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Über dieses Buch:

Ein Mord vor rund 70.000 Zeugen, aber keiner hat etwas gesehen: Der schwedische Radiomoderator Richard Malmström wird brutal ermordet – und das live auf Sendung. Schnell findet die Polizei heraus, dass der Mörder nur ein Mitglied der Redaktion sein kann. Doch wer von ihnen ist der Täter? Motive gibt es mehr als genug, denn viele aus dem Team hatten gute Gründe, dem arroganten Frauenhelden den Tod zu wünschen. Auch die Praktikantin Malla beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln – ohne zu bemerken, dass sie dem Mörder schon gefährlich nahe gekommen ist …

Über die Autorin:

Katarina Mazetti, geboren 1944 in Stockholm, arbeitete als Schwedisch- und Englischlehrerin sowie als Journalistin bei Sveriges Radio. Mit ihrem Erfolgsroman »Der Kerl vom Land« stand sie monatelang in Schweden auf der Bestsellerliste, 2002 wurde das Buch verfilmt.

Katarina Mazetti veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre romantischen Schweden-Romane »Der Kerl vom Land – Eine Liebesgeschichte« und »Mein Kerl vom Land und ich – Die Liebesgeschichte geht weiter«, die auch im Doppelband »Mittsommerküsse« erschienen sind. Weiterhin erschien bei dotbooks ihr Liebesroman »Ein Kerl zum Verlieben«.

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eBook-Neuausgabe Dezember 2018

Dieses Buch erschien bereits 2003 unter dem Titel »Jede Menge Ohrenzeugen« bei Piper

Copyright © der schwedischen Originalausgabe 2001 by Katarina Mazetti

Die schwedische Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »Tyst! Du är död!« bei Alfabeta Bokförlag AB, Stockholm.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2003 Piper Verlag GmbH, München

Copyright © der deutschen Übersetzung 2002 Piper Verlag GmbH, München

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Bildmotivs von shutterstock/RPBaiao

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-243-6

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Katarina Mazetti

Das Schweigen der Schuld

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger und Holger Wolandt

dotbooks.

Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Angestellten oder ehemaligen Angestellten bei einem der Lokalsender von Sveriges Radio werden hiermit freundlich, aber bestimmt zurückgewiesen.

Die Autorin

Angestellte von Sveriges Radio Nordost, Distrikt Böleå:

Erzähler:

Malla Vilhelmsson, Praktikantin der Stockholmer Journalistenhochschule, schikaniert, gestreßt und gehetzt vom Nachrichtenchef und vom Aussehen her gut zum Beschatten geeignet (unauffällig).

Haqvin Storfjell, mystischer Do-it-yourself-Schamane und Musikredakteur, hält sich im Glasverschlag auf und kehrt seine Schokoladenseite nach innen.

Weitere Angestellte, sortiert nach ihrem Arbeitsplatz im Funkhaus:


Erdgeschoß:

Carina Sällström, Empfangsdame und Telefonistin, kehrt ihre Schokoladenseite nach außen. Denkt nur an sich, empfindet jedoch bisweilen Mitgefühl mit kleinen zotteligen Tieren.

David Mård, genannt Dave, Techniker, lebt bis auf weiteres mit Carina zusammen. Gutaussehend, arm und findig, was Technisches betrifft.

Maria Malmström, genannt MaMa, technische Assistentin, kümmert sich um alle Bedürftigen. Reich, freundlich und über beide Ohren in den falschen Mann verliebt (ihren eigenen).

Obergeschoß:

Richard Malmström, Produzent aller lokalen Morgensendungen und Hobbysadist, läßt alle erschaudern, allerdings nicht nur vor Unbehagen.

Bengt Hedning, genannt Benke, Nachrichtenchef von P 4, ist eigentlich der Meinung, Nachrichten sollten ohne Rücksicht auf mögliche Konsequenzen verbreitet werden, muß seine Ansicht jedoch revidieren.

Samuel Broo und Tomas Rask, Sam & Tom, verliebte Praktikanten, die alles zusammen machen.

Kerstin »Che« Vällivaara, ehemalige Göttin mit Format. Hat möglicherweise eine terroristische Vergangenheit.

Stig Sollén, der Quartalssäufer, ist mit seiner Arbeit etwa ein Jahr im Rückstand.

Nils Boström, Senderchef, genannt Nisse-Boß, graumelierte Erscheinung, immer gut für Überraschungen.

Beurlaubt und daher nicht Teil der Handlung:

Sia Fredholm, Produzentin von Schulfunksendungen.

Annika Greiz, genannt Geiz, Buchhalterin.

Sein boshaftes, schrilles Gelächter hallte aus vier großen Lautsprechern durch den Raum und füllte die stickige Luft des ungelüfteten Studios, bis es von der schallisolierenden Wandbespannung verschluckt wurde.

Immer und immer wieder.

Und zwischen den Lachsalven dieses typische lange, pfeifende Einatmen. Er litt an Asthma. Ich preßte die Hände an die Ohren, legte die Stirn auf die Knie und kniff die Augen zu, bis ich bläuliche Blitze sah.

»Ruuuhe!«

Aber ich wurde dieses Geräusch einfach nicht los. Es brachte die Schädeldecke zum Schwingen.

Immer und immer wieder.

Ich richtete mich auf und schrie, bis sich meine Stimme überschlug.

»Gib Ruhe!

Du bist tot!

Du bist tot!

Du bist tooot!«

Und plötzlich war es ohrenbetäubend still.

Die Schöne, das Biest und andere Kollegen

An: <jonas.mansson@norrlands.folkblad.se>
Von: <malla.vilhelm@radionordost.sr.se>

Meine Güte, wie ich das Aufstehen in dieser Stadt hasse.

Angenommen, du bist vom Klingeln des Weckers tatsächlich wach geworden und nicht wieder eingeschlafen oder an deiner freudlosen Portion Vierkornmüsli erstickt, angenommen, du hast dir keinen Kaffee über deinen einzigen sauberen Pullover gekippt, die beiden Lederhandschuhe und die Monatskarte gefunden und dich rechtzeitig zur Bushaltestelle geschleppt. Das Thermometer zeigt minus achtzehn Grad, und die Brille beschlägt sofort. Du machst einen falschen Schritt, fällst in den riesigen Schneewall, den der Schneepflug vor deiner Haustür aufgeworfen hat, und verlierst den einen Stiefel.

Während du im Schnee sitzt und ihn wieder anzuziehen versuchst, stellst du fest, daß die Katze letzte Nacht in den Stiefel gemacht haben muß. Dir bleibt nur die Wahl, umzukehren und zu spät zur Morgenbesprechung zu kommen oder ihn zuzuschnüren und den ganzen Tag mit einem grauenvollen Geheimnis unter der Fußsohle herumzulaufen. An der Bushaltestelle versuchen sich zweiundvierzig Personen auf einmal ins Wartehäuschen zu drängen, um den Eismeerwinden in Orkanstärke zu entgehen. Als der Bus kommt, ist er so voll, daß der Fahrer nur kurz die Tür öffnet und brüllt, es käme gleich ein Einsatzwagen. Er lügt.

Womöglich glaubst du, es könnte dir gelingen, deinen alten Audi anzuwerfen, dessen Motorheizung die ganze Nacht auf Hochtouren gelaufen ist. Das Schloß ist eingefroren, du versuchst es mit dem Feuerzeug aufzutauen, und mit deinen klammen Fingern läßt du es natürlich sofort in den Schnee fallen. Du zwängst dich durch eine versehentlich nicht abgeschlossene Fondtür, während dir deine Nachbarn grinsend durch ihre beheizbaren Heckscheiben zuwinken. Du brauchst zwanzig Minuten, um ein kleines Guckloch in der Windschutzscheibe freizulegen, und weitere zwanzig, um den Schnee hinter dem Auto wegzuschippen, damit du rückwärts ausparken kannst.

Falls der Wagen jetzt wider Erwarten anspringen sollte, bleibst du sofort im Schneewall stecken, den der Schneepflug vor die Ausfahrt geschoben hat. Soeben haben die Nachbarn in ihren angenehm temperierten Turbomonstern mit Allradantrieb denselben Wall mühelos bewältigt. Das eingefrorene Schloß der Fahrertür, die du von innen geöffnet hast, klemmt. Sie läßt sich nicht mehr schließen und fliegt jedesmal auf, wenn du um eine Kurve fährst. Der Wind vom Eismeer füllt den Innenraum. Mit Rauhreif an den Brauen erscheinst du endlich in der Arbeit.

»Wurde aber auch Zeit!«, sagt Bengt Hedning säuerlich. Die Morgenbesprechung ist soeben vorbei, und alle eilen von dannen. Sich bei der Morgenbesprechung zu verspäten ist eine Todsünde.

Bengt, der Nachrichtenchef, haßt dich, da du eine Praktikantin von der Journalistenhochschule bist. Diese muß er Jahr für Jahr aufs neue über sich ergehen lassen wie einen lästigen Heuschnupfen. Diese Heimsuchungen sind zwar nicht tödlich, aber, solange sie anhalten, äußerst unangenehm. »Nachlässig und gedankenlos«, schnauzt er mich an, und bei mir hat er damit leider recht. Praktikanten bremsen das Arbeitstempo, gießen Kaffee ins Mischpult, stellen dumme Fragen, glauben, daß sie alles können, und löschen versehentlich Beiträge, die viele Stunden Arbeit gekostet haben. Seine Zeit sei ihm zu kostbar, sagt er und übergibt dich an Maria Malmström, genannt MaMa.

Und eine Mama ist sie wirklich. Kinder hat sie keine, aber all die ungenutzte Mütterlichkeit ihrer fünfundvierzig Jahre ergießt sich wie eine Gnadensonne über verschreckte Praktikanten, angetrunkene und/oder frisch geschiedene Reporter, überarbeitete Produzenten und einen leicht paranoiden Chef. Sie selbst hat eine untergeordnete Position als technische Assistentin, obwohl sie hier im Funkhaus die größte Erfahrung hat. Es hängt ihr nach, daß sie ihr Gewerbe zu einer Zeit erlernte, als die Tontechniker noch mit den Reportern loszogen und ihnen das Tonband trugen.

Nun assistiert sie David Mård, dem »Cheftechniker«, der nur für sie der Chef ist, denn im Funkhaus gibt es nur diese beiden Tontechniker. Er ist neunundzwanzig Jahre, und da er ein Mann und noch halbwegs jung ist, geht die Direktion davon aus, daß er die Computer bis zur Perfektion beherrscht. Daß er peinlich wenig über ältere Techniken weiß, die immer noch hier und da in Gebrauch sind, Spulentonbänder beispielsweise, sieht man ihm dabei gerne nach – denn es dient eigentlich nur als Beweis dafür, daß er ein Computergenie ist. Allerdings stellt die aufgeweckte Praktikantin schon bald fest, daß dies nicht den Tatsachen entspricht. Wenn man David mit Computerfragen konfrontiert, auf die er keine Antwort weiß, erwidert er patzig, es sei nicht seine Aufgabe, Praktikantinnen auszubilden – dumm ist er schließlich nicht! Dann geht man statt dessen zu MaMa, die rasch die aufgetretenen Probleme löst, indem ihre kleinen weißen Finger mit den silbern lackierten Nägeln rasch wie Vögel über die Tasten fliegen. Denn sie ist das eigentliche Computergenie, wenn auch in aller Stille. Ich habe einmal versucht, die Kollegen in der Mittagspause darauf hinzuweisen, aber sie brachte mich zum Schweigen, damit David sich nicht herabgesetzt vorkäme.

Übrigens will David von allen nur Dave genannt werden. Inzwischen schuldet er mir sicher schon zehn Schachteln Zigaretten. Er raucht wie ein Schlot und hat nie eigene dabei. Ich glaube, daß er ständig Pleite ist, zumindest habe ich Carina so verstanden. Das ist seine Freundin und gleichzeitig unsere Telefonistin. Sie stichelt öfter mal herum, weil er es sich nicht mal leisten kann, sie ins Kino einzuladen, und Feingefühl ist nicht gerade ihre starke Seite. »Dave hat schon wieder keine Kohle, ich glaub, ich leg mir 'nen anderen Freund zu«, sagt sie und wirft mir einen derart blauen Blick zu, daß ich unwillkürlich an den weiten – und leeren – Himmel denken muß. Dann tut mir Dave immer leid, und ich biete ihm eine Extrazigarette an. »Die Zigaretten kannst du dir schenken. Im Bett ist nämlich auch nix mit ihm los, brauchst dir keine Hoffnungen zu machen«, meint sie freundlich. Da erröten Dave und ich und sehen uns unglücklich aus den Augenwinkeln an.

