Hans-Joachim Noack

Helmut Schmidt

Die Biographie

«Kerl ohne Fisimatenten»: eine Annäherung

Geschichten beginnen häufig mit Zufällen – etwa diese im Mai 1980. Als Kurzurlauber in Rom fand ich in einem Café nur noch an jenem Tisch Platz, auf dem ein Exemplar der «Frankfurter Allgemeinen» lag, das vermutlich Landsleute zurückgelassen hatten. So fiel mein Blick auf einen Artikel des einflussreichen Bonner Hofchronisten Walter Henkels. Der eigentlich den christlichen Parteien zugeneigte Korrespondent lobte darin die allgegenwärtige Siegermentalität des regierenden Sozialdemokraten Helmut Schmidt. Erst kürzlich habe der in kaum einer Stunde eine Reihe von Journalisten im Schach abgebügelt.

Ich arbeitete damals in Frankfurt bei der «Rundschau» und galt dort zu Recht als Spieler; also war das eine aufregende Information. Dass den in der Bundeshauptstadt akkreditierten Kollegen solche Chancen geboten wurden, ließ mir keine Ruhe. Wahrscheinlich seien ihm da einige lausige Amateure über den Weg gelaufen, raunte ich dem Kanzler bei der ersten Gelegenheit mutig ins Ohr.

Meine Begegnungen mit Helmut Schmidt hatten mir bis dahin wenig Ruhm eingetragen. Im Winter 1978 war ich von ihm empfangen worden, um als politischer Reporter über den schwierigen Amtsalltag des Chefs der sozial-liberalen Koalition zu schreiben – eine ziemliche Blamage. Ich wollte ihm bescheinigen, in vielerlei Hinsicht skrupulöser zu sein, als es seinem öffentlichen Image entsprach. In der noch weitgehend unkorrigierten Deutschland-Auflage der «FR» tauchte aus unerfindlichen Gründen das befremdliche Adjektiv skrupelloser auf.

Der Kanzler war «not amused», wie mir sein zerknirschter Adlatus und Regierungssprecher Klaus Bölling ausrichtete, weshalb ich nun offenkundig dafür büßen musste. Ob ich mir einbildete, «mehr draufzuhaben als andere», fragte Schmidt nach meiner flapsig intonierten Herausforderung am Rande einer Pressekonferenz gallig zurück und zeigte mir dann ungnädig die kalte Schulter. Passé schien der schöne Journalistentraum, eine der Schlüsselfiguren im Lande als Schachpartner ködern zu können.

Aber ich täuschte mich. Ein volles Vierteljahr später meldete sich an einem fortgeschrittenen Sonntagabend eine Bonner Stallwache am Telefon. Der Bundeskanzler, wurde mir mitgeteilt, habe mein Erscheinen «zum vereinbarten Match» für den folgenden Nachmittag, 14 Uhr, in seinem Feriendomizil am schleswig-holsteinischen Brahmsee «vorgemerkt». Ich möge wegen der dort herrschenden strengen Sicherheitsmaßnahmen einen gültigen Personalausweis oder Reisepass nicht vergessen.

So traf ich ihn anderntags in seinem bescheidenen Anwesen, einer am Rande der Gemeinde Langwedel gelegenen ehemaligen Wehrmachtsbaracke. Der Gastgeber, der mich leger in Shorts und Ringelhemd begrüßte, erwies sich als angenehm unprätentiös. Er bat höflich um Verständnis dafür, dass im Garten mit Schnellfeuergewehren bewaffnete Grenzschutzbeamte Patrouille liefen, und führte mir dann nicht ohne Besitzerstolz das zum Teil von ihm selbst restaurierte «lütt Hus» vor. Am Ende durfte ich sogar ins eheliche Schlafzimmer sehen, wo in akkurat glattgestrichenen Betten sein blauweiß gestreifter Pyjama neben dem altrosa gerüschten Nachthemd von Frau Loki lag.

Es war ein bisschen wie bei Schmidts aus der Nachbarschaft: behütete grüne Idylle im deutschen Winkel und ein sichtlich entspannter Kanzler. Am Schachbrett bevorzugte er lustvoll einen auf möglichst raschen Figurenabtausch bedachten rustikalen Stil und freute sich diebisch, als ich ausgerechnet die für mich interessanteste Partie verlor. Die hatte ich mit seiner Einwilligung mitgeschrieben, um mir die Notation anschließend signieren zu lassen, worauf er nun grinsend bestand.

Es wurde trotzdem ein denkwürdiger Tag, von dem ich auch in meinem Job profitierte. Wir spielten danach immer mal wieder – etwa im Herbst 1980 während des Wahlkampfs gegen Franz Josef Strauß in seinem Sonderzug oder bei längeren Überseeflügen –, und nicht selten folgte dem exklusiven Vergnügen eine umfängliche politische Tour d’Horizon. Die bescherte mir stets einige verwertbare Details oder zumindest sachkundige Einschätzungen der jeweiligen Lage.

Das erste Interview, das ich mit Helmut Schmidt führen konnte, hatte in der Zeit der Großen Koalition stattgefunden, es sollte über Jahre hinweg mein Bild von ihm prägen. Im Kern teilte ich, was den Fraktionschef der SPD betraf, die Skepsis der «Achtundsechziger». Vor allem dass der alerte Genosse die heißumstrittenen Notstandsgesetze durchpaukte, hielt ich empört für einen obrigkeitsstaatlichen Amoklauf, und als er am 16. Mai 1974 gar den in meinen Kreisen angehimmelten Kanzler Willy Brandt ablöste, war das für unsereins fast wie ein Volkstrauertag.

Andererseits gab es aber auch Seiten an ihm, die mir früh imponierten. Die zupackende Art, mit der sich der damalige Hamburger Innensenator 1962 gegen die verheerende Flutkatastrophe in seiner Heimatstadt stemmte, beeindruckte mich ebenso wie sein ein Jahr vorher – noch als Bundestagsabgeordneter – publizierter Essay über «Verteidigung oder Vergeltung», eine militärstrategische Analyse des zunehmend maroden Ost-West-Verhältnisses.

Ich bewunderte fortan seine Fähigkeit, sich in außerordentliche Problemstellungen hineinzudenken, aber meine moralischen Vorbehalte legten sich erst im sogenannten Deutschen Herbst. Wie er in der schwierigsten Zeit seiner Kanzlerschaft 1977 beim Kampf gegen den Terror der «Roten-Armee-Fraktion» leise einräumte, selber Schuld auf sich geladen zu haben, als er den entführten Wirtschaftsmagnaten Hanns Martin Schleyer opferte, bewies mir sein Format. Helmut Schmidt, nach seinem Triumph über die RAF bald «Held von Mogadischu», war offenbar weit mehr als nur der vielzitierte «Macher».

Und der Besuch Anfang August 1980 am Brahmsee bewirkte ein Übriges. Es schmeichelte mir, dass mich der Hausherr, der das Gros der ihn umschwirrenden Korrespondenten manchmal rüde mit «Wegelagerern» verglich, erstaunlich zuvorkommend behandelte. Bei meinem ersten Privatissimum wie bei allen anderen, die er mir in den folgenden mehr als zweieinhalb Jahrzehnten gewährte, ließ er von der ursprünglich befürchteten arroganten Unnahbarkeit wenig spüren.

Ganz im Gegenteil: Sein properes Selbstwertgefühl machte die journalistische Arbeit mit ihm immer unkompliziert. Als Mann der klaren Worte gehörte er nie zu jener Kategorie von Politikern, die vor Interviews off the record, also unter der Hand, munter drauflosschwadronieren, um dann bei der Durchsicht der Druckfassung ihrer Texte bänglich die Pointen zu tilgen. Was er meinte sagen zu müssen, galt in aller Regel als gesagt, und so ähnlich präsentierte er sich auch, als ich ihn bat, mir bei seiner Rückschau auf sein bewegtes Leben Rede und Antwort zu stehen.

