Karin Pfolz

 

Manchmal ...

erdrückt es mich, das Leben

 

Impressum:
2. E-Book Auflage

Text, Coverbild: © Karin Pfolz

Februar 2019, Vienna, Austria, Karina-Verlag, Vienna.
www.karinaverlag.at

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außer- halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Verlage unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Dieses Buch basiert auf einer wahren Begebenheit.

Aus Gründen des Schutzes der in diesem Buch genannten Personen, sind diese so verändert, dass sie nicht erkannt werden können.
Die Orte und Zeitabläufe sind verändert. Jegliche Vergleichbarkeit mit lebenden Personen und deren Lebensablauf ist rein zufällig und nicht beabsichtigt. Sowohl die Autorin als auch der Verlag haften nicht und sind daher klaglos zu halten.

 

 

1. Nur die Treppe

„Manchmal erdrückt es mich, das Leben“, denke ich, als mich ein weiterer Schlag ins Gesicht trifft. Der plötzliche Schmerz macht meine Beine unsicher, ich gerate ins Wanken. Jedoch spüre ich keinen Schmerz, realisiere es nicht in der Wirklichkeit. Meine Muskeln geben nach, blockieren die Koordination des Gleichgewichtes. Ich kann mich nicht mehr auf der obersten Stufe der Treppe halten, stürze – wie bei einem Kopfsprung ins kalte Wasser – die Stiege hinab.

Mir ist, als wäre das nicht mein Körper, der diese Stufen hinunter fällt. Trotzdem merke ich die mehrmaligen Richtungswechsel, die durch das Aufprallen an den Seitenwänden entstehen. Doch ich fühle von dem Schmerz noch immer nichts. Hitze steigt in mir auf, und dieses wahnsinnige Kribbeln in der Magengegend – verursacht durch den Adrenalinschub und das Aufsteigen der nicht unter Kontrolle zu kriegenden Angstgefühle.

„Schläge, immer wieder“, denke ich. Doch werde ich in diesem Augenblick nicht von einem anderen Menschen geschlagen, sondern die Stufen, die Kanten und die Winkel der Treppe bohren sich in meinen Körper. Es knackst irgendwo in mir, in der Nähe der Rippen. Ein weiterer tauber Schmerz durchzuckt meinen Körper.

Dann das Ende der Bewegung. Keine polternden Geräusche, keine Aufpralle mehr.
„Nur nicht bewegen“, denke ich und bleibe, wie ich bin, liegen. Die Zeit vergeht. Es kommt mir vor, als ob ich bereits Stunden bewegungslos verharre – doch es sind nur wenige Sekunden. Alles in mir fühlt sich an, als würde es in Zeitlupe passieren. Jeder Herzschlag, jede Muskelreaktion scheint Ewigkeiten zu dauern. Vielleicht muss ich mich nie wieder bewegen, nie wieder meinen Herzschlag spüren und es ist endlich vorbei – für immer!

Doch die Realität holt mich ein. Ich weiß, dass bei den nachfolgenden Bewegungen die Schmerzen zu spüren sein werden. Wenn diese Hitze und Verlangsamung meines Körpers nachlässt, dem Schmerz alle Türen geöffnet sind.
Langsam kommen bei mir die Geräusche, die ich zuerst nicht zuordnen kann, an. Erst leise, dann immer lauter und lauter, bis ich begreife, dass es das Schreien ist. Das hysterische Schreien von dem Menschen, dem ich bis vor kurzem vertraute.

Das für mich unbegreifliche, unfassbare Schreien dröhnt immer lauter. Für meine Seele sind diese Schreie Schmerzen. Das Ertragen, der auf mich niederprasselnden unbegreiflichen Vorwürfe, ist wesentlich ärger als die Schläge für meinen Körper. Denn ich kann nicht verstehen, was der Auslöser dieser Taten ist.

Noch immer versuche ich bewegungslos zu bleiben. Kaum zu atmen – nur zaghaft versuche ich Sauerstoff in meinen Körper zu bringen. Meine Gedanken überschlagen sich in einem Durcheinander der Erinnerungen und die Frage – die ich mir selbst so oft stelle aber unbeantwortet bleibt – nimmt überhand.

„Was war heute? Was ist so Ungewöhnliches passiert, dass seine so heftig war?“.

 

 

2. Ein paar Stunden davor

Es ist ein sonniger Frühlingstag und ziemlich warm für diese Jahreszeit. Ich liebe diese frühmorgendlichen Momente im Garten. Denn die Ruhe und gleichmäßige Bewegung der Natur wirkt ausgleichend auf meine Seele. Schon der Anblick der aufgehenden Sonne, das Hören der ersten Vogelstimmen, der frische Tau auf den nackten Füßen; das ist für mich Leben. Jeder Tag ist ein Neubeginn – bringt Hoffnung, Frieden und verwischt die Gedanken an Vergangenes.

All diese wunderbaren Gefühle und Eindrücke wirken auf mich ein. Ich sitze im taufeuchten Gras, mit einer Tasse dampfendem Kaffee, genieße das Kitzeln der Sonnenstrahlen auf meiner Nase.

Nur kurz kann ich das auf mich wirken lassen. Denn Augenblicke wie diese sind selten für mich. Nur wenige Minuten diese Stille und Reinheit einatmen ... doch heute ist viel zu erledigen, also löse ich mich los, von der Zufriedenheit und gehe ins Haus, um meine Vorbereitungsliste abzuarbeiten.
Kurz darauf, nachdem ich meinem Mann das Frühstück ans Bett brachte, starte ich die Arbeiten in der Gartenvorbereitung.

„Ach, sind die schwer“, denke ich, als ich die Klapptische und Bänke aus dem kleinen Anbau schleppe. „Diese Konstruktion kann sich nur ein Mann ausgedacht haben, der das nicht selbst aufstellen muss!“. „Autsch!“, wenn ich diese Tische aufstelle, zwicke ich mir immer die Finger ein. Diese komischen Klemmvorrichtungen sind extrem verblödet. Aber ein wenig leichter fällt mir die Arbeit, wenn ich so in Gedanken in mich „hineinmatschgere“.

Nach einiger Zeit gelingt es und die Tische stehen an ihrem Platz. Obwohl der Weg vom Haus aus ein wenig weiter ist – wenn ich später serviere – entscheide ich mich, die Tische mitten auf der Wiese aufzustellen, gleich neben dem Gartenteich mit seinem kleinen Wasserfall. Das Plätschern des Wassers wirkt angenehm, sicher auch für die Gäste und meinen Mann, und so hoffentlich für eine ruhige Stimmung sorgen.

Jetzt kommt der angenehme Teil der Vorbereitungen. Liebevoll decke ich die Tische mit Tischdecken und Blumensträußen, befestige alles gut mit Klammern und Steinen. Ich möchte nicht, dass bei Wind die Deko durch den Garten segelt und womöglich noch im Teich landet.
„Alles muss perfekt werden, sodass es keinerlei Beanstandungen des faulen Herrn Gemahl geben kann. Heute wird es mir gelingen, den Tag ohne die gewohnte Lieblingsbeschäftigung meines Mannes zu verbringen“, denke ich fröhlich. Ich bewundere mein Werk und spaziere, mit einem Korb bewaffnet, in den Gemüsegarten.

„Bestimmt sind frische Tomaten reif und auch Salat wird sich finden“, denke ich. So ist es auch und ich finde sogar einige große Gurken. „So ein Glück. Die Schnecken waren diesmal langsamer als ich.“ Stolz bringe ich meine Beute in die Küche.

Kein Geräusch aus den Schlafräumen dringt zu mir. Beruhigt beginne ich meine Küchenvorbereitungen und widme mich den Tomaten, um den Salat vorzubereiten.

 

3. Ruhe vor dem Sturm

„Meine Chancen auf einen ruhigen Abend stehen gut.“
Es haben sich einige unserer Bekannten zum „Grillen im Grünen“ angemeldet. Das erweckt bei mir die Hoffnung, dass mein Mann beschäftigt sein wird, um mit seinen angeblichen Kochkünsten zu prahlen. Da wird er keine Zeit haben, um auf mich loszugehen.
Das Lustige an der Sache ist nur, dass er nicht kochen kann. Er kann nicht einmal ein paar Würstchen zubereiten. Sie platzen schon auf, wenn er sie ansieht. Das darf natürlich keiner wissen, denn er erzählt immer, dass er die Küche bei uns ganz alleine „schupft“. Er ist einfach der beste Koch aller Zeiten. Soll er nur damit prahlen. Mir ist das alles egal. Hauptsache, er hat seine Befriedigung in Sachen „Angeben“, das sorgt für ein bisschen Ruhe.
Die Arbeit geht mir gut von der Hand. Der Brotteig ist bereits im aufgehen und alle Beilagen und Gedecke kann ich erledigen, ohne, dass ich mir dabei immer über die Schulter blicken lassen muss, oder mir das Geplapper anhören, dass dies und das anders gemacht gehört. Denn in seinen Augen kann ich einfach nichts richtig machen. Das war immer so und wird sich niemals ändern. Ein Mensch, der stänkern will, der tut es auch.
„Aber heute nicht“, denke ich mir, „heute bin ich bereits seit fünf Uhr früh auf den Beinen und kann alles wunderbar einteilen. Heute wird er nichts zu beanstanden haben“.

„Ach, die Kohlen!“ Ich laufe in den Garten, hole die Kohlen aus dem Gerätehäuschen und bringe diese zur Grillstelle. Rasch häufe ich die Kohlen in die Grillmulde, vergrabe gekonnt den Anzünder. Mein Mann braucht nur noch die Flamme daran halten und alles andere erledigt sich wie von Zauberhand.

Erledigt, alles fertig.
Sogar die Kartoffeln habe ich vorgekocht und in Folie gewickelt, damit sie schneller fertig sind. Endlich ist es geschafft. Nun kann ich endlich unter die Dusche schlüpfen, aus mir noch ein halbwegs ansehnliches Wesen zaubern, bevor die Gäste kommen. Was wäre das für ein Anblick, wenn mein Mann ein so abgearbeitetes, verschwitztes Weib vorzeigen muss. Außerdem hätte er damit ein Problem. Er müsste erklären, warum ich so abgearbeitet aussehe und er so frisch. Wo doch er das ganze Essen vorbereitet hat und ich mich ausgeruht habe, von der anstrengenden Arbeitswoche.
„Erst elf Uhr, das klappt gut“, sage ich zu mir und laufe ins Bad. Die ersten Gäste haben sich für zwölf Uhr dreißig angemeldet.

 

4. Der Koch
 

Ich stehe unter der Dusche und genieße das warme Wasser auf meiner Haut. Was für ein angenehmes Gefühl. Der Geruch von Reinheit und Wohlfühlen verbreitet sich im Badezimmer. Ich liebe es. Es entspannt sofort. Der anstrengende Vormittag zieht an mir vorüber, als sei er nicht gewesen. Mit geschlossenen Augen lasse ich das Wasser über mich fließen. Fast könnte ich glauben, dass alle Last und aller Kummer damit von mir gewaschen werden, einfach im Abfluss verschwinden.

„He, du Wahnsinnige, was ist das für ein Lärm, in aller Früh!“ Der Mann reißt verschlafen die Badezimmertür auf und will auf mich losstürmen, doch es gibt noch „Schutzengel“. Im selben Augenblick läutet das Telefon und er verschwindet aus dem Badezimmer.

„Glück gehabt, das vergisst er bestimmt wieder“, hoffe ich und beende das angenehme Bad so schnell wie möglich, um mich nicht in die Fänge des Löwen zu begeben. Das Badezimmer ist der denkbar ungünstigste Ort, um einen Angriff abzuwehren, noch dazu, wenn alles voll Dampf und rutschig ist. Es ist mir lieber, wenn ich sicheren, festen Boden unter meinen Füßen habe. Leider hat das Wasser mein Leid nicht weggespült. Es wäre zu schön gewesen.

Mein Mann hat es sich in der Zwischenzeit im Wohnzimmer bequem gemacht und telefoniert lustig vor sich hin. Es hört sich nach einem angenehmen Telefonat an. So schleiche ich vorbei, lächle kurz zu ihm hinüber, damit er sich beachtet fühlt. Es soll den Anschein erwecken, dass ich nicht weiß, dass er mit seiner Freundin telefoniert. Es macht die Sache nicht besser, wenn es durchsickert, dass es mir seit langem bekannt ist, dass er eine Liebhaberin hat und wer sie ist. Er ist sehr fest von sich selbst überzeugt und der Meinung, dass er geschickt genug ist, das vor mir geheim zu halten. Naja, schon ein bescheuertes Denken, wo er doch offen vor mir mit dieser Schlampe telefoniert. Er denkt doch wirklich, dass ich total verblödet bin und nichts bemerke.

Sehr schnell mache ich Kaffee für meinen Mann fertig. Stelle diesen vor ihm auf den Tisch, verschwinde gleich wieder in der Küche. So glaubt er, dass ich nicht lauschen könne. Das gibt mir die Gelegenheit, aus seinem Blickfeld zu kommen und in ungreifbare Entfernung abzutauchen.

Es vergeht die Zeit, während ich die letzten wichtigen Handgriffe erledige. Ich sehe und höre nichts von meinem Mann - bis es an der Tür läutet.
Dennoch, obwohl der Mann im Moment ruhig wirkt und keinerlei Zeichen eines tätlichen Angriffes auf mich zu spüren sind, beschleicht mich langsam der Gedanke, dass es gut ist, dass mein kleiner Sohn dieses Wochenende bei seinen Großeltern ist. Die Ruhe wird nicht von langer Dauer sein wird.
„Hey, schön, dass du da bist!“, höre ich ihn rufen.
Ich reiße das Geschirrtuch aus meinem Gürtel, welches ich als Küchenschürze verwende, damit ich darunter gleich perfekt gekleidet sein kann. Es soll für die Gäste aussehen, als bewundere ich all die kulinarischen Werke meines Mannes in der Küche.

Die ersten Gäste betreten die Küche und sind hellauf begeistert:
“Wow, toll! Das hast du alles selbst gemacht, dass ein Mann so etwas kann!“, rufen sie aus.

Ich drücke mich in die Ecke und lächle. Mein Mann steht in der Mitte seiner Freunde und lässt sich als Spitzenkoch feiern. Er genießt das sehr. Ich atme erleichtert auf. Ein zufriedener Mann lässt seine Frau in Ruhe.

Er nimmt das Tablett mit dem marinierten Fleisch in die Hand und stolziert in den Garten zum Grillplatz. Die Kohle ist perfekt vorgeglüht. Er macht hinter seinem Rücken eine Handbewegung, damit mir klar ist, dass ich die Salate und anderen Utensilien in den Garten auf die Tische transportieren muss. Selbstverständlich so unauffällig wie möglich, damit keiner der Gäste es bemerkt.
Da alle Gäste - natürlich beste Kumpel dieses Mannes - sich um ihn scharen, kann ich unbemerkt vorbeischlüpfen und alles auf die Tische schmuggeln.

Mein Mann stellt sich sehr »wichtig« an, als er die Fleischstücke auf den Grill legt, mit Bier aufgießt und seine Grillweisheiten erzählt – und vergisst die Fleischstücke zu wenden. Leider verbrennen so einige Stücke, die er mit einer geschickten Bewegung der Grillzange in die glühenden Kohlen versenkt.

Die Gäste bemerken das nicht, da er durch sein angeberisches Erzählen die ganze Aufmerksamkeit auf seine Worte lenkt. Wenigstens das kann er. Mich wundert immer, dass die Freunde diese Angebereien unterhaltsam finden, ich selbst kann das nur als ausgesprochen peinlich sehen.

Die gegrillten Stücke darf ich dann, hochoffiziell, auf Platten legen und an die Tische bringen.

Fröhlich ist die Gesellschaft, alles lacht, das Bier gluckert und es wird zufrieden gegessen.
Der Platz neben dem Teich war eine sehr gute Wahl. Dadurch habe ich im Haus meine Ruhe und werde nicht laufend beobachtet, wenn ich weitere Handgriffe für die kulinarische Zufriedenheit der Gäste meines Mannes erledige. All die Wunderwerke aus der Küche meines Mannes werden genüsslich verspeist. Stundenlang wird gefeiert und es ist mir unverständlich, wie so viel Alkohol in diese Menschen hineinpasst.

Doch dann passiert es. Es ist wird langsam dunkel. Die Sicht im unbeleuchteten Garten wird schwächer. Die paar Kerzen auf den Tischen reichen nicht aus, um alles zu beleuchten.

Dass die Tische so weit vom Haus entfernt sind, rächt sich jetzt. Fünf Stufen sind zu überwinden und die Terrasse überqueren, um die leeren Gefäße in die Küche zu bringen.

Ich stolpere mit einem Tablett voller Gläser über die letzte Stufe und schaffe es gerade noch, alles halbwegs gerade zu halten und nicht zu stürzen.
Doch eines der Gläser fängt gefährlich zu schwanken an. Allen Bemühungen zum Trotz kippt es, fällt vom Tablett und zerbricht. Ein angstvoller Blick zu den Gästen.

„Gott sei Dank, keiner hat es bemerkt“, denke ich, doch dann streift mein Blick den meines Mannes. Er hat es gesehen, wirft mir einen ernsten Blick mit zusammengepresstem Mund zu. Für mich dauert dieser Blick stundenlang, auch wenn es in Wahrheit nur hundertstel Sekunden sind. Sicherheitshalber verschwinde ich, so schnell es geht, ins Haus. „Am besten ich wasche einmal das Geschirr und bringe in der Küche alles in Ordnung. Dann freut er sich vielleicht und es passiert nichts.“

Eine lange Weile ist das auch so, die Gäste sind ausgelassen. Mein Mann feiert und trinkt, es wird gelärmt und gelacht und keiner denkt mehr an den kleinen Vorfall. Niemand – außer einem.

Umso höher der Alkoholspiegel, desto höher das Erinnerungsvermögen. Oft habe ich den Eindruck, dass mit zunehmenden Promille im Blut die Erinnerung verwischt und verändert wird. Dass aus einem Glas, welches zerbrochen ist, ein ganzer LKW voll Gläser wird.

Das Ende der Feier naht. Meine Anspannung steigt.
Andere Menschen können dem Ende einer solchen Feier mit Ruhe und Gelassenheit, sowie der Vorfreude auf die bald kommende Erholung entgegensehen. Bei mir ist dies anders, bei mir steigt die Angst und Panik an, denn dann bin ich alleine mit diesem Mann. Kein anderes Lebewesen ist dann in der Nähe, um einzugreifen, wenn bei ihm wieder die „Sicherungen“ durchbrennen und er nicht weiß, was er anrichtet. „Tschüss, bis zum nächsten Mal, war nett wie immer. Deine Frau kann stolz auf einen so fleißigen Mann sein! Diese Salate, diese Sauce, und erst die Würze des Fleisches – grandios!“, höre ich die Männer rufen, als sie sich verabschieden.
„Die sind alle blind!“, denke ich und höre, wie mein Mann mir zuruft, dass er noch mit den Gästen in ein Lokal gehen werde:

„Warte nicht auf mich, du musst arbeiten morgen.“
„Der Witz war gut“, denke ich. Er kann ja ausschlafen.
Mein Mann hat vor einiger Zeit seinen gut bezahlten Job gekündigt. Wozu soll er auch arbeiten? Es reicht doch, wenn seine Frau arbeitet. Außerdem zahlt das Arbeitsamt sowieso ein schönes Gehalt. Das sind so die Gedanken dieses Menschen.
Ich mache mich an die Arbeit, um Garten, Grillplatz und Küche in den ursprünglichen Zustand zu versetzten. So verbringe ich die nächsten drei Stunden.
Mühsam ist es, so spät in der Nacht, alle Altlasten im Garten aufzuspüren, aber ich will und kann mir keinen Fehler erlauben – wenn mein Mann zurückkommt, muss alles aufgeräumt und perfekt aussehen. Ich pirsche, bewaffnet mit einer Taschenlampe und einem großen Tablett, durch den Garten. Möchte alles finden und sei es ein noch so kleiner Papierschnipsel.
Gerne will ich wieder in Ruhe schlafen können und vielleicht habe ich das Glück, dass er lange wegbleibt, ich mit der Arbeit fertig werde und einschlafen kann, bevor er nach Haus kommt. Vielleicht weckt er mich heute nicht. Hoffnung stirbt niemals, auch für mich nicht.