Ansonsten ist Carina vermutlich das, was man als nett bezeichnet: Sie ist entsetzt, wenn sie in einer der beiden Abendzeitungen einen Artikel über behinderte Kinder oder Tierquälerei liest. »Wie schräcklich!!!« seufzt sie. Das Bemerkenswerteste an ihr ist, daß sie aussieht wie eine Kandidatin für den Miss-Schweden-Wettbewerb, langbeinig, weizenblond, mit einer klassischen, geraden Nase – eigentlich fehlt nur die Schärpe über dem Miss-Schweden-Busen.

Mir hat sie nie etwas getan. Sie lächelt stets, wenn man kommt, und ist hilfsbereit, auch wenn man nicht darum gebeten hat. Meistens geht es schief, denn sie ist nicht sonderlich clever, aber dafür verdammt resolut. Ich könnte mir vorstellen, daß sie beim Puzzlelegen die Teile, die nicht gleich passen, zurechtsägen, dann an Ort und Stelle pressen und sich schließlich darüber beklagen würde, das Spiel sei eine Fehlkonstruktion. Bestimmt bekäme sie im Laden sogar ihr Geld zurück. Sie kann derart mit den Wimpern klimpern, daß die Vorhänge im Luftzug waagerecht stehen.

Mir ist aufgefallen, daß sie immer ihren Willen durchsetzt. Aber wenn jemand, dem ich seit mehreren Tagen hinterhertelefoniert habe, zurückrufen will und bei Carina in der Vermittlung landet, kann es ohne weiteres passieren, daß sie ihn ohne mit der Wimper zu zucken abfertigt: »Na ja, da haben Sie sich ja ganz schön Zeit gelassen. Jetzt ist sie gerade zu Tisch!« Dann legt sie auf, ohne sich seine Nummer aufzuschreiben. Das erzählt sie mir anschließend freudestrahlend und ist zutiefst verletzt, wenn ich nicht dankbar bin.

An dieser Mail habe ich den ganzen Tag gefeilt, während ich darauf warte, daß genau so ein Mensch sich ein Herz faßt und noch mal anruft. Er hat Informationen über einen städtischen Schwarzbau, die ich unbedingt brauche. Ein heißer Tip von einem Hörer. Sobald ich nur eine einzige Sekunde den Blick vom Bildschirm hebe, hält Bengt Hedning mich für unterbeschäftigt und jagt mich in die Stadt, um eine dieser sinnlosen Hörerbefragungen durchzuführen, die er so gerne als Lückenbüßer nimmt. Seine Spezialität, die er uns, dem Fußvolk, aufzwingt, ist es, die Leute dazu zu bringen, auf heikle Fragen zu antworten, indem er diese in eine ganze Fragenbatterie einbaut. Zum Beispiel: »Wie schützen Sie sich gegen die Kälte? Haben Sie dieses Jahr eine Steuerrückzahlung erhalten? Nicht? Haben Sie schon mal Analsex ausprobiert?« Es gibt Leute, die so schockiert sind, daß sie diese Frage wirklich beantworten, aber früher oder später werden sie wahnsinnig wütend auf dich.

Es ist jetzt ganz schön ausführlich geworden, aber Du hast selbst gesagt, daß Du alles über meinen Job beim Radio wissen willst, weil Du eine Alternative brauchst, falls Norrlands Folkblad Dir eines Tages gänzlich die Nerven zerrüttet.

Vergiß es! Wir sind hier nur zu vierzehnt, und mindestens dreizehn von uns befürchten, ihre Arbeit zu verlieren oder als Sportreporter in die Pampa geschickt zu werden.

Deine einzige Freundin

Malla

/senden/

Im Glasverschlag I

Irgendwas hier im Funkhaus stimmt nicht. Irgendwas am Rand meines inneren Gesichtsfelds bewegt sich, verstohlen, wachsam und scheu wie ein Tier im Wald. Sobald ich mein inneres Auge darauf richte, verschwindet es oder erstarrt, wird eins mit dem Hintergrund und ist in dem allgemeinen Lärm, der hier immer herrscht, nicht mehr zu hören. Zwischen den Menschen vollzieht sich etwas, was ich nie zuvor verspürt habe. Es geht um Haß und Tod, um lang anhaltenden Schrecken und Lust. Ich werde fast wahnsinnig vor Angst, und zum ersten Mal, seit ich hier bin, will ich mich verstecken, mich vor den bösen Blicken schützen und vor den Gefühlen, die die Atemluft verpesten. Aber wie soll man sich in einem Raum aus Glas verstecken?

Zum ersten Mal empfinde ich eine Unsicherheit und eine direkte Bedrohung, wenn ich den Blick auf meine Kollegen richte. Natürlich bin ich ihre Sticheleien und Gemeinheiten gewohnt, ich habe gehört, wie sie nacheinander schnappen, manchmal mit ziemlich scharfen Zähnen. Doch sie kamen mir am ehesten vor wie ein Wurf junger Füchse, die sich balgen, nacheinander schnappen und herumtollen. Jetzt allerdings brodelt es ganz anders unter der Oberfläche.

Ich höre das widerliche Knirschen von Metall auf Knochen und nehme den Geruch von Blut wahr ...

Ich muß diese Gedanken beiseite schieben. Sofort!

Und meine Kollegen so sehen wie sonst auch, wenn sie jetzt die Treppe heraufkommen, einer nach dem anderen, und im Pausenraum verschwinden.

»Alter Guru« hat David mich dieser Tage genannt. Ich sitze hier oben hinter meiner Glaswand und überblicke alles, zumindest auf diesem Stockwerk.

David sitzt bereits im Pausenraum und löffelt etwas aus einer Pappverpackung. Ein netter Junge, aber Tischmanieren hat er keine. Immer hat er Angst, daß jemand seine Behauptungen hinterfragen könnte, und hüpft verzweifelt zwischen seinen bruchstückhaften Kenntnissen hin und her wie zwischen Eisschollen.

Seiner Freundin Carina scheinen sowohl Tischmanieren als auch Fachkenntnisse egal zu sein – außerdem hat er ihr wohl noch nie sonderlich viel bedeutet. Sicher hat sie ihn damals genommen, weil er gut aussieht, dunkel und sonnengebräunt, was gut zu ihrer Modelschönheit paßt.

Aber sie hat ihm bereits wegen diesem anderen den Laufpaß gegeben, allerdings weiß ich nicht, ob nur in Gedanken oder schon in der Realität. Wenn sie ihn eines Tages verläßt, wird sie keine Skrupel haben.

Carina ist weder gut noch böse, weder nett noch gemein – sie ist vollkommen amoralisch und wird nur von einer einzigen Sache beherrscht: Was ihren Bedürfnissen und Launen entspricht, ist recht und billig. Wenn sie ihren neuen Kerl seiner Ehefrau ausspannt, wird sie zu dieser sagen: »Hör mal, ich liebe ihn doch, das mußt du verstehen! Aber wir können doch trotzdem Freundinnen bleiben, oder?« Und sie wird nicht begreifen, warum dieser Vorschlag nicht auf Gegenliebe stößt.

Für David suche ich heute aus »I should have known better with a girl like you«. Und für Carina »I'm just an old-fashioned girl ... who wants an old-fashioned millionaire ...« Für Maria, seine Frau, spiele ich »Fische im Meer«. Vielleicht ist es aber auch Zeit für »Das Leben hat mich schon betrogen«? Und für ihn spiele ich überhaupt nichts, denn ich gönne ihm keinen Ton. Er ist ein abscheulicher Mensch.

Gerade kommt Nils vorbei. Er lächelt mir immer so herzlich zu, mehr wie ein alter Freund als wie ein Chef. Das hat nichts damit zu tun, daß ich der einzige bin, der sein Geheimnis kennt. Er weiß, daß ich es weiß, aber er weiß auch, daß ich nichts verrate. Er glaubt, daß niemand im Funkhaus davon weiß, aber es vergeht kein Tag, an dem er sich nicht voller Entsetzen ausmalt, was dann passieren würde. (Das dumpfe, ekelhafte Geräusch, wenn eine scharfe Klinge Knochen zersplittert, und sie versinkt in ... o nein, nein ...)