Geriet er in Wallung, langte er wie eh und je kräftig hin. Dass der vormalige Kanzler ein «prima Elder Statesman» geworden sei, «leider nur das gelegentliche Herumsauen nicht lassen» wolle, hatte mir noch in seinem Todesjahr 1992 der SPD-Ehrenvorsitzende Willy Brandt bestätigt – was Schmidt nun ungerührt unterstrich. Mit Vertretern konkurrierender Parteien sprang er dabei meistens weniger ruppig um als mit den eigenen Leuten. «Lieblingsgenossen» wie Erhard Eppler, Egon Bahr oder Horst Ehmke lieferten mir bei begleitenden Recherchen einige deftige Kostproben.

Auffällig war, wie selten der zweite sozialdemokratische Regierungschef einmal von ihm gefällte Urteile über Menschen oder Sachverhalte aus der zeitlichen Distanz abschwächte. Er verstärkte sie eher noch. Verbiestert nannte er etwa den ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter «einen Schimmerlos vom Anfang bis zum Ende», um danach seine Freunde, vorweg das später ermordete ägyptische Staatsoberhaupt Anwar as-Sadat, warmherzig zu umgarnen. «Ich habe diesen Kerl geliebt», verriet er mir mehrmals und schwärmte wie ein jugendlicher Pfadfinder von gemeinsamen nächtlichen Bootsfahrten auf dem Nil. «Unter prächtigem Sternenhimmel» sei ihm da ein grundlegend neues, Juden, Christen und Moslems umschließendes holistisches Weltbild vermittelt worden.

In solchen Augenblicken durfte ich einem sehr viel empfindsameren Helmut Schmidt zuhören, als mir bis dahin bekannt war. Andererseits überwog, wie in seinem Metier üblich, auch bei ihm die Kunst, kühl kalkuliert nur jenen Teil der eigenen Identität abzuspalten, den er der Allgemeinheit preiszugeben gedachte. Fragen, die ihm signalisierten, dass sie sein Innenleben allzu sehr einzukreisen versuchten, wies er manchmal grantig zurück.

Reflektierte Gespräche: ja – aber bloß keine Psychoanalyse! Sich vor irgendwelchen «Seelenklempnern» rechtfertigen zu müssen, erzeugte in Schmidt eine eisige Abwehrbereitschaft, die er lapidar mit seiner angeblich «schlichten Bauart» begründete: Zu einer qualvollen oder auf eitle Verbrämung hinauslaufenden Introspektion, mokierte er sich, fehle ihm «einfach das Gen».

Man sollte ihm glauben, dass er deshalb auch konsequent davon absah, einer unter Spitzenpolitikern verbreiteten Verlockung zu erliegen. Wie seine Kanzler-Kollegen von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder mit den obligaten Selbstzeugnissen auf den Markt zu kommen, erschien ihm nicht nur als überflüssig, sondern historisch untaugliches Mittel. Autobiographen, belehrte er mich, ähnelten Männern bei der täglichen Nassrasur: «Die sind ständig in der Gefahr, sich zu schneiden, und möchten doch nur gut aussehen.»

Aber galt das nicht auch für ihn? In Wahrheit hatte er öfter zur Feder (oder genauer, zu einem seiner weichen Bleistifte) gegriffen als jeder andere Regierungschef der Bonner Nachkriegsrepublik. Auf «an die fünfundzwanzig Bücher» schätzte Schmidt bereits kurz vor dem 80. Geburtstag seinen gewaltigen Output, und in vielen, vor allem in einigen, die im Jahrzehnt danach dazukamen, befasste sich der Autor ausführlich mit seinem öffentlichen und privaten Leben.