 

5. Home Sweet home
 

Um drei Uhr früh werde ich brutal aus dem Schlaf gerissen. Mein Mann ist nach Hause gekommen und steht voll betrunken vor meinem Bett:
„Auf, du faules Pack, du wagst es, schlafen zu gehen und der Geschirrspüler ist noch nicht ausgeräumt!“, schreit er mich an und beginnt, an meinen Füßen zu ziehen.
Ich bin unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen. „Bitte, bitte lass das einen Traum sein. Lass mich endlich in die Wirklichkeit zurück“, geht es durch meinen Kopf und ich versuche, mich am Rand des Bettes festzuklammern.

„Raus!“, brüllt er wieder und zieht und zerrt an meinem Bein, „Du elendes Weib, heraus!“
Immer weiter schreit er und immer mehr zieht und reißt er an meinem Bein. Meine Kraft in den Händen lässt nach, ich kann mich nicht mehr an dem Bettgestell festhalten. Mit einem lauten Krachen poltere ich auf den Boden.
Der erste Fußtritt trifft genau in den Magen, perfekt gezielt. Der Schmerz weckt mich endgültig auf. Zu meinem Erschrecken erkenne ich, dass ich mich in der Wirklichkeit befinde.
Ich will nur weg, weg aus dem Bereich, wo er mich treffen kann. Ich versuche, unter das Bett zu kriechen, das gelingt mir nicht. Er zerrt mich an meinem Bein in Richtung Lichtschalter. Er hat gerne Beleuchtung, dann kann er sehen, was er anrichtet.
Ein perverses, teuflisches Grinsen umspielt sein Gesicht. Der Anblick ist so erschreckend und grauenvoll, dass es lähmend auf mich wirkt. So stark, dass ich nicht fähig bin, auch nur einen Muskel in meinem Körper zu bewegen oder anzuspannen, geschweige denn eine Abwehrhaltung einzunehmen. Mein ganzer Körper wirkt wie leblos.
Er braucht das Licht, um genau zielen zu können. Um mich dort mit seinen Schlägen und Tritten zu treffen, wo es kein anderer Mensch sehen kann.
Er muss ziemlich genau sein, um mich nicht so zu verletzten, dass es mich unfähig macht, die Arbeiten im Haus erledigen und meinen Job zu machen. Es träfe ihn schon sehr, wenn er eine Putzfrau bezahlen müsste. Er selbst würde niemals einen Handgriff erledigen. Trotzdem muss immer alles perfekt sein und kein Staubkörnchen darf sich auf ein Möbelstück verirren.
Ich bin ganz still. Versuche, mich so weit unter Kontrolle zu bringen, dass ich mich an irgendetwas festhalten kann, während er mich durch das Vorzimmer in Richtung Badezimmer zerrt.
Doch er hat mehr Kraft als ich und so schafft er es. Reißt meinen Körper herum, um sich das zu nehmen, wovon die Herren der Bierrunde den gesamten Abend geplaudert haben. Nicht den kleinsten Versuch von mir, zu entkommen, lässt er zu. Die harten Fliesen drücken sich in meinen Rücken, die Schläge prasseln auf mich nieder. Wieder probiere ich, mich in eine andere Richtung zu winden. Stoße dabei unabsichtlich mit meinem Knie in seinen Bauch. Vor Zorn reißt er mich in die Höhe, stößt mich aus dem Raum, genau auf die Stiege zu. Dann trifft mich der erste Faustschlag ins Gesicht.

Das erste Mal, dass er sich nicht unter Kontrolle hat. Er achtet diesmal nicht darauf, wohin er schlägt.
Es ist ihm in seinem Zorn vollkommen egal, was und wo er trifft. Hauptsache, er trifft die Person, die ihre Arbeit nicht vollständig erledigt hat.

Immer mehr verwandelt sich sein Gesicht in eine tobende, verwunschene Fratze. Verzerrt, ekelerregend und unberechenbar. Kein Funke Vernunft oder Überlegung ist mehr da. Ich schließe die Augen und versuche mich an den Gedanken zu klammern, dass ich überleben will. Mein Kind braucht mich. Egal was dieser Mann mir antut, ich muss hier lebend heraus. Und vor mir da befinden sich die Stufen in den Abgrund ...

 

6. Die Maske

 

„Es ist schon phantastisch“, denke ich „was ein gutes Make-up alles kann.“
Ich betrachte mein Spiegelbild und bin von meinem morgendlichen Werk ziemlich begeistert. Nicht den kleinsten blauen Fleck erkennt man im Gesicht. Alles gut überdeckt.

„Also los, zur Arbeit.“
Ich habe das Glück, dass mein Arbeitsbereich ganz nahe an der Eingangstüre des Reisebüros ist und durch das immer herrschende Zwielicht erkennt man nicht gleich etwas Ungewöhnliches in meinem Gesicht. Die Kollegen werden denken, dass es ein Schatten sein könnte. Schon alleine der Gedanke, dass ich endlich das Haus verlassen darf, lässt in mir ein wenig Fröhlichkeit aufkommen. Die gestrige Nacht habe ich überlebt. Alles andere zählt nicht wirklich, das kann verdrängt werden. Solange ich atmen und denken kann, solange werde ich dies alles durchstehen.
Heute habe ich es besonders schön, da ich den ganzen Tag Dienst habe und am Abend noch aufs Land fahren kann, um meinen kleinen Sohn abzuholen.
So habe ich mindestens zwölf Stunden ohne eine Angriffsmöglichkeit und ich kann mein geliebtes Kind in die Arme schließen.
Wenn diese kleinen Arme sich um meinen Hals legen und ich einen dicken Schmatz auf die Wange bekomme, dann gibt es keinen Schmerz auf der Welt, den ich nicht ertragen könnte. Nur um diesen Augenblick und dieses „Mami, ich hab dich sooo lieb“, erleben zu dürfen.
Vielleicht ergibt sich beim Abholen meines Sohnes die Gelegenheit, mit meiner Schwiegermutter zu sprechen, wenn mein Schwiegervater nicht in der Nähe ist. Vielleicht weiß sie einen Rat, wie ich die Situation verbessern kann. Es kann doch kaum sein, dass eine Mutter nicht ahnt, wie ihr Kind sich als Erwachsener entwickelt hat. Vielleicht war mein Mann als Kind schon so aufbrausend und brutal. Es wird Zeit, dass ich das herausfinde.

