Martin Sack

Individualisierte Psychotherapie

Ein methodenübergreifendes Behandlungskonzept

Impressum

Prof. Dr. med. Martin Sack

Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Klinikum rechts der Isar

Langerstr. 3

81675 München

m.sack@tum.de

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Die Medizin unterliegt einem fortwährenden Entwicklungsprozess, sodass alle Angaben, insbesondere zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren, immer nur dem Wissensstand zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches entsprechen können. Hinsichtlich der angegebenen Empfehlungen zur Therapie und der Auswahl sowie Dosierung von Medikamenten wