Elena Ferrante

Frantumaglia

Mein geschriebenes Leben

Aus dem Italienischen von Julika Brandestini und Petra Kaiser

Suhrkamp Verlag

Inhalt

I. Schriften. 1991-2003

1. Das Befana-Geschenk

2. Die Schneiderinnen der Mütter

3. Schreiben auf Bestellung

4. Das verfilmte Buch

5. Die Neuerfindung von Lästige Liebe. Briefwechsel mit Mario Martone

6. Mediale Hierarchien

7. Ja, nein, ich weiß nicht. Entwurf eines lakonischen Interviews

8. Die Kleider, die Körper. Lästige Liebe auf der Leinwand

9. Heimlich schreiben. Brief an Goffredo Fofi

10. Arbeitende Frauen

11. Lügen sagen immer die Wahrheit

12. Stadt ohne Liebe. Antworten auf die Fragen von Goffredo Fofi

13. Ohne Sicherheitsabstand. Antworten auf die Fragen von Stefania Scateni

14. Eine Geschichte der Auflösung. Antworten auf die Fragen von Jesper Storgaard Jensen

15. Willentliche Aussschaltung der Ungläubigkeit

16. La Frantumaglia

Abgründe

Das Monster in der Kammer

Das Bild der Mutter

Die Städte

Frauenkleider

17. Eine Nachbemerkung

II. Bekenntnisse. 2003-2007

1. Nach La Frantumaglia

2. Das Leben im Buch. Interview mit Francesco Erbani

3. Die »Tage« auf der Kippe. Brief an Roberto Faenza

4. Die verblüffende Olga der Margherita Buy. Antworten auf die Fragen von Angiola Codacci-Pisanelli

5. Niemandes Buch

6. Wie hässlich dieses Kind ist

7. Stationen einer einzigen Suche. Antworten auf die Fragen von Francesco Erbani

8. Die Temperatur, die Leser entfacht. Dialog mit den Hörern von ›Fahrenheit‹

9. Die erotische Aura des mütterlichen Körpers. Antworten auf die Fragen von Marina Terragni und Luisa Muraro

III. Briefe. 2011-2016

Ein Buch, das andere Bücher begleitet. Briefwechsel zwischen den Lektoren Simona Oliveto und Sandra Ozzola Ferri, Edizioni e/o

1. Die Leuchtkraft der Untergeordneten. Antworten auf die Fragen von Paolo di Stefano

2. Höhenangst. Antworten auf die Fragen von Karen Valby

3. Jeder Mensch ist ein Schlachtfeld. Antworten auf die Fragen von Giulia Calligaro

4. Abwesende Komplizin. Antworten auf die Fragen von Simonetta Fiori

5. Niemals die Deckung fallenlassen. Antworten auf die Fragen von Rachel Donadio

6. Frauen, die schreiben. Antworten auf die Fragen von Sandra, Sandro und Eva

7. Exzessive Persönlichkeiten. Antworten auf die Fragen von Gudmund Skjeldal

8. Dreizehn Briefe. Antworten auf die Fragen von Maurício Meireles

9. Erzählen, was sich der Erzählung entzieht. Antworten auf die Fragen von Yasemin Çongar

10. Die Wahrheit über Neapel. Antworten auf die Fragen von Árni Matthíasson

11. Die Uhr. Antworten auf die Fragen der Kunstzeitschrift Frieze

12. Der Vorgarten und die Welt. Antworten auf die Fragen von Ruth Joos

13. Das Magma unter den Konventionen. Antworten auf die Fragen von Elissa Schappell

14. Programmatische Unzufriedenheit. Antworten auf die Fragen von Andrea Aguilar

15. Frauen, die Grenzen überschreiten. Antworten auf die Fragen von Liz Jobey

16. Die Verschwendung weiblicher Intelligenz. Antworten auf die Fragen von Deborah Orr

17. Trotz allem. Antworten auf die Fragen von Nicola Lagioia

Nachweise

Zu diesem Buch

Dieses Buch richtet sich in erster Linie an alle, die die ersten beiden Romane von Elena Ferrante, Lästige Liebe (1992) und Tage des Verlassenwerdens (2002), begeistert gelesen und diskutiert haben. Inzwischen hat Lästige Liebe eine Art Kultstatus erlangt, viele haben die wunderbare Verfilmung von Mario Martone gesehen und das Interesse an der ungewöhnlich öffentlichkeitsscheuen Autorin ist weiterhin ungebrochen. Zudem hat die Zahl begeisterter Leser nach dem Erscheinen von Tage des Verlassenwerdens noch einmal kräftig zugenommen, sodass die Fragen danach, wer sich wohl hinter dem Namen Elena Ferrante verbirgt, eindringlicher wurden.

Um diese wachsende Neugier zu befriedigen, haben wir uns deshalb entschlossen, dem ebenso anspruchsvollen wie wohlwollenden Publikum weitere Texte der Autorin zugänglich zu machen, und haben für diesen Band Briefe der Autorin an den Verlag edizioni e/o, einige der seltenen, schriftlich gegebenen Interviews und ihre Korrespondenz mit ausgewählten Lesern zusammengestellt. Im Übrigen machen diese Texte ein für alle Mal deutlich, weshalb sich die Autorin seit nunmehr zehn Jahren so beharrlich der Sensationsgier der Medien verweigert.

Die Verleger Sandra Ozzola und Sandro Ferri

Dieses Vorwort der Verleger zur ersten Auflage von Frantumaglia datiert vom September 2003. Alle Anmerkungen stammen vom Verlag.

I. Schriften

1991-2003

1. Das Befana-Geschenk

Liebe Sandra,

bei dem letzten, sehr angenehmen Treffen mit Dir und Deinem Mann hast Du ironisch nachgefragt, was ich denn nun zu tun gedenke, um den Verkauf von Lästige Liebe zu fördern (an den endgültigen Titel des Buches muss ich mich erst noch gewöhnen), und mir dabei einen Deiner lebhaften, amüsierten Blicke zugeworfen. Zu einer spontanen Antwort fehlte mir der Mut, zumal ich auch dachte, Sandro gegenüber schon recht deutlich gewesen zu sein, er schien nichts dagegen zu haben. Deshalb hatte ich eigentlich gehofft, das Thema nicht mehr ansprechen zu müssen, auch nicht im Spaß. Ich antworte Dir nun schriftlich, denn damit ersparen wir uns meine langen Pausen, meine Unsicherheit, meine Nachgiebigkeit.

Ich habe die Absicht, gar nichts für Lästige Liebe zu tun, nichts, was ein öffentliches Auftreten mit sich brächte. Ich habe bereits genug für diesen Roman getan: Ich habe ihn geschrieben. Wenn das Buch etwas taugt, sollte das reichen. Ich werde keine Einladung zu Diskussionen oder Tagungen annehmen. Ich werde zu keiner Preisverleihung gehen, falls man mir denn einen Preis zuerkennen sollte. Ich werde keine Werbung für das Buch machen, vor allem nicht im Fernsehen, weder in Italien noch im Ausland. Ich werde mich nur schriftlich zu Wort melden, aber auch das möglichst auf ein Minimum beschränken. Für mich und meine Familie steht dieser Entschluss unwiderruflich fest. Ich hoffe, ich muss meine Meinung nicht ändern. Mir ist durchaus bewusst, dass das für den Verlag Schwierigkeiten aufwirft. Ich habe Hochachtung vor Eurer Arbeit, ich hatte Euch sofort gern, und ich will Euch nicht schaden. Falls Ihr mich also nicht länger unterstützen wollt, sagt es gleich, ich hätte Verständnis dafür. Es ist ja überhaupt nicht nötig, dass ich dieses Buch veröffentliche.

Wie Du weißt, fällt es mir schwer, die Gründe für meine Entscheidung umfassend darzulegen. Aber Du sollst wissen, dass ich eine kleine Wette mit mir, mit meinen Überzeugungen abgeschlossen habe. Ich glaube, Bücher brauchen, wenn sie einmal geschrieben sind, keinen Autor mehr. Wenn sie etwas zu erzählen haben, finden sie früher oder später ihre Leser. Und wenn nicht, dann eben nicht. Dafür gibt es viele Beispiele. Ich liebe diese geheimnisvollen Bücher aus alter und neuer Zeit, die zwar keinen bestimmten Autor haben, aber trotzdem ein intensives Eigenleben geführt haben und noch führen. Für mich sind sie wie ein Wunder, das über Nacht kommt, wie die Geschenke der Befana, auf die ich als Kind so sehnsüchtig gewartet habe, ich ging sehr aufgeregt ins Bett, und wenn ich morgens aufwachte, waren die Geschenke da, aber niemand hatte die Befana gesehen. Wahre Wunder sind solche, von denen nie jemand erfahren wird, wer sie vollbracht hat, egal ob die kleinen Wunder der heimlichen Hausgeister oder die großen, wirklich atemberaubenden Wunder. Diesen kindlichen Wunsch nach kleinen und großen Wundern habe ich immer noch, ich glaube nach wie vor daran.

Darum, liebe Sandra, möchte ich in aller Deutlichkeit sagen: Falls Lästige Liebe es aus eigener Kraft nicht schaffen sollte, ein größeres Publikum anzusprechen, je nun, dann haben wir, Du und ich, uns eben geirrt; aber falls doch, wird das Buch auch ohne unsere Hilfe seinen Weg gehen, und uns bleibt nur die freudige Aufgabe, uns bei den Leserinnen und Lesern für ihren Zuspruch zu bedanken. Und ist es nicht auch so, dass Werbung sehr teuer ist? Ich werde die kostengünstigste Autorin des Verlags sein. Sogar meine Anwesenheit wird Euch erspart bleiben.

Sehr herzlich

Elena

Brief vom 21. September 1991

2. Die Schneiderinnen der Mütter

Liebe Sandra,

die Sache mit dem Preis wühlt mich sehr auf. Mich verwirrt nicht so sehr die Tatsache, dass mein Buch einen Preis bekommt, sondern vielmehr, dass er den Namen Elsa Morantes trägt. Um ein paar Dankeszeilen zu schreiben, die vor allem eine Hommage an diese von mir zutiefst verehrte Autorin sein sollen, habe ich in ihren Büchern nach passenden Zitaten gesucht. Dabei habe ich festgestellt, dass eine solche Drucksituation einem mitunter übel mitspielen kann. Ich habe geblättert und geblättert, aber nicht ein einziges passendes Wort gefunden, dabei hatte ich doch eine ganze Reihe deutlich in Erinnerung. Man müsste einmal darüber nachdenken, wie und wann Wörter aus Büchern verschwinden und diese dann am Ende wie leere Gräber wirken.

Was hat mich in diesem Zusammenhang so blind gemacht? Eigentlich war ich auf der Suche nach einer unverkennbar weiblichen Passage über die Figur der Mutter, doch die von der Morante geschaffenen männlichen Erzählstimmen irritierten mich. Ich wusste genau, dass es diese Passagen gibt, aber um sie wiederzufinden, hätte ich den ersten Leseeindruck wiederherstellen müssen, als es mir mühelos gelang, die männlichen Stimmen als Verkleidung weiblicher Stimmen und Gefühle wahrzunehmen. Das Schlimmste jedoch, was man unter solchen Umständen tun kann, ist, unter Hochdruck nach einer zitierbaren Stelle zu suchen. Bücher sind komplexe Gebilde, die Zeilen, die uns tief erschüttert haben, markieren den Höhepunkt eines inneren Erdbebens, das ein Text von den ersten Seiten an in uns Lesern ausgelöst hat: also entweder macht man die Verwerfung ausfindig, und wird zu dieser Verwerfung, oder die Worte, von denen wir meinten, sie wären eigens für uns geschrieben, sind nicht mehr auffindbar und klingen, falls man sie doch wiederfindet, banal und geradezu abgedroschen.

Am Ende habe ich auf das Euch bekannte Zitat zurückgegriffen, das ich eigentlich Lästige Liebe als Motto voranstellen wollte. Doch selbst das ist schwieriger als gedacht, denn wenn man es heute liest, klingt es so selbstverständlich, lediglich wie eine ironische Passage über die Entmaterialisierung des mütterlichen Körpers durch den süditalienischen Mann. Falls Ihr es zum besseren Verständnis für notwendig haltet, diese Stelle zu zitieren, schicke ich Euch hier den ganzen Textauszug. In der Passage schildert Morante, was die Protagonistin Giuditta zu ihrem Sohn sagt, als der sich wie ein typischer Sizilianer benimmt, nachdem seine Mutter ihre Schauspielkarriere nach einer schlimmen Demütigung endgültig aufgibt und sich endlich wieder normal kleidet.