Der Tag ist toll im Büro. Viel Arbeit, um auf andere Gedanken zu kommen.
Meine Lieblingskunden sind von ihrer Mexikoreise zurückgekommen und besuchen mich, um mir die schönen Erlebnisse zu erzählen. Sie bringen mir auch ein kleines Päckchen mit als Dankeschön. Das Leben kann auch gute Seiten haben.

Als ich das Ehepaar vor mir so ansehe, denke ich mir: „Die beiden sehen so glücklich miteinander aus, ob es hier genauso ist wie bei mir? Ist das alles nur Schein und Lüge und wenn die Tür hinter ihnen zugeht, dann schlägt auch dieser Mann zu?“

Auf einmal bin ich durcheinander und vollkommen verwirrt, entschuldige mich und verschwinde kurz in den Bürokeller, wo sich die Kaffeeküche der Angestellten befindet. Langsam glaube ich, dass irgendetwas in meinem Leben nicht ganz richtig läuft. Ich werde den Gedanken nicht mehr los, dass das Verhalten meines Mannes nicht so sein kann, wie das bei anderen Männern ist.

Doch dieser Arbeitstag geht vorüber und so fahre ich die Strecke aufs Land. Dies bedeutet zwar noch zwei Stunden Freiheit, aber anders gesehen bedeutet das auch, dass es nur noch zwei Stunden sind und das ist nicht sehr lange.

Die Fahrt ist anstrengend und ich muss mich ausgesprochen zusammenreißen, um nicht einzuschlafen, ich bin total erschöpft aber danke dafür, dass mein Körper mich so schmerzt, denn so bleibe ich wenigstens wach. Jede Bewegung sticht und die Fahrt erfordert meine volle Konzentration.

Als ich ankomme, empfängt mich mein Sohn mit leuchtenden Augen.
„Endlich bist du da!“, ruft er und wirbelt mir um den Hals. Es gibt nichts Schöneres, als wenn sich so kleine Kinderhände um meinen Nacken krallen. Das ist ein ganz wohliges Gefühl und macht den Augenblick glücklich. Manchmal denke ich, dass diese Augenblicke die Auslöser sind, dass ich überhaupt noch fähig bin, mein ganzes Leben zu ertragen. Meine Schwiegermutter empfängt mich und sie ist allein. Ich versuche meinen Sohn in ein anderes Zimmer zu locken und das gelingt auch, da er dort die große Holzeisenbahn aufgebaut hat.
Also frage ich meine Schwiegermutter, ob es normal ist, dass ich so aussehe, und zeige ihr meinen Rücken, meine Arme und meine Beine. Alles Violett und Blau.
„Bist hingefallen, na ungeschickt warst du ja immer schon, sagt auch mein Sohn!“
Damit habe ich nicht gerechnet, also antworte ich, dass ich nicht hingefallen sei, sondern ihr so lieber Sohn das gemacht hat - wie schon so oft.
„Nun, Kind“, sagt sie, „das ist doch normal. Was hast du geglaubt? Eine Frau muss dienen und parieren, und wenn sie nicht gut arbeitet, dann muss sie zurecht gewiesen werden, dass war immer so und das wird immer so blei- ben!“
Ich bin total erschüttert, ist das alles wirklich normal? Da ich so aufwühlt bin, packe ich die Sachen von meinem Kind, verabschiede mich und will mich auf den Weg machen. Da ruft meine Schwiegermutter mir nach:
„Es verheilt – es verheilt immer“, und als ich in ihr Gesicht sehe, da bemerke ich zu meiner tiefen Erschütterung, dass ihr die Tränen über die Wangen laufen und sie die Lippen stark aneinanderpresst. So, als ob sie die ganze Wahrheit in die Welt hinaus rufen möchte aber etwas in ihr fesselt sie und nimmt ihr den Willen.

Ich drehe mich weg und rufe:
„Tut es das?“
Warum habe ich nicht den Mut, um zu ihr zurückzugehen, diese paar Schritte, und sie in den Arm zu nehmen und fest zu drücken, denn es ist wohl offensichtlich, dass wir beide dasselbe Schicksal teilen.
Doch es geht nicht, ich kann es nicht. Ich habe meinen ganzen Mut verloren und meine Kraft, um noch etwas verändern zu können.
Ohne noch einmal einen Blick nach hinten zu werfen schnalle ich meinen Sohn in den Kindersitz im Wagen an und begebe mich auf den Weg zurück - in meine persönliche Hölle.

 

 

7. Danke an die Freundin

 

Eine neue Nacht, eine Nacht, die mir die Möglichkeit beschert, wieder arbeiten zu können. Mein Mann ist eingeschlafen. Ohne mich auch nur zu berühren.
Er war am Tag bei seiner Freundin und sie dürfte ihn ziemlich fordern. Das merke ich am Geruch. Diese Person hat ein eigenwilliges Parfüm und ich eine eigenwillige Nase. Der Geruch ist trotz Dusche nicht ganz vergangen und zu dem unangenehmen Parfümgeruch hat sich auch der Duft des Alkohols gesellt. Es dürfte sich aber um so ein „Sprudelzeugs für Nutten“ gehandelt haben, denn das macht meinen Mann immer so schläfrig. So schleiche ich beruhigt um drei Uhr früh in den Keller.

Das ist mein großes Geheimnis seit einigen Jahren. Ich habe hier im Keller meine kleine Nähmaschine versteckt. In den Keller geht der Mann nicht, denn da könnte etwas an Arbeit warten. Außerdem befinden sich in dem Gewölbe Waschmaschine und Bügeleisen. Diese Gegenstände sind sowieso nur für Frauen erfunden – sagt mein Mann – daher hat ein Mann diesen Dingen nicht zu nahe zu kommen.

