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REINHOLD MITTERLEHNER

HALTUNG

Flagge zeigen
in Leben und Politik

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Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen. Sollten Sie dahingehend Versäumnisse feststellen, so bitten wir Sie, dies zu entschuldigen und uns die korrekten Nachweise für etwaige Nachauflagen mitzuteilen.

S. 181 Seiler, Christian: Der souveräne Verfassungsstaat zwischen demokratischer Rückbindung und überstaatlicher Einbindung. Mohr Siebeck: Tübingen 2005, S. 37. S. 15 Hesse, Hermann: »Stufen«. In: ders. Sämtliche Werke in 20 Bänden.

Hrsg. Volker Michels, Bd. 10: Die Gedichte. Suhrkamp Verlag: Frankfurt a. Main 2002.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.

Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

© 2019 Ecowin Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesetzt aus der Palatino, Cera Compact

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Lektorat: Maria-Christine Leitgeb

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Redaktion: Barbara Tóth

ISBN 978-3-7110-0239-6

eISBN 978-3-7110-5263-6

INHALT

PROLOG

RÜCKTRITT

WURZELN

WACHSEN

DIE UNIVERSITÄT

DAS HANDWERK DER POLITIK

DAS WIENER PARKETT

WIRTSCHAFTSKRISE

FLÜCHTLINGSKRISE

MACHTÜBERNAHME

ABSCHIED

MEDIEN UND POLITIK

EUROPA

EPILOG

DANKSAGUNG

PERSONENVERZEICHNIS

PROLOG

2018 war in Österreich das Jahr der Jubiläen und der Gedenkfeiern. Wir feierten den hundertsten Geburtstag der Ersten Republik und setzten uns mit den bitteren Ereignissen des Anschlusses an Hitler-Deutschland vor achtzig Jahren auseinander. 2018 war auch das erste Jahr der neuen türkisblauen Bundesregierung in Österreich, nach den Nationalratswahlen 2017, die letztlich durch meinen Rücktritt und der nachfolgenden Aufkündigung der Koalition zwischen SPÖ und ÖVP eingeleitet worden ist.

Nun, 2019, da die machtpolitischen Strukturen geklärt sind und so etwas wie Normalität im Leben eingekehrt ist, ist es an der Zeit, das Geschehene und damit die Vergangenheit aufzuarbeiten, zugleich jedoch auch einen Blick auf die Gegenwart und in die Zukunft unserer Gesellschaft zu werfen. Das vorliegende Buch reflektiert meinen Werdegang und mein politisches Leben genauso wie meine Motive, mich politisch einzubringen. Nicht, weil ich meiner Person eine so große Bedeutung zuordne, sondern weil ich der Auffassung bin, dass ich bei einigen jüngeren Kapiteln des politischen Geschehens neue Fakten einbringen kann, die dabei helfen können, die Bewertung und die Meinungsbildung über diese zeithistorischen Ereignisse zu schärfen und zu präzisieren.

Das Buch trägt den Titel Haltung, weil ich mich zeit meines Lebens – ob im Privaten oder Beruflichen – darum bemüht habe, meine Linie durchzuziehen. Eine Linie, die sich an folgenden Prinzipien orientiert: Geradlinigkeit, Anstand und Lösungsorientiertheit im Miteinander bei anstehenden Problemen. Das sind wichtige Grundlagen, die gleichzeitig eine Orientierung für mich darstellen.

Haltung ist nicht nur mit der eigenen Lebensgeschichte und mit den Personen verbunden, die einen geprägt haben oder für Wendungen im Leben verantwortlich waren, sondern auch mit den Ereignissen, die in diesem Zeitraum stattgefunden haben. Ich hatte die Gelegenheit, den Aufstieg des Mühlviertels von einer Problemregion an der toten Grenze zu einer optimistischen Aufstiegsregion mitzuerleben, ferner unseren Beitritt zur Europäischen Union. Ich durfte als junger Politiker in Wien Anfang der Jahrtausendwende parlamentarische Erfahrung sammeln und dann als Wirtschaftsminister meinen Beitrag zur Überwindung der größten Wirtschaftskrise im Jahr 2008 und den Folgejahren leisten. Ich habe die Flüchtlingskrise, die den Staat an die Grenzen seiner Handlungsfähigkeit gebracht hat, als Vizekanzler mit zu bewältigen versucht. Schließlich war ich der letzte Vizekanzler einer gewollten Koalition zwischen ÖVP und SPÖ. Ich habe also prägende Zeitgeschichte am Beginn des 21. Jahrhunderts in Österreich miterlebt. Darunter fällt auch der Systembruch, im Zuge dessen aus der alten ÖVP eine neue türkise Partei entstanden ist, die mit der FPÖ eine neue Koalition gebildet hat.