Obwohl ich mich frage ... Natürlich sind die meisten von ihnen geschwätzig, und sobald einer davon wüßte, würden es bald alle wissen. Allerdings habe ich das Gefühl, daß jemand anders Nils' wundem Punkt auf der Spur ist und seine Erkenntnis noch für sich behält, um sie bei geeigneter Gelegenheit zu verwenden. In dem Fall weiß ich, wer es ist.

Vielleicht sollte ich Nils etwas auf den Arm nehmen und »I'm a lumberjack« spielen? Er würde als einziger die Anspielung verstehen. Den anderen würde nicht im Traum einfallen, meine Musikauswahl nach kleinen persönlichen Grüßen zu durchforsten. Schließlich tue ich das auch nicht für sie, sondern mehr zum eigenen Vergnügen. Der Spaß besteht schließlich gerade darin, ihnen irgendwo in den Räumen des Senders zu begegnen und sie etwas summen zu hören, was ich beim Zusammenstellen der Musik fürs Lokalprogramm eigens für sie ausgesucht habe. Es ist schon bemerkenswert, daß unser Unterbewußtsein Liedtexte zur Hilfe nimmt, um Dinge zu bearbeiten, die einem zu schaffen machen. Als Kerstin sich gerade hatte scheiden lassen, brachte ich sie dazu, den ganzen Tag lang folgendes Lied zu pfeifen:

Don't know why
there's no sun up in the sky
stormy weather
since my man and I ain't together
keeps raining all the time ...

Ich denke, es hat ihr geholfen, ihr eine Art Erleichterung verschafft.

Gestern gingen Sam und Tom Hand in Hand und trällerten eine Ballade von Eva Dahlgren, die ich für sie ausgesucht hatte. Wirklich rührend. Und für Bengt, diesen Querkopf, habe ich den alten Groucho-Marx-Song »Whatever it is, I'm against it« gespielt – dabei ist Bengt ein harter Brocken, der Musik nur als unnötige Unterbrechung der Nachrichtenvermittlung betrachtet.

Ich glaube, Musik ist eine der wenigen direkten Verbindungen zwischen unserem Über-Ich und unserem Unterbewußtsein. Es wäre dumm, sich dieses Weges nicht zu bedienen, wenn man sich selbst kennenlernen will. Ich registriere immer sehr genau, was ich zufällig vor mich hinsinge, und meist muß ich schmunzeln – die bruchstückhaften Texte bringen immer recht genau auf den Punkt, worüber ich gerade nachgedacht habe, auch wenn es nur etwas Banales ist wie: »I want to go home, oh, how I want to go home.«

Allerdings weiß ich nur selten, was ich für Malla spielen soll, diese große Praktikantin mit Brille, die ständig über ihre eigenen Füße stolpert. Sie kann kaum älter als fünfundzwanzig sein, was für Liedtexte kennt sie wohl? Was weiß ich schon von der »Musik« ihrer Generation, die in meinen Ohren immer so klingt, als würde sie von einem Zufallsgenerator erzeugt? Eine maschinell erzeugte Folge von Rhythmusfragmenten ...

Stig scheint heute nüchtern zu sein, er kommt problemlos die Treppe hoch. Vielleicht hat er es für dieses Mal überstanden? Ich habe keine Ahnung, was ich für ihn tun kann. Soll ich »Bottle of wine, fruit of the vine, when're you gonna let me get sober« spielen? Oder sehnt er sich bei solchen Liedern einfach nur nach dem nächsten Glas? Vielleicht sollte ich »So bitterkalt weht der Nordwind« spielen und damit an sein Gewissen appellieren? Denn ich weiß, daß der Suff ihn Frau und Kind gekostet hat. Ach nein, das wäre zu grausam! Er ist in keiner guten Verfassung. Ich spüre, daß er kurz vor dem Nervenzusammenbruch steht. Etwas scheint in den letzten Tagen passiert zu sein, nur sehe ich noch nicht, was. Stigs Gedanken lassen sich nur schwer lesen, weil er sie zu oft in billigem Malt-Whisky auflöst.

