Ines Thorn

Die Wunderheilerin

Historischer Roman

ERSTER TEIL

Erstes Kapitel

Leipzig, im Jahr 1503

Priska riss den Mund auf. Sie wollte schreien, doch die Worte blieben ihr in der Kehle stecken! Wie erstarrt stand sie in der Mauernische und sah mit vor Entsetzen weit geöffneten Augen auf das, was wenige Meter vor ihr geschah!

Ihre Meisterin, die Silberschmiedin Eva, wurde von einem Mann, dessen Gesicht mit einer silbernen Maske bedeckt war, überfallen. Er stieß die Meisterin zu Boden, Eva fiel, im Fallen verschob sich der Rock und entblößte ihre weißen Schenkel. Priska wollte hin, wollte der Meisterin helfen, doch ihre Füße gehorchten ihr nicht. Sosehr sie es auch versuchte, sie konnte sich nicht bewegen.

Der Mann mit der silbernen Maske hatte plötzlich einen schweren Stein in der Hand und holte aus, um Evas Gesicht zu zertrümmern. Die Meisterin krächzte und bedeckte mit beiden Armen das Gesicht.

Immer noch gelähmt vor Schreck, starrte Priska auf den Mann, wartete darauf, dass er den ersten Schlag führte. Ihre Knie wurden weich, und sie musste sich an der Mauer halten, um nicht umzusinken. Ihr Blick hing an dem Mann, der noch immer den Arm erhoben hatte. Priska schloss die Augen!

Doch sie hörte keinen Schrei, keinen Schlag. Nichts. Sie blinzelte, starrte auf den Mann und die Meisterin.

Der Mann öffnete den Mund. Priska hörte seine Worte: «Ich kann es nicht! Auch wenn es meinen eigenen Tod bedeutet, ich kann dich nicht töten.»

Und leiser, unhörbar fast: «Ich liebe dich, Eva. Ich habe dich immer geliebt.»

Sie sah, wie er die Finger der rechten Hand an seine Lippen führte, einen Kuss darauf hauchte und ihn Eva zuwarf. Dann ließ er den Stein einfach fallen, wandte sich um und lief weg.

Mit einem Wimmern sank Priska an der Hauswand hinab. Wie durch einen Nebel sah sie, dass Johann von Schleußig, der Priester, gerannt kam, der Meisterin aufhalf, ihr seinen Umhang über die Schultern legte und die Silberschmiedin mehr davontrug, als dass sie selbst lief.

Priska aber war noch immer unfähig, sich zu bewegen. Der Mann mit der silbernen Maske. Sie hatte ihn gleich erkannt. Es war David, Evas Ehemann und Meister der Silberschmiede, in der sie als Lehrmädchen tätig war.

Ihr Herz schlug in wildem Galopp. Der Meister hatte die Meisterin töten wollen! So, wie er einst den reichen Kaufmann und Nebenbuhler Andreas Mattstedt getötet hatte. Der Meister war ein Mörder und die Meisterin nur mit dem Leben davongekommen, weil es auch in dem Mörderherzen so etwas wie Liebe gab. Vorsichtig spähte sie die Gasse hinunter. Sie hörte von weitem Musik, Gelächter, Spottlieder und zotige Scherze. Es war Fastnacht, und ganz Leipzig war auf den Beinen. In der Nähe kreischte eine Frau auf, als hätte sie jemand in den Hintern oder in die Brüste gekniffen, dann erklang ein derbes Lied. Einer stimmte an, die anderen fielen ein, und schon schallte es bis zu Priskas Ohren:

«Herr Wirt, uns dürstet allen sehr:

Trag auf den Wein! Trag auf den Wein!

Dass dir Gott dein Leid verkehr:

Bring den Wein! Bring her Wein!

 

Sag, Gretel, willst du sein mein Bräutel?

So sprich, sprich! So sprich, sprich!

Wenn du mir kaufst einen Beutel,

vielleicht tu ich’s, vielleicht tu ich’s,

doch zerreiß mir nicht mein Häutel,

nur anstichs, nur anstichs!

 

Du, Hänsel, willst du mit mir tanzen?

So komm ran! So komm ran!

Wie die Böcke woll’n wir ranzen!

Nicht stolpern! Nicht stolpern!

Lass meinen Schlitz im Ganzen!

Schieb nur an! Hans, schieb an!

Der Gesang verlor sich in der Ferne, die fröhliche Meute war weitergezogen.

Priska spürte erst jetzt, wie sehr sie zitterte. Das Zittern kam nicht von der Kälte, nicht vom Schnee, der in dichten Flocken vom Himmel fiel. Nein, es kam aus ihrem Inneren, ließ sie am ganzen Körper erbeben. Sie schlug sich die Hand vor den Mund, um das Klappern der Zähne zu unterdrücken. Vergeblich.

Die Zeit verstrich. Immer noch stand sie in der Mauernische, betäubt vor Schreck. Es erschien ihr unendlich lange her, seit sie sich von den anderen Feiernden getrennt hatte, um nach Hause zu gehen. Plötzlich war die Meisterin vor ihr gewesen. Priska hatte sie einholen wollen, mit ihr gemeinsam nach Hause gehen wollen, doch dann war der Mann gekommen, und sie war in die Nische geschlüpft. Wie lange war das her? Stunden? Tage? Jahre? War es gar in einem anderen Leben gewesen?

Die Glocken der nahen Kirche, die Mitternacht verkündeten, holten Priska in die Wirklichkeit zurück. Über eine Stunde hatte sie hier gestanden. Langsam schleppte sie sich nach Hause. Sie achtete nicht auf den Schnee, nicht auf die Maskierten, die ihr hin und wieder begegneten.

Als sie die Silberschmiede in der Hainstraße erreicht hatte, keuchte sie, als läge ein langer Lauf hinter ihr.

Das Haus lag im Dunkeln. Nur aus der Werkstatt, die sich hinter dem Haus befand, drang ein Lichtschein.

Priska trat an das Fenster der Werkstatt und drückte ihre Wange an die kalte, von Eisblumen bedeckte Scheibe.

Ihre Wange schmerzte, und es dauerte, bis die Eisblumen unter ihrer Körperwärme schmolzen und einen Blick in das Innere der Werkstatt freigaben. Ein Tropfen Wasser rann ihr über die Wange.

Eva stand vor einem Taufbecken und trug mit Stichel und Punzeisen Ornamente auf. Sie war vollkommen in ihre Arbeit versunken, als wäre nichts geschehen, als wäre sie nicht gerade erst einem Mordanschlag entgangen.

Priska presste den Mund, die warmen roten Lippen gegen die Scheibe, schmeckte das Eis und den Dreck auf der Zunge. Wie konnte die Meisterin nach diesem Erlebnis zur Arbeit greifen?, fragte sie sich und versuchte Evas Gesichtsausdruck zu lesen.

Als ob sie ihre Blicke spüren könnte, hob die Meisterin den Kopf und sah zum Fenster. Priska schrak zurück. Aber die Silberschmiedin lächelte und winkte sie mit der Hand zu sich herein. Zögernd betrat Priska die Werkstatt.

«Warum feierst du nicht?», fragte die Lehrmeisterin und deutete mit der Hand nach draußen. «Es ist Fastnacht.»

Priska schaute die Meisterin verwundert an. Wie konnte sie jetzt ans Feiern denken? Warum klang ihre Stimme so ruhig und beherrscht, während Priskas Herz noch immer raste? Priska schüttelte den Kopf. «Bin fürs Feiern nicht gemacht», stammelte sie.

Die Silberschmiedin nickte und setzte sich auf einen Schemel.

«Der Meister ist weg. Für immer. Meine Stiefschwester Susanne ist mit ihm gegangen. Es gibt nun niemanden mehr, der sich um den Haushalt kümmert.»

Priska suchte nach einem Trostwort, doch ihr fiel nichts ein. «Ich habe gesehen, was passiert ist, stand in einer Mauernische», erwiderte sie schließlich. Ihre Wangen brannten wie Feuer. «Ich wollte Euch helfen, wollte schreien, aber ich konnte nicht. Wie erstarrt habe ich dagestanden.»

Eva winkte ab, als wäre es ganz und gar unwichtig, was und wen Priska gesehen hatte.

«Hast du Angst?», fragte sie nur, und jetzt erst sah Priska, dass sie die Hände so verkrampft hielt, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Sie versuchte, ein tapferes Gesicht aufzusetzen.