Natürlich kann dieses Kapitel des Systembruchs und des Machtwechsels nicht aus meinem politischen Leben ausgeblendet werden, es ist ein Teil meiner Lebensgeschichte. Ich habe es – so wie die anderen Kapitel auch – als eine Schilderung der damaligen Ereignisse angelegt, als chronologische Darlegung der Fakten zur Aufklärung der Ereignisse und Hintergründe. Es ging mir dabei nicht um die Interpretation derselben. Meine persönliche Meinung habe ich demnach hintangestellt. Jedoch schon allein die im Spätsommer 2017 nachträglich aufgetauchten Unterlagen und Informationen aus dem Kreis der türkisen Führungsgruppe überraschten, zeigten sie doch, mit welcher Energie und Detailgenauigkeit der Wechsel systematisch vorbereitet worden war. Die Geschichtsschreibung soll daher nicht den derzeit Regierenden und ihrer Message Control überlassen bleiben.

Haltung ist auch ein Buch gegen das Verschweigen. Es ist weder gefällig noch opportun. Es soll dem interessierten Leser die Möglichkeit bieten, sich eine eigene Meinung zu bilden. Es gibt ihm auch die Gelegenheit zu sehen, dass es in der Politik fast nie um den Wettbewerb der besseren Konzepte geht, sondern um Machtergreifung und Machtdurchsetzung. Klarerweise wird es einige geben, die den moralinsauren Zeigefinger heben und sagen werden, allein aus Rücksicht auf das wichtige Amt im Staat dürfe man so etwas nicht schreiben – jetzt nicht und sonst auch nicht. Genauso gut kann man die Gegenfrage stellen, nämlich ob es denselben Maßstab für Loyalität und Anstand vor 2017 für andere nicht auch gegeben hat.

Mein Werdegang ist, für sich genommen, nicht besonders außergewöhnlich. Ich hatte das Privileg, in einfachen, aber geborgenen Verhältnissen aufzuwachsen. Heimat und Familie sind für mich keine hohlen Phrasen, sondern echte Fundamente meines Lebens. Familie ist aber mehr als nur die Vater-Mutter-Kind-Beziehung, die ein Leben lang hält. Ich selbst habe zweimal eine Familie gegründet. Beim ersten Mal war ich noch sehr jung. Damals habe ich viele Betreuungsaufgaben übernommen. Das hat mich schon damals für das Thema Kinderbetreuungseinrichtungen auch am Nachmittag sensibilisiert.

Ich hatte das Glück, dank meiner Tante, die meine Volksschullehrerin war, ins Gymnasium zu kommen. Ich wurde gefördert und gefordert. Auch später an der Universität hatte ich Professoren, die mir kritisches Denken beibrachten, ohne mich dabei zu indoktrinieren. Meine Schulzeit und die Universität haben mir die Welt eröffnet und meinen Horizont erweitert. Deswegen ist Bildung für mich eines der wichtigsten Themen der Politik.

Sehr früh beschäftigte ich mich mit der Frage, wie ein serviceorientierter Staat funktionieren kann. Nicht weniger Staat und mehr Privat, sondern ein effizienter starker Staat war stets mein Credo. New Public Management ist ein Schlagwort, dahinter steht eine Bürokratie, die sich weg von der rein produktionsorientierten Verwaltung hin zu einer kundenorientierten Dienstleistungsorganisation wandeln muss. Die Beispiele anderer Länder und die Grundlagen für einen modernen bürgerorientierten Staat haben mich vor allem in meiner Zeit als Generalsekretär des Wirtschaftsbundes sehr beschäftigt.

Meine ersten Jahre in der Politik waren stark von der Sozialpartnerschaft geprägt, die ich in der Wirtschaftskammer kennen und verstehen gelernt habe. In einer pluralistischen Gesellschaft kann es auf Dauer nicht funktionieren, wenn sich eine Gruppe ungefiltert mit ihren Interessen durchsetzt. Das Austarieren und Lösen von Konflikten, nicht die bewegungslose Pattstellung, sondern der weiterführende Kompromiss, das ist es, was eine sozial ausgeglichene Gesellschaft braucht. Dafür steht die Sozialpartnerschaft, das war aber auch der Vorteil einer großen Koalition, in der beide Lager mit unterschiedlichen Ideologien eine oft erstrittene, letztlich aber integrative Entwicklung der Gesellschaft gewährleistet haben. Das Modell hat sich abgenutzt, zu oft hat der Streit überhandgenommen, aber die Position Österreichs unter den besten Staaten Europas stand wohl außer Streit. Nicht nur die rot-schwarze Regierung als Zusammenspiel der großen Kräfte gibt es nicht mehr, auch die Sozialpartner vertreten ihre jeweils eigenen Anliegen allein. Eine gemeinsame Agenda gibt es kaum mehr, dabei wäre sie gerade bei den Themen Bildung, Lehrlingsausbildung, Digitalisierung oder Umwelt vorhanden.