Memoiren auf Raten, die erkennbar der Selbstvergewisserung dienten und natürlich das eigene Gewicht in der Welt nicht aussparten. Zugleich beharrte er aber auch in allen Gesprächen darauf, man möge ihm abnehmen, wie wenig Gedanken er sich darüber mache, in die Geschichtsbücher einzugehen. Was die Historiker letztlich mit seiner Person anfingen, sei ihm «völlig wurscht», schickte er unwirsch hinterher. Insbesondere habe er sich nie danach gedrängt, Regierungschef zu werden.

In Wirklichkeit begann der immens mitteilungsfreudige Workaholic schon früh damit, Schriftstücke jeglicher Art für die Nachgeborenen einzusammeln. Am Ende seiner Dienstzeit stapelten sich sowohl in der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn als auch daheim im Hamburger Stadtteil Langenhorn einige hundert laufende Meter Akten: ein künftiges Helmut-Schmidt-Archiv. Das Material soll nach seinem Ableben der Wissenschaft dienen.

Denn zu allen Zeiten war ihm daran gelegen, den Deutschen in guter Erinnerung zu bleiben. Einer seiner engsten Kombattanten, der ehemalige Finanz- und Verteidigungsminister Hans Apel, erzählte mir von einer bezeichnenden Begegnung mit dem einstigen Chef: Wie es um seine Chancen «als historische Figur» stehe, wollte der Ex-Kanzler erfragen, und er, der für seine Schnodderigkeit bekannte einstige Kronprinz, habe «idiotischerweise» geantwortet, «fürs Geschichtsbuch» werde es kaum reichen. Ein Lapsus, der ihre Freundschaft merklich eintrübte.

Dabei hatte Apel nur bekräftigen wollen, was der Realist Schmidt nicht anders sah: Große Kanzler benötigen große Themen – und als er das Zepter übernahm, waren mit Konrad Adenauers Westintegration und Willy Brandts Ostpolitik die entscheidenden Weichenstellungen in der Erfolgsstory der Bundesrepublik längst vollzogen. Die deutsche Einheit unter der Schirmherrschaft Helmut Kohls lag da noch in weiter Ferne.

Durfte er, der sich in hanseatischem Understatement einmal zum «leitenden Angestellten» des Bonner Teilstaats reduzierte, nicht ein bisschen neidisch darauf sein? Das «Glück eines epochalen Auftrags», ließ Schmidt zuweilen leicht elegisch einfließen, sei ihm nie beschieden gewesen. Der wohl sachkundigste und mit den besten Voraussetzungen ausgestattete Kanzler musste mit einer vergleichsweise unspektakulären Zeit des Übergangs vorliebnehmen.

Die erlegte dem im Ausland als «Weltökonom» gefeierten Deutschen auf, sich anstelle wegweisender Reformen dem Problemkatalog jener Jahre, vor allem der nach dem Ölpreisschock steigenden Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung zu widmen, was ihm nur zum Teil gelang. Dass er dabei der Bundesrepublik im internationalen Maßstab immer noch einen beachtlichen Rang sicherte, war ihm nur ein schwacher Trost.

Der vor Ehrgeiz lodernde Krisenmanager empfand sich zu Hause als chronisch unterschätzt, ein Gefühl, das ihn nie ganz verließ. Hatte nicht auch er – neben dem Kampf gegen den Terror der RAF und seiner unermüdlichen Bereitschaft, gemeinsam mit den Franzosen die Einigung Europas voranzutreiben –, zumindest eine strategische Meisterleistung vollbracht? Sooft es um die Highlights seiner achtjährigen Kanzlerschaft ging, war es Schmidt spürbar ein Anliegen, den von ihm initiierten und den USA aufgedrängten «Nato-Doppelbeschluss» gewürdigt zu wissen.

Sein Beharren darauf, die von Moskau gegen Westeuropa gerichteten SS-20-Raketen gegebenenfalls mit amerikanischen Pershings zu kontern, trieb Ende der Siebziger nicht nur eine gewaltige Friedensbewegung auf die Straßen. Die Entscheidung trennte ihn peu à peu auch von der Mehrheit seiner Genossen, die ihm so offenkundig widerstrebend folgten, dass sie der ohnehin schon schwankenden FDP den Vorwand lieferten, seinen Sturz zu riskieren. Erst Helmut Kohl verfügte über die nötige Unterstützung, das gefährliche Planspiel durchzusetzen. Der eigentliche Urheber war noch kläglich gescheitert.