Als ich geheiratet habe, hat mein Mann mir sämtliche Ersparnisse abgenommen. Nun ja, vor der Hochzeit borgte er sich bereits einiges meiner Gelder aus – mit dem Versprechen es zurückzuzahlen – doch bis auf kleine Minimalzahlungen passierte das nie. Eine Frau braucht kein Geld, war die Ausrede und ich Vollidiot habe das damals geglaubt. Es hat sich bald darauf herausgestellt, warum das so sein soll, denn wer Geld hat, der kann auch weggehen. Erst nach dem Ja-Wort bei der Hochzeit hat sich herausgestellt, dass mein Mann seine Frau nur als Sklavin ansieht. Zum Arbeiten, zum Geld verdienen, zum Bedienen und natürlich auch als Sündenbock für alle schlechten Launen dieser Welt.

Der Körper einer Frau ist das Eigentum des Mannes, sagt mein Mann. Auch wenn er vor der Hochzeit immer das Gegenteil behauptet hat, mich auf Händen getragen und mir alle Lasten von den Schultern nahm.
Bei diesem Mann war es wirklich so, dass bei der Hochzeit ein Schalter umgelegt wurde und der Charakter des Mannes hat sich genau in das Gegenteil verwandelt.
Ich werde niemals verstehen, wie es möglich ist, sein wahres Ich so zu verstecken und zu verheimlichen und wie es passieren kann, dass eine Wesensveränderung so rasch vor sich geht.
Ich setze mich an die Nähmaschine und mache die letzten Arbeiten an einem Hosenanzug für meine Kollegin. Immerhin, die Vollendung dieses Stückes bringt mir vierzig Euro. Die kann ich in meiner „Freiheitskasse“ gut gebrauchen.
In einem guten Versteck sammle ich all die kleinen Nebeneinnahmen meiner Näharbeiten. Irgendwann werde ich das Geld haben, um zu gehen, einen Anwalt zu bezahlen und frei zu sein. Dann, wenn ich den letzten Cent auf eintausend Euro in mein Versteck lege.
Da dies nun schon einige Jahre gut geht, denke ich, dass ich zumindest die Hälfte des Geldes schon habe, das ich brauche. Endlich die Hälfte. Das ist ein schöner Gedanke. Es braucht also nicht mehr so lange Zeit, wie es bis jetzt gedauert hat und das spornt mich an. Denn die Aufträge für die Kleider nehmen zu und ich könnte die Chance haben, dass die Zeit schneller vergehen wird und mein Sohn und ich endlich gehen können, an einen Ort, wo Frieden herrscht. Auch wenn wir dann sehr wenig Geld haben werden. Wir haben die Freiheit, aus unserem Leben noch etwas zu machen, Neues zu schaffen und lachen zu dürfen.
Um fünf Uhr früh bin ich fertig und verstecke das Kleidungsstück in meiner Handtasche, das geht gut, da es ein Stück aus Seide ist und ich es sehr klein zusammenlegen kann, damit er es nicht findet, falls er doch einmal vor mir aufsteht und in gewohnter Art meine Sachen durchsucht.
Aber den doppelten Boden meiner Handtasche hat er noch nicht entdeckt. Doch nicht so schlau das Bürschchen. Eine Stunde Ruhen ist noch möglich und ich sinke sofort in einen ruhigen Schlaf mit einem Traum von einem Leben, in dem ich geliebt werde, in dem es eine liebevolle Berührung gibt, die nicht schmerzt und Worte, die mich nicht verletzen.

Immer wieder kommen meine Gedanken an Geschichten, die Kollegen erzählen. „Da ist eine Frau von ihrem Mann geschlagen worden ...“, wird da erzählt, „warum geht so eine Frau nicht weg, es gibt doch Frauenhäuser, es gibt Familienmitglieder."

Leider haben die lieben Kollegen keine Ahnung von der Wirklichkeit. Ich habe es versucht, mehrmals. Ich habe oft in Frauenhäusern angerufen und immer wieder dieselbe Antwort erhalten: „Wir haben keinen Platz frei, fragen sie in Haus sowieso“, dort dann „Leider kein Platz, wir haben Wartelisten und es dauert sicher über sechs Monate, um einen Platz zu bekommen.“

Die Wahrheit ist, dass die geschlagenen Frauen nicht weggehen können. Die Männer bestimmen über die Konten, die Männer bewachen das Geld, die Männer haben das Auto. Wir stehen unter einem so großen psychischen Druck, dass eine Planung für einen Neubeginn einfach nicht durchführbar ist.

Wohin sollen wir Frauen gehen, ohne Geld und ohne Wohnmöglichkeit, und dies mit kleinen Kindern? Haben die Menschen wirklich so wenig Ahnung von der Wirklichkeit, oder sind diese Aussagen dazu da, um nicht helfen zu müssen, um nichts sehen zu wollen, um keine Probleme der Mitmenschen ertragen zu müssen?

„Hallo mein Schatz, aufstehen!“, flüstere ich meinem kleinen Sohn am Morgen ins Ohr. Er ist gleich wach und macht sich leise fertig, da er weiß, jeder Laut würde den Vater wecken und die Reaktion auf „Aufwecken“ ist sogar meinem kleinen Sohn zu viel. Er wird zwar ziemlich ignoriert von dem Mann, es sei denn, er beschwert sich darüber, dass das Kind stört, doch eine morgendliche Störung wird niemals toleriert.

Der einzige Gedanke meines Mannes, als er ein Kind wollte, war, dass er einen Sohn bekommt, mit dem er angeben kann.
Mit der Erziehung, Ausbildung und sonstigen Problemen, die Kinder mit sich bringen, wollte und will er nach wie vor nichts zu tun haben. Das ist alles viel zu anstrengend für einen Mann und sowieso die Aufgabe einer Frau. Dazu sind diese ja da.

Es ist für mich wie ein Wunder, dass dieser Mann das Kind, im Großen und Ganzen, in Ruhe lässt. Es ist noch nie vorgekommen, dass er das Kind geschlagen hat.
Vielleicht ist das einer der Gründe, die mich bestärken, dies alles durchzustehen. Denn irgendwann ist das alles überstanden. Die richtige Zeit wird einmal da sein, für mein Kind und mich.

Ich bin so gut gelaunt an diesem Morgen, wie schon lange nicht mehr. Die Hoffnung auf ein baldiges, besseres Leben und der angenehme Traum beflügeln mich.
Mein kleiner Sohn und ich fahren lachend in den Kindergarten und scherzen, welch schöner Tagesbeginn mit der Fröhlichkeit eines Kindes.

Ich bekomme von ihm beim Kindergarten einen Abschiedskuss und mache mich weiter auf den Weg ins Büro und dieser Weg hat an diesem Tag auch einige schöne Augenblicke für mich. Ich habe wieder Augen für die Schönheit dieser Welt, jede Blume und jeder Marienkäfer fällt mir positiv auf und stimmt mich fröhlicher. Denn die Zeit, wo ich das alles mit meinem Kind noch intensiver und öfter genießen kann, ist in greifbare Nähe gerückt.