Giuditta ergriff seine Hand und bedeckte sie mit Küssen. In diesem Augenblick sah er, wie sie ihm später sagte, genau wie ein echter Sizilianer aus, wie einer von diesen strengen sizilianischen Ehrenmännern, die immer auf ihre Schwestern aufpassen, dass sie am Abend nicht allein ausgehen, den Verehrern keine Hoffnungen machen und dass sie keinen Lippenstift benutzen und für die das Wort »Mutter« zwei Dinge bedeutet: »alt« und »heilig«. Die Farbe, die sich für die Kleider der Mutter geziemt, ist Schwarz oder höchstens Grau oder Braun. Ihre Kleider sind unförmig, denn niemand, nicht einmal die Schneiderinnen der Mütter, kommt auf den Gedanken, dass eine Mutter den Körper einer Frau besitzt. Die Zahl ihrer Lebensjahre ist ein Geheimnis ohne Bedeutung, denn ohnehin gibt es für sie nur eines: das Altsein. Dieses Alter ohne Form und Gestalt hat heilige Augen, die um die Kinder weinen, nicht wegen eigenen Kummers; es hat heilige Lippen, die für die Kinder beten, nicht für sich selbst. Und wehe dem, der vor diesen Kindern den heiligen Namen der Mutter leichtfertig ausspricht! Wehe! Es ist eine tödliche Beleidigung.

Dieser Passus soll bitte ohne Emphase vorgetragen werden, mit normaler Stimme, ohne die deklamatorischen Töne schlechter Komödianten. Wer von Euch das liest, sollte nur die folgenden Worte leicht betonen: unförmig, Schneiderinnen der Mütter, Körper einer Frau, Geheimnis ohne Bedeutung.

Und hier nun schließlich mein Brief an die Preis-Jury, hoffentlich wird klar, dass die Worte der Morante alles andere als abgenutzt sind.

Ich entschuldige mich nochmals für die Umstände, die ich Euch bereite.

Elena

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Jury, als glühende Verehrerin Elsa Morantes habe ich etliche ihrer Worte im Gedächtnis. Also habe ich mich, bevor ich diesen Brief begann, auf die Suche nach diesen mir bekannten Worten gemacht, um mich daran festzuhalten und dadurch an Substanz zu gewinnen. Allerdings habe ich dort, wo ich sie vermutete, kaum etwas gefunden. Viele hatten sich versteckt. Andere, nach denen ich gar nicht gesucht habe, stachen mir plötzlich beim Durchblättern ins Auge, manche haben mich mehr verzaubert als die eigentlich Gesuchten. Worte schlagen im Kopf des Lesers oft unvorhergesehene Wege ein. In erster Linie ging es mir um die Figur der Mutter, ein zentrales Motiv im Werk der Morante, und zu diesem Zweck durchstöberte ich Lüge und Zauberei, Arturos Insel, La Storia und Aracoeli. In der Erzählung Der andalusische Schal fand ich schließlich, wonach ich vermutlich mehr oder weniger gesucht hatte.

Sicher kennen Sie den Text besser als ich, und ich brauche ihn hier nicht noch einmal wiederzugeben. Es geht um das Bild, das Söhne von ihren Müttern haben: Mütter sind alt, mit heiligen Augen, heiligen Lippen, in schwarzen, grauen oder ganz selten mal braunen Kleidern. Die Autorin spricht anfänglich von »diesen strengen sizilianischen Ehrenmännern, die immer auf ihre Schwestern aufpassen«. Doch schon bald, nach wenigen Sätzen, verlässt sie Sizilien und geht, wie mir scheint, zu einem weniger lokal gefärbten Bild der Mutter über. Das geschieht mit der Einführung des Adjektivs unförmig. Die Kleider der Mütter sind unförmig, auch ihr Alter ist unbestimmt, sie sind einfach nur alt, »denn niemand«, schreibt Elsa Morante, »nicht einmal die Schneiderinnen der Mütter, kommt auf den Gedanken, dass eine Mutter den Körper einer Frau besitzt.«

Wichtig scheint mir die Wendung »niemand kommt auf den Gedanken«. Das Unförmige ist derart dominant für das Bild der »Mutter«, dass es weder Söhnen noch Töchtern jemals in den Sinn käme, den Körper der Mutter mit weiblichen Formen in Verbindung zu bringen, es sei denn mit Abscheu. Das gelingt nicht einmal den Schneiderinnen, obwohl sie doch selbst Frauen, Töchter, Mütter sind. Aus Gewohnheit schneidern sie den Müttern Kleider auf den Leib, die alles Weibliche negieren, als sei alles Weibliche eine Art Lepra, die das Bild der Mutter entstellt. Sie tun es ganz automatisch und machen so auch das Alter zu einem Geheimnis ohne Bedeutung, für Mütter gibt es nur ein Alter: das Altsein.