Ich habe als Minister zwei der wichtigsten globalpolitischen Ereignisse des zweiten Jahrtausends miterlebt und mit zu bewältigen versucht: die Finanzmarktkrise im Jahr 2008 und die Flüchtlingskrise im Jahr 2015. Mit beiden Ereignissen verknüpfen sich Grundsatzfragen. Kann es funktionieren, hauptsächlich das Geld arbeiten zu lassen? Muss nicht die Realwirtschaft, die wirkliche Bedürfnisabdeckung, die Grundlage unseres Wirtschaftens sein? Was hat die Gier nach immer mehr für einen Anteil an der Krise? Haben wir die richtigen Schlüsse gezogen? Und haben wir bei der Flüchtlingskrise nicht genau dasselbe Problem, nämlich dass wir glauben, da würde jemand kommen und uns etwas wegnehmen, das wir uns selber erwirtschaftet haben? Es stimmt, wir haben oft im Schweiße unseres Angesichts produziert, jedoch gekauft haben es bei unserer Exportquote, die sich auf sechzig Prozent beläuft, diejenigen, die nun kommen und ihren Anteil in ohnedies kleinem Umfang einfordern. Das sind Zusammenhänge, denen sich viele Österreicher verschließen. Noch dazu, wenn es oftmals Flüchtlinge mit anderem kulturellen Hintergrund sind. Wie viel Migration ist zumutbar? Wo ziehen wir Grenzen? Wie kann Integration funktionieren? Das sind Themen, die uns noch lange beschäftigen werden.

Nicht nur bei dem Thema Migration, sondern auch in der Zusammensetzung der Regierung hat es einen Richtungswechsel gegeben. Die Neue Volkspartei stellt den Bundeskanzler. Die NVP ist die Mehrheitspartei in der Regierung. Der Partner ist eine nach Expertenmeinung zumindest rechtspopulistische Partei. Die Umfragen sind positiv. Dazu hat die gute Wirtschaftsentwicklung und die damit verbundene Abnahme der Arbeitslosigkeit ihren Teil beigetragen. Die Opposition ist zudem kaum bemerkbar. Ist man damit schon am Ziel? Und sind volatile Umfragen wirklich der ausschließliche Maßstab für die Qualität der Politik?

Die Begeisterung darüber, den Kanzler zu stellen, befreit nicht davon, sich damit auseinanderzusetzen, was inhaltlich geschehen ist. Ich meine damit nicht so sehr eine beckmesserische Bilanz über das, was umgesetzt worden ist. Bei manchen Reformen wie etwa bei der Sozialversicherung ist der Beweis für die verbesserte Effizienz und die Einsparungen ja noch zu erbringen. Steuer- und Pflegereform sind noch in Planung. Ich spreche hier vielmehr von der Metaebene: Wie wird Politik gemacht? Wie geht man mit Partizipation um? In welche Richtung gehen wir als Gesellschaft, integrativ oder ausgrenzend, demokratisch oder da und dort schon populistisch? Es geht um reale Entwicklungen und Signale in Österreich, die man nicht mit einem schweigenden Achselzucken abtun sollte. Populismus als Ideologie verlangt immer nach Gegnern, nach Reibungsflächen, sonst fehlt die Identifikationsmöglichkeit für die eigenen Anhänger. Da habe ich dann neben den »echten« Österreichern oder den aufrechten Österreichern noch die anderen, nämlich die Migranten, die Arbeitsunwilligen, die Caritas, die »Spätaufsteher«, die nicht so dazugehören, die man kritisiert, stigmatisiert und bei denen man im besten Fall nachhilft, dass auch sie »echte« Österreicher werden. Die Betroffenen verstehen das anders und fühlen sich oft ausgegrenzt.

Aus den genannten Gründen beschäftige ich mich in diesem Buch auch ausführlich mit dem Phänomen des Rechtspopulismus, mit der Rolle der politischen Parteien, dem Einfluss der Digitalisierung auf die Parteien, aber auch mit dem Phänomen der sich ändernden Rolle der Medien im politischen System.

Gibt es so etwas wie eine Krise unserer Demokratie, oder funktionieren unsere Systeme als Möglichkeit der Entscheidungsfindung und Konfliktregelung? Das Parlament ist unsere wichtigste demokratische Einrichtung. Es ist keine nachgeschaltete Institution einer Regierung, die ihre Vorhaben umsetzt, sondern hat eine gewisse Eigenständigkeit. Als Abgeordneter darf man im Ausschuss Materien nicht nur einfach abnicken, sondern entscheidet mit. Abstimmungen sollen freigegeben werden, wenn es um persönliche Gewissensangelegenheiten geht wie etwa um das viel diskutierte Rauchverbot. Aber bei dieser Regierung kommt alles nur von »oben« ins Parlament, selbst kritische Stellungnahmen im Rahmen des parlamentarischen Begutachtungsprozesses aus eigenen Ministerien müssen zurückgezogen werden. Man kann diese Art des Regierens auch Ergebnismarketing nennen, es handelt sich dabei um Entscheidung ohne wirkliche Partizipation. All das wird als neuer Stil verkauft, und das ist es auch. Aber ist es ein guter demokratischer Stil?

