn nicht?«

»Ich dachte daran, dass ich auf Frieden verzichten kann, solange er so aussieht wie das, was die Cairaner in der Milchstraße durchsetzen.«

Der Ara beugte sich vor. Das Stethoskop um seinen Hals baumelte frei. Der sonst stramm über dem Oberkörper sitzende weiße Kittel schlug eine Falte im Bauchraum. »Du denkst an Politik?« Sein Atem roch nach den blauen Zwiebeln des hiesigen hydroponischen Gartens und nach Fleisch. Offenbar hatte er gerade gegessen. War es Zeit dafür? Giuna vergaß es häufig, wenn sie bei Lanko saß. Was sie meistens tat.

»Hast du nichts Besseres zu tun«, fragte er, »hier im Krankenraum?«

Sie hob die Schultern. »Was schlägst du vor?«

»Iss etwas. Als dein Arzt kann ich nicht gutheißen, wie wenig du zu dir nimmst.«

»Ich wüsste nicht, dass du mein Arzt bist.«

»Du lebst in der TREU & GLAUBEN. Ich bin der Chefmediker an Bord.« Er schnippte mit Mittelfinger und Daumen beider Hände. »Also bin ich dein Arzt. Eine einfache Rechnung.«

Giuna stand auf. Der Stuhl, auf dem sie jeden Tag etliche Stunden verbrachte, war nicht sonderlich bequem. Ihre Wirbelsäule schmerzte, und der Rücken fühlte sich hart an. »Ich habe keinen Hunger.«

»Du lügst«, sagte er.

»Praktizierst du nebenbei auch noch als Kosmopsychologe oder gar als Prophet, Doktor Spand?«

»Ich nutze lediglich meinen gesunden Verstand. Du hast abgenommen, und das in zu großem Maß.«

»Was geht dich mein Gewicht an?«

»Ich bin dein Arzt«, sagte er trocken.

»Wir drehen uns im Kreis. Und wenn ich ehrlich sein soll, bist du mir zu exzentrisch, als dass ich mich dir anvertrauen könnte.«

»Ich?« Er klang aufrichtig irritiert. »Wieso?«

»Der Kittel. Das Stethoskop um deinen Hals. Dein Beharren darauf, Doktor genannt zu werden.« Giuna winkte ab. »Muss ich weitermachen?«

»Diese Dinge stehen in meinem Vertrag. Er verlangt von mir, so aufzutreten.«

Das verschlug ihr die Sprache. Ihr fiel nur ein verblüfftes »Was?« ein.

»Die TREU & GLAUBEN gehört Kondayk-A1. Das dürfte dir nicht neu sein. Falls du jemanden exzentrisch nennen willst, dann bitte ihn. Er hat all diese Punkte vertraglich fixiert. Wenn du mich fragst, sollte er lieber Handel treiben, als sich in medizinische Belange einzumischen, denn das kann er. Dafür ist er berühmt. Und weil ich – von solchen Äußerlichkeiten abgesehen – ein guter Arzt bin, ordne ich hiermit an, dass du etwas essen musst. Ich hingegen kümmere mich um meinen Patienten.« Er wies in Richtung Ausgang. »Raus hier! Sofort!«

Giuna ergriff die Hand ihres Mannes und drückte sie. Er reagierte nicht. Sie ging nach draußen, und wie immer, sobald sie die Medostation verließ, fühlte sie sich verloren.

Nach Lankos Deportierung hatte sie ein klares Ziel verfolgt – ihn zu befreien. Das war gelungen, wenn auch nicht so wie erhofft. Wegen der verzweifelten Aktion musste sie ganz nebenbei ihr bisheriges Leben hinter sich lassen. Die Cairaner kannten ihren Namen, wussten, dass sie ihren Mann befreit hatte.

Damit galt sie als vogelfrei, durfte sich weder im akonischen Etappentransmitter noch sonst irgendwo in der Milchstraße frei bewegen. Die Cairaner und ihre Spione waren überall.

Dass Giuna in der TREU & GLAUBEN Zuflucht gefunden hatte, sah sie als wahren Segen an, denn das Schiff war mehr als das, was es zu sein schien. Der Kommandant Kondayk-A1 und dessen Buchhalter Cyprian Okri gehörten dem Nachrichtendienst Ephelegon an – dem Geheimdienst der Liga Freier Galaktiker, der im Geheimen gegen die Cairaner arbeitete. Das wusste nicht einmal die sonstige Besatzung, die glaubte, im Handelsschiff eines extrem erfolgreichen Barniters Dienst zu schieben.

Kondayk und Okri hatten geholfen, Lanko zu befreien. Zum Glück waren die beiden dabei unentdeckt geblieben, sodass die TREU & GLAUBEN nach wie vor einen sicheren Hort bildete und nicht im Fokus ihrer Gegner stand.

Aber dieser Zufluchtsort beschränkte Giuna auch. Gewissermaßen war sie eine Gefangene, die weder in ihr altes Leben zurückkehren noch den Raumer verlassen durfte.

Sie schob die Grübeleien wegen ihrer unsicheren Zukunft beiseite. Was sollte sie als Nächstes tun? Tatsächlich etwas essen, wie Doktor Spand es ihr befahl?

