THEODUS CARROLL

 

DAS BÖSE IST

EIN LEISES WORT

 

 

 

Roman

 

 

Apex Horror, Band 27

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DAS BÖSE IST EIN LEISES WORT 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

Fünfundzwanzigstes Kapitel 

Sechsundzwanzigstes Kapitel 

Siebenundzwanzigstes Kapitel 

Achtundzwanzigstes Kapitel 

 

Das Buch

 

 

Als die dreizehnjährige Clarissa in das neue Haus ihrer Eltern zieht, fühlt sie sich einsam. Doch schon bald findet sie dort Spielgefährten: In den dunklen Schatten des alten Landsitzes flüstert und lacht sie mit den Zwillingen...

Niemand sieht Clarissas neue Freunde, niemand hört ihr grauenvolles Flüstern, und niemand weiß von den unaussprechlichen Dingen, zu denen sie das unschuldige Mädchen drängen – denn die Zwillinge sind bereits seit vielen Jahren tot...

 

Der Roman Das Böse ist ein leises Wort aus der Feder des US-amerikanischen Autors Theodus (Catherine) Carroll erschien erstmals im Jahre 1975. Der Apex-Verlag veröffentlicht diesen Roman als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe APEX HORROR.  

DAS BÖSE IST EIN LEISES WORT

 

 

 

 

 

 

Dieses Buch widme ich meinen Söhnen Michael und Randy.

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Max liebte das Haus mit seinen kühlen, ruhigen Winkeln. Es war ein gutes Gefühl, im länger werdenden Schatten der alten Mauern zu sitzen und Clarissa zuzusehen, die sich im Maisonnenschein badete.

Clarissa lief über den Ziegelweg an die efeuumrankte Fliegendrahttür und blickte in die Küche.

»Louise«, rief das Kind, »wann kommen sie denn?«

»Bald«, antwortete eine Stimme von drinnen. »Du musst noch etwas Geduld haben.«

Clarissa stieg die breiten Stufen zu der rückwärtigen Veranda empor. Sie betrachtete die blaugestrichene Holzdecke und das fächerförmige Fenster über der Tür, dann ließ sie den alten Messingklopfer gegen die Türfüllung donnern. Und noch einmal.

Max durchrieselte es angenehm von dem vibrierenden Ton. Er lachte und winkte ihr von der Zufahrt her zu.

»Sie kommen nicht«, schrie sie. »Du glaubst, sie würden kommen? Du bist ja dumm! Du weißt gar nichts!«

Sie lief ins Wohnzimmer, das aus zwei weiten Räumen mit einer Schiebetür dazwischen bestand. Die Tür war auf. Sonnenstrahlen drangen durch die Fenster und wurden von der hohen Decke zurückgeworfen. Clarissa ließ ihre Finger über die Tasten des Spinetts gleiten. »Niemand wird kommen«, flüsterte sie, verließ das Wohnzimmer, durchquerte die Diele und verschwand in ihrem Schlafzimmer.

Seit dem ersten Weihnachtsfest hier war Clarissa dem Zauber des Hauses verfallen. Wie schön war es, wenn im Winter die Sonne unerwartet durch die Wolken brach und die alten Eichen, deren Zweige an die Schlafzimmerfenster im zweiten Stock klopften, aus ihren Strahlen zitternde Schattenmuster zauberten! Am meisten liebte sie ihr eigenes Zimmer, dessen große Fenster auf die hintere Veranda hinausgingen. Sie erinnerte sich an eine Schneenacht im Februar, als sie im Bett lag und mit Entzücken unten am Fluss einen Zug vorbeifahren hörte, der das Haus beben und die Fensterscheiben klirren ließ. Der Mond warf sein Abbild auf die Spiegeltür, die in das Schlafzimmer ihrer Eltern führte. Angst hatte sie nachts nie gehabt. Das Haus jagte ihr keinen Schrecken ein. Bald nach dem Zug war sie glücklich eingeschlafen.

Das Haus war im Jahre 1826 von einem Flussschiffkapitän für seine junge zukünftige Frau erbaut worden. Am Tag vor der Hochzeit lief die Braut mit einem anderen Mann davon. In seiner Verzweiflung ließ der Kapitän das Haus verschließen, und es blieb fünfunddreißig Jahre lang bis zum Tod des Kapitäns unbewohnt. Dann wurde es an eine Familie mit zwei Kindern, einem Mädchen und einem Jungen, verkauft. Es hatte eine Reihe weiterer Eigentümer, bis Clarissas Eltern das Haus samt einer von den zweiten Besitzern errichteten Remise erwarben.

Das Haus lag auf einem Hügel über dem Fluss, den man von den beiden rückwärtigen Veranden aus über gestutzte Eibenhecken hinweg sehen konnte. Über eine Außentreppe und diese Veranden kam man in das große Wohnzimmer mit der Schiebetür, Clarissas Zimmer und das Schlafzimmer ihrer Eltern. Die Front aus Steinen und weißen Balken blickte auf eine lange Zufahrt, die zur Straße führte. Von dort aus wirkte das Haus mit seinen beiden weißen Säulen, die sich auf den Stufen zur Vorderveranda erhoben, täuschend klein. Küche und Anrichte, in den Hang hineingebaut, wurden von blühendem Berglorbeer und Rhododendren teilweise verdeckt. Speise- und Arbeitszimmer im Erdgeschoss öffneten sich auf die untere Hinterveranda und einen prächtigen steinernen Fischteich im Garten.

Clarissa warf ihren rosa Pullover auf das Bett und stieg die Treppe hinab in die ländliche Küche, wo Louise am Spülstein saß und Äpfel schälte.

»Wie spät ist es? Müssten sie nicht schon längst hier sein?«

»Lass man«, antwortete Louise. »Wenn es eine Party gibt, bleiben Kinder nie weg.« Sie schnitzelte die Äpfel in eine gelbe Schüssel und spülte sich die Hände unter dem Wasserhahn ab.

»Sie werden nicht kommen«, behauptete Clarissa. »Sie mögen das Haus nicht.«

»Unsinn.« Louise drückte das Mädchen und küsste es auf die glatte Stirn. »Das ist ein Kuss zu deinem dreizehnten Geburtstag. Nun lauf, sie werden gleich da sein. Es ist beinahe halb drei.« Sie steckte Clarissa ein paar Apfelstücke zu.

Clarissa ging durch das Speisezimmer an die Hintertür. Der rote Ziegelfußboden der unteren Veranda fühlte sich kühl unter ihren Füßen an. Sie erschauerte. Im Schatten stehend, beobachtete sie Max, der auf dem Rasen Tische und Stühle aufstellte. Sie sah es so gern, wenn er mit seinen kräftigen Armen Zugriff. Einmal hatte sie seinen Arm berührt und war überrascht gewesen, wie fest sich die Muskeln unter den wolligen dunklen Haaren auf seiner Haut anfühlten.

Ihr Blick glitt über den Fischteich, die abfallende Terrasse und die Eibenhecke an deren Ende. Plötzlich wurde es ihr auf der unteren Veranda zu kalt-. Mit kindlichem Temperament rannte sie über den Rasen und warf sich auf eine der Bänke.

»Deine Gäste werden bald hier sein«, meinte Max und lächelte.

Clarissa hob das glatte blonde Haar von ihrem Nacken. »Weißt du schon, dass der Hartriegel blüht?«, fragte sie. »Der ganze Berg bis zum Fluss hinunter ist ein Blütenmeer. Die meisten sind weiß, aber es sind auch rosafarbene dabei. Wußte meine Mutter, wie dumm du bist, als sie dich angestellt hat? Ich möchte wetten, sie wusste es nicht. Sie hört einem nie zu. Wenn du also einfach still gewesen bist, hat sie dich bestimmt für intelligent gehalten. War das so, Max? Hast du geschwiegen, um sie nichts merken zu lassen?«

Max setzte sich auf die gegenüberliegende Bank. »Der Hartriegel blüht seit gestern«, stellte er ruhig fest. »Was hast du da in der Hand?«

Clarissa zeigte ihm die Apfelstücke. »Willst du eins?« Er nahm sich ein Stück.