(Ob er in seinem Kopf wohl auch dieses Geräusch hört, diesen dumpfen, feuchten Schlag, ob er das klebrige Blut erstarren sieht ...?)

Duett für zwei Etagen

Erdgeschoß

An: <jonas.mansson@norrlands.folkblad.se>
Von: <malla.vilhelm@radionordost.sr.se>

Wo war ich gleich wieder? Richtig, MaMa kümmert sich also gerade um dich, nachdem dich Bengt durch die Mangel gedreht und weggeworfen hat. Sie organisiert eine Tasse Kaffee und holt ein paar leckere Kekse aus ihrem privaten Vorrat, gibt dir ein Tuch, damit du dir die Brille putzen kannst, und dann sitzt sie eine Weile neben dir und erzählt dir von den Schnitzern, die sie selbst in ihrem Berufsleben gemacht hat, was irgendwie tröstlich ist. Ihr sitzt so da, bis der Säufer Stig Sollén hereingetorkelt kommt. Er scheint sich auf dem Weg zur Treppe zu befinden. Mit MaMa an seiner Seite kommt er mit den Stufen zurecht – außer mit der letzten, so daß er fast ins Plattenarchiv fällt. Diskret zieht MaMa die Tür hinter ihm zu, da der Senderchef jeden Moment auftauchen kann. Er erscheint immer eine halbe Stunde nach seinen Mitarbeitern, vielleicht aus Prinzip.

Dieser Nils Boström ist schon lustig – alle wissen, daß er noch bleibt, wenn die anderen nach Hause gehen, und sich die halbe Nacht abrackert, um seinen Job perfekt zu machen. Er will aber den Eindruck erwecken, ein begnadeter Chef zu sein und die ganze Arbeit ganz nebenbei mühelos zu bewältigen. Ich bin zwar jung, aber eines weiß ich über die Menschen, nämlich daß ich sie überhaupt nicht verstehe. Stell dir vor, du bist der oberste Boß und schuftest dich fast zu Tode – und noch dazu heimlich!

Während Nisse-Boß mit jovialem Nicken in alle Richtungen an uns vorübergeschritten ist, hat MaMa längst ein Taxi gerufen und den Heimtransport von Stig organisiert. Falls jemand nach ihm fragt, wird sie unbekümmert behaupten, er sei irgendwo auf einem Kammermusikfestival, sie erinnere sich jedoch nicht mehr genau, wo. Stig ist Musikredakteur beim Klassiksender P2 und hat die etwas veraltete Auffassung, wirklich gebildete und kultivierte Menschen seien Bohemiens, die kommen und gehen, wie es ihnen paßt. Diese Auffassung teilt die Musikredaktion in Stockholm, der er zugeordnet ist, jedoch nicht. Bald wird Stig vor der Wahl stehen, eine Entziehungskur über sich ergehen zu lassen oder als Conférencier der örtlichen Tanzmusikabende zu enden, die vom Sender mitproduziert werden. Alle wissen, daß Stig sich lieber an seinem Schlips aufhängen würde, als sich Tanzmusik auszusetzen.

Dieses Gerücht habe ich unlängst im Pausenraum gehört – von dem einzigen Menschen hier beim Sender, mit dem ich ernsthafte Probleme habe. Ja, ich weiß, daß es sich so anhören muß, als würde ich alle außer MaMa verabscheuen, aber das ist nur eine Fingerübung, was den Senderjargon angeht. Bei meinen Kollegen hört sich das immer so an, obwohl sie meist zusammenhalten wie Pech und Schwefel (außer wenn sie sich bei üblen persönlichen Auseinandersetzungen anfeinden, was eher selten vorkommt, aber doch ab und an einen unangenehmen Windhauch in die gute Alltagsstimmung bringt, wie von einer undichten Gasleitung).