Erst jetzt, wo ich darüber schreibe, fange ich an, bewusst über die »Schneiderinnen der Mütter« nachzudenken. Sie faszinieren mich, vor allem im Zusammenhang mit einem Ausdruck, der mich schon als Kind fesselte: »Kleider wie auf den Leib geschnitten«. Als Kind dachte ich, dahinter stecke etwas Anstößiges: eine aggressive Handlung, eine gewaltsame Zerstörung der Kleider und schamlose Entblößung des Körpers; oder schlimmer noch, eine magische Kunst, die die Umrisse des Körpers bis zur Obszönität sichtbar macht. Heute erscheint mir dieser Ausdruck weder böse noch anstößig. Vielmehr fasziniert mich der innere Zusammenhang von zuschneiden, einkleiden, aussprechen. Ich finde es spannend, dass sich daraus auch die Redensart »über jemanden herziehen« entwickelt hat. Würden die Schneiderinnen lernen, den Müttern die Kleider so auf den Leib zu schneidern, dass er sichtbar wird, oder sie so hauteng zu machen, dass der weibliche Körper wieder zum Vorschein käme – dieser weibliche Körper, den Mütter nun mal haben und immer schon hatten –, dann käme das Einkleiden einem Entblößen gleich und der Körper der Mütter, ihr Alter, wäre nicht länger ein Geheimnis ohne Bedeutung.

Vielleicht hatte auch Elsa Morante, als sie von den Müttern und ihren Schneiderinnen sprach, die Notwendigkeit vor Augen, für sie richtige Kleider zu finden und mit der schlechten Gewohnheit zu brechen, die schon lange das Wort Mutter belastet. Vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall erinnere ich mich an andere Bilder (beispielsweise »das mütterliche Schweißtuch«, »das sich wohltuend wie frische Liebe auf den leprösen Körper legt«), in die man sich gerne versenken würde, um als neue Schneiderin den Fehler des Unförmigen auszubügeln.

Die Autorin nahm den Preis für das beste Erstlingswerk, den ihr die Jury im Rahmen der 6. Auflage des Premio Procida, Isola di Arturo – Elsa Morante (1992) für Lästige Liebe zuerkannte, nicht persönlich entgegen. Bei der Preisverleihung wurde stattdessen der hier abgedruckte Brief verlesen. Dieser Text wurde in den von Jean-Noël Schifano und Tjuna Notarbartolo herausgegebenen Cahiers Elsa Morante, Edizioni scientifiche 1993, abgedruckt und wird hier leicht gekürzt wiedergegeben.