«Wovor? Er … er», Priska wagte es nicht, den Namen des Meisters zu nennen. «Er ist doch weg, sagtet Ihr.»

«Ja, er ist weg. Für immer. Die Werkstatt hat keinen Meister mehr. Wir sind schutzlos. Und eine Haushälterin haben wir auch nicht mehr, nun, da Susanne mit ihm gegangen ist.»

Priska wusste nicht, was sie sagen sollte. All ihre Versuche, sich zu beruhigen, waren vergebens. Noch immer schlug ihr Herz hart und schnell, noch immer presste das Grauen ihre Kehle zusammen. «Wenn Ihr wollt, könnte ich den Haushalt übernehmen», stammelte sie schließlich.

Eva seufzte und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. «Du bist eine gute Silberschmiedin. Vom Haushalt verstehst du nichts.»

«Eine Arbeit ist wie die andere. Ich kann lernen», entgegnete Priska.

Eva schüttelte den Kopf. «Einen Mann musst du dir suchen. Am besten einen aus der Zunft. Ich kann nichts mehr für dich tun. Die Werkstatt wird es nicht mehr lange geben.»

Priska spürte, wie ein brennendes Gefühl durch ihre Eingeweide kroch. Vor sechs Jahren hatte die Silberschmiedin ihre Zwillingsschwester Regina und sie aus der Vorstadt geholt. Sie hatte dem Vater, dem Henker, ein paar Gulden auf den Tisch gelegt. Ab sofort wolle sie für Priska und Regina sorgen, hatte die Silberschmiedin gesagt, und die Zwillinge waren mit ihr gegangen, weil der Henker es so befohlen hatte. Später hatte Priska begriffen, warum sie in die Silberschmiede gekommen waren. Die Meisterin hatte beweisen wollen, dass nicht die Herkunft über einen Menschen entscheidet, sondern das, was er daraus macht. Solche neuen Gedanken wurden derzeit oft besprochen, doch Priska verstand nichts davon. Sich seinen eigenen Platz im Leben suchen. Was sollte das sein, der eigene Platz? Nun, das Leben hatte sie in die Silberschmiede gestellt. Und das Leben würde entscheiden, wie es mit ihr weiterging. Wenn die Meisterin sie nicht mehr brauchte und sie verheiraten wollte, so würde sie eben heiraten müssen. Doch das war nicht so einfach, wie es klang.

Die Silberschmiedin sprach weiter: «Um Regina, deine Zwillingsschwester, sorge ich mich nicht. Sie wird leicht einen Mann finden. Ihr brannte der Rock schon vor der Zeit.»

Priska war sich da nicht so sicher. Die Meisterin hatte keine Ahnung vom Leben der niederen Stände. «Wen sollen wir heiraten? Ihr habt uns ausgebildet. Wir haben lesen, schreiben, rechnen, gute Manieren und sogar Latein gelernt. Doch unsere Abstammung bleibt unehrlich. Kein Handwerker wird uns wollen. In die Vorstadt können wir auch nicht mehr zurück. Niemand dort kann lesen oder schreiben. Wie Aussätzige würden sie uns behandeln.»

Eva antwortete nicht. Ihr Blick verweilte bei den Figuren, die sie an das Weihwasserbecken gebracht hatte. Adam und Eva im Paradies.

Priska merkte, dass die Meisterin mit ihren Gedanken ganz weit weg war. Das Schicksal ihrer Mündel kümmerte sie jetzt nicht.

Sie trat an das Weihwasserbecken und fuhr mit dem Finger über die Ornamente. «Soll ich Kugeln gießen?», fragte sie und deutete mit der Hand auf den Brennofen und den Barren reinen Silbers, der daneben lag.

Eva nickte. «Ja, gieße mir Kugeln und zieh mir drei dünne Drähte. Auch Krallen brauche ich, um die Steine zu fassen.»

Priska legte den Umhang ab. Sie band sich eine raue Lederschürze vor ihr Kleid und machte sich an die Arbeit.

Eine Stunde arbeiteten sie schweigend Seite an Seite. Die Straßen leerten sich allmählich, der Lärm erstarb.

Schließlich konnte Priska ihre Gedanken nicht länger für sich behalten. «Könnt Ihr die Werkstatt nicht weiterführen?», fragte sie in die Stille, in der nur die Buchenscheite im Brennofen leise knisterten.

«Wie?» Eva fuhr hoch. «Die Werkstatt? Es ist gegen die Zunftregeln, dass eine Frau einer Silberschmiede vorsteht.»

«Ihr könntet Euch zusammentun mit einer anderen Werkstatt.»

«Nein, Priska, das geht nicht.»

Priska blickte zu Boden. Die Meisterin bemerkte ihre Enttäuschung. «Du verstehst das nicht, Priska. Ich bin eine Meistersfrau, habe ein paar Jahre einer Werkstatt und einem Haushalt vorgestanden. Unter einem fremden Meister kann und darf ich nicht arbeiten. Außerdem gäbe es keinen, der mich nähme.»

«Aber Meister David …»

Eva nickte. «Der Meister war mein Mann. Das war etwas anderes. Jetzt bin ich ohne Mann, aber keine Witwe. Ich habe keine einflussreichen Freunde mehr und bin noch immer eine Fremde, obwohl ich schon seit Jahren in Leipzig lebe. Meine Mutter würde sich im Grab umdrehen, wenn sie mich jetzt sehen könnte. Ich bin gescheitert, Priska.»

Sie sah auf, ihr Gesicht wirkte alt und müde.

«Kein Meister in Leipzig würde mit mir zusammengehen wollen und dürfen. Außerdem bin ich schwanger.»

Priska nickte. Sie hatte schon vor einer Weile bemerkt, dass der Leib der Meisterin sich langsam rundete. «Wann kommt das Kind?», fragte sie.

«Im Mai, sagt die Hebamme.»

So bald schon. Priska wurde schwer ums Herz. Ihr und ihrer Zwillingsschwester Regina würde nicht viel Zeit bleiben. Doch sie wollte sich nichts anmerken lassen und konzentrierte sich auf ihre Arbeit. Schließlich gab sie die gegossenen Kugeln und Drähte in einen Zuber mit kaltem Wasser, damit sie auskühlen konnten, und löschte das Feuer im Brennofen. Danach legte sie die Lederschürze ab und bürstete vorsichtig den Silberstaub heraus. Plötzlich bemerkte sie, wie müde sie war.

Sie rieb sich mit den Fäusten die Augen, blinzelte, sah zur Lehrmeisterin.

Auch Eva schien erschöpft zu sein. Ihr Gesicht war noch grauer, unter ihren Augen lagen tiefe Schatten. Ihre Lippen zitterten leicht. Sie sah so elend aus, als könne sie jeden Augenblick das Bewusstsein verlieren. Wieder überkam Priska tiefes Mitleid mit der Frau, die vor wenigen Stunden um ein Haar von ihrem Ehemann erschlagen worden wäre. Die Lehrmeisterin wirkte so einsam. So gottverloren. Selbst das Blut schien ihre Lippen verlassen zu haben.

Priska trat zu ihr und streichelte mit dem Zeigefinger sanft Evas bebenden Mund. Sie wusste nicht, warum. Noch nie hatte sie einen anderen Menschen berührt, nicht auf diese Weise.

Die Silberschmiedin hielt still, doch in ihren Augen begann etwas zu glimmen. Unvermittelt zog sie Priska an sich, mit einer Heftigkeit, die diese überraschte. Eva presste ihren Leib fest gegen Priskas, umklammerte sie mit den Armen, als würde ihr Leben davon abhängen.

Priska roch den Duft der Meisterin; ein wenig Schweiß und den bittersüßen Geruch der Angst, der noch immer in ihren Kleidern, in ihrem Haar, in ihrer Haut saß.

Bevor sie wusste, wie ihr geschah, nahm die Meisterin ihr Gesicht in beide Hände, überflutete sie mit Blicken, die etwas erflehten, das Priska nicht zu deuten vermochte. Priska hielt ganz still. Sie wagte kaum zu atmen und schloss die Augen.

Als Evas Mund ihre brennende Wange berührte, zuckte sie zusammen. Sie spürte Evas Lippen, diesen leichten, warmen Druck, der ihre Haut streichelte. Priskas Lider zitterten, ihre Seele zitterte unter diesen Liebkosungen. Noch nie war sie geküsst worden. Noch nie. Nicht von der Mutter, nicht vom Vater, von den Schwestern, den Brüdern. Die fremden Lippen auf ihrer Haut erschreckten und besänftigten sie zugleich, machten sie fast willenlos.

Als die Lippen sich von ihrer Wange lösten, öffnete Priska nur zögernd ihre Augen und schlug sie gleich darauf nieder. Sie konnte Eva nicht ansehen. Verwirrt berührte sie mit dem Finger die Stelle, an der sie den Kuss empfangen hatte. Sie wusste nichts zu sagen, wusste nicht, wohin mit den Händen, den Füßen, den Blicken. In ihrer Not griff sie nach ihrem Umhang und rannte aus der Werkstatt.

Eva sah ihr nach und schüttelte den Kopf.

Zweites Kapitel

Ich wusste, dass es schwierig sein würde, dachte Johann von Schleußig, doch ich ahnte nicht, dass es unmöglich ist, ihr zu sagen, was ich fühle.

Er saß in der Wohnstube des Silberschmiedehauses und ließ seinen Blick über die schweren Vorhänge vor den Fenstern schweifen, die den Wind, der durch die Ritzen pfiff, abhalten sollten. Früher hatte er diese dunkelroten Vorhänge mit den goldenen Stickereien immer behaglich gefunden. Jetzt aber, wo es keinen Mann mehr in diesem Haus gab, wirkten sie auf ihn wie Sargtücher. Die Felle, mit denen Bänke, Armlehnstühle und sogar der Dielenboden bedeckt waren, hatten nichts Anheimelndes mehr, sondern waren nur noch die Überbleibsel toter Tiere. Selbst das Licht der Öllampe, die auf dem großen Holztisch stand, und das der Kerzen auf dem Kaminsimsleuchter schienen ihm düster, die flackernden Schatten, die sie an die Wände warfen, beängstigend.

Er war gekommen, um Eva Trost zu spenden, das war seine Aufgabe als Priester. Doch Eva schien keinen Trost zu brauchen. Sie stand neben dem Kamin. Das Kleid aus dunklem, schwerem Wollstoff war zwar kostbar und aufwendig gearbeitet, umhüllte sie jedoch formlos wie eine Pferdedecke und verwischte die Konturen ihres Körpers. Ihr Haar hatte sie unter einer Haube verborgen, die ebenfalls aus dunklem Stoff war, und Johann von Schleußig erinnerte sie an eine Krähe, die auf einem einsamen, nur von Raureif bedeckten Feld nach nicht vorhandenen Saatkrumen suchte. Er seufzte. Es wäre vielleicht besser gewesen, dachte er und erschrak zugleich über seine Gedanken, wenn ihr Mann David sein Werk vollendet hätte. Was für ein Leben wartete noch auf sie? Eine Witwe war sie nicht, sondern eine Verlassene. Eine Sitzengelassene, die es nicht verstanden hatte, ein gutes Weib zu sein. So würden die Leute reden. Mannlos zu sein war das Schlimmste, was einer Frau geschehen konnte. Sie hatte keine Rechte, durfte keine Geschäfte tätigen, keine Werkstatt führen, wurde von den anderen gemieden und lief immer Gefahr, ihren guten Ruf zu verlieren. Eine verlassene Frau zu sein, das war schlimmer als Witwe oder Jungfer. Denn eine Verlassene war selbst schuld an ihrem Schicksal. Eine Frau hatte dem Mann zu gehorchen. Im Haus, in der Werkstatt, in der Küche und im Bett. Lief er weg, nun, so war sie keine gute Ehefrau gewesen. Die Zunft würde ihr die Werkstatt schließen, die Nachbarinnen den Gruß verweigern, die Männer sie mit scheelen Blicken betrachten und sie den eigenen Frauen als abschreckendes Beispiel vorhalten.

Wieder seufzte er und musste an sich halten, um nicht aufzustehen und sie in den Arm zu nehmen. Doch er war Priester.

Nicht nur wegen des Trostes war er gekommen, er brachte auch eine Warnung. Am liebsten würde er schweigen, doch er musste darüber reden.