»Ich glaube, ich bin froh darüber, dass du diesen Sommer wieder hier arbeitest«, verkündete sie. »Es wäre schrecklich, wenn ich niemanden als Louise hätte. Mit älteren Damen hat man nie irgendwelchen Spaß.«

»Du hast sie noch nicht Blindekuh spielen sehen.«

»Du willst mir nur nicht Recht geben.«

»Louise nimmt ihre Pflichten sehr ernst. Sie hat eine Schachtel mit Gewinnen für die Spiele heute Nachmittag fertiggemacht.«

Clarissa aß das letzte Apfelstück und wischte ihre Hände am Gras ab. »Ohne dich wäre es hier ziemlich langweilig, Maxie. Für einen ausgeflippten Dreißigjährigen bist du recht interessant. Und der Garten sieht hübsch aus. Die Zwiebeln, die du im Herbst gesetzt hast, machen sich wirklich gut.«

Ein Wagen bog in die Abzweigung ein, und Clarissa rannte auf die Zufahrt. Der Schulbus war angekommen.

Max ging in die Küche, um Louise zu helfen. Die Anrichte stand voller Tabletts mit Sandwiches und Bandrosetten.

»Da schicken sie uns acht kleine Mädchen, und wir haben genug Kuchen, um zwanzig abzufüttern.« Louise löffelte Zucker in eine große Karaffe mit rosafarbener Limonade, holte Eis aus dem Kühlschrank und steckte die Würfel ebenfalls hinein.

»Das hat nichts zu bedeuten.« Max ergriff die Kristallkaraffe. »Die Schuldirektorin würde doch Clarissas Geburtstagsparty nicht absichtlich verderben.«

»So? Es ist zwar schon eine ganze Reihe von Jahren her, aber die Leute haben immer noch nicht vergessen, was in diesem Haus vorgegangen ist... Und gerade Kinder...«

»Komm, komm, Lou.« Max kniff sie in die Wange. »Hol deine Überraschungen!«

Louise öffnete den Eckschrank und nahm die Schachtel mit Gewinnen, die sie vorbereitet und in buntes Papier gewickelt hatte. »Na schön. Gehen wir.« Sie machte sich auf den Weg zur unteren Veranda.

Die Mädchen saßen rings um den Fischteich und sahen Clarissa zu, die mit einem Stock in den Wasserlilien herumstocherte.

»Du wirst die armen Kaulquappen nur umbringen«, rief Louise. »Lasst uns etwas Netteres spielen.« Sie lächelte den Mädchen freundlich zu. »Ich melde mich freiwilliges Blindekuh.«

Max band ihr ein gefaltetes Taschentuch um die Augen, drehte die dicke Frau zweimal im Kreis herum und dirigierte sie weg von dem Teich auf den offenen Rasen zu. Die Mädchen quietschten und rannten hinter die niedrigen Hecken.

Max hatte seine Freude an den jungen Mädchen in ihren hellen Sommerkleidern, und vor allem an Clarissa. Sie sprang mehrmals dicht an Louise vorbei und forderte geradezu heraus, gefangen zu werden. Aber plötzlich sonderte Clarissa sich ab und ging auf die Gruppe großer Eichen zu, die an der Kurve der Zufahrt standen. Das Mädchen stand dort allein, ein Schatten unter den knospenden Bäumen, und irgendetwas fesselte ihre Aufmerksamkeit. Max rief nach ihr. Dort war nichts; er konnte sehen, dass sie ganz allein an einem Stamm lehnte. Aber er rief trotzdem, denn irgendetwas beunruhigte ihn.

Clarissa drehte sich nach ihm um und winkte. Doch in diesem Augenblick kündigte Louise an, alle sollten an den Tisch kommen.

Als Kuchen und Eis verzehrt waren und der Limonadenkrug viermal nachgefüllt worden war und als alle Spiele gespielt und alle Preise verteilt waren, setzten Max und Louise sich zum Ausruhen auf die Bank der unteren Veranda.

Obwohl Louise einen roten Kopf hatte und schwitzte, zog sie ihre dicke Strickjacke enger um sich. »Es ist kalt hier«, meinte sie. »In diesem Haus gibt es Ecken, wo man erfrieren kann, und diese Veranda mit ihrem roten Ziegelboden ist auch so eine.« Sie machte Anstalten, in den Sonnenschein zurückzukehren.

Max berührte ihren Arm. »Ich möchte mit dir über Clarissa sprechen.«

Louise ließ sich wieder auf die Bank sinken und sah ihn erwartungsvoll an.

»Warum kann sie nicht mit den anderen Mädchen im Internat wohnen?«

»Weil ihre Mutter nicht allein sein will. Sie sagt zwar, das Kind braucht ein Heim, und es wird sich in einem Internat einsam fühlen. Aber der wirkliche Grund ist, dass sie das Kind bei sich behalten möchte. Wo der Herr so viel reist, möchte sie nicht allein sein.«

Louise sah hinaus auf den Rasen, wo die Kinder wieder zu spielen begonnen hatten. Schließlich fuhr sie fort: »Und dann reist Mrs. Stackpole ihrem Mann nach Aruba nach und überlässt das Kind in diesem großen Haus sich selbst. Das kommt mir nicht recht vor... Sieh dir Clarissa an, wie sie da mit ihren Freundinnen herumspringt. Sie ist die Hübscheste und die Klügste. Natürlich sind wir beide da und kümmern uns um sie, aber sie braucht die Gesellschaft von Mädchen in ihrem Alter. Sie ist noch ein Kind. Sie muss Spielgefährten haben. Die Schuldirektorin sagt, die Mädchen können nur bei besonderen Gelegenheiten, wie einer Geburtstagsparty, herkommen. Was soll Clarissa in der übrigen Zeit so ganz allein anfangen?«

»Ihre Eltern kommen in drei Wochen nach Hause«, erwiderte Max. »Sie werden nicht wollen, dass sie den ganzen Sommer ohne Freundinnen verbringt.«

Louise nestelte an ihrer Strickjacke. »Du glaubst immer nur das Beste von den Leuten. Wahrscheinlich werden sie einen Lehrer anstellen, der ihr irgendeine Sprache beibringen muss, die sie nie brauchen wird.«

»Clarissa ist heute Nachmittag allein weggegangen«, berichtete Max. »Nur für eine Minute. Als hätte jemand ihren Namen gerufen... aber keiner...«

»Hör auf!« Louise erhob sich unvermittelt. »Ich habe nie an diese Geschichten geglaubt, und ich habe keine Lust, darüber zu sprechen. Du solltest auch gescheiter sein, als etwas aufzurühren, was längst vergessen ist.«

Max schloss die Augen und versuchte, seine Gedanken zu sammeln. »Ich hatte so ein komisches Gefühl dabei. Ich wollte, Clarissas Eltern wären hier. Dann sähe alles anders aus.«

»Wieso sähe dann alles anders aus? Was haben ihre Eltern damit zu tun? Nichts wird geschehen nach all diesen Jahren.«

Louise marschierte über den Rasen davon, denn der Schulbus war angekommen, um die Mädchen ins Internat zurückzubringen. Die Party war zu Ende.

Es wurde dämmerig. Max, Clarissa und Louise räumten die Teller und die Leinenservietten zusammen und trugen das übriggebliebene Essen in die Küche.

Die Dunkelheit brach schnell herein. Im Gras begannen die Grillen zu zirpen.

Clarissa und Louise standen zusammen auf dem Rasen und falteten das lange weiße Tischtuch zusammen. »Wer waren die Zwillinge?«, fragte Clarissa. »Wer waren der Junge und das Mädchen, die nicht mit uns spielen wollten?«

Louise drückte das Tischtuch an sich.

»Sie waren gar nicht nett zu mir«, fuhr Clarissa fort. »Sie wollten beide nicht mit mir reden.«

Louise sandte Max einen Blick zu. Ihre Lippen waren fest aufeinandergepresst. »Es waren keine Zwillinge da, Kind. Es ist nicht hübsch; wenn kleine Mädchen etwas erzählen, was nicht stimmt. Niemand war da...« Sie eilte davon und verschwand im Haus.

Max und Clarissa hörten die Fliegendrahttür zufallen, und dann strahlte das weiche Licht der Wohnzimmerlampen auf.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

 

Eines Nachmittags in der letzten Maiwoche kniete Max neben einem Beet gelber Narzissen und säuberte dessen Rand von abgestorbenem Gras und Unkraut. Er arbeitete sich nach und nach bis zum hinteren Ende des Gartens und dem Hügel über dem Fluss vor, wo kleine Tulpen, Hyazinthen und Krokusse blühten.