Damit die Meinungsbildung und die Umsetzung derselben perfekt funktionieren und verkauft werden, braucht es keine kritischen Stimmen. Kritisch berichtende Zeitungen wie der Standard, der Falter und der Kurier – bei Letzterem hat man den Chefredakteur ja dann getauscht – sollen von offiziellen Informationen ausgeschlossen werden. Dass wir zur Recherche im Medienbereich eine eigene unabhängige Plattform namens Addendum haben, spricht für den Zustand des Systems.

Wir haben offensichtlich auch ein Problem der Meinungsvielfalt und der Diskussionskultur. Wer traut sich, etwas Kritisches zu sagen? Es sind immer weniger. Nicht, weil das nicht notwendig wäre, sondern weil es zu einer Frage des Mutes geworden ist, etwas zu sagen. Meistens reden nur die, die nichts mehr zu verlieren haben. Selbst denen richten dann freiheitliche Parteisekretäre aus, sie sollen bei Themen, die sie nichts angingen, den Mund halten. Etwa, wenn sich der Präsident der Industriellenvereinigung »versteigt«, zum Thema Meinungsfreiheit etwas zu sagen. Man solle endlich kapieren, dass es eine neue Regierung gäbe und in einer neuen Regierung eben auch ein neuer Wind wehte. Das war die Replik eines FPÖ-Generalsekretärs, als ein ehemaliger Verbandsmanager die Angriffe auf die Caritas seitens der Regierung kritisierte.

All dies sind Entwicklungen in unserer Demokratie, die uns aufrütteln sollten, eben nicht zu schweigen, auch wenn es bequemer erscheint. All das sind Warnsignale, die uns verpflichten, nicht wegzusehen, wenn Grenzen überschritten werden. Demokratie heißt nicht zentrale Führung, Demokratie lebt von freier Meinung, Partizipation und der Vielfalt in unserer Gesellschaft. Genau dazu, zum Nachlesen und Nachdenken, möchte dieses Buch ein Beitrag sein.

RÜCKTRITT

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

HERMANN HESSE

Der 10. Mai 2017 war ein sonniger Tag wie viele andere in diesem Monat und gab einen Vorgeschmack auf den sich anbahnenden Sommer. Ich fuhr wie immer in der Früh um 7.30 Uhr ins Büro, schaute den Pressespiegel durch und sagte mit Blick auf die Titelseite einer Zeitung, die mit einem Foto von mir und der Schlagzeile »Wie lange noch?« aufmachte, zu einem Mitarbeiter: »Die begreifen auch gar nichts.« Dann fuhr ich mit dem Dienstwagen in Begleitung einer Pressereferentin und der für Tourismus zuständigen Mitarbeiterin nach Schönbrunn, um dort um neun Uhr das neue Giraffengehege zu eröffnen. Bei der Hinfahrt erörterten wir die möglichen Inhalte des Statements. Nach der eher unspektakulären Eröffnung einer an sich großartigen Anlage meinte der anwesende Aufsichtsratsvorsitzende der Tiergarten-Gesellschaft, Altbundeskanzler Wolfgang Schüssel: »Plaudern wir noch kurz bei einem Kaffee?« Ich entschuldigte mich wegen eines Termins, und wir fuhren, nachdem ein paar Fotos geschossen worden waren, wieder retour. Auf der Rückfahrt sagte ich gar nichts, meine Tourismusreferentin meinte wohl, um die Stimmung aufzulockern: »Es scheint sich ja langsam alles zu beruhigen.« Ich ging nicht darauf ein, sondern sagte nur: »Kann mir eine von euch bitte die letzten Zeilen von Hermann Hesses Gedicht Die Stufen googeln und dann auf einen Zettel schreiben?« Sie googelten und sagten ob des Inhalts gar nichts mehr.

Angekommen im Büro, holte ich meinen Pressechef und bat ihn, um 11.30 Uhr und nicht eine Minute früher den Geschäftsführer der Partei anzurufen, um für 12.30 Uhr eine persönliche Pressemitteilung von mir anzukündigen. Nicht früher, sonst würde das ORF Mittagsjournal, das um zwölf Uhr begann, alles abschießen, aber auch nicht später.