Eva lächelte, sie war ahnungslos, welches Unwetter sich über ihrem Haus zusammenbraute. Sie kam zum Tisch, hob den Krug, schenkte Most ein, setzte sich ihm gegenüber und legte die Hände vor sich auf die Tischplatte.

«Was wollt Ihr jetzt tun so ohne Mann?», fragte der Priester und strich mit der Hand über seine Soutane.

Eva zuckte mit den Achseln. «David ist fort, aber nur wir wissen, dass er niemals zurückkehrt. Sagen werde ich, er sei auf Reisen gegangen. Ja, das werde ich machen, wenn die Nachbarinnen fragen, die Boten von der Zunft Nachrichten wollen und die Krämer auf dem Markt erneut fragen. Nach Florenz ist er gegangen, um Juwelen zu kaufen. Oder besser noch: Er ist nach Florenz gegangen, um Susanne zu ihrem Bräutigam zu bringen. Das ist gut, dann habe ich eine Begründung für die Abwesenheit der beiden und kann selbst allmählich in den Alltag zurückfinden. Susanne hat einen Juwelenhändler zur Messe kennen gelernt. Einen Witwer, der viel älter ist, aber ein sorgenfreies Leben zu bieten hat. David begleitet sie, verheiratet sie. So haben die Leute nichts zu schwatzen, und ich kann an seiner Stelle die Werkstatt weiterführen. Wenigstens für eine Weile noch.»

«Aber das werden sie Euch nicht glauben», warf der Priester ein. «Die Nachbarn wissen mehr, als Ihr glaubt. Eine Hochzeit und eine solche Reise erfordern Vorbereitungen, die nicht unbemerkt bleiben. Die Händler kennen sich untereinander. Bald schon wird man Euch fragen, wer der glückliche Bräutigam ist. Was wollt Ihr dann sagen?»

Eva zuckte mit den Schultern. «Ich weiß es nicht, Johann. Aber die Wahrheit muss verborgen bleiben. Wem wäre gedient, wenn ich sagen würde, wie es wirklich war? Dass David sich zum Herrn über Leben und Tod aufgeschwungen hat und sich größer und klüger dünkte als alle Ratsherren zusammen? Dass er gemordet hat? Zuerst das Bademädchen in Frankfurt, dann den Ratsherrn und Kaufmann Andreas Mattstedt. Und am Ende ich. Erschlagen hätte mich David wie einen Hund.»

Johann schüttelte entschlossen den Kopf. «Ihr müsst die Wahrheit sagen, Eva. Eure Lügen werden über kurz oder lang ans Licht kommen. Sagt, wie es war. Schlimmer als jetzt kann es nicht mehr werden.»

«Ich soll den Leuten erzählen, dass David mich töten wollte und danach mit meiner Schwester durchgebrannt ist? Sagen soll ich, dass ich eine Verlassene bin, eine, die es nicht verstanden hat, ihren Mann zu halten?»

«Seit wann schert Euch das Gerede der Leute?»

Eva zuckte die Schultern und sah über Johann von Schleußig hinweg an die Wand. «Es ist schwer, stark zu sein, wenn man allein ist», sagte sie leise. «Ich habe nur wenige Freunde hier in der Stadt und ertrage es nicht, nun noch mit Hohn und Spott überschüttet zu werden. Ich bin schwanger, Johann.»

«Ihr seid schwanger von ihm?»

Johann von Schleußig blickte verstohlen auf ihren Leib.

Sie nickte und warf den Kopf trotzig in den Nacken. «Was ist dabei? Er ist mein Ehemann. Mein Kind ist ehrlich gezeugt.»

Johann von Schleußig verzog das Gesicht. «Was redet Ihr da, Eva? Das wird Euch auch nicht helfen, wenn die Wahrheit herauskommt. Ihr braucht einen Beschützer. Ihr müsst zur Ruhe kommen. Die letzte Zeit war sehr schwierig und anstrengend für Euch. Allein werdet Ihr nicht bestehen können – vergesst nicht, Ihr seid eine Frau», mahnte der Priester.

«Ihr sagt das? Ausgerechnet Ihr, der Ihr immer gepredigt habt, dass ein jeder selbst seines Glückes Schmied sei, dass eine Frau ebenso viel wert sei wie ein Mann?» Evas Wut färbte ihre Wangen rot.