Der Schulbus bog in die Zufahrt ein, und Clarissa stieg aus. Sie schlenkerte ihre mit einem Lederriemen zusammengebundenen Bücher. Als sie die Stufen zu der unteren Veranda hinunterspringen wollte, rief Max sie.

Sie lief über den Rasen bis an die Stelle, wo er unter einem Holzapfelbaum arbeitete.

»Bin ich froh, dass jetzt erst mal alles vorbei ist!«, erklärte sie.

»War heute der letzte Tag?«

»Der letzte für alle Zeiten. Ich hasse diese Schule.«

»Es gibt andere. Bitte doch deine Eltern, sie sollen dich - in eine andere Schule schicken.«

»Max, bist du eigentlich mit einem niedrigen Intelligenzquotienten geboren? Warum bist du so felsenfest davon überzeugt, die Schule sei die Antwort auf alle Probleme? Nun sag mal, was hat dir denn die Schule genützt? Ich hasse die Schule, und ich werde nie wieder hingehen.«

Max lachte. »Du hast das Kribbeln.«

»Was ist das?«

»Der Frühling steckt dir im Blut. Die Vögel fangen dann an, ihre Nester zu bauen. Die Luft ist weich, aber irgendwie aufregend.« Er grinste. »Zum Teufel, du weißt schon, was ich mit Kribbeln meine.«

Clarissa legte sich der Länge nach ins Gras und stopfte sich ihre Bücher unter den Kopf. »Du darfst in meiner Gegenwart nicht fluchen«, tadelte sie. »Wenn du diesen Sommer hier leben willst, musst du das Fluchen sein lassen.«

»Okay.« Er hockte sich neben sie ins Gras. »Ich werde nicht mehr fluchen, und du wirst dich an die Schule gewöhnen.«

»Ich habe bereits gesagt, ich werde nicht wieder hingehen. Sie sind auch nicht zur Schule gegangen. Ihr Vater hat sie unterrichtet.« Clarissa schenkte Max ein strahlendes Lächeln. »Das ist übrigens eine Idee. Du kannst mich unterrichten. Du wirst ganz allein mein Privatlehrer sein. Bestimmt könntest du mir eine Menge beibringen.«

»Ich weiß Bescheid über Pflanzen. Ich könnte dir beibringen, wann man Zwiebeln stecken muss.«

Clarissa rollte sich auf die Seite und stützte sich auf einen Ellbogen. »Sind das hier Erdbeerpflanzen?«

»Warte mal. Wer ist nicht zur Schule gegangen?«, erkundigte Max sich verwirrt.

»Warum kannst du nicht beim Thema bleiben?« Ihre blauen Augen funkelten ihn an. »Sie sind nicht zur Schule gegangen. Die Zwillinge, von denen ich dir an meinem Geburtstag erzählt habe. Ihr Vater unterrichtete sie, und er hatte eine Tafel und Kreide. Ich trage meine Bücher so wie sie. Siehst du?« Clarissa hob die Bücher an dem Lederriemen hoch. »Miss Wilson sagt, ich müsse eine Tasche benutzen, weil der Riemen die Einbände verdirbt. Aber ich höre nicht auf sie. Mir gefällt der. Riemen besser.«

Clarissa ließ sich wieder auf den Rücken sinken. »Sieht der Himmel über den Zweigen nicht wunderschön aus? Sogar die Vögel wirken ganz anders. Es ist ein herrlicher Ausblick. Leg dich heben mich, Max, und sieh selbst

»Clarissa... du weißt doch, dass hier im Haus keine anderen Kinder sind.«

Sie sah den neben ihr sitzenden Max an. »Wer hat gesagt, sie seien hier im Haus?«

»Hör auf, mich zum besten zu halten.«

»Ich halte dich nicht zum besten!« fuhr sie ihn an. »Du weißt schon die ganze Zeit, dass sie hier sind. Warum gibst du es nicht zu?« Sie setzte sich hoch und schüttelte ihr langes Haar zurück. »Ich lüge nicht!«

