Charlotte Sandmann

Die Frau des Apothekers

Historischer Roman

 

 

 

 

Originalausgabe 2011
© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

 

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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 40564 - 5 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 21281 - 6

 

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Inhaltsübersicht

Erster Teil Die Junge Witwe

Sturz in den Abgrund

1

2

3

Die Suffragette

1

2

3

4

5

Zweiter Teil Süßes Gift

In der Stille der Nacht

1

2

3

4

Freunde und Feinde

1

2

3

4

5

6

Das mongolische Elixier

1

2

3

4

5

6

Dritter Teil Glitzerndes Geld

Abschied von Herrn Paquin

1

2

3

Ein boshaftes Testament

1

2

3

4

5

6

7

8

Die Erbschaft

1

2

3

4

5

6

Vierter Teil Der Graue Tod

Thallium

1

2

3

4

Frau Jakobine Stokhamer

1

2

3

Die Giftmischerin

1

2

Fünfter Teil Bittere Liebe

Eine Maske fällt

1

2

3

4

5

Quälende Verwirrung

1

2

3

Wieder vereint

1

2

3

Sechster Teil Teuflische Tücke

Die Pfefferkuchenmännchen

1

2

3

Abschied von Hamburg

1

2

Anmerkungen:

Erster Teil

Die junge Witwe

Sturz in den Abgrund

1

Im trüben Morgengrauen beugte sich Louise Paquin über ihren schlafenden Gatten und flüsterte: »Ich kann dich nicht länger ertragen, Raoul. Entweder du stirbst oder ich sterbe.«

Ihre kleine, zierliche Gestalt krümmte sich wie vor Schmerzen zusammen. Sie angelte nach ihrer wollenen Bettjacke und schlüpfte hinein. Das Schlafzimmer mit seinem düsteren, überladenen Prunk war eisig kalt, denn der Winter dauerte schon zwei Monate, und wie überall in den Hamburger Bürgerhäusern wurden nur die wenigen Räume beheizt, in denen man sich tagsüber aufhielt. Dennoch war es nicht nur die Kälte, die Louise von Kopf bis Fuß erschauern ließ. Ihr graute vor dem Tag, der vor ihr lag. Sie fragte sich, wie viele solcher Tage sie noch würde aushalten können, mit den unauflöslichen Ketten der Ehe gebunden an einen Mann, den sie nie geliebt hatte und nun gleichzeitig bemitleidete und verabscheute.

Keinen einzigen Tag, entschied sie. Wenn sie nicht handelte, würde sie diejenige sein, die zugrunde ging. Längst hatte sie alle Vorbereitungen getroffen, hatte den tödlichen Trank gemischt, das Fläschchen bereitgestellt. Nur zum letzten Schritt fehlte ihr noch der Mut.

»Mein Gott, Raoul«, wisperte sie, »was ist aus dir geworden? Ich kann dich nicht mehr ertragen. Ich sterbe, wenn ich noch lange so weiterleben muss.«

Es waren keine leeren Worte. Die tägliche Angst und Anspannung zermürbten sie. Sie war ständig an Körper und Seele krank, litt an Magenkrämpfen, Zittern und nächtlichen Schweißausbrüchen. Erst hatte sie sich Vorwürfe gemacht, weil sie so gottlos war, auf seinen baldigen Tod zu hoffen. Jetzt wusste sie, dass in einem verzweifelten Herzen noch viel schlimmere Gedanken aufsteigen können.

Immerzu hatte sie an die vielen gefährlichen Substanzen denken müssen, die unten in der Apotheke im Giftschrank standen. Sie war überzeugt gewesen, dass sie etwas so Schreckliches niemals tun konnte, aber die Gedanken waren um sie herumgekrochen wie lauernde graue Schlangen, und schließlich hatte eine dieser Schlangen sie mitten ins Herz gebissen.

Was da liegt, ist nicht mehr Raoul, sagte sie sich. Das ist nicht mein Mann. Das ist ein böses Unwesen, und es ist kein Mord, wenn ich es töte.

Ihr Blick saugte sich fest an den verhassten Zügen. Der Apotheker Raoul Paquin war in gesunden Tagen ein wohlgenährter, rosiger Mann gewesen, aber jetzt war er abgemagert bis auf die Knochen. Die Gesichtshaut war schuppig trocken und fahl, das Gesicht mager und so eingefallen, dass die Barthaare wie Schweineborsten aus der Haut ragten. Bei jedem pfeifenden Atemzug drang ein übler Geruch aus seinem weit offen stehenden Mund.

Louise klammerte die Hände ineinander, um den Schüttelfrost zu unterdrücken, der ihren Körper ergriff. Wie war es möglich, dass ein Mensch sich so erschreckend veränderte? Früher hatte sie ihren Mann gern gehabt, obwohl er vom Alter her ihr Vater hätte sein können, aber jetzt wich sie vor ihm zurück wie vor einer giftigen Kröte. Es war ja nicht nur sein Aussehen, das sie erschreckte. Wäre nur sein Körper verfallen und sein Wesen dasselbe geblieben, so hätte sie den Kranken bereitwillig gepflegt. Aber der einst so gutmütige Mann war im letzten halben Jahr bösartig geworden, zänkisch und gemein, voll Hass und Misstrauen gegen alle Welt. Der ganze Haushalt litt unter seiner Bosheit, und am meisten seine erst achtzehnjährige Frau.

Er regte sich unter der Bettdecke. »Louise!«, krächzte er. »Ich habe Durst.« Seit einiger Zeit hatte er andauernd Durst. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, sie mehrmals in der Nacht zu wecken und ein erfrischendes Getränk von ihr zu verlangen.

»Ich hole deinen Trank.« Sie lief auf bloßen Füßen aus dem Zimmer, doch nicht hinunter in die Küche, wie der alte Mann meinte, um Eiswürfel zu holen, sondern in die Apotheke.

Sie trat ein, ohne Licht zu machen, und fand sich augenblicklich umfangen von dem Schleier süßer und beißender Gerüche, die aus den Fayence-Gefäßen auf den Regalen hervordrangen, sooft eines davon geöffnet wurde, und ständig im Raum schwebten. Es roch nach Anis, Minze, Myrrhe, Rizinus, Terpentin, Weihrauch, Hustensirup und Lakritze, Seifen und Salben. Matter Schein fiel von den Lampen des Jungfernstiegs in die Offizin, von der zwei gewölbte Seitenschiffe abgingen. Das rechte führte zum Kontor, das linke zum Laboratorium und zur Giftkammer. Im Zentrum stand ein S-förmig geschwungener Rezepturtisch, darauf die für alle Apothekerarbeiten unverzichtbare empfindliche Waage.

Louise brauchte nicht lange zu suchen. Mit einem Handgriff förderte sie das sorgfältig versteckte Fläschchen zutage. Schon wollte sie den Inhalt in einen Glaskrug gießen, als ein Geräusch hinter ihrem Rücken sie aufmerken ließ.

Da, vor dem raumhohen Spiegel, stand Raoul in seinem Nachthemd und seiner langzipfeligen Nachtmütze, und obwohl es in der Offizin fast völlig finster war, sah sie genau, was er tat.

Der Stift knirschte in seiner verkrampften Hand. Hinterließ im Dunkeln wie die Flamme eines Bunsenbrenners leuchtende Schriftzüge auf dem Glas. In ungelenken, kindischen Umrissen kritzelten die krummen Finger eine Gestalt auf das Spiegelglas, die in einer Hand ein Fläschchen hielt und sich mit der anderen entsetzt an den Hals griff. Die Augen waren eiförmig und tiefschwarz, der Mund ein erschrockenes, kohlschwarzes »O«. Zuletzt schrieb die Hand wieder Buchstaben, schrieb den Höhepunkt seiner Wut und Verzweiflung nieder auf dem bauchigen Fläschchen: VENEFICIUM. Raoul wandte sich zu ihr um, und im grünlichen Glanz der Schriftzüge trug sein Gesicht einen furchtbaren Ausdruck des Vorwurfs gegen seine Mörderin.

Louise fuhr mit einem keuchenden Aufschrei aus dem Schlaf hoch und starrte verwirrt in die Finsternis, die sie umgab.

2

Ihr Herz raste, das Blut rauschte ihr in den Ohren wie ein Wasserfall. Schweiß bedeckte von Kopf bis Fuß ihren Körper. Verwirrt von dem entsetzlichen Traum setzte sie sich auf, barg das Gesicht in den Händen und versuchte sich zu sammeln. Nur langsam wich das Grauen, das sie gepackt hatte, und die Erinnerung wurde klar. Nein, sie hatte ihren Mann nicht umgebracht. All die Vorwürfe wurden nur aus Neid und Bosheit erhoben. Was konnte sie denn dafür, dass ein so drastischer Altersunterschied zwischen ihr und Raoul bestanden hatte? Es war seine Idee gewesen zu heiraten, nicht ihre. War sie ihm nicht immer eine gute Frau gewesen und er ihr ein guter Gatte, auch wenn sie manches an ihm vermisst hatte? Was konnte sie denn dafür, dass er krank und unausstehlich geworden war?

Sie atmete tief und erleichtert durch. Kein Wunder, dass sie Albträume hatte, nach all den Schrecken, die Raouls gewaltsames und grausames Ende mit sich gebracht hatte. Aber es war nur ein Traum gewesen. Keine Blutschuld lastete auf ihrem Gewissen. Auch wenn sie in ihrem Jammer ausgerufen hatte, sie wünschte, er wäre tot – sie hatte nichts beigetragen zu seinem elenden Ende. Mit Schaudern erinnerte sie sich an die Zeichnung, die er auf dem Spiegel im Badezimmer hinterlassen hatte, seinen Abschiedsbrief, seine Anklage: Veneficium – Giftmischerei.

Mit einem tiefen Atemzug sank sie zurück auf ihr Kissen. Alles war gut. Raoul war tot, aber sie war nicht schuld daran.

Die Kälte des Raumes drang ihr bis ins Mark. Es war dunkel, nur hoch oben an der Decke war ein trüber Lichtfleck zu sehen, von einer draußen angebrachten Lampe. Das Gitter in der Türöffnung durchschnitt ihn kreuz und quer mit schwarzen Strichen.

Sie war nicht zu Hause in ihrem Schlafzimmer im Löwenhaus am Jungfernstieg. Sie befand sich im Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis unter der Anklage, ihren Mann vergiftet zu haben. Nicht mehr die Frau des angesehenen Apothekers, sondern eine Gefangene unter vielen. Eingesperrt mit Dirnen, Kindsmörderinnen, Diebinnen – und vielleicht auch anderen Frauen, denen man vorwarf, ihre reichen Männer ermordet zu haben, um sie zu beerben.

Louise stöhnte laut und verzweifelt auf. Dies hier war kein Traumgebilde. Wenn sie die Hand ausstreckte, fühlte sie die flache Matratze, die raue Decke, die die Kälte der Zelle nicht von ihr fernhalten konnte. Sie erschien sich selbst als absurde Staffage, wie sie da in ihrem jadegrünen Kleid mit den vielen Raffungen und Volants auf der Pritsche lag, eine zierliche Puppe, die man aus ihrem Puppenhaus genommen und in eine feuchtkalte Gefängniszelle gesetzt hatte.

Erinnerungen brachen über sie herein.

Louise wäre gestürzt, hätte der Wachmann sie nicht gestützt. Ihr schwindelte. Die breite Esplanade des Jungfernstiegs verschwamm ihr vor den Augen, als der Wachmann sie aus dem Haus hinausführte. Das Geschrei, das sich bei ihrem Erscheinen erhob, nahm sie kaum wahr. Stumm schritt sie durch die stoßende und schimpfende Menge und ließ sich in den geschlossenen Polizeikraftwagen befördern, wo die beiden höheren Beamten links und rechts von ihr Platz nahmen. Der Wachmann setzte sich vorne neben den Chauffeur. Mit gewaltigem Lärm, Rütteln, Stoßen und Bocken setzte sich das Fahrzeug in Gang, schob die drängenden Menschen links und rechts zur Seite wie ein Schiff, das sich durch eine unruhige See kämpft.

Dieser erbärmliche Schuft von einem Kriminalpolizeiinspektor! Sie wusste genau, warum er sie verhaftet hatte. Vor einem halben Jahr hatte er ihr einen unzweideutigen Antrag gemacht, den sie empört zurückgewiesen hatte. Und nicht nur das, sie war zu Raoul gegangen und hatte ihn davon in Kenntnis gesetzt. Inspektor Trattenbach hatte ihr nie verziehen, dass er nach der Beschwerde des erzürnten Apothekers bei der anstehenden Beförderung übergangen worden war.