3. Schreiben auf Bestellung

Liebe Sandra,

da habt Ihr mir ja was Schönes eingebrockt: Bei der Arbeit an dem Beitrag für Euer Verlagsjubiläum habe ich nämlich festgestellt, dass Schreiben auf Bestellung mühelos von der Hand geht und man dabei sogar auf den Geschmack kommt. Und wie soll's jetzt weitergehen? Soll jetzt alles Wasser den Abguss hinunter, weil der Stöpsel nun mal gezogen ist? Im Augenblick könnte ich über alles und jedes schreiben. Ihr möchtet einen Beitrag zur Feier des neuen Autos? Prompt werde ich irgendwo die Erinnerung an meine erste Autofahrt abrufen und mich dann, Zeile um Zeile, bis zum Glückwunsch zum neuen Auto vorarbeiten. Ich soll Euch gratulieren, weil Eure Katze Junge bekommen hat? Schon grabe ich die Katze aus, die mein Vater mir erst geschenkt und mir dann, vom Miauen genervt, wieder weggenommen und an der Straße nach Secondigliano ausgesetzt hat. Ihr möchtet einen Beitrag für ein Buch über das heutige Neapel? Da nehme ich als Ausgangspunkt die Episode, als ich mich einmal aus Angst, einer aufdringlichen Nachbarin zu begegnen, die meine Mutter rausgeworfen hatte, nicht aus der Wohnung traute und ziehe dann Wort um Wort die Angst vor der Gewalt heraus, die einen heute anspringt, weil die alte Politik sich zwar ein neues Make-up auflegt, man aber gar nicht erkennen kann, worin das Neue, das wir unterstützen sollen, eigentlich besteht. Ich soll etwas schreiben zu dem dringenden Wunsch der Frauen, endlich zu lernen, die eigene Mutter zu lieben? Dann erzähle ich, wie meine Mutter mich als Kind fest an die Hand nahm, damit fange ich an – im Übrigen würde ich darüber tatsächlich gern schreiben, denn ich weiß noch genau, wie es sich anfühlte, wenn sie aus Angst, ich könnte mich losreißen und auf die holprige, gefährliche Straße laufen, meine Hand fest umklammerte, wobei ich ihre Angst spürte und selbst Angst bekam –, und dann finde ich garantiert einen Weg, um auf das Thema einzugehen und auch ein kunstgerechtes Zitat von Luce Irigaray oder Luisa Muraro einzuflechten. Ein Wort zieht das andere nach sich, eine Seite von banaler, eleganter, akkurater Kohärenz bringt man immer zusammen, zu jedem beliebigen Thema, egal ob anspruchslos oder anspruchsvoll, simpel oder komplex, nebensächlich oder grundsätzlich.

Was also soll ich tun, Eure Bitte einfach ablehnen und damit Menschen verprellen, die ich mag und denen ich vertraue? Das liegt mir nicht. Also habe ich ein paar Zeilen geschrieben, als Zeichen echter Hochachtung für den ehrenwerten Kampf, in dem Ihr Euch seit Jahren engagiert und der, glaube ich, heute noch schwerer zu gewinnen ist.

Hier also mein Beitrag, herzlichen Glückwunsch. Diesmal begnüge ich mich damit, über einen Kapernbusch zu schreiben. Keine Ahnung, was danach kommt. Ich könnte Euch leicht mit Erinnerungen, Gedanken, universellen Entwürfen überschütten. Nichts leichter als das. Momentan habe ich das Gefühl, ich könnte auf Bestellung über alles schreiben, über die Jugend von heute, die Schandtaten des Fernsehens, über Di Giacomo, Francesco Jovine, über die Kunst zu gähnen oder über einen Aschenbecher. Auf die Frage eines Journalisten, wie er zu seinen Geschichten komme, nahm Tschechow, der große Tschechow, den erstbesten Gegenstand, der ihm in die Finger fiel – ein Aschenbecher nämlich –, und sagte: Sehen Sie den hier? Wenn Sie morgen wiederkommen, gebe ich Ihnen eine Geschichte mit dem Titel Der Aschenbecher. Eine herrliche Anekdote. Aber wie und wann wird etwas so dringlich, dass man unbedingt darüber schreiben muss? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Schreiben auch eine deprimierende Seite hat, wenn die Absicht plötzlich zu durchsichtig wird. Dann klingt sogar die Wahrheit bisweilen künstlich. Deshalb möchte ich, um jedes Missverständnis zu vermeiden, hier noch einmal, ganz ohne Kapern oder sonstiges, ganz ohne Literatur, ausdrücklich betonen, dass meine Glückwünsche aufrichtig gemeint sind und von Herzen kommen. Bis bald,

Elena

An einem der vielen Häuser, in denen ich als junge Frau gewohnt habe, wuchs jedes Jahr ein Kapernbusch, an der Wand Richtung Osten. Die Wand bestand aus nacktem Stein, war schlecht verfugt, und es gab keinen Samen, der dort nicht seine Scholle fand. Doch insbesondere der Kapernbusch blühte und gedieh dort so prächtig und in so zarten Farben, dass er mir wegen seiner Kraft, seiner sanften Energie im Gedächtnis geblieben ist. Der Mann, der uns das Haus vermietete, mähte jedes Jahr mit der Sense alle Pflanzen nieder, doch vergeblich. Als er irgendwann die Wand ausbesserte, brachte er mit der Hand eine glatte Putzschicht auf und strich sie dann in einem grauenhaften Hellblau. Lange wartete ich zuversichtlich darauf, dass der Kapernbusch sich bekrabbeln, wieder ausschlagen und den eintönigen Putz sprengen würde.

Heute, wo ich meinem Verlag gratuliere, habe ich das untrügliche Gefühl, dass es wirklich passiert ist. Der Putz bekam Risse, der Kapernbusch konnte wieder austreiben. Deshalb wünsche ich dem Verlag e/o, dass er weiterhin gegen den Putz kämpft, gegen alles, was durch Übertünchen harmonisiert. Auf dass er stur von Jahr zu Jahr immer neue Blüten hervorbringe, neue Bücher in Form der Kapernblüte.

Der Anlass, auf den hier Bezug genommen wird, war das 15-jährige Bestehen der Edizioni e/o (1994). Der Text wurde in dem Katalog abgedruckt, den der Verlag anlässlich des Jubiläums herausbrachte.

4. Das verfilmte Buch

Lieber Sandro,

natürlich bin ich neugierig, ich kann es kaum erwarten, das Drehbuch von Martone zu lesen, und möchte Dich daher bitten, es mir sofort zu schicken. Allerdings befürchte ich, dass die Lektüre nur dazu dient, meine Neugier zu befriedigen, denn für mich bedeutet es, zu verstehen, was genau an meinem Buch Martone zu einer Verfilmung gereizt hat und noch reizt, welchen Nerv es bei ihm getroffen hat, wie es seine Phantasie angeregt hat. Ansonsten rechne ich eigentlich eher damit, in eine komische, ein bisschen peinliche Lage zu geraten: denn dadurch werde ich zwangsläufig zur Leserin eines fremden Textes, der eine Geschichte erzählt, die ich selbst geschrieben habe; anhand seiner Worte werde ich mir dann vorstellen, was ich mir schon einmal vorgestellt, gesehen und mit meinen Worten fixiert habe; und diese zweite Vorstellung wird zwangsläufig in einen – ironischen? tragischen? – Vergleich mit der ersten münden; ich werde also zur Leserin eines meiner Leser, der mir auf seine Art, mit seinen Mitteln, mit seiner Intelligenz und Sensibilität erzählt, was er in meinem Buch gelesen hat. Keine Ahnung, wie ich darauf reagieren werde. Aber ich befürchte, ich werde feststellen, dass ich über mein eigenes Buch wenig weiß. Ich befürchte, in dem Text eines anderen (ein Drehbuch ist zwar eine spezielle Form des Schreibens, erzählt aber trotzdem eine Geschichte) zu sehen, was ich wirklich erzählt habe und was mir womöglich missfällt; oder Schwächen zu entdecken; oder einfach festzustellen, was fehlt, was ich unbedingt hätte erzählen müssen, aber aus Unfähigkeit, Ängstlichkeit, selbstgewählter stilistischer Beschränkung oder oberflächlicher Betrachtung nicht erzählt habe.

Aber Schluss jetzt, ich will das nicht unnötig in die Länge ziehen. Denn ich muss gestehen, dass die Lust auf eine gänzlich neue Erfahrung stärker ist als alle kleinlichen Sorgen und Ängste. Ich glaube, ich werde es folgendermaßen machen: Ich lese den Text von Martone und ignoriere dabei einfach, dass es sich um eine Etappe auf dem Weg zu einer Verfilmung handelt; ich nutze die Arbeit und den Erfindungsreichtum eines anderen einfach als Gelegenheit zur weiteren Auseinandersetzung, und zwar nicht mit meinem Buch, das inzwischen ein Eigenleben führt, sondern mit der darin angesprochenen Thematik. Sag ihm bitte, wenn Du ihn siehst oder mit ihm telefonierst, dass er sich von mir auf keinen Fall einen fachlich hilfreichen Beitrag erwarten soll.

Ich danke Dir für Deine Mühe.

Elena

Der Brief vom April 1994 bezieht sich auf das Drehbuch von Mario Martone zur Verfilmung von Lästige Liebe. Martone schickte das Drehbuch mit einem Begleitbrief an die Ferrante. Danach entwickelte sich eine lebhafte Korrespondenz, die wir im Folgenden dokumentieren.