»Ich habe nie gesagt, du würdest lügen.«

Clarissa zupfte lose Grashalme von ihrem Rock und blickte den Hang hinunter zum Fluss. »Ich mag sie gern«, gestand sie leise. »Jetzt reden sie mit mir, und wir sind Freunde geworden. Sie erzählen mir wunderschöne Geschichten über dies Haus.« Langsam stieg in ihrer Stimme eine Art Begeisterung auf. »Wenn ihre Großmutter eine Gesellschaft gab, standen die ganze Zufahrt entlang Pferdekutschen. Die Zwillinge benutzten genau wie wir die untere Veranda, aber die Gäste gingen alle die Stufen hoch und dann in den Ballsaal hinein. Die untere Veranda war für die Dienstboten und die Zwillinge. Man nennt diesen Haustyp ein englisches Sockelhaus, haben sie mir gesagt.«

Clarissas Augen versprühten blaues Feuer. »Die Gesellschaften fanden oben in dem Doppelzimmer statt. Und im Mai war die Zufahrt mit Tausenden von Tulpen eingesäumt. Auf den schwarzen Tulpen sah man den Staub, den die Kutschen auf wirbelten.«

»Wann haben sie dir das erzählt?«

»Seit meinem Geburtstag. Sie wissen, wie es ist, wenn man nie Freunde hat.« Ihr Blick faszinierte Max. »Und sie sprechen mit niemandem außer mit mir.«

Max betrachtete ihr glattes Gesicht und das lange helle Haar, das ihre Schultern umspielte. »Warum hast du keine Freunde? Den Mädchen von der Schule hat es doch auf deiner Party gefallen. Lade sie wieder ein.«

»Die dummen Gänse aus dem Internat haben Angst vor diesem Haus. Sie sind auch komisch gegen mich, weil ich hier wohne.«

Max überkam das bekannte Gefühl geistiger Verwirrung. Die Unterhaltung war zu kompliziert für ihn. Was gab es an dem Haus zu fürchten? »Hast du irgendwem von den Zwillingen erzählt?«

»Oh, nein!« Plötzlich rückte sie ein Stück auf ihn zu und hielt ihr Gesicht nahe an seins. »Niemand darf es erfahren. Nur du. Sie sagten, mit dir dürfe ich darüber reden.«

»Mit Louise nicht?«

»Besonders mit Louise nicht. Sie würde es nicht verstehen.«

»Ja.« Max stieß den angehaltenen Atem aus. »Louise würde sich Sorgen machen. Wir wollen vor Louise nichts verheimlichen, aber dass sie sich Sorgen macht, das wollen wir auch nicht. Setz dich gerade hin«, befahl er. »Ich will dir etwas sagen, was ein Geheimnis zwischen uns beiden sein soll.«

Clarissa zog sich von ihm zurück, setzte sich gerade hin und kreuzte die Beine unter dem Rock.

In der Stille des späten Nachmittags hörten sie einen Lieferwagen in die Zufahrt einbiegen. Der Kies knirschte unter seinen Reifen. Er hielt, und ein großer, dünner Mann stieg aus. Er schien etwa in einem Alter mit Max zu sein. Er winkte ihnen zu, und dann kam er den grasbewachsenen Abhang hinunter, an dem Fischteich vorbei und auf den Holzapfelbaum zu.

»Was hast du in der letzten Zeit getrieben, Max?«, rief der Mann, während er sich langsam näherte. Die Schatten der Apfelblätter und -blüten tanzten über sein Gesicht. Er schnippte einen Zigarettenstummel in den Garten. »Lange nicht gesehen. Wie geht's?« Er sah auf Clarissas schlanke Beine.

Max stand hastig auf und klopfte sich Grashalme von seinen Jeans. »Kennst du Mr. Clover schon, Clarissa?«

Clarissa erhob sich. »Clovers Futtermittelgeschäft?«

»Arnold Clover ist mein Name. Nennen Sie mich einfach Arnie, kleine Lady.«

Clarissa blinzelte im Sonnenschein, Dann bückte sie sich und zog ihre Kniestrümpfe hoch.

»Wollte in den nächsten Tagen bei dir reinschauen«, wandte Max sich an Arnold Clover. »Wir könnten einen Rasensprinkler gebrauchen.«

»Kaufen oder mieten?«

»Mieten. Mr. Stackpole kommt erst in ein paar Wochen wieder nach Hause. Ich brauch' den Sprinkler gleich.«

»Ich hab' einen im Wagen.« Arnold Clover machte sich in Richtung der Zufahrt auf den Weg. »Den kannst du haben, wenn du willst.«

Sie gingen über den Rasen.

»Die Blaugrasmischung, nach der du gefragt hast, ist heute Morgen reingekommen«, berichtete Arnold. »Die ist gut für alle schattigen Stellen.«

An dem Lieferwagen angekommen, ließ Max die hintere Klappe herunter und nahm den kleinen Sprinkler heraus. »Danke«, sagte er. »Morgen hole ich mir den Grassamen und etwas Düngemittel. Im Augenblick brauche ich mal bloß das gute Stück hier.«

Arnold zog einen Beutel auf, streute Tabak auf ein Papierchen, rollte es zusammen und klebte die Kante mit Spucke fest. Er zündete die Zigarette an, paffte ein paarmal und warf das Streichholz weg. »Lou hat wohl keinen Kaffee aufm Herd?«

»Louise ist gerade weg«, erklärte Max. »Sie besucht ihre Schwester. Aber sie müsste bald zurückkommen.«

»Ich komme mal wieder vorbei«, meinte Arnold und lächelte Clarissa an. »Nett, Sie kennengelernt zu haben, kleine Lady.« Er stieg in seinen Lieferwagen ein. »Lass dich bald mal im Laden blicken, Max.« Er ließ den Motor an, winkte und bog um die Ecke.

Clarissa wandte ihren Blick ab. Mit dem Fuß bohrte sie nach Unkraut, das aus einem Riss im Zement wuchs. »Ich mag diesen Mann nicht.«

»Warum nicht?«, fragte Max. »Arnold ist ganz harmlos.«

»Harmlos und primitiv. Und du wirkst genauso primitiv, wenn du mit ihm sprichst. Sogar dein Englisch ist primitiv. Warum drückst du dich so aus?«

Max entfernte den Sprinkler von der Fahrbahn. »Du solltest toleranter sein, Clarissa. Die Menschen sind nun einmal verschieden. Arnie ist ein einfacher Dorfbewohner. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Er hat ein hübsches, einträgliches Geschäft.«

»Müssen wir Grassamen und all das bei ihm kaufen? Können wir nicht in die Stadt fahren, und wenn es nur ein einziges Mal wäre?«

Max überlegte. »Das könnten wir natürlich machen.«

Clarissa zog eine Haarsträhne von ihrer Wange. »Jetzt gleich?«

»Sobald wir für Louise einen Zettel hingelegt haben.«

Max fand ein Stück Papier in seiner Brieftasche und schrieb in sorgfältig gemalten Buchstaben eine Nachricht darauf. Das zusammengefaltete Papier legte er unter einen Geranientopf auf den Verandastufen. Clarissa wartete ungeduldig. Dann fuhren sie in Max' altem Ford Kombi los. Sie nahmen die Straße, die am Fluss entlangführte.

Clarissa rutschte auf dem harten Ledersitz hin und her und zog ihre Kniestrümpfe hoch. »Wir sollten die alte Laterne ausgraben«, meinte sie.

»Welche Laterne?«

»Sie ist in der Remise unten an der Straße unter Sägemehl und Trödel vergraben. Das Dach wird bald einstürzen. Sie ist wunderschön - die Laterne, meine ich -, lauter geschliffenes Glas und Kupfer und beinahe so groß wie dieser Sitz hier.« Wieder rutschte sie hin und her.

»Wann hast du sie gesehen?«

»Ich habe sie nicht gesehen. Sie haben mir davon erzählt. Sie schrieben ihrer Mutter Nachrichten und versteckten sie in der Laterne. Als sie hier lebten, stand die Laterne auf einem eisernen Pfahl, der an der Zufahrt in der Nähe der hinteren Veranden eingelassen war.«

Max konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die schlechte Straße. Schweigend saßen sie nebeneinander. Der Wagen holperte über die Unebenheiten.

»Max, was für ein Geheimnis wolltest du mir sagen, als Mr. Clover auftauchte?«, erinnerte ihn Clarissa.

Max fuhr den Kombi auf die Seite und hielt an. Die Nachmittagssonne brannte. Eine Fliege stieß vergeblich immer wieder gegen die Innenseite der Windschutzscheibe.

»Wer hat dir von den Kindern erzählt?«, forschte er. »Ich meine, bevor du sie gesehen hast.«

»Niemand.«

»Lüg mich nicht an.«

»Für einen Schwachsinnigen schaffst du es sehr gut, genau wie alle Leute zu reden.« Clarissas blaue Augen funkelten vor Zorn. »Die Leute stellen einem blöde Fragen, und dann behaupten sie, man lüge, wenn man ihnen die Wahrheit antwortet.« Sie begann zu weinen.

»Okay, ich glaube dir ja.« Er berührte eine nasse Stelle auf ihrer Wange. »Was für Fragen stellen die Leute?«

»Über das Haus. Sie sagen, ehe wir einzogen, wollte Jahre und Jahre niemand drin wohnen.« Sie wischte sich die Tränen mit dem Rocksaum ab. »Die Kinder in der Schule fragen mich, wie es ist, wenn man hier wohnt. Sie fragen, ob ich keine Angst habe. Aber das ist alles. Niemand weiß von meinen Freunden. Ich habe dir doch gesagt, dass ich niemandem von ihnen erzählt habe. Nicht einmal Louise, außer an meinem Geburtstag, als ich sie das erste Mal gesehen habe. Weißt du noch, wie komisch Louise sich benahm, weil ich sagte, sie hätten nicht mit mir reden wollen?« Sie kicherte.

»Ja«, antwortete Max. »Das ist der Grund, weshalb ich dir das Geheimnis verraten möchte.«

Clarissas Augen strahlten in blauem Feuer.

»Louise und all die anderen Leute haben Geschichten von zwei Kindern gehört, die vor vielen, vielen Jahren in diesem Haus gewohnt haben. Und manchmal...« Er suchte nach passenden Worten, gab sich Mühe, sich die Geschichte ins Gedächtnis zurückzurufen. »Nun, niemand hat sie jemals wirklich gesehen. Manchmal hat ein Kind es behauptet - du weißt schon, auf dem Weg von der Schule sei es an dem Haus vorbeigekommen, und da habe es sie gesehen, und das war so eine Art Wichtigmacherei. Vielleicht hat sie irgendwann einmal ein Kind auch tatsächlich gesehen...«

»Ich weiß«, unterbrach Clarissa ihn. »Sie haben mir von diesen anderen Kindern erzählt. Sie sagten, Louise würde ohnmächtig Umfallen, wenn sie es erführe. Aber nie haben sie mit einem von den andern Kindern Freundschaft geschlossen, und jetzt fühlen sie sich einsam.«

»Ja.« Max war bestürzt. Clarissas süßes Gesicht war so jung und unschuldig. »Sie haben dich auserwählt.«

Er ließ den Motor an und fuhr weiter auf der alten Flussstraße. Die Sonne glitzerte auf dem Wasser. Es war schön, an dem dahinströmenden Fluss entlangzufahren. Die Straße war schmal; wie hier die meisten weit von der Stadt entfernten Straßen war sie nur für Pferdewagen angelegt. Sie kamen an verschiedenen verfallenen Bauernhäusern vorbei. Die Höfe waren zu weit von den umliegenden Märkten oder einer Transportmöglichkeit entfernt, um Gewinn abzuwerfen. Neben der Straße lief der Schienenstrang der früheren Ohio-Bahn her. Die Schwellen waren von Unkraut überwuchert, und die Schienen waren mit Rost bedeckt.

»Was meinst du, warum sind die Schienen so verrostet?«, fragte Clarissa.

»Weil sie nicht mehr befahren werden.«

»Werden sie aber. Ab und zu kommt hier ein Zug vorbei. Manchmal höre ich ihn, wenn ich nachts im Bett liege. Das ganze Haus bebt, und die Fensterscheiben klirren. Sie sagten mir, es sei die Dampflokomotive nach Pittsburgh oder in entgegengesetzter Richtung nach West Virginia.«

Max sah sie an und lachte laut heraus. Clarissa wickelte eine blonde Haarsträhne um ihre Nase und schnitt den Kühen, die neben der Straße weideten, Grimassen.