Louise starrte durchs Fensterglas, als hätte sie ihre Umgebung nie zuvor gesehen. Die ganze Situation erschien ihr so vollkommen unwirklich wie die Filme in den neuen Lichtspieltheatern. Sie sah sich selbst als eine der herumzappelnden Figuren in diesen Filmen, und es war ihr, als könnte der Film jeden Augenblick rückwärtslaufen und sie wieder zurück an den Frühstückstisch befördern, eine Minute, ehe sie Frederick nach ihrem Gatten schickte.

Als das Gefährt schließlich hielt und Trattenbach sie zum Aussteigen aufforderte, fand sie sich am Tor des Untersuchungsgefängnisses am Holstenglacis, das mitten in der Stadt und zugleich mitten im Zoologischen Garten lag. Von diesem herrlichen Park war jetzt freilich nichts zu sehen außer den kahlen, zausigen Wipfeln der Bäume. Später wurde Louise in eine Zelle geschoben, die außer einer Pritsche, einem Tisch und zwei Stühlen weiter kein Mobiliar enthielt.

Trattenbach schloss die Tür hinter sich. Bedächtig zog er ein Zigarettenetui hervor, zündete eine Zigarette an und blies den Rauch Louise entgegen, die sich so weit wie möglich vor ihm zurückgezogen hatte. Bewegungslos kauerte sie auf einem der hölzernen Stühle.

»Nun, kleine Frau?«, sagte er. »Jetzt sind wir schon viel weniger hochmütig, nicht wahr?«

Louise war es, als greife jemand hinter ihre Rippen und presste ihr das Herz zusammen. Sie konnte kaum noch atmen, geschweige denn sprechen. Der entsetzliche Gedanke stieg in ihr auf, dass dieser Mann imstande war, ihr Gewalt anzutun.

Er grinste hämisch, als er ihre Furcht sah. »Ihr Fall wurde mir übertragen, Frau Paquin«, sagte er. »Und Sie werden verstehen, dass ich Sie hier sitzen lassen kann, bis Sie entweder gestehen oder sich überlegen, ob Sie mir gegenüber nicht doch ein wenig freundlicher sein sollten. Denken Sie drüber nach.« Mit dieser Drohung verließ er sie.

Louise blieb allein zurück, am ganzen Leib zitternd vor Schrecken und Abscheu.

Sie meinte in der üblen Luft der Zelle zu ersticken. War das denn möglich? Konnte man sie so einfach ins Zuchthaus, vielleicht sogar in den Tod schicken? Hatte dieser elende Lump wirklich die Macht, ihr das anzutun? Wie ein Messer drang es ihr durchs Herz, als ihr bewusst wurde, dass sie eine Frau ohne Freunde war. Ihre Eltern und Verwandten hatte 1892 die Cholera dahingerafft, und die Familie ihres Gatten hatte sie von Anfang an nicht ausstehen können: Aschenputtel aus dem Waisenhaus, das von Rechts wegen den Ofen heizen und die Fliesen scheuern sollte, anstatt die vornehme Dame zu spielen! Rothaarige Hexe, die den verliebten alten Narren erst verführt und dann umgebracht hat! Wer konnte ihr jetzt noch beistehen? Wem konnte sie vertrauen? Der Geschäftsführer der Apotheke, Sigmund Schlesinger, war ein treuer Angestellter, aber außerhalb der Apotheke völlig nutzlos. Abbé Maxiant fiel ihr ein, der Beichtvater ihres Mannes. Der war moralisch sicher untadelig, aber ein zerfahrener, unsicherer alter Herr, absolut unbrauchbar in einer Krisensituation. Und von all den Prominenten, mit denen Raoul geschäftlich verkehrt hatte, hatte er sie immer ferngehalten, überzeugt, dass Gespräche über Geschäfte und Politik ohnehin über ihren Verstand gingen. Selbst wenn er das nicht getan hätte: Welcher Schiffseigner, Senator oder Großkaufmann würde sich den Bitten der Frau öffnen, die im Verdacht stand, einen Geschäftsfreund ermordet zu haben?

Sie war wieder so verlassen, so hilflos wie damals, als man sie durchs Tor des Waisenhauses geschoben hatte, ein verstörtes kleines Mädchen, das man vom Totenbett seiner Eltern weggeholt hatte. Seltsam, sogar der Geruch war derselbe – ein Geruch nach ausgetretenen Schuhen, Desinfektionsmittel und billigem Essen. Und obwohl sie eine verheiratete Frau gewesen war, hatte sie sich innerlich und äußerlich noch nicht weit von diesem einstmals fröhlichen Kind entfernt, das zu früh erwachsen werden musste und jetzt aufs Neue einen steinigen Weg zurückzulegen hatte. Trotz ihrer achtzehn Jahre wirkte ihr weiches, glattes Gesicht unausgereift, eine leere Leinwand, auf der das Leben noch keine Spuren hinterlassen hatte. Allerdings wäre auch ein markanteres Gesicht ins Hintertreffen geraten angesichts der Aureole von üppigem, weich und flauschig fallendem Haar, die es umrahmte und in allen Schattierungen vom leuchtenden Kupfer bis zum tiefen Tizianrot schimmerte. Feine orangefarbene Sommersprossen tüpfelten ihren Nasenrücken, unbekümmert um saure Milch, Zitronensaft, Essig und all die anderen Essenzen, die zu ihrer Bekämpfung aufgewandt wurden.

Louise barg das Gesicht in den Händen und weinte bitterlich.

3

Die Gefangene zuckte heftig zusammen, als ein Schlüssel im Schloss rasselte. Der Atem stockte ihr, ein eiserner Ring schien ihre Brust zu umklammern, und die eben noch geordneten Gedanken rannten wie ein aufgeschrecktes Rudel Mäuse in ihrem Kopf herum. Sie sprang hoch und wich an die Wand zurück, voll Angst, es könnte Trattenbach sein, der sie von Neuem bedrängen wollte. Es war jedoch ein unbekannter Mann mit einer Frisur, die aussah wie ein Toupet, einem sandfarbenen Schnauzer und blauen Augen unter schweren, geschwollenen Lidern. Eine Wolke von beißendem Tabakdunst umschwebte ihn.

Er bedeutete ihr, sich auf die Pritsche zu setzen, nahm selbst auf einem der beiden Stühle Platz und zog einen Schreibblock heraus, auf dem er im Folgenden stenografische Notizen machte.

»Ich bin Kriminalpolizeiinspektor Ludwig Gützlow, Frau Paquin, und jetzt für den Fall Ihres Gatten zuständig. Ihre Angelegenheit wurde an eine höhere Stelle weitergeleitet.«

Sie atmete zitternd ein. »Dann hat Polizeiinspektor Trattenbach nichts mehr damit zu tun?«

»Warum? Haben Sie Angst vor ihm?«

Louise blickte zu Boden. Sie brachte es nicht zustande, mit Nein zu antworten. Eine so grobe Lüge hätte er zweifellos durchschaut. Aber sie wagte auch nicht, ihn anzuklagen. All diese Polizisten hielten vermutlich zusammen wie Pech und Schwefel, und sie mochte ihr Schicksal noch verschlimmern, wenn sie einen von ihnen anschwärzte.

Der Inspektor fragte nicht weiter, machte sich aber eine Notiz. Dann fuhr er fort. »Kennen Sie das Testament Ihres Gatten?«

Sie zögerte unsicher. »Nicht in Einzelheiten. Nun, Raoul rechnete natürlich damit, dass ich ihn überleben würde, und wollte mich ausreichend versorgt wissen. Ich bin seine Haupterbin. Aber in letzter Zeit drohte er oft damit, uns alle zu enterben.«

»Liebten Sie Ihren Mann?«

Louise warf ihm einen müden Blick zu. »Liebe, was ist schon Liebe? Er war gut zu mir, und ich gab mir große Mühe, gut zu ihm zu sein.«

»Haben Sie Herrn Paquin seinerzeit freiwillig geheiratet?«

Sie gab unbefangen zu, dass dem nicht so war. »Nein. Mein Vormund drängte mich dazu. Sehen Sie, ich bin Waise. Meine Eltern fielen der Cholera-Epidemie 1892 zum Opfer. Ich wurde mit sechzehn Jahren verheiratet, ohne dass mein Vormund mich nach meinen Wünschen gefragt hätte. Er stellte mich einfach vor die Wahl, entweder Herrn Paquin zu heiraten oder auf die Straße gesetzt zu werden, da das Waisenhaus keine Kinder über sechzehn Jahre behielt. Ich war damals zu kindisch und zu ängstlich, um mich dagegen zu wehren.«

»Wie hat er Sie eigentlich kennengelernt?«

»Raoul unterstützte mehrere Findelhäuser, Waisenheime und andere wohltätige Institutionen. Er bemühte sich darum, die Wunden, die die Cholera Hamburg geschlagen hatte, zu heilen, und kümmerte sich neben vorbeugenden Maßnahmen vor allem um jene Kinder, die ihre Eltern durch die Seuche verloren hatten. Eine dieser Waisen war ich. Er sah mich bei seinem Besuch in der Anstalt und verliebte sich auf der Stelle in mich. Er kontaktierte meinen Vormund, zwei Tage später bat er mich zu einem Gespräch in die Direktionskanzlei, und dann war ich auch schon Madame Paquin.«

»So sind Sie also mit viel Groll im Herzen in die Ehe gegangen?«

»Ja, durchaus. Aber Raoul war gütig zu mir.« Sie lächelte wehmütig bei der Erinnerung. Erst hatte sie geweint, aber dann war sie mit dem gutherzigen Apotheker, der ihr mehr Vaterliebe als Gattenliebe entgegenbrachte, erstaunlich glücklich geworden. »Er wurde mir wie ein zweiter Vater. Er freute sich an meiner Jugend und Schönheit, und ich freute mich an seinem Reichtum und der hohen Wertschätzung, die er bei den Honoratioren genoss. So waren wir beide recht glücklich.«

Dann lachte sie plötzlich – ein kindliches Lachen. »Ich fühlte mich wie Aschenputtel, als sich sein Kürbis plötzlich in eine goldene Kutsche verwandelte und die Mäuse in edle Pferde.«

»Aber Ihr Prinz war ein alter Mann.«

»Das schon. Aber er war weder vertrottelt noch unappetitlich. Er war klug, witzig, liebenswert und auch körperlich nicht unangenehm. Wie unser Leben aussehen mochte, wenn er einmal wirklich ein Greis sein würde, darüber machte ich mir keine Gedanken.«

»Sie sagten wiederholt, Sie könnten Ihren Mann nicht mehr ertragen.«

Sie zuckte die Achseln. Was verstand dieser Polizist denn davon! Die letzten Monate waren so schlimm gewesen, dass sie manchmal gedacht hatte, sie müsse vor dem Kranken mit seinen Wahnvorstellungen fliehen, wohin auch immer, und sei es in Elend und Not. Aber jetzt war es noch ärger. Sie vermisste Raoul – den Mann, der er gewesen war, ehe die heimtückische Krankheit ihn übermannt hatte. Armer Raoul. Das Leben war zuletzt für ihn und alle um ihn eine Qual gewesen. Er hatte ihrer aller Liebe und Respekt bis aufs Äußerste strapaziert und doch keine Schuld an seinem unausstehlichen Verhalten getragen.

»Das war erst, als er so krank wurde. Sie können sich ja nicht vorstellen, wie das ist, wenn man ständig geschmäht und ungerecht verdächtigt wird. Ja, gewiss habe ich in letzter Zeit dann und wann gesagt, ich hielte es nicht mehr aus. Alle sagten das. Seine Familie, seine Freunde, seine Angestellten.«

»Das hat viel böses Gerede ausgelöst.«

Sie antwortete mit unerwarteter Schärfe: »Böses Gerede verfolgt mich seit dem Tag, an dem Raoul mich zu sich holte. Ganz gleich, was ich tat oder nicht tat, sie schleiften mich durch den Dreck. Als hätte ich ihn betört oder verführt, um an sein Geld zu kommen! Und jetzt heißt es auch noch, ich hätte ihn umgebracht!«

»Der Verdacht ist sehr naheliegend, Frau Paquin.« Der Beamte erhob sich. »Die Obduktion der Leiche Ihres Gatten hat ergeben, dass er tatsächlich vergiftet wurde und sich aus Verzweiflung darüber das Leben nahm.«

»Vergiftet? Wie denn?« In ihrer Erregung sprang sie auf und packte den Detektiv am Arm. »Das ist unmöglich! Das war eine von seinen Wahnvorstellungen! Der Nervenarzt sagte doch, er leide an Gehirnschrumpfung. Und unser Hausarzt merkte auch nichts Verdächtiges.«

»Beide haben sich geirrt. Herr Paquin wurde das Opfer einer Bleivergiftung, die genau diese unbestimmten und leicht zu verwechselnden Symptome von greisenhafter Verblödung erzeugte. Ob ihm das Metall mit Absicht verabreicht wurde, ist noch eine offene Frage.«

»Aber Sie sind bereits überzeugt, dass ich es war?«

Er zuckte die Achseln. »Meine Überzeugung gilt nichts. Auf die Beweise kommt es an. Oh, übrigens … Haben Sie das schon einmal gesehen?«

Sie blickte ratlos das wunderliche Objekt an, das er ihr vorlegte. Es war eine feste, auf roten Glanzkarton geklebte Scheibe aus Pergament, die auf der Rückseite in einer Ecke das Datum 31. Oktober 1897 und daneben die Notiz »Fir Hrn. R. Packin, Apoteka« aufwies. Das waren die einzig leserlichen Vermerke darauf. Die pergamentene Vorderseite war in zwölf Abschnitte geteilt, die in karmesinroter Tusche mit fremdartigen Lettern, Zahlen und unverständlichen Bildern bemalt waren.

»Nein, das ist mir ganz unbekannt. Woher stammt es?«

»Zuletzt befand es sich im Morgenrock Ihres Gatten.« Mit diesen Worten steckte er den Schreibblock in seine Tasche und erhob sich. Der Blick, den er ihr zuwarf, war ernst, aber nicht unfreundlich. »Man wird Sie noch heute Vormittag dem Untersuchungsrichter vorführen. Wenn Sie unschuldig sind, fassen Sie Mut! Sie können sicher sein, dass wir die Beweise sorgfältig und unvoreingenommen prüfen werden.«

Wieder allein, sank Louise auf der Pritsche in sich zusammen. Wie ein Felsblock lastete die Erkenntnis auf ihr, dass sie alle Raoul zu Unrecht für verrückt gehalten hatten. Er hatte recht gehabt, als er darüber klagte, dass eine fremde und feindliche Substanz in seinem Körper wütete. Vielleicht hatte er auch recht gehabt mit der Vermutung, dass sie ihm mit Absicht verabreicht worden war.

Aber wer in aller Welt würde so etwas tun?

Die Suffragette

1

Louise schreckte aus ihren Gedanken hoch, als die Tür von Neuem aufgesperrt wurde. Kam der Kriminalbeamte zurück? Oder – nein, nur das nicht! – Inspektor Trattenbach? Es war aber keiner von beiden, sondern eine Beschließerin, die den Kopf hereinsteckte und bellte: »Anziehen – zusammenpacken – rauskommen!«

Louise wusste vor lauter Verwirrung erst gar nicht, was von ihr erwartet wurde. Sie wickelte sich in den Mantel, klemmte den Hut unter den Arm und stolperte hinaus. Die Wärterin packte sie am Arm und führte sie in eine Kanzlei, wo man ihr ihre Handtasche und ihren Schmuck aushändigte. Sie musste eine Quittung unterzeichnen. Dann schob man sie wieder hinaus in den Korridor.

Louise eilte atemlos den gefliesten Flur entlang, an dessen Wänden mehrere Leute – offenbar Besucher der Gefangenen – auf hölzernen Bänken saßen. Da sie weder nach links noch nach rechts schaute, erschrak sie aufs Heftigste, als sie mit Namen angesprochen wurde und gleich darauf eine Hand ihren Arm fasste. Sie wollte schon aufschreien, überzeugt, dass ein Scherge sie wieder zurückzerren wollte. Stattdessen blickte sie in ein liebenswertes Gesicht unter einem breitkrempigen grauen Filzhut, den ein dramatisch anzusehendes Gesteck aus Tüll und Federn krönte. Eine üppige Mähne flachsblonder Locken ringelte sich um ein von lebhaften grauen Augen beherrschtes, milchig blasses Gesicht, auf das einzelne Sommersprossen wie mit dem Tuschepinsel hingetüpfelt waren.

Irgendwo hatte sie dieses Gesicht schon gesehen, aber in ihrem aufgewühlten Seelenzustand konnte sie sich nicht erinnern, bei welcher Gelegenheit. Sie war so überrascht, dass sie verwirrt stammelte: »Verzeihung, aber ich bin im Augenblick ganz … ganz außer mir. Mein Mann hat sich … mein Mann hatte einen tödlichen Unfall, an dem man mir die Schuld gibt.«

»Ich weiß, ich weiß. Kommen Sie – nur weg von diesem entsetzlichen Ort! Sie sehen ja aus, als würden Sie jeden Augenblick ohnmächtig werden.« Die Dame sprach exzellentes Deutsch mit einem englischen Akzent. »Unser Anwalt hat erwirkt, dass Sie freigelassen werden. Und nun brauchen Sie unbedingt eine kleine Stärkung!«

Bevor Louise noch wusste, wie ihr geschah, hatte die Fremde sie bereits untergehakt und manövrierte sie energisch durch das grimmige Löwenportal hinaus, ein kurzes Stück die Straße entlang zu einem Kaffeehaus. Sie wurde hineingeschoben und in einer behaglichen Ecke auf einen Sitz gedrückt. Während die Unbekannte ihr das Fläschchen mit den Hoffmannstropfen aufdrängte, rief sie gleichzeitig in herrischem Ton nach dem Kellner und bestellte zwei Gläser Tee mit Zitrone, eines davon mit reichlich Brandy darin, das sie Louise zuschob. »Well«, erklärte sie dann, sehr zufrieden mit ihrem guten Werk. »Gleich werden Sie sich wohler fühlen. Sie sind in Sicherheit, my dear. Hier, nehmen Sie ein Kölnisch-Wasser-Tüchlein und erfrischen Sie sich ein wenig, Sie sehen nämlich absolut grauenhaft aus.«

Louise warf einen vorsichtigen Blick in den Taschenspiegel, den die Fremde ihr reichte, und stellte fest, dass sie tatsächlich grauenhaft aussah. Ihre Haut war leichenfahl, ihre Augen sahen aus wie mit verschmierter Tinte umrahmt. Sie murmelte entschuldigend: »Sie kennen mich offenbar, aber ich … ich bin jetzt nicht ganz sicher, wo ich Sie schon gesehen habe?«

»Vermutlich beim Prommieren am Jungfernstieg. Ich bin Amy Harrington, die Tochter des britischen Botschafters. Wir wohnen in dem Eckhaus zum Gänsemarkt, dem mit der graugrünen Stuckaturfassade.«

Der Nebel über Louises Erinnerung lichtete sich ein wenig. Paula Hahne hatte ihr von der exzentrischen jungen Engländerin erzählt, die vor einem halben Jahr mit ihrem Vater ins Land gekommen war. Sie hatte herzhaft gelästert über das närrische Ding, das sich eine Frauenrechtlerin nannte und allen Leuten damit in den Ohren lag, wie schlecht die Frauen behandelt würden. Als hätte es ihr jemals an etwas gefehlt – ihr, die reich, bildhübsch und eine gefragte Partie war!

Lady Harrington war neunzehn Jahre alt, eine junge Frau, der, wohin sie auch ging, viele bewundernde Männerblicke folgten. Sie hatte nichts gemeinsam mit dem konventionellen Bild der Engländerin als einem knochigen Mannweib mit Pferdegesicht. Sie war mittelgroß und ein wenig mollig. Auch wer sich nicht sonderlich für Mode interessierte, musste bemerken, wie teuer das taubenblaue Straßenkleid im Empire-Stil mit den Kaskaden isabellfarbener Spitzen über Schultern und Brust war. Sie legte ihren Umhang mit einer Gebärde ab, die verriet, dass sie ihn für gewöhnlich einer aufmerksam wartenden Zofe zuwarf.

Als hätte Amy ihre Gedanken gelesen, fügte sie lächelnd hinzu: »Die verrückte Engländerin.«

»Oh …« Louise errötete vor Verlegenheit, aber die Dame winkte ab.

»Es kränkt mich nicht, wenn man mich so nennt. Ich bin der Gesellschaft fünfzig Jahre voraus, da wird man leicht für verrückt gehalten. Aber nun reden wir von Ihnen! Ich bin so froh, dass ich Sie aus dieser entsetzlichen Situation retten konnte. Jetzt erzählen Sie mir erst einmal alles, ja? Unser Anwalt muss Bescheid wissen, wenn wir Ihnen zur Seite stehen sollen.«

Louise blickte sie an, zögernd, wie weit sie sich dieser überraschenden neuen Bekanntschaft anvertrauen sollte. Es waren kluge Augen, die ihren Blick erwiderten, und das Lächeln war warm und aufrichtig.

»Ich verstehe noch nicht ganz«, antwortete sie unsicher. »Warum hat man mich so plötzlich freigelassen? Und was meinen Sie mit ›unser Anwalt‹?«

»Sehr einfach. Ich habe heute Morgen von der verzweifelten Situation erfahren, in der Sie sich befinden, und mich sofort an den Rechtsschutzverein für Frauen gewandt. Ist Ihnen dieser Verein ein Begriff?«

Louise blinzelte. »Davon habe ich noch nie gehört. Was ist das?«

Amy begann zu erklären. »Das ist ein Verein, den die Frauenrechtlerin Marie Stritt vor Kurzem in Dresden gegründet hat, um Frauen in all den Ungerechtigkeiten zu helfen, die ihnen angetan werden. In Hamburg gibt es noch keine offizielle Zweigstelle, aber es gibt bereits einen inoffiziellen Kreis angesehener Damen, der dieselben Ziele verfolgt. Und ich bin eine von ihnen. Wir engagieren Rechtsanwälte, von denen wir wissen, dass sie der Sache der Frauen freundlich gegenüberstehen. Leider müssen es vorderhand Männer sein, es gibt ja noch keine weiblichen Juristen, aber das wird schon noch kommen.« Sie beugte sich eifrig vor. »Ich habe Dr. Taffert von Ihrem Fall erzählt, und er hat beim zuständigen Polizeirat erreicht, dass man Sie gegen Ehrenwort auf freien Fuß setzt. Zwar wird die Untersuchung fortgesetzt, aber es genügt, dass Sie Hamburg nicht verlassen. Dr. Taffert ist großartig, sage ich Ihnen! Sie müssen Ihren Fall in seine Hände legen! Er ist ein exzellenter Anwalt und wird Ihnen gewiss helfen können.«

Louise zögerte. Rechtsschutzverein für Frauen! Das klang einerseits tröstlich. Andererseits stand sie diesen umtriebigen Frauenrechtlerinnen, die ständig irgendwelche Hilfsvereine gründeten, skeptisch gegenüber. So eifrig Raoul sich für das Gemeinwohl eingesetzt hatte, für solches Engagement hatte er kein Verständnis gehabt. Das sind komische Weiber, pflegte er zu sagen. Was wollen sie denn? Die Natur zwingen, dass sie jetzt auch den Frauen einen Vollbart wachsen lässt?

»Ich habe zurzeit kein Geld«, wandte Louise ein. »Jedenfalls nicht genug, um einen Anwalt zu honorieren.«

Amy wischte den Einwand mit einer großzügigen Handbewegung beiseite. »Das haben die anderen auch nicht. Unsere Anwälte werden nach Erfolg bezahlt.« Sie lächelte verschmitzt. »Das macht ihnen Beine, weil sie ihr Honorar erst bekommen, wenn sie ihrer Klientin Recht verschafft haben.« Sie ergriff Louises Hände und blickte sie voll Zärtlichkeit an. »Darling«, flüsterte sie. »Ich weiß, wie es Ihnen geht. Sie sind beileibe nicht die einzige Witwe, auf die von allen Seiten die Pfeile des Neides, der Missgunst und Verleumdung abgeschossen werden. Aber jetzt haben Sie Freundinnen, die auf Ihrer Seite stehen.«

Ob es nun an dem heißen alkoholischen Getränk lag oder der Warmherzigkeit der Dame oder der betäubenden Wirkung der Hoffmannstropfen – Louises Selbstbeherrschung bröckelte wie feuchter Gips. »Es ist entsetzlich«, stammelte sie. Sie barg das Gesicht in den Händen und begann bitterlich zu weinen. Zu schrecklich waren die Erinnerungen, die auf sie einstürmten.

Sofort legte sich eine weiche, tröstende Hand auf ihre Schulter und streichelte sie. Weiter tat und sagte Amy nichts, sie ließ der verstörten jungen Frau Zeit, sich herzlich auszuweinen. Erst als diese schließlich ihre Tränen trocknete, erklärte sie in ihrer entschlossenen Art: »Well, nun erzählen Sie mir einmal ganz genau, was passiert ist, damit ich mir ein Bild machen kann, und dann machen wir uns ans Werk, Ihren guten Ruf wiederherzustellen!«

Louise stellte fest, dass ihre neue Freundin gar nicht auf den Gedanken kam, sie erst zu fragen, ob sie denn unschuldig sei. Wärme breitete sich in ihrer vor Furcht und Jammer zitternden Seele aus. Mit leiser gebrochener Stimme vertraute sie der Engländerin ihre schrecklichen Erinnerungen an den Vortag an.

2

Der siebente Februar 1898 war ein unfreundlicher Tag. Am Horizont aufquellende olivfarbene Wolken kündigten Schneeregen an. Der Winter ging seinem Ende zu, und obwohl es nicht mehr eisig kalt war, zeigte sich Hamburg von seiner ungemütlichsten Seite. Die mühsam um ihren Platz am Himmel kämpfende Morgensonne fiel mit schwachem, gelblichen Schein durch die Fenster, hinter denen das Frühstückszimmer des Hauses Paquin lag, und spiegelte sich in den sorgfältig polierten Möbeln. Der Raum war wie ein Antiquitätenladen voll gestopft mit Lampen, Gemälden, Spiegeln, Kerzenleuchtern, Blumensäulen und Hockern, die kreuz und quer verteilt auf dem riesigen jadegrünen chinesischen Teppich standen.

Louise hatte das Zimmer klar vor Augen.

»Es fing gestern am Morgen an«, begann sie. »Wir hatten uns alle zum Frühstück versammelt …«

»Wer ist wir?«, fragte Lady Amy in inquisitorischem Ton.

»Der Privatsekretär meines Gatten, Herr Hansen, dann der Geschäftsführer der Apotheke, Magister Schlesinger, eine Kusine meines Mannes, die bei uns im Haus lebt, Fräulein Paula Hahne, und sein Neffe, der Oberleutnant Emil von Pritz-Toggenau. Und, ja, unser Hausarzt, Dr. Thurner. Seit es Raoul so schlecht ging, kam er jeden Tag.«

»Menschen, denen Sie und Ihr Gatte vertrauen konnten?«

»Oh ja. Ich meine … Der Magister ist sehr zuverlässig und war meinem Gatten stets ergeben, wie Herr Hansen auch.«

Ein Lächeln huschte über ihre blassen Lippen. Sie dachte daran, dass Raoul sich immer gebärdet hatte, als hätte er mit Frederick Hansen nicht einen Privatsekretär engagiert, sondern ein seltenes und vom Aussterben bedrohtes Tier eingefangen – und sie musste zugeben, dass der junge Mann, der seit einem Jahr in seinen Diensten stand, ein wirklich ungewöhnliches Exemplar war. In allen Richtungen gleich begabt und geschickt, wechselte er mühelos ein Dutzend Mal am Tag die Rollen und fungierte je nach Bedarf als Kammerdiener, Sekretär und wissenschaftlicher Assistent – und in letzter Zeit immer öfter als Pfleger für den zunehmend hinfälliger werdenden Apotheker. Er nahm es mit bewundernswerter Gelassenheit hin, ständig verunglimpft und mit den absurdesten Vorwürfen überhäuft zu werden. Wo jeder andere längst gekündigt hätte, sagte er nur: »Er ist ein kranker Mann.«

Einen flüchtigen Augenblick lang ging Louise die Erinnerung an das Dienstbotengeschwätz durch den Kopf, von dem einiges auch an ihre Ohren gedrungen war: dass er bis über beide Ohren in sie verliebt sei. Frederick war allerdings nie etwas dergleichen anzumerken gewesen. Er war und blieb ein treuer Diener seines Herrn und ganz dessen Wohlergehen gewidmet. Die schöne Hausfrau schien er nur am Rande wahrzunehmen.

Lady Amy beobachtete sie scharf. »Herr Hansen also, hm … Und die anderen?«

»Ich bin überzeugt, dass keiner von ihnen meinem Gatten ein Leid angetan hat.«

Sie war über den Gedanken an Frederick errötet, und weil Amy dieses Erröten zweifelsohne bemerkt hatte, war sie jetzt gereizt und kurz angebunden.

»Wir saßen alle schon bei Tisch, aber Raoul kam nicht, also bat ich Herrn Hansen, ihn zu suchen. Und dann …« Sie schluckte schwer. »Dann sagte Herr Hansen, Raoul habe sich im Bad eingeriegelt und antworte auf kein Rufen und Klopfen. Also schauten wir nach.«

Das Badezimmer lag am Ende eines düsteren, nur von einer schwachen Kugellampe erleuchteten Korridors, dessen Fenster auf einen Hinterhof hinausgingen. Kein Laut war hinter der Tür zu hören, als Frederick Hansen noch einmal und sehr energisch klopfte. Sigmund Schlesinger, den alles aus dem Gleichgewicht brachte, was seinem gewohnten Trott widersprach, jammerte plötzlich mit schriller Stimme: »Er ist tot! Er ist ganz gewiss tot!«

Louise fuhr dieser Aufschrei durchs Herz wie ein Pfeil. Sie stürzte, von jäher Angst überwältigt, nach vorne. »Raoul! Raoul! Was machst du denn da drinnen? Ist dir nicht wohl? So antworte doch!« Sie hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Badezimmertür. »Raoul!«

Hinter der Tür blieb es still. Es gab keinen Zweifel mehr, dass dem Apotheker Paquin etwas Böses widerfahren war und sie nichts anderes tun konnten, als gewaltsam ins Badezimmer einzudringen.

Der Hausknecht wurde geholt, ein Mann von beachtlichen Körperkräften. Er rammte die Schulter einmal gegen die Tür, und sie bog sich in kreischenden Angeln, ein zweites Mal, und sie splitterte aus Schloss und Angeln und fiel in den Raum dahinter … und in einen See von Blut.

Die Dienstmädchen – inzwischen hatten sich alle vier am Schauplatz versammelt – kreischten. Schlesinger flüchtete die halbe Treppe hinunter und blieb dort stehen, käsebleich und am ganzen Leib zitternd. Paula Hahne presste die Hand auf den Mund und hastete würgend auf den Abort. Louise Paquin schrie gellend auf und schlug die Hände vors Gesicht. Ihre Zofe stürmte die Marmortreppe hinunter mit markerschütternden Schreien: »Der arme Herr – der Herr ist tot – er hat sich umgebracht –«

Im Badezimmer brannte nur die tief heruntergedrehte Gaslampe über dem Spiegel und malte eine Insel matter Helligkeit in den von Zwielicht umschatteten Raum. Inmitten dieser Insel lag, beleuchtet wie eine Figur in einer Camera obscura, nackt bis auf die Unterhose und seine weiße Nachtmütze, der Herr des Hauses mit durchschnittener Kehle. Das Rasiermesser war ihm aus der Hand gefallen und klebte in der stockenden Pfütze bräunlichen Blutes, die sich um Kopf und Oberkörper herum ausgebreitet hatte. Er musste sich den Hals im Stehen durchgeschnitten haben, denn das Blut aus der dicken, pulsierenden Ader am Hals war über das Waschbecken und den Spiegel darüber gespritzt, ja bis an die Wand oberhalb des Spiegels, wo es in Schlieren über die Ölfarbe rann. Ein widerwärtiger Geruch herrschte im Raum, aus Blutdunst und dem scharfen Rauch verkohlender Papiere, von denen ein dickes Bündel in der Klappe des gusseisernen Badeofens steckte.