Mein Morgenkaffee im Büro schmeckt besser als an anderen Tagen, die Sonne scheint herein und ich beginne mit meinem Lächeln meinen Arbeitstag. Es ist angenehm ruhig im Büro um diese Zeit. Alle meine Kolleginnen erscheinen erst eine Stunde später. Ich genieße den Beginn der Arbeit und erledige die wichtigen Sachen in kürzester Zeit.

„Hast du ihn mit? Bitte, ich bin so aufgeregt“, ruft meine Kollegin gleich, als sie durch die Tür tritt.

„Klar, und er wird dir toll stehen“, versichere ich ihr und reiche ihr das Paket mit dem Hosenanzug. Knallrot und in Wildseide. Wirklich schön. Sie lächelt, schnappt das Paket und verschwindet in den Keller, wo sich unser Aufenthaltsraum für Pausen befindet.

Nach zehn Minuten ist sie wieder da.
„Schau, schau!“, ruft sie, „Er passt super!“ Sie dreht sich vor mir herum und hüpft vor Freude.
Dann gibt sie mir fünfzig Euro, und als ich protestieren will, dass es mehr ist als ausgemacht, da strahlt sie:
„Aber die Arbeit ist es wert, nimm nur, du hast es verdient, bitte.“
Wenn sie nur wüsste, dass sie mich damit einen Schritt weiter zu meinem Ziel gebracht hat.
Ich kann es einfach nicht sagen, ich kann niemandem sagen, wie es mir geht. Keiner würde das verstehen, warum ich mich über den Zustand und das Benehmen dieses Mannes so kränke. Warum ich so leide, so traurig bin. Mir hat sogar meine Schwiegermutter mitgeteilt, dass dies ganz normal sei, auch wenn sie selbst nicht klar damit kommt und sehr darunter leidet.

Ich kann nur nicht verstehen, warum es dann so viele fröhliche Frauen gibt. Können diese das besser wegstecken, haben sie keine Schmerzen? Oder läuft in meinem Leben irgendetwas anders als normal?

Ich mache mich nach dem Arbeitstag auf den Weg in den Kindergarten, um mein Kind abzuholen. Doch die Gedanken an zu Hause holen mich langsam wieder ein, umso näher ich dem Haus komme.

 

8. Die Taufe


Ich erinnere mich an die Taufe von meinem Sohn und muss zugeben, dass da das Verhalten des Mannes sicherlich nicht ganz normal abgelaufen ist.

Niemals habe ich Fotos von anderen Taufen gesehen, wo die Väter der Kinder nicht darauf abgebildet waren. Bei der Taufe meines Kindes war das so. Meine Gedanken gehen in die Vergangenheit und ich erinnere mich sehr genau an diesen Tag. Ich habe viel Zeit und Energie verwendet, um die Taufe vorzubereiten.

Es sollte ein nettes Fest in einem kleinen Rahmen werden und so habe ich in einem Restaurant einen Tisch reserviert, monatelang auf die Kosten gespart und mit dem Pfarrer alles besprochen, der wirklich ein ganz wunderbarer Mensch ist und mich bei den Vorbereitungen sehr unterstützt hat.

Ich habe ein wunderschönes Taufkleid genäht, um dem Kind ein Erinnerungsstück an seine Taufe zu schenken, damit es einmal im Erwachsenenalter an diesen Tag denken kann.

Meine Schwiegereltern und meine Mutter sind bereits eine Stunde vor dem Fest zu uns nach Hause gekommen und ich habe ein nettes Vormittagsfrühstück bereitet.

Meine Schwester und ihre Familie sollten zur Kirche kommen, da ich nicht so viel Platz habe.
Schade, dass mein Vater nicht mehr dabei sein konnte, der verstarb vor drei Jahren und hat sein Enkelkind nie gesehen. Dabei war sein größter Wunsch, einen Buben in der Familie zu haben, da wir wirklich ein Weiberhaufen sind. Auch das Kind meiner Schwester ist ein Mädchen.

Meine Mutter ist eine so harte Frau und kann Gefühle nicht zeigen. Es ist schwer, mit ihr zu kommunizieren, und das Thema, das mich belastet, möchte und kann ich mit ihr nicht besprechen. Sie würde es auch nicht verstehen. Mein Vater schon, ihm habe ich immer alles erzählen können, er war stets für mich da.
Dieser Mann war auch anders als mein Mann, er hat niemals die Hand gegen meine Mutter erhoben, also kann das doch kein normales Verhalten sein. Aber vielleicht war gerade mein Vater die einzige Ausnahme.

Meine Gedanken geraten immer mehr durcheinander. Ich weiß langsam nicht, was richtig ist, was falsch ist, was die Norm ist und was nicht.
Mein Vater würde einen Rat für mich haben, mich in den Arm nehmen und mich trösten, wenn es mir nicht gut gehen würde. Doch er ist nicht mehr da und er wird nie wieder da sein, nicht für mich und nicht für sein Enkelkind.

So soll mein Sohn als zweiten Namen den Namen seines Großvaters Felix bekommen. Das heißt übersetzt „der Glückliche“ und wird ihm hoffentlich ein glückliches Leben bescheren.

In meinen Gedanken rutsche ich wieder in die Vergangenheit, in meine Kindheit, doch ich finde trotz aller Anstrengung keine Erinnerung, in der mein Vater bösartig meiner Mutter gegenüber war.

Wieder ein schöner Gedanke an meinen Vater. Ich sitze als kleines Kind auf seinen Schultern und er trägt mich durch die Wiener Innenstadt und zeigt und erklärt mir die Sehenswürdigkeiten meiner Heimatstadt. Oder er sitzt mit mir an einem Sonntagmorgen in einem Kaffeehaus und wir geben uns ganz wichtig, trinken Kaffee und Kakao und lachen.

Bei meiner Mutter zu Hause war lachen nicht erlaubt. Hier gab es nur Arbeit. Wenn die Arbeit nicht gut genug gemacht war, dann gab es da noch den Keller. Ohne Licht. Da durfte ich dann im Dunkeln darüber nachdenken, warum ich die mir aufgetragene Arbeit nicht schnell und gut genug erledigt habe.

Wenn Mutter es wollte, dann konnte das schon Stunden dauern. Doch an meinen Vater, da habe ich keine schlechten Erinnerungen. Da ist immer Sonnenschein. In jedem Gedanken.

Langsam komme ich wieder in die Wirklichkeit zurück und ich nehme die Umgebung wieder wahr, so wie sie jetzt ist. Das falsche Getue meiner Mutter, die Lügen meiner Schwiegermutter, wie glücklich doch ihre Ehe ist ...