Aber gab ihm der weitere Verlauf der Geschichte dann nicht auf glorreiche Weise recht? Er könne sich «vorstellen», presste Schmidt einmal zwischen den Zähnen hervor, dass, wenn er noch lebte, selbst der zu den Nachrüstungsgegnern «übergelaufene» Brandt im Lichte der globalen Folgen des Beschlusses seine Meinung geändert hätte.

Am Streit in dieser Frage lag es allerdings nicht allein, dass sich die Beziehungen des fünften Bonner Regenten zum vierten wie ein roter Faden durch seine Retrospektive zogen. Während ihm etwa zu Herbert Wehner, dem schwer durchschaubaren dritten Mann in der SPD-Troika, kaum ein abträgliches Wort über die Lippen kam, trieb ihn der Parteivorsitzende offenkundig um. Mal hielt Schmidt sich zugute, er habe schon an einer Ostpolitik gearbeitet, als «der frühere Berliner Bürgermeister noch in seiner Stadt zu den Kalten Kriegern zählte». Mal warf er ihm «Wankelmut» oder «Feigheit vor Freunden» vor, um dann im selben Atemzug seine «phänomenale Ausstrahlungskraft» zu bewundern.

Schwang da ein Hauch von Missgunst mit, wenn er sich gleichzeitig darauf versteifte, er habe den von Brandt erzeugten «Wärmestrom» weder kopieren noch mit ihm konkurrieren wollen? Von den Menschen respektiert zu werden, begründete er einmal unvermittelt heftig, sei für ihn «immer vollauf ausreichend gewesen – mich musste keiner lieben».

Also blieb er bei seinem Leisten – ein jenseits aller Moden und Trends an harten Fakten sich orientierender Aufsteiger, der sich im Kern seines Wesens dem ordentlichen und strebsamen Durchschnittsdeutschen, vor allem dem «Facharbeiter» und mit ihm der klassischen «Mitte» der Gesellschaft, verwandt fühlte. Und die dankte es ihm: Noch 1993, elf Jahre nach seinem von Liberalen und SPD-Linken erzwungenen Abgang, wünschten sich annähernd zwei Drittel der befragten Landsleute sein Comeback.

Brach da in den Wirren der Wende die Sehnsucht nach einem Politiker auf, der schon den Bürgern in der Bonner Republik «gerne mal in den Hintern getreten, dafür aber hochkompetent den Laden zusammengehalten hatte»? So sah es selbst Egon Bahr, der sich oft als Kritiker des Ex-Kanzlers profilierte. Und einige Monate lang schien sich für Helmut Schmidt, inzwischen Mitherausgeber der Hamburger Wochenzeitung «Die Zeit», tatsächlich die Chance zu bieten, doch noch den «epochalen Auftrag» zu ergattern. Es gab deutliche Hinweise darauf, dass er ernsthaft darüber nachdachte, es noch einmal zu versuchen. Aber seine SPD hüllte sich vielsagend in Schweigen.

Den «Willy-Brandt-Enkeln», die in den frühen Neunzigern auf dem Sprung standen, steckten nicht nur die zahllosen Kräche mit dem fast 75-jährigen Spitzengenossen in den Knochen – sie entsannen sich auch eines ewig umhergeisternden geflügelten Wortes, das sie wie kaum ein zweites als fortdauernde Kränkung empfanden: Helmut Schmidt, so hatten vor allem Sympathisanten der Konservativen unter das Volk gestreut, sei «der richtige Mann in der falschen Partei». Und der Veteran wich zurück. Angesichts seines Alters, ließ er die Fans in einer schriftlich verbreiteten sibyllinischen Botschaft wissen, verbiete sich eine Kandidatur.

Wie er öfter auf Gedächtnislücken verwies, wenn ihn Fragen verdrossen, war ihm dieser Vorgang, als wir uns darüber Jahre später unterhielten, angeblich entfallen. Dass er je einen neuen Anlauf im Schilde führte, entrüstete sich der Staatsmann a. D. mit gespieltem Ingrimm, sei «gewiss ein ebenso großer Quatsch» wie die ihm angedichtete Nähe zu anderen politischen Gruppierungen: Da habe man ihm «listig ein klassisches Danaer-Geschenk ins Nest gelegt – büsch’n vergiftet, will ich mal sagen».

Aber dann entspannten sich seine Züge. Im Übrigen, korrigierte sich Helmut Schmidt, während er sein immer noch vitales Raubtierlächeln vorführte, sei da «durchaus was dran». Wer ihm auf solche Weise habe bescheinigen wollen, dass er eine parteiübergreifende Vernunft verkörpere, werde von ihm nicht gescholten: «Ich sah mich nie als einen Kanzler der SPD.»

Vermutlich erklärt dies auch seine anhaltende Popularität. Keiner seiner Vorgänger und Nachfolger wurde so sehr von Wählern favorisiert, die zu den jeweils regierenden Farben in Opposition standen, wie der eigenwillige «Sozi» aus Hamburg. Der wiederum achtete sorgsam darauf, das gebräuchliche Genossen-Kürzel auf die ihm genehme Art zu übersetzen: Sozialdemokrat zu sein, hieß für ihn nicht, «irgendwelchen ideologisch überhöhten Spinnereien» anzuhängen, sondern sich schlicht als sozialer Demokrat zu bewähren.

Und ein zweiter Grund dafür, dass sich vor allem das bürgerliche Lager weit über seine Amtszeit hinaus mit ihm identifizierte, lag in seiner Vita. Wie bei kaum einer anderen öffentlichen Figur spiegelt die Biographie Helmut Schmidts, der unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs geboren wurde, die Höhen und Tiefen deutscher Geschichte: Der Junge erlebte «Weimar», der junge Mann sowohl den NS-Staat als auch die Auferstehung aus Trümmern – und als die Bundesrepublik erwachsen wurde, stand er ihr in einer Phase ökonomisch und technologisch bedeutsamer Umbrüche als Regierungschef vor.

So verdichtet sich die Entwicklungsgeschichte des Landes in der Entwicklungsgeschichte einer Person: Im «Dritten Reich» die fatale Verführbarkeit und danach eine emsige Bereitschaft, die Demokratie erlernen zu wollen; später ein weltweit gerühmter wirtschaftlicher Erfolg, aber auch die Neigung, die Vergangenheit so zu bewältigen, dass sie das prosperierende Gemeinwesen nicht lähmte. Und schließlich, als Ergebnis langjährigen Wohlverhaltens, die Rückgewinnung uneingeschränkter staatlicher Souveränität, die den Deutschen allerdings erst nach Schmidts Ära gelang.

Immerhin darf er noch erleben, wie «normal» sie mittlerweile geworden sind – «beinahe normal», schränkt der Publizist in einer Wolke von Mentholzigaretten-Qualm grübelnd ein, als ich ihn im Hamburger Herausgeber-Büro besuche, um mit ihm über seinen Anteil daran zu sprechen. Hatte der einst Lotse genannte rote Realo mit der obligatorischen Prinz-Heinrich-Mütze nicht in einer tückischen «Zwischenzeit» Mitte und Maß vorgegeben?

Ich will mit ihm über einen Satz Hans Apels reden, von dem er kurz zuvor als «Kerl ohne Fisimatenten und Inbegriff deutschen Wiederaufstiegs» gepriesen wurde – doch den seit Jahren fast tauben Altkanzler plagen die Geräusche eines über das Verlagsgebäude hinwegziehenden Flugzeugs, die sich wie detonierend in seinem Hörgerät brechen.

Er bittet mich, erst einmal das Fenster zuzumachen. Dann kommt er zur Sache.