Bis dahin hatte außer mir selbst niemand, auch meine Familie nicht, etwas von dem exakten Termin gewusst. Um 11.45 Uhr informierte ich den Bundespräsidenten und den Bundeskanzler von meinem Vorhaben. Neben mir lag mein auf lautlos gestelltes Handy und überschlug sich beinahe wegen der vielen Anrufe. Nur bei Thomas Stelzer, dem Landeshauptmann meiner Heimat Oberösterreich, hob ich ab, um ihm meinen Plan mitzuteilen. Er merkte schnell, dass er mich von meinem Vorhaben nicht abbringen konnte. Mein Pressechef meinte vor dem Wegfahren: »Sagen Sie einmal ›Ich trete von all meinen Ämtern zurück‹, und zwar Wort für Wort. Da sind schon viele gestolpert, weil in dem Moment die Emotionen überwiegen.« Das ging gerade noch.

Auf diesen Satz folgte dann die Rede, die ich mir später nie angeschaut oder angehört habe, deren Kernsätze ich aber bis heute auf einem Handzettel habe: »Ich muss sagen, in dem Zusammenhang, was und wie ich es tue, war ganz maßgeblich für mich dabei, dass ich sowohl Zeitpunkt als auch Inhalt von allen Schritten selber definiere.« Dann folgte eine Auseinandersetzung mit dem letzten Mosaikstein für meinen Entschluss zu gehen, nämlich dem »Django, die Totengräber warten schon«-Sager in der ZIB 2 am Tag zuvor, der meine Empfindung, dass gehandelt werden musste, komplettiert hatte. Dann folgten in der Rede zentrale und wichtige Passagen: »… Was aber tiefergehender ist, und dahinter liegt als Problem: Es ist meiner Meinung nach unmöglich, in einer derartigen Konstellation einerseits Regierungsarbeit zu leisten und gleichzeitig die eigene Opposition zu sein. Regierungsarbeit und gleichzeitige Opposition ist irgendwo ein Paradoxon … Ich bin kein Platzhalter, der auf Abruf, bis irgendjemand Zeitpunkt, Struktur oder Konditionen festlegt, die ihm passen, hier irgendwo agiert. Und vor allem – ich werde das dann noch kurz beleuchten – bin ich keiner, der irgendwo an einer Stelle oder gar in einem Amt verbleibt und daran klebt. Wir brauchen darüber hinaus auch Entscheider – ich rede jetzt als Parteiobmann – mit allen Rechten und Pflichten in jedem Bereich, die eine Wahl auch rechtzeitig vorbereiten können, und wir brauchen keine Doppelfunktionen oder gar verdeckte Strukturen. Deshalb, meine Damen und Herren, lege ich alle meine Funktionen zurück in Partei und Regierung.«

Es folgte noch eine kurze Bilanz über die Ressortleistungen in Wirtschaft, Forschung und Wissenschaft und ein Dank an alle Partner im gesamten Arbeitsspektrum sowie eine Begründung, weshalb ich trotz aller Unbilden beharrlich weitergearbeitet hatte. Und dann kam – Hermann Hesse: »In dem Zusammenhang darf ich Ihnen auch illustrieren, auch wenn es Sie weniger berühren wird, warum ich eigentlich in den letzten Monaten trotz aller Querschüsse und aller sonstigen Agitationen in der Politik geblieben bin, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Mir ist es ein Anliegen, entsprechende Inhalte zu vermitteln und Österreich in der Wettbewerbsfähigkeit nach vorne zu bringen. Und irgendwo bin ich da genau bei dem Punkt angelangt, den Präsident Foglar in einem Gespräch einmal erwähnt hat: ›Irgendwer muss auch die Arbeit machen in dem Land.‹ … So, meine Damen und Herren, Sie können sich wahrscheinlich noch erinnern. Vor einem Jahr habe ich im Parlament – zum Teil ein wenig belächelt – Hermann Hesse zitiert: ›Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne …‹ Ich darf heute aus demselben Gedicht Die Stufen noch einmal etwas zitieren, und zwar: ›Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.‹ Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen einen schönen Sommer, danke Ihnen und wünsche Österreich alles Gute.«

Es war eine schwierige Rede und ein Schlüsselmoment in meinem politischen Leben, gleichzeitig war sie jedoch auch befreiend. Als ich im Büro ankam, waren alle aufgelöst, auf meinem iPhone waren über 500 SMS und noch mehr E-Mails.

Ein Tag, der normal begonnen hatte, war dann doch recht ungewöhnlich geworden. Er markierte nicht nur meinen Rücktritt, es war auch der letzte Tag einer gewollten rot-schwarzen Zusammenarbeit, die bis dahin mit kurzen Ausnahmen die Zweite Republik geprägt hatte.

Für mich persönlich markierte der Tag den Abschied von meinem bisherigen beruflichen und politischen Leben und zugleich den Aufbruch und die Reise in eine neue Lebensphase.

WURZELN

Meine Vorfahren – meine Heimat Helfenberg – vom Aufwachsen in einer Großfamilie

Nicht da ist man daheim, wo man seinen
Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird.