Johann von Schleußig senkte den Kopf. Sie hat Recht, dachte er. Es sind meine Worte. Aber ich möchte sie schützen. Sie braucht jemanden, der ihr beisteht.

«Ich sorge mich um Euch. Könnt Ihr das nicht verstehen?»

Evas Züge wurden weich. «Es ist freundlich gedacht von Euch. Ihr wart mir immer ein guter Freund, ein Helfer in der größten Not. Ich habe Euch so sehr gebraucht, als David noch da war. David hat …»

«David, immer wieder David.» Johann von Schleußig konnte diesen Namen nicht mehr hören. «Er sitzt Euch in den Knochen wie ein immer währender Schnupfen. Er trübt Euch den Blick, macht das Ohr taub und den Kopf schwer. Ihr werdet Mutter, Eva. Allein schafft Ihr das nicht», setzte er erbost nach. Dann erschrak er über seine eigenen Worte. Er konnte nicht mehr ganz bei Trost sein.

Evas Gesicht hatte sich verdunkelt. Sie stieß sich mit den Händen vom Tisch ab, als brauche sie Schwung, und stand auf. Dann trat sie vor ihn, streckte ihre Hände nach ihm aus.

«Johann, Ihr wisst, wie lieb und teuer Ihr mir seid. Ja, Ihr seid mir lieber, als ich möchte, lieber, als für einen Priester gut ist. Ihr wisst es doch. Warum zwingt Ihr mich, es auszusprechen?»

Sie lachte schrill auf, was Johann von Schleußig an das Krächzen einer Krähe erinnerte.

«Die Sitzengelassene und der Priester», fuhr sie fort, «ein schönes Gespann sind wir.»

«Auch ein Priester kann nicht allein von Gottes Liebe leben», wandte Johann von Schleußig ein.

«Niemand kann das.» Eva sah ihn nicht an. Johann von Schleußig stand auf. «Dann gehe ich. Es gibt schon noch Menschen da draußen, die mich brauchen», sagte er und hoffte, Eva würde ihn zurückhalten. Die Warnung steckte noch immer unausgesprochen in seiner Kehle.

«Kommt wieder, Johann. Kommt recht bald wieder. Und verzagt nicht. Es kommt alles etwas zu früh. Ich muss erst meinen Haushalt ordnen, mir selbst darüber klar werden, wie es weitergehen soll.»

«Ich verstehe», entgegnete Johann von Schleußig nach einer kurzen Pause, «nehmt Euch die Zeit, die Ihr braucht. Was werdet Ihr mit Regina und Priska machen? Ihr habt sie aus der Vorstadt geholt, weil Ihr beweisen wolltet, dass nicht die Herkunft, sondern das eigene Handeln den Menschen bestimmt. Und nun?» Eva wiegte den Kopf. «Priska hat die Gunst genutzt. Sie ist eine gute Handwerkerin, hat bei der Lechnerin Latein gelernt, kann schreiben, lesen, sich bei Tisch und in Gesellschaft manierlich betragen. Bei Regina dagegen war alles umsonst. Gelernt hat sie nur, wie man den Männern den Kopf verdreht, wie man sich schmückt und die Lippen färbt, wie man den Busen reckt und den Hintern schwenkt. Sie ist noch immer von niedrigem Wesen. Vergebens jede Mühe, sie veredeln zu wollen.»

«Ich hörte, sie geht mit einem Zimmermannsgesellen.»

Eva zuckte mit den Schultern. «Heute mit diesem, morgen mit jenem. Die Zwillinge sind 17 Jahre alt. Ich werde sie verheiraten müssen. Aber das braucht Zeit. Deshalb will ich die Werkstatt noch ein wenig führen. Nur noch ein paar Wochen so tun, als wäre ich eine ehrbar verheiratete Frau.»

«Ihr dürft dabei Euren Bruder Adam nicht vergessen. Ihr wisst um seine Schwierigkeiten?»

Jetzt war es heraus, war die Warnung endlich ausgesprochen.

«Johann, was glaubt Ihr denn? Natürlich weiß ich, was die Leute reden. In den Augen der anderen ist er ein Verbrecher, der widernatürliche Unzucht treibt. Sodomit nennen ihn die Leute und würden ihn am liebsten auf dem Scheiterhaufen brennen lassen, wenn er sich denn doch einmal erwischen ließe. Aber vielleicht stimmt das gar nicht, vielleicht ist es ein Gerücht, das David in die Welt gesetzt hat. Schließlich wusste auch Adam, dass David ein Mörder ist.»

«Es gibt Zeugen für Adams Tun.»

Johann von Schleußig zog Eva neben sich auf den Stuhl, nahm ihre Hände fest in seine. «Bei der letzten Ratssitzung war ich. Es haben sich zwei Leipziger gemeldet, die mit eigenen Augen gesehen haben wollen, dass Adam einen Liebsten hat. Der Liebste sei ein Mönch, lebe bei den Barfüßern. Sie sollen sich kennen gelernt haben, als Adam sich für den botanischen Garten, den die Universität anlegen lassen will, interessiert hat. Auch der Barfüßer wollte mithelfen. Er hat das Arzneigärtchen der Barfüßer unter sich. Man sagt, er sei ein guter Apotheker. Sie waren zusammen vor den Toren der Stadt, hatten Leinenbeutel für die Kräuter dabei und einen Weidenkorb. Ein Fischer, der auf Krebsfang war, und eine Wäscherin, ein altes Tratschweib, haben gesehen, wie sie sich geküsst haben. Am helllichten Tage, Eva!»

Eva schüttelte den Kopf. «Das glaube ich nicht. Sie werden sich beide gebückt haben und zur gleichen Zeit, die Köpfe dicht aneinander, wieder nach oben gekommen sein. Die Leute lügen.»

«Mag sein. Aber der Rat schenkt ihnen Glauben.»

«David wird sie bezahlt haben für ihre lügnerischen Worte. Ihr wisst, dass mein Bruder David ein Dorn im Auge war. Adam wusste um seine Schandtaten. Er hätte ihn an den Galgen bringen können. Deshalb hat David die Leute für ihre Lügen bezahlt. Er wollte Adam auf den Scheiterhaufen bringen, um selbst unbehelligt zu bleiben.»

«Ihr mögt Recht haben, aber wie wollt Ihr das beweisen? Bernhard von Regensburg, ein kluger Mann und Kirchenlehrer, sagte einst – und die Leute glauben ihm noch immer –, dass die Sünde, deren Adam sich schuldig gemacht hat, so groß ist, dass weder Gott noch die Menschen, ja nicht einmal der Teufel ihr einen Namen zu geben gewagt hätten.»

«Bernhard von Regensburg ist lange schon tot.»

«Das stimmt, Eva. Aber die Leute glauben immer das, was ihnen am nächsten liegt. So war es, so wird es immer sein. Ihr seid nicht beliebt in der Stadt. David war zu hochfahrend. Ihr wisst es. Also werden die Leute dem Fischer und der Wäscherin glauben, weil sie ihnen glauben wollen. Davids Hochmut wird Adams Verhängnis sein.»

«Kann das sein, Johann? Kann er noch aus der Ferne Schaden über uns bringen?»

Der Priester zuckte mit den Achseln. «Es tut mir leid. Ich musste es Euch sagen. Warnt Adam. Vielleicht ist es das Beste, er ginge von hier fort.»

Eva ließ die Schultern hängen. Eine Träne rann ihr über die Wange. Johann streckte die Hand nach ihr aus, wollte sie berühren, doch ihr Blick war so abwesend, so schmerzvoll, dass er den Arm sinken ließ.

«Wohin soll er gehen? Er hat doch niemanden als mich. Wir brauchen einander. Sein Studium an der Universität steht kurz vor dem Abschluss. Die Stelle eines Stadtarztes ist ihm angeboten worden. Gibt es keine andere Lösung?», fragte Eva unruhig.

«Doch», erwiderte der Priester. «Eine gibt es, aber gottgefällig ist sie nicht. Einige im Rat verlangen eine Untersuchung. Andere gibt es, die nichts auf das Gerede geben. Aber sie würden Adam gern vor dem Altar sehen. Ein verheirateter Mann steht über jedem Verdacht.»

«Ja, das ist richtig», erwiderte Eva. «Aber wer sollte ihn heiraten wollen? Wo ist das Mädchen, das nichts auf die dummen Reden gibt?»