Kaum dachte sie darüber nach, knurrte ihr der Magen. Aber sie wollte die Zeit nicht allein verbringen. Ihre Gedanken befanden sich in einer Abwärtsspirale, seit die Umstände sie zum Nichtstun als Partnerin eines Komapatienten zwangen. Sie sehnte sich danach, die Dinge anzupacken, die Lage zu ändern, vielleicht gegen Cairaner zu kämpfen, bis sie unterging ...

Stattdessen saß sie in diesem Schiff fest und wartete.

Und wartete.

Sie hasste es.

Sie hob den Arm und tippte den Notfallcode in das Kommunikationsarmband, der eine Verbindung zum wichtigsten Mann der TREU & GLAUBEN aufbaute: dem äußerlich so unauffälligen Anführer des geheimen Agentenduos.

»Ja?«, meldete sich Cyprian Okri, offiziell der terranische Buchhalter, Diener oder Sklave des barnitischen Kapitäns, je nachdem, wen man fragte. Gut kam er dabei sehr selten weg, was ihn jedoch nicht im Geringsten scherte.

»Ich bin's«, sagte sie. Ihren Namen musste sie nicht nennen.

»Ich weiß. Du bist die Einzige, die diesen Notfallcode nutzen kann. Aber du klingst nicht, als gäbe es einen echten Notfall.«

Giuna dachte an Lankos regloses, eingefallenes Gesicht. »Oh doch. Den gibt es. Mein Arzt sorgt sich um mich und hat mir eine Mahlzeit verschrieben. Hast du Zeit?«

 

*

 

Das Brotgebäck verschwand in der kochenden Sauce. Eine Luftblase stieg auf und platzte. Es roch nach Birnenpilzen – und einem Hauch Alkohol.

Cyprian Okri stocherte mit einer Langgabel in der dunkelblauen, zähen Flüssigkeit. Der eher schmächtig gebaute Terraner war – anders, als sein Anblick vermuten ließ – ein geübter und geschickter Kämpfer. Er trug das Haar grau gefärbt, um älter und damit harmloser zu wirken – eben ein Buchhalter, den man sofort vergaß, nachdem man an ihm vorbeigelaufen war. Er fand das Stück wieder, spießte es auf, zog es zurück und drehte es bedächtig in der Luft. Es dampfte und verbreitete einen verführerischen Duft.

»Also, Giuna, worum geht es?«

Sie hatte ihr bestelltes Essen bisher nicht erhalten. Ob es Zufall sein konnte? Oder erhofften sich die Restaurantbetreiber einen Pluspunkt beim Buchhalter des Kapitäns?

»Wir müssen etwas tun, Cyprian«, sagte sie, während ihr Magen so laut knurrte, dass es ihr peinlich war. »Ich muss etwas tun. Sonst verliere ich den Verstand. Ich kann mich nicht länger hier verstecken wie ...« Sie brach ab.

Er legte die Gabel vor sich ab. »So wie ich?«

Sie saßen in einer abhörsicheren Nische des exklusiven Restaurants Brilagg, was in einem nahezu vergessenen barnitischen Dialekt Geschmack bedeutete – oder Abzocke, wenn man einem bösartigen Gerücht Glauben schenken wollte. Es lag in einem der beiden an den Handelsraumer angedockten Container, genau wie Kondayks riesiges Privatquartier.

Der übergroße, einen halben Kilometer durchmessende Container diente zudem als Ort für die nahezu ständig stattfindenden opulenten Feste, mit denen der Kommandant gute Vertragsabschlüsse und prächtige Gewinne feierte. Dort stellte er den Besuchern an jeder Ecke seinen Reichtum zur Schau, den er seinen genialen Fähigkeiten als Händler verdankte – und die blieben ihm trotz seiner Geheimidentität als NDE-Agent unbenommen. Obwohl es also meistens eine Menge Gäste im Container gab, erhielten nur die wenigsten Zutritt in dieses Restaurant.

Weil Giuna schwieg, wiederholte Cyprian: »So wie ich? Ist es das, was du sagen wolltest? Du kannst dich nicht länger verstecken, so wie Kondayk und ich?«

»Es liegt mir fern, euch ...«

»Hör mir zu!« Er hob die Gabel wieder auf. Ein tiefblauer Saucenfleck blieb auf der Tischplatte zurück. Er aß, kaute ... und spannte sie auf die Folter. »Die Dinge sind nicht so einfach, wie es uns manchmal vorkommt«, fuhr er schließlich fort. »Was genau sollen wir denn tun, deiner Meinung nach?«

»Jedenfalls habe ich mir das Leben von Agenten des terranischen Untergrund-Geheimdienstes nicht so vorgestellt wie eures.«

»Es gibt Zeiten für alles. An einem Tag wird man aktiv und bricht in einer waghalsigen Aktion in ein Straflager der Cairaner ein. An einem anderen gilt es, abzuwarten, bis ein ehemaliger Gefangener aus dem Koma erwacht, und zu hoffen, dass er über weitere Informationen verfügt.«

»Und dann gibt es die Zeit«, ergänzte Giuna, »in der sich dieser andere Tag