Mit Richard Malmström, MaMas Mann und Produzent der lokalen Morgensendungen, habe ich allerdings Probleme. Dabei hat mich sein interessantes Aussehen fast umgehauen, als ich an MaMas Arm meine erste Führung durchs Funkhaus machte. Er sieht aus wie eine Mischung aus Ernest Hemingway und Sean Connery – groß, muskulös und braunäugig, mit kräftigem, dunklem, graumeliertem Haar und grauem Dreitagebart. Trägt gerne schicke, aber unauffällige schwarze oder dunkelblaue Pullover (die MaMa strickt). Es heißt, daß er in seiner Freizeit Bücher schreibt, und natürlich wird er Papa genannt.

Er nahm meinen Arm, während MaMa ergeben davoneilte, um sich anderen Aufgaben zu widmen – in seiner Gegenwart scheint sie stets zu schrumpfen. Dann führte er mich einen halben Tag lang herum. Lag mir mit bösartigem Klatsch über alle und jeden in den Ohren, wollte mich zum Mittagessen einladen und erbot sich, abends länger zu bleiben, um mich in die Geheimnisse des Schneidens einzuführen – wobei ein rotes Warnlämpchen in meinem Hinterkopf aufleuchtete. Schließlich legte er mir wie zufällig eine große braune und muskulöse Hand auf den Hintern, als ich mich über das Mischpult beugte. Ich schüttelte die Hand ab, schlug die Einladung zum Mittagessen aus und rauschte mit hochroten Wangen aus dem Studio. Seither bin ich Luft für ihn, außer wenn er mir im Vorbeigehen irgendeine Bosheit in die Ohren zischt. MaMa sah, wie ich aus dem Studio schoß, lächelte und erklärte: »Weißt du, Richard ist ein Mann, der Gefallen an hübschen Mädchen findet, er meint es nicht böse ...« Ist sie etwa auch seine Mama?

Richards Lieblingsopfer hier im Rundfunkhaus ist Kerstin Vällivaara, die Programmproduzentin, die nachmittags seine Arbeit übernimmt. Richard nennt sie Che Guevara oder einfach nur Che. Während der Führung durch den Sender hat er mich ausführlich und voller Schadenfreude über ihre Vergangenheit aufgeklärt. Früher fand sie es wunderbar, Che genannt zu werden, das war vor vielen Jahren, als sie frisch von der Journalistenhochschule kam. Sie begeisterte sich für die Revolution und wollte das Mikrofon in den Dienst des Volkes stellen. Zusammen mit einer bunten Truppe Lokalredakteure, die sich alle ein wenig in ihre zerbrechliche, weißblonde Erscheinung verliebt hatten, zog sie in der Provinz herum und ließ die Leute im Radio im großen und ganzen das sagen, was ihnen gefiel. Das konnte natürlich nicht gut gehen. Zwei Verleumdungsklagen, bösartige persönliche Streitigkeiten in mehr als einer Gemeinde und eine Handvoll Klagen beim Rundfunkrat. Die Leserbriefseiten der Lokalzeitungen waren voller gehässiger Angriffe auf den Lokalsender, und Che behielt ihren Job nur mit knapper Not.

Jetzt nutzt Richard jede Gelegenheit, wegen ihrer Vergangenheit herumzusticheln, die fünfundzwanzig Jahre und ebenso viele Kilos zurückliegt. Che ist heute eine stabile Dame mit messinggelbem Haar, und Richard ist sich nicht zu schade, auch faule Tricks anzuwenden. Wenn sie im Pausenraum sitzt und zurückhaltende Kritik an der Konsumgesellschaft übt, schaut er vielsagend auf ihren Bauch und meint grinsend, daß sie selbst ja wohl auch ganz gerne konsumiere. Wenn sie sich für bessere Kindertagesstätten ausspricht, fällt er ihr ins Wort, daß das doch wohl kaum ihr Spezialgebiet sein dürfte. Kerstin ist frisch geschieden und hat keine Kinder. Das hat Richard zwar auch nicht, aber niemand würde auf den Gedanken kommen, sich deswegen über ihn lustig zu machen. »Ich wollte mir die Figur nicht dadurch verderben, einen Kinderwagen durch die Gegend zu schleifen!« sagt er und klopft sich zufrieden auf seinen Waschbrettbauch. Er ist der einzige beim Sender, der regelmäßig ins Fitneßstudio geht, der Arbeitgeber zahlt uns die Mitgliedskarte.