CHRISTIAN MORGENSTERN

Ich wurde am 10. Dezember 1955 in Helfenberg 47 im Mühlviertel in Oberösterreich geboren, und zwar zu Hause und nicht in der Entbindungsstation eines Krankenhauses. Schlicht deshalb, weil es damals nur in Linz ein Krankenhaus gab. Ich stamme aus einer einfachen, aber strebsamen Familie und habe fünf Geschwister, die alle ihren Weg gegangen sind. In Zeitungsberichten über mich und meine Familie ist deswegen auch oft vom »Mitterlehner-Klan« die Rede, fast so, als wären wir etwas Besonderes. Aber das sind wir nicht. Mein Leben ist ziemlich typisch für die Zeit, in die ich hineingeboren worden bin, und für die Region, die ich meine Heimat nenne. Es ist die Zeit der ersten Nachkriegsjahrzehnte, in der sich vieles bewegt und neu geordnet hat und in der der gesellschaftliche Aufstieg durch Leistung, Fleiß und Bildung noch möglich war. Ich bin gewissermaßen in eine Aufstiegsgesellschaft hineingeboren worden. Wir hatten materiell nicht viel, aber es herrschte so etwas wie Optimismus. Die Zeit war geprägt durch die Aufbruchsstimmung. All das war in der Region, die durch die tote Grenze nach Norden hin benachteiligt war, vielleicht noch stärker spürbar als im sonstigen Oberösterreich. Heute sind wir unter den reichsten Ländern der Welt, viele haben jedoch das Gefühl, in einer Abstiegsgesellschaft zu leben.

Einige Menschen, die ihre Karriere an die Spitze eines Unternehmens oder in die hohe Politik geführt hat, stellen ihren Weg gerne als Erfolgsgeschichte dar. Es ist im Nachhinein immer einfacher, einen roten Faden durch die eigene Lebensgeschichte zu finden und ihn so zu legen, dass diese dann schlüssig und spannend klingt. Wer sich jedoch eingehend mit sich und seinem Leben auseinandersetzt, merkt bald, dass Wege auch von vielen Zufällen geprägt sind, von Glück und Unglück und von dem, was einem in die Wiege gelegt worden ist oder sich auf dem Weg ergeben hat. Und natürlich vom Elternhaus. Von der Familie. Von dem Ort, an dem man aufwächst, der Natur, die einen umgibt, der Landschaft, die einen prägt und den Lehrern, die man hat und die einen fördern – oder nicht. Sie alle formen einen von Anfang an mit, und zwar bis zu diesem einen Moment, in dem man das Gefühl hat, nicht mehr Kind, sondern Jugendlicher zu sein, eine Person mit einem eigenen Radius, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen kann.

Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, dann fällt mir als Erstes ein Moment ein, der im Eigentlichen das Ende derselben bestimmte, der mich vom Kind zum Jugendlichen gemacht hat: Als ich dreizehn Jahre alt war, konnte es sich meine Familie endlich leisten, ein eigenes Haus in Helfenberg zu bauen. Zum ersten Mal würde ich ein eigenes Zimmer haben. Leisten klingt, ganz nebenbei gesagt, gut und irgendwie selbstverständlich. Tatsächlich war der Entschluss zum eigenen Haus so etwas wie eine Lebensentscheidung. Man baute damals auf Kredit und brauchte den Rest des Lebens zur restlosen Ausfinanzierung. Uns ging es in dem Punkt ein wenig besser. Meine Mutter hatte das Grundstück für das Haus von ihrer Familie geschenkt bekommen. Es lag unweit ihres Elternhauses, nur ein paar Schritte davon entfernt.

Wie das in den 1970er-Jahren so üblich war, wurde viel selber geplant und gebaut. Als ältester Sohn war ich in die Vorbereitungen inklusive einfacher Zuarbeiten mit eingebunden. Als das Haus schließlich eingerüstet und verputzt vor uns stand und nur noch die Farbe aufgetragen werden musste, sagte mein Vater zu mir: »Probiere einmal, ob du das kannst.« Ein Nachbar von uns war Maler und hatte uns eine Tonne mit Farbe angerührt. Ich strich dann eigenhändig das ganze Haus weiß an. Heute bewohnt es einer meiner Brüder, und bis heute gibt es Teile jener Fassade, die ich damals gemacht habe. Ich war dann auch der Erste, der im neuen Haus übernachten durfte. Erst eine Woche später zog die Familie ein. Das war für mich ein ganz besonderes Erlebnis. Ich durfte das Haus vor allen anderen in Besitz nehmen.

Für mich bedeutete der Umzug nicht nur das Ende der Kindheit und den Beginn des Erwachsenwerdens, sondern auch die Entdeckung meiner Person. Mein eigenes Zimmer mit meinen eigenen Sachen gab mir so etwas wie Individualität, mehr Unabhängigkeit und ein wachsendes Selbstbewusstsein. Ich konnte mich zurückziehen, nachdenken, alleine sein und mich auf mich selber konzentrieren. Ich bekam einen eigenen Bücherkasten mit einer Glastür, in den ich meine Bücher stellte. Ich entwickelte damals intellektuelle Interessen, Haltungen und Meinungen – natürlich oft in Opposition zu meinen Eltern. Das war beinahe normal, musste ich mir doch als Ältestes der Kinder einige Errungenschaften wie längeres Ausgehen erst erkämpfen.

Die Liebe zu meinem Ursprung ist mir ein Leben lang geblieben. Wer nach seinen Wurzeln sucht, kehrt an den Ort zurück, an dem er seine Kindheit verbracht hat. Für manche Menschen gibt es viele Orte, an denen sie Wurzeln geschlagen haben, etwa weil sie umziehen mussten oder weil sie Eltern haben, die aus verschiedenen Ländern oder Regionen kommen. Sie entwickeln sogenannte »Bindestrich-Identitäten«. Sie sind Österreicher und Türke, oder Wienerin und Steirerin. In meinem Fall fallen Familie, Heimatort, Aufwachsen und Kindheit zusammen, und ich kann sie ganz klar verorten – in Helfenberg.

Helfenberg in Oberösterreich ist kein besonders berühmter Ort, aber er ist für mich das, was man Heimat nennt. Der Name lässt vermuten, dass es sich dabei um einen Berg handelt oder die Ortschaft zumindest auf einem Berg gelegen ist. In Wahrheit liegt der Ort jedoch im Flusstal der Steinernen Mühl und ist bei gutem Wetter durchaus einladend und schön, bei schlechtem Wetter, wenn die Sonne nicht scheint, wirkt er eher grau und beengend.

Ich bin im Laufe meines Lebens immer wieder nach Helfenberg zurückgekehrt, sooft ich konnte eigentlich, nachdem ich zum Studieren und später zum Arbeiten zuerst nach Linz und dann nach Wien gezogen war. Auch meine eigene Familie habe ich in Helfenberg gegründet. Bei aller Liebe zu dem Ort begriff ich jedoch schon während meiner Jugendzeit, dass meine unmittelbare berufliche Zukunft woanders liegen würde. Schon Linz bot mehr Entfaltungsmöglichkeiten. Viele meiner Klassenkameraden aus der Volksschule begannen etwa als Lehrlinge oder Schichtarbeiter bei der Voestalpine.

Wenn man es ganz genau nimmt, bin ich zwar direkt im Ort Helfenberg geboren, mein Elternhaus liegt fünfzig Meter neben dem Gemeindeamt, jedoch die Wohngemeinde war wegen des Grenzverlaufes damals ganz korrekt die Gemeinde Ahorn. Das hat mich immer irgendwie gestört. Ich war in der Schule in Helfenberg, im Sportverein in Helfenberg, war Ministrant in Helfenberg, hatte meine Freunde in Helfenberg, die Gemeinde hieß jedoch Ahorn. »Wo wohnst du nun wirklich?«, wurde ich oft gefragt. Wenn ich der Einfachheit halber Helfenberg sagte, oder es so in Zeitungen stand, wurde ich vom lokalen Bürgermeister Josef Hintenberger immer gerügt. Umso schöner ist für mich, dass die beiden Gemeinden zu Beginn des Jahres 2019 zusammengelegt worden sind. Somit bin ich auch amtlich ein Helfenberger.

»Helfenberg, das ist nun mit Ahorn eine 1600-Einwohner-Gemeinde im oberösterreichischen Mühlviertel, hart an der Grenze zu Tschechien. Es gibt zwei Lokale, drei Bäckereien, einen Spar-Markt, ein paar kleinere Unternehmen und eine aufgelassene Textilfabrik als monumentale Zeugin einer reichen Vergangenheit mitten im Ort. Wer hier lebt, betreibt entweder eine Landwirtschaft oder pendelt nach Linz aus oder kombiniert eines mit dem anderen. Sonntags ist die Kirche mit rund 300 Stammgästen noch gut gefüllt – Tendenz sinkend –, der ÖVP-Bürgermeister stützt sich auf eine klare Mehrheit im Gemeinderat, Pfarrer und Ortschef rücken zur Ehrung verdienter Mitbürger noch Seite an Seite aus. Kurzum, Helfenberg ist christdemokratisches Kernland, verschlafen, aber alles andere als gottverlassen«, so hat das Nachrichtenmagazin News einmal meinen Heimatort beschrieben.

Das Mühlviertel ist aus Wiener Sicht tatsächlich eine entlegene Region, vom Klima her rau und ursprünglich wie die karge Landschaft, die von Granit und Gneis geprägt ist und zur Böhmischen Masse gehört. Bis 1989 lag es am Rande des sogenannten Eisernen Vorhanges, der das damals kommunistische Europa vom »Westen« trennte. Bis ins frühe 20. Jahrhundert waren Webereien der einzige Industriezweig, ansonsten gab es Land- und Forstwirtschaft. Dabei hatte das Mühlviertel durch Textilwirtschaft und den Handel, insbesondere mit dem Salztransport nach Böhmen, eine blühende Entwicklung im Mittelalter erlebt. Wunderschöne mittelalterliche Plätze sowie Markt- und Stadtgebäude in Freistadt, Rohrbach, Neufelden oder Lembach sind Zeugen einer prosperierenden, aber vergangenen Entwicklung. In Helfenberg selbst stand einst eine der größten Textilfabriken Oberösterreichs, die Gebrüder Simonetta mit fast 2000 Mitarbeitern. Mit dem Strukturwandel in der Produktion ist die Textilwirtschaft hier niedergegangen, und übergeblieben ist ein riesiges Gebäude mit fünf Stockwerken mitten im Ort, das eigentlich nicht zum Ortsbild passt. Jahrelang wurde es nicht genutzt. Dann hat es ein Investor, der ebenfalls seine Wurzeln im Ort hat, gekauft, gewissermaßen aus Sentimentalität, weil seine Großmutter dort gearbeitet hatte. Jetzt sind eine Handelsfirma und ein Spar-Markt in der »Fabrik«, wie sie im Ortsjargon heißt, eingemietet. Im Endeffekt hat der Ort keine positive Entwicklung gehabt in den letzten Jahren. Arbeitsplätze waren nicht oder nur wenig vorhanden. Es wurde immer schon viel gependelt, meistens in die Hauptstadt Linz. Wer sich weiterentwickeln wollte, musste sich auf den Weg in die Städte machen. Wer studieren durfte, musste nach Wien, Innsbruck oder Salzburg gehen.

Meine Vorfahren stammen aus dem Mühlviertel, ihre Lebensgeschichten sind großteils ein Resultat der typischen gesellschaftspolitischen Bedingungen der Region. Man hatte eine Landwirtschaft oder arbeitete in einer, war Kleinunternehmer oder Beamter. Mein Vater kam aus einer bäuerlichen Familie aus Pabneukirchen im Unteren Mühlviertel, meine Mutter aus einer Tischlerei-Familie direkt aus Helfenberg. Auch meine Ehefrau Anna Maria ist Helfenbergerin, sie stammt aus einer Familie, die im Ort ein Gasthaus betreibt. Wir kennen einander seit Kindheitstagen.

In der Familie meines Vaters hat es immer geheißen: »Der soll es einmal besser haben, als wir es gehabt haben.« Das liegt daran, dass mein Vater, Josef Mitterlehner, seinen gleichnamigen Vater sehr früh verloren hat. Letzterer war Landesbediensteter, also Beamter, und ist beim Kirschenpflücken abgestürzt, weil die Leiter unter ihm weggebrochen ist. Er hinterließ eine Frau und drei Kinder, zwei Mädchen und meinen Vater. Meine Großmutter väterlicherseits plagte sich alleine durchs Leben. Sie arbeitete als Mesnerin im Ort und nahm kleinere Arbeiten an. Trotzdem schaffte sie es, meinem Vater das Realgymnasium in Linz zu finanzieren. Fürs Erste. Als er in der sechsten Klasse war, ging es nicht mehr, und mein Vater musste die Ausbildung abbrechen. Er begann bei einer Versicherung zu arbeiten, was damals möglich war ohne weitere Schulungen. Als er 18 Jahre alt war, heuerte er bei der Gendarmerie an. Dort bekam er seine Ausbildung und wurde dann, wie das üblich war, an immer wieder neue Orte versetzt. So kam er auch nach Helfenberg, wo er dann meine Mutter kennenlernte.

Mein Vater hat zeit seines Lebens daran genagt, dass er die Schule nicht abgeschlossen hat. Das hat er nie so zugegeben, er hat mir und meinen Geschwistern jedoch immer, als wir später am Gymnasium Latein gelernt haben, Nachhilfe gegeben, auf seine Art: Man hatte dabei den Eindruck, er repetierte den gesamten Stoff noch einmal für sich. Mein Vater war überhaupt ein spezieller Charakter. Er war ein sehr eigenständiger Denker, hat sich immer eine eigene Meinung geleistet und war sehr am Geschehen in der Welt interessiert. Wir hatten nicht nur eine Tageszeitung, die Oberösterreichischen Nachrichten, sondern mein Vater abonnierte auch das Nachrichtenmagazin Profil, als es im Jahr 1970 auf den Markt kam. Er hörte jeden Tag die Nachrichtenjournale, und weil er nicht nur auf österreichische Nachrichten angewiesen sein wollte, hörte er auch bayerische Sender. Vielleicht war das der Grund, weshalb er nicht Mundart sprach, sondern nach der Schrift, was im Mühlviertel durchaus auffiel. Einer seiner geflügelten