Louise war so erstarrt vor Entsetzen, dass sie weder weinen noch schreien konnte. Sie stand unbeweglich da, den Blick fest auf das grausige Bild gerichtet, und sagte nur: »Armer Raoul.«

Auch die anderen waren verstummt. Emil war offensichtlich geschockt, aber wohl eher vom Anblick der Leiche als von einem Gefühl des persönlichen Verlusts. Dr. Thurner schien mehr Zuneigung zu dem Verstorbenen empfunden zu haben, als seine bissige und sarkastische Art nach außen hin spüren ließ. Paula Hahnes Gesicht war fleckig vom Speien, ihre Augen verwirrt, ihre Hände öffneten und schlossen sich in einem fort. Frederick wirkte wie ein Sohn, der seinen Vater verloren hatte, nicht wie ein Bediensteter nach dem Tod seines Herrn. Sigmund Schlesinger sah betroffen aus, aber nicht wirklich betrübt. Er war kein herzlicher Mensch. Seine Zuneigung zu Herrn Paquin hatte in untadeliger Arbeit ihren Ausdruck gefunden.

Lady Amy unterbrach Louises Bericht: »War es zweifellos Selbstmord?«

»Ja. Daran kann kein Zweifel bestehen. Man konnte deutlich sehen, dass der Riegel an der Innenseite der Tür vorgeschoben gewesen war, als sie eingedrückt wurde. Der Schlüssel steckte noch in dem vom gewaltsamen Aufbrechen verkrümmten Schloss. Aber es nimmt ja auch niemand an, dass ich ihm die Kehle durchgeschnitten habe. Sie sagen, es sei Gift im Spiel gewesen, denn da war diese Zeichnung auf dem Spiegel …«

Sie fuhr fort zu erzählen, krampfte die Hände ineinander bei der Erinnerung daran, wie auf der Straße allmählich ein böses Murren hörbar wurde, als das Gerücht die Runde machte, Herr Paquin sei von seiner Gattin ermordet worden.

Noch wusste niemand in der unmittelbaren Umgebung des Löwenhauses Genaueres darüber, was dort geschehen war, aber wie sich das Brodeln kochenden Wassers durch ein Zittern, ein Auftreiben von Bläschen, eine Unruhe in der Flüssigkeit ankündigt, so wurde diese Umgebung von einer unsichtbaren Spannung durchzogen, als die entsetzte Zofe auf die Straße herausgestürzt kam. Das Mädchen trug seinen Mantel über dem Arm und einen Pappkoffer in der Hand, ihr Hut saß schief auf dem aufgelösten Haar, die weiße Schürze hatte sie abzubinden vergessen. Sie bebte am ganzen Körper, und dieses Beben schien sich allem Lebendigen um sie herum mitzuteilen – der stille Alarm einer aufgebrachten und aufgeschreckten Kreatur erregte die Aufmerksamkeit ihrer Rudelgenossen. Wie Raubtiere witterten sie, dass sich etwas Ungewöhnliches ereignet hatte.

Es traf sie nicht unvorbereitet. Seit zwei Jahren richtete sich ihre hyänenhafte Aufmerksamkeit auf das prunkvolle Bürgerhaus, in dem der alte Mann mit seiner schönen jungen Frau lebte. Wie Schnaken sich mit Blut vollsaugen, hatten diese Beobachter sich seit Monaten mit Klatsch und Tratsch vollgesogen, immer ungeduldiger darauf wartend, dass die Spannung sich in einer Katastrophe löste. Es war ihnen nicht entgangen, dass es dem Apotheker zusehends schlechter ging, dass er sich immer seltener auf der Straße blicken ließ, bis er vor einem Monat gänzlich in seinem Haus verschwunden war. Boshafte Gerüchte machten die Runde. Argwöhnische Blicke folgten dem Privatsekretär, wenn er mit seinen langen Schritten und selbstbewusst erhobenem Kopf die Straße entlang eilte, und dem eleganten Oberleutnant, der sich so verdächtig oft im Löwenhaus aufhielt, obwohl er doch seine eigene Wohnung in der Villa seiner Mutter hatte. Nicht einmal der unnahbare Provisor blieb von dem Getuschel verschont, obwohl er verheiratet war.

Das Erscheinen der verstörten Zofe wirkte wie ein Magnet in einem Haufen Eisenfeilspäne. Passanten zögerten und verhielten schließlich den Schritt. Aufmerksame Augen spähten aus den Fenstern der nächstgelegenen Häuser hervor.

Das Mädchen ließ Mantel und Koffer fallen, sog sich die Lungen voll und plärrte los.

»Tot! Der gnädige Herr ist tot! Er hat sich umgebracht! Und schuld an allem ist sie, diese rothaarige Hexe!«

»Daraufhin«, fuhr Louise fort, »hat man mich verhaftet.« Ihre erst so brüchige Stimme wurde allmählich kräftiger. »Und dann kam dieser Kriminalbeamte ins Untersuchungsgefängnis und sagte, die Obduktion habe ergeben, dass Raoul mit Blei vergiftet worden sei. Ich kann das kaum glauben. Dr. Thurner und auch der Nervenspezialist sagten, die Veränderungen in seinem Aussehen und seinem Wesen seien auf eine Austrocknung des Gehirns zurückzuführen. Meinen Sie nicht auch, dass das viel wahrscheinlicher ist?«

Lady Amy zuckte die Achseln. »I haven’t got a clue. Das muss ein Arzt diagnostizieren.« Sie fuhr mit ihrer frischen, energischen Stimme fort: »Don’t worry, my dear! Wir bekommen das in den Griff. Man soll nur versuchen, uns einzuschüchtern! Ich begleite Sie jetzt nach Hause, Sie schlafen sich einmal gründlich aus, und morgen machen wir uns mit frischen Kräften ans Werk.«

Amy stand auf, rief den Kellner und bezahlte für beide. Gleich darauf hatte sie Louise, der allmählich schwindlig wurde, auch schon wieder untergehakt und steuerte mit ihr auf eine Droschke zu.