„Komisch“, denke ich, „wieso kommt der Mann nicht aus dem Zimmer?“ Es wird immer später und ich schleiche leise in den Raum, um keinen der Gäste darauf aufmerksam zu machen.

„Der schläft noch, das gibt es ja nicht“, ich versuche, ihn sanft aufzuwecken. „Es wird Zeit für dich aufzustehen, dein Sohn hat heute Taufe und deine Eltern sind schon da.“
Er murmelt etwas und rollt sich wieder in die Decke.

„Ich bitte dich, steh auf!“, ich versuch es noch einmal. Ich vergesse sogar jede Vorsicht und wage es, ihn zu schütteln. Natürlich nur leicht, aber mutig ist das schon.
„Sag, ich bin krank und wehe ich höre, dass du etwas anderes erzählst. Bring mir was zum Mittagessen mit!“, sagte er und schläft weiter.

Toll, was mache ich jetzt? Also bewege ich mich wieder aus dem Zimmer. Informiere meine Schwiegereltern, dass ihr lieber Sohn leider krank sei, was diese wieder dazu bewegt, mir Vorwürfe zu machen. Ich versorge das Bubi nicht genug, habe nun selbst die Verantwortung dafür zu tragen, dass es nun krank sei und die Taufe seines Sohnes nicht besuchen könne.

„Na, das habe ich jetzt aber wirklich gebraucht“, flüstere ich in mich hinein und beginne das Kind für die Taufe vorzubereiten.
Meine Tränen tropfen langsam in das Taufkleid meines Sohnes, doch er lächelt und versucht mit seinen kleinen Fingern die Tropfen aufzufangen.
Wenn ich dieses Kind nicht hätte, so hätte ich sicherlich keine Kraft mehr für dieses Leben. Es gibt immer irgendwo einen ganz kleinen Hoffnungsschimmer, der uns Menschen wieder aufrichtet, wenn wir ganz am Boden liegen. Wir Menschen müssen ihn nur sehen.
Viel mehr muss ich über diesen Tag nicht erzählen, denn der ganze Tag war sehr anstrengend, meine Schwiegereltern haben mich den ganzen Tag gequält, meine Mutter hat den ganzen Tag ein grantiges Gesicht gemacht und ich musste nach einem raschen Mittagessen nach Hause hetzten, um dem armen Mann sein Essen zu bringen.
Das arme Taufkind habe ich meiner Mutter für diese halbe Stunde überlassen, was diese (und das Kind) wieder sehr belastet hat. Dann wieder zurück und fröhliche Taufkind-Mami spielen und der Mann hat in der Zwischenzeit faul vor dem Fernseher gesessen und sich nicht bewegt. So hat es jedenfalls ausgesehen.
Von einer Krankheit habe ich allerdings nichts bemerkt, es sei denn, die neue Medizin für Krankheiten aller Art ist Bier und Schnaps.
Nur dieser komische Geruch, der in der Wohnung war, als ich dann am Abend nach Hause kam, der war so bekannt und ließ bittere Säure in meinem Magen aufsteigen.
Ich verdränge den Gedanken bis heute, dass dieser Mann seine Freundin in unsere Wohnung gelassen haben könnte. Manche Dinge im Leben muss man nicht wissen. Oder man will es ganz einfach nicht akzeptieren.
Ich kehre wieder in die Gegenwart zurück und mein kleiner Sohn und ich hüpfen in Richtung unseres Hauses.

Ich sehe das Licht hinter den Fenstern und meine Schritte werden langsamer. Ruhig betrete ich das Haus, versorge rasch das Kind und bereite das Abendessen meines Mannes zu. Ich bete zu Gott, dass der Abend ruhig verlaufen wird und die Nacht schnell vergeht, denn morgen geht hoffentlich wieder die Sonne auf und gibt mir einen kleinen Strahl Hoffnung.

 

9. Mama

 

„Wenn der Regen dir stetig auf die Seele tropft und dir die ganze Kraft aus dem Körper saugt, dann möchtest du nur schlafen, immer nur schlafen, um nicht die Wirklichkeit zu spüren, sondern dich in die Welt des Traumes flüchten, um in dieser Traumwelt leben zu können!“

Das Telefon klingelt um Mitternacht. Als ich abnehme, meldet sich meine Mutter. Sie klingt fürchterlich und ich habe den Eindruck, dass sie weint.
„Sie weint nie“, denke ich und bin so verwundert und geschockt, dass ich nicht ein Wort herausbringe, denn normalerweise gibt es bei meiner Mutter nicht das kleinste Zeichen einer Gefühlsregung.

Ich schleiche langsam und leise die Stiegen hinunter, um die Schlafenden nicht zu stören. Gleichzeitig lausche ich in das Telefon, doch ich höre nur Schluchzen und kein einziges verständliches Wort.

Dann, endlich, die Stimmer meiner Mutter:
„Ich wollte dir das nie sagen“, sagt meine Mutter, „dass ich dich sehr gerne habe, aber jetzt sage ich es dir, weil es wichtig ist, endlich habe ich erkannt, dass das von großer Bedeutung ist. Ich habe vor einigen Tagen einen Befund bekommen und die Ärzte sagen, dass ich nur noch wenige Monate zu leben habe, ich dachte lange nach und nun habe ich beschlossen, dass es besser ist, dir das zu sagen.“ Ich schließe für einen Augenblick meine Augen und sehe nur Finsternis. Ich sehe die Finsternis in dem Keller, der mein Zuhause war, wenn ich nicht den Wünschen meiner Mutter entsprochen habe, ich spüre die Tür in der Dunkelheit, die in meinen Gedanken als Kind immer näher zu kommen scheint, die Tür, hinter der sich der noch dunklere und finstere Kellergang verbirgt, der Angst und Schrecken in meine Glieder jagt. Denn in meiner Phantasie leben dort Wesen der Finsternis und lechzen nach meiner Seele.

Ich öffne die Augen wieder und tauche sofort aus meinen Kindheitserinnerungen in die Gegenwart ein.
„Aber Mami, ich habe dich auch sehr lieb, ich komm zu dir und wir schauen uns das an, vielleicht ist es nicht so schlecht, wie es aussieht und gemeinsam schaffen wir das schon“, antworte ich ihr, „bist du noch auf? Dann komme ich gleich, denn ich kann jetzt sowieso nicht mehr schlafen!“

„Ja, ja, ich bin noch auf, du kannst gerne kommen, es war so schwer, dir das zu sagen, aber jetzt ist mir sehr viel leichter, bitte komm her!“