RONALD M. HAHN

 

 

DIE TERRANAUTEN, Band 17:

Die Piraten des Scharlachmeeres

 

 

 

Science-Fiction-Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DIE PIRATEN DES SCHARLACHMEERES von Ronald M. Hahn 

 

Das Buch

 

Man schreibt das Jahr 2500 irdischer Zeitrechnung.

Auf der Suche nach den verschollenen Terranauten...

Nach einer längeren Luftfahrt verliert der Heißluftballon an Höhe, und die Gefährten sind gezwungen zu landen. Unmittelbar im Anschluss werden sie erneut gefangengenommen: Dieses Mal geraten sie in die Hände Marcel d'Guinnes und seiner Helfer. Bei einem weiteren Überfall gelangen die Frauen - Zandra van Heissig und Thorna - in die Hände Rogiers, eines Fürsten RORQUALs, David und Claude Farrel hingegen können fliehen...

 

DIE TERRANAUTEN – konzipiert von Thomas R. P. Mielke und Rolf W. Liersch und verfasst von einem Team aus Spitzen-Autoren – erschien in den Jahren von 1979 bis 81 mit 99 Heften und von 1981 bis 87 mit 18 Taschenbüchern im Bastei Verlag. 

Der Apex-Verlag veröffentlicht die legendäre Science-Fiction-Serie erstmals und exklusiv als E-Books.

  DIE PIRATEN DES SCHARLACHMEERES

von Ronald M. Hahn

 

 

 

 

  Mitten in der Nacht wachte David terGorden auf. Er hatte von Asen-Ger und der Katastrophe geträumt, der sie auf dem Planeten Zoe alle nur knapp entkommen waren. Aber es war nicht der Albtraum gewesen, der ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Irgendwo knisterte etwas, und er hatte das unbestimmte Gefühl, als sei es keiner seiner Gefährten gewesen, der dieses Geräusch erzeugt hatte.

Schlagartig wurde er hellwach und tastete nach seinem Schwert.

Die Nacht war finster wie immer, aber zwischen den dicken weißlichen Stängeln der Tulpenbäume leuchtete etwas. Das Licht schien weit entfernt zu sein. Hatte in ihrer Nähe noch jemand anderer sein Lager aufgeschlagen?

David lauschte den Atemzügen der anderen. Gleich ihm hatten sie sich zwischen den Bäumen auf den mitgebrachten Decken ausgestreckt. Farrell lag zwischen Zandra und Rianna; ihn zu wecken bedeutete, auch die anderen aus dem Schlaf zu reißen.

Thorna hatte sich – wie gewöhnlich – ziemlich in seiner Nähe zusammengekuschelt. David robbte zu dem Mädchen hinüber.

»Ja?«, hauchte sie, noch ehe er etwas sagen konnte.

»Ich bin gleich zurück«, flüsterte David ihr ins Ohr. »Ich weiß nicht, aber ich habe den Eindruck... dass nicht alles in Ordnung ist. Wenn du glaubst, dass mir etwas geschehen ist, wecke die anderen. Tust du das?«

Das Mädchen nickte. Ihr Blick sprach von Enttäuschung.

»David...«, sagte sie.

»Ja?«

»Kann ich mit dir gehen?«

»Auf keinen Fall!« David strich ihr über das Haar und machte sich auf den Weg. Er folgte dem Licht, versuchte jedoch gleichzeitig, die Quelle des Geräusches ausfindig zu machen, das er gehört zu haben glaubte. Zu dumm, dass er nicht genügend Zeit gehabt hatte, sich mit Debussy oder Justin O’Broin über Einzelheiten dieses Planeten zu unterhalten. Was er über diese Welt und seine Bewohner wusste, entstammte Quellen, die ihre Informationen selbst aus zweiter Hand bezogen hatten. Keiner von den Menschen, die er bisher kennengelernt hatte, war auf Rorqual viel herumgekommen. Zu viel lag im Dunkeln. Niemand wusste genaues über das Volk der Grünen Flieger, das sich völlig abseits von den Menschen hielt, wenn man von einzelnen Ausgestoßenen wie Vasik, eine Kreatur Debussys, einmal absah. Dem Anschein nach – jedenfalls hatte Justin O’Broin, Friede seiner Seele, es durchblicken lassen – mieden die restlichen Bewohner Rorquals das Nebelland, in dem sie mit ihrem Beiboot abgestürzt waren. Und die Schiffer, die Reisen in andere Länder unternahmen, hüteten eifersüchtig die Handelswege und verbreiteten – wenn überhaupt – ausschließlich haarsträubende Geschichten über die noch unerforschten Landstriche dieser Welt. Darin unterschieden sie sich in nichts von den alten irdischen Seefahrern: Fremde Länder mussten schon allein deswegen von grauenhaften Ungeheuern und barbarischen Wilden bewohnt sein, damit niemand von der Konkurrenz auf die Idee kam, in den Revieren der anderen zu wildern. Wer sich seine Rohstoffquellen gesichert hatte, behielt ihre Lage für sich; das war die beste Methode, allein von ihnen zu profitieren.

David hatte noch keine hundert Meter durch den Tulpenwald zurückgelegt, als er leise Stimmen hörte. Nein, das waren keine Leute, die sich unterhielten. Was an seine Ohren drang, klang wie ein Singsang oder das Gewinsel Verlorener, die aneinandergekettet einem unbekannten Schicksal entgegensahen. Zwei Schatten huschten plötzlich vor ihm zwischen den Bäumen dahin. Holz krachte unter ihren Füßen. David sah wehendes Haar. Die beiden Unbekannten rannten, als sei ihnen der Teufel persönlich auf den Fersen. Offenbar dachten sie jetzt keine Sekunde mehr daran, sich lautlos und vorsichtig zu bewegen.

David wartete ab, bis sich das Geräusch brechender Zweige in der Ferne verlor und ließ das schwebende Licht dabei nicht aus den Augen. Er war jetzt nicht mehr weit davon entfernt.

Schließlich, nachdem er eine ganze Weile bewegungslos an seinem Standort verharrt hatte, schlich er weiter. Eine Minute verging, dann noch eine. Er bückte sich, robbte auf dem Bauch weiter und erreichte den Rand einer kleinen Lichtung, auf der sich etwas Rätselhaftes abspielte.

Genau gegenüber, etwa zwanzig Meter von David entfernt, saß ein Mann. Er saß mit dem Rücken gegen den Stamm eines Tulpenbaumes gelehnt und war gefesselt. Der Mann war etwas älter als David, hatte schwarzes Haar, einen ebensolchen Bart und trug einen Lendenschurz und Sandalen. Sein Haar war lang und strähnig, sein Blick leer. Obwohl der Unbekannte David geradewegs in die Augen starrte, schien er ihn nicht zu sehen. Dreißig Zentimeter vom Gesicht des Mannes tanzte ein kleines, strahlendes Licht in der Luft herum. Es schien den Unbekannten in einem Moment anzuspringen, dann fiel es wieder zurück, wie ein Magnet, der von einem anderen abgestoßen wird.

Der Mann gab keinen Laut von sich. Er starrte das Ding mit hervorquellenden Augen an wie ein hypnotisiertes Kaninchen. Das Licht zuckte hin und her, und es sang.

David schüttelte den Kopf. Unbewusst tasteten sich seine Psi-Sinne an das Ding heran, aber er ließ schnell wieder davon ab, als er schmerzhaft den störenden Einfluss spürte, der auf Rorqual alle Psi-Aktivitäten unmöglich machte. Es war ein Klagelied, das das Ding ausstieß, ein hohes Wimmern, das für normale menschliche Ohren kaum zu hören war. Es schien sich verzweifelt anzustrengen, um mit dem Gefesselten in Kontakt zu treten.

Und dann, ganz plötzlich, war es verschwunden. Der glasige Blick des Mannes wurde normal, fast scharf. Er sah David an und sagte: »Mach meine Fesseln los, du Idiot, aber schnell!«

David schnappte nach Luft. Was war hier geschehen? Welche Veränderung war mit dem Gefesselten vor sich gegangen und in welcher Beziehung stand er zu dem verschwundenen Licht? Er hatte den Mann zu kurz gesehen, um sichere Schlüsse ziehen zu können, aber er wurde den Verdacht nicht los, dass er vor wenigen Sekunden noch in anderer geistiger Verfassung gewesen war.

»Wer sind Sie?«, fragte David und stand auf. Es hatte jetzt keinen Zweck mehr, Verstecken zu spielen.

»Die Fesseln runter«, keuchte der andere und bewegte unruhig die Fußspitzen. Und dann, wie zu sich selbst: »Es hat geklappt. O Gott, nach all diesen endlosen Versuchen...«

David näherte sich zweifelnd dem Gefesselten und sah auf ihn herab. Über der ganzen Lichtung, das spürte er plötzlich mit hoher Deutlichkeit, schien plötzlich ein Geruch von Fäulnis und Verwesung zu liegen. Ein Blick in die Augen des Mannes sagte ihm, dass dies nicht der Blick eines normalen Menschen war. Die Pupillen offenbarten ihm, dass hinter ihnen jemand hockte, der nicht zu seinem Gegenüber gehörte; ein lauerndes, tückisches Etwas, das von diesem Mann Besitz ergriffen hatte und ihn steuerte...

David schüttelte sich. Seine Sinne waren bis zum äußersten angespannt, als er sich zu dem Bärtigen herunterbeugte, seinen Kopf an den Haaren packte und ihn nach hinten zog, um ihm in die Augen zu sehen.

»Nicht...«, keuchte der Gefesselte. Er versuchte, die Augen zu schließen. »Sieh mich nicht an. Sieh...«

Vom Lager der Treiber her kündigte ein schriller Aufschrei an, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. David wirbelte herum, packte den Griff seines Schwertes fester und eilte den gleichen Weg zurück, den er gekommen war. Er hatte sich nicht getäuscht: Soweit es in der Finsternis auszumachen war, kämpften Farrell und Rianna Rücken an Rücken gegen eine Horde halbnackter Gestalten mit wehenden Haaren an. Metall schlug gegen Metall, ihre Schwerter stieben Funken. Zandra rang mit zwei gewandten Gegnern unter der Blüte eines Tulpenbaums, Thorna lag am Boden. Auf ihrem Rücken hockte ein Angreifer und war gerade damit beschäftigt, ihr Fesseln anzulegen. David sah einen Unbekannten leblos neben ihr am Boden liegen. Ein anderer kniete noch und übergab sich. Wahrscheinlich hatte sie ihm einen Tritt in die Magengrube verpasst.

»Vorsicht!«, schrie eine tiefe Stimme, als David wie ein Wirbelwind über die Lichtung preschte und die Waffe hob. Farrell stieß einen Freudenschrei aus und setzte zu einem Ausfall an. Aus dem Lauf heraus stieß David zu; einer von Farrells Gegnern fiel, der andere verlor das Leben, als er sich überrascht herumdrehte und sich Riannas Klinge von hinten zwischen seine Schulterblätter bohrte. Der Mann, der Thorna inzwischen gefesselt hatte, sprang auf, und der Letzte, dem offensichtlich übel war, folgte ihm. Die beiden waren harte Kämpfer und besser im Schwertkampf geübt als David. In einem unbedachten Moment schlugen sie ihm die Klinge aus der Hand. Sie wirbelte durch die Luft und drang mit einem schmatzenden Geräusch im Stängel des nächstliegenden Tulpenbaums ein. Ehe David sich versah, zielte eine Schwertspitze auf seine Kehle.

»Gibst du auf?«

Es blieb ihm nichts anderes übrig, denn im gleichen Augenblick hörte er Zandra wütend aufschreien, was nur bedeuten konnte, dass man auch sie überrumpelt hatte. Farrell fluchte, dann hörte David, wie auch er laut: »Ja!« sagte.

Kurz darauf streckte auch Rianna die Waffen. Jemand zündete eine Fackel an, und schleichende Schritte auf dem Boden zeigten David, dass er sich in der Anzahl ihrer Gegner verrechnet hatte: Mindestens ein Dutzend langhaariger, mit Lendenschurzen bekleidete Männer hielten sich jetzt auf der Lichtung auf.

»Nicht schlecht«, sagte einer der Fremden. »Dass die drei unserer Leute getötet haben, wird Markham allerdings weniger gefallen.«

»Ach, halt die Schnauze!«, sagte ein anderer. »Es sind drei Frauen dabei und ausnahmslos hübsche! Das dürfte ihn wieder versöhnen.«

»Was habt ihr mit uns vor?«, fragte David, während ein hinter ihm stehender Mann seine Hände zusammenband. »Wer seid ihr?«

»Wir sind die Kinder des Schwarzen Drachen«, sagte eine Stimme aus der Finsternis spöttisch, »und wenn du nicht deinen Mund hältst, werfen wir dich unserer Mama zum Fraß vor!«

Gelächter. Dem Tonfall nach schien es sich bei diesen Leuten keinesfalls um Nachkommen in jüngerer Zeit auf Rorqual Gestrandeter zu handeln. Aber wer waren sie sonst?

»Vorwärts!« Jemand stieß David in die Rippen. »Zum Fluss hinunter.«

Einer der Fremden übernahm die Spitze. Man führte die Gefangenen im Gänsemarsch durch den Wald. Als das Gelände zum Fluss hin abschüssig wurde, näherte sich ihnen von dort aus ein Mann und fragte: »Was ist mit Mark?«

Der Anführer der Gruppe tuschelte mit dem Neuankömmling, dann überließ er diesem die Führung und kehrte mit einem weiteren Mann auf die Lichtung zurück. Wer war Mark? Konnten sie damit den Mann meinen, den David auf der zweiten Lichtung getroffen hatte?

Erst jetzt konnte David erkennen, dass am Flussufer ein Feuer brannte. Mehrere Frauen waren dort versammelt, und das laute Klirren, das weithin hörbar war, wenn sie sich bewegten, wies darauf hin, dass sie in Ketten lagen. Ein Sklavenhändler also. David schnappte wütend nach Luft.

In allernächster Nähe des Feuers gewahrte er einen großen, fetten, alten Mann, der ihn unwillkürlich an eine faltige Kröte erinnerte. Der Mann war fast kahl, hatte ein zerfurchtes Gesicht und machte den Eindruck, als gäbe es kein Laster auf der Welt, dem er sich nicht gewidmet hätte. Er schien zudem betrunken zu sein. Seine Zähne waren Ruinen, seine mit knotigen Adern übersäten Arme zitterten. Im Gegensatz zu den anderen trug er über seinem Lendenschurz einen schwarzen Umhang mit Stehkragen.

»Was ist mit Mark?«, fragte auch er. Der Anführer der Gruppe unterhielt sich mit ihm.

Die Gefangenen wurden zu den Frauen gebracht. Die meisten von ihnen wirkten abgearbeitet und verhärmt. Altersmäßig waren sie schwer einzustufen, aber David nahm an, dass die Hälfte von ihnen bereits jenseits des Klimakteriums lag. Allem Anschein nach hatte man sie geraubt, und jetzt wartete diese Räuberbande darauf, dass ein Schiff den Fluss heraufkam, um ihr die Ware abzunehmen.

Es war nicht einfach, mit den Frauen einen Kontakt zu knüpfen. Sie waren verschüchtert und scheu und schienen die Neuankömmlinge zunächst für Mitglieder der Bande zu halten. Zandra und den anderen Frauen gelang es schließlich, einige zu finden, die bereit waren, Auskunft über sich zu geben, und eine halbe Stunde später wusste David mehr.

Die Frauen waren Wasserträgerinnen in einem Dorf namens Candar gewesen, das zwei Tagesmärsche von hier entfernt lag. Ihr Beruf war schwer und wurde schlecht honoriert: Da auf Rorqual beinahe ausnahmslos alle Quellen unterirdisch lagen, mussten sie weite Strecken zurücklegen, um Trinkwasser an die Oberfläche zu bringen. Die meisten von ihnen hatten den größten Teil ihres Lebens unterirdisch verbracht. Man hatte sie wegen irgendwelcher Vergehen in ein großes Höhlensystem abgeseilt. Andere gehörten armen Familien an, die zwar des abends wieder heraufgeholt wurden, aber auch kaum Tageslicht gewohnt waren. Jetzt war die Quelle des Dorfes Candar versiegt. Der Mann, der über die Ortschaft und den gesamten Landstrich herrschte, hatte sie an die Kinder des Schwarzen Drachen verkauft. Sie sollten in den Norden gebracht werden, wo Frauen knapp waren, und die einsamen Männer, die dort oben der Jagd und Metallsuche nachgingen, keine großen Ansprüche stellten.

Zandra knirschte vor Wut mit den Zähnen, als sie David diese Geschichte wiederholte, und das lag nicht nur daran, dass ihr jetzt das gleiche Schicksal blühte. Es war die menschenverachtende Einstellung der Banditen, die sie im Innersten aufwühlte und die Gemeinheit irgendwelcher Tagediebe, die sich einfach herausnahmen, aufgrund ihrer physischen Überlegenheit mit anderen Menschen zu verfahren, wie es ihnen in den Kram passte.

»Bevor ich mich verkaufen lasse«, zischte Zandra wütend, »bringe ich mich lieber um!«

»Pssst!«, machte Rianna. David wandte den Kopf und sah, dass die beiden auf der Lichtung zurückgebliebenen Banditen sich jetzt dem Feuer näherten. Zwischen ihnen ging der Mann, dessen Bekanntschaft er bereits im Tulpenwald gemacht hatte, aber das Gesicht des Fremden zeigte jetzt keinerlei Wachheit mehr. Seine Augen waren leer, blass und glanzlos, seine Mundwinkel hingen schief herab. Im Gesicht des Bärtigen zuckte es unentwegt. Es stand außer Zweifel, dass er ein schweres Nervenleiden hatte, möglicherweise sogar geistig behindert war.

Der fette Anführer der Bande schloss ihn in seine Arme und drückte ihn neben dem Feuer zu Boden. Der andere ließ alles willenlos mit sich geschehen, und als er sprach, verwendete er die Stimme eines kleinen Kindes. Es war schrecklich, und für David terGorden, der ihn mit anderer Stimme hatte sprechen hören, sogar unheimlich. Was war mit diesem Mann geschehen? Weswegen hatte man ihn an den Stängel des Tulpenbaums gefesselt? Die Veränderung, die mit dem Mann vorgegangen war, erschien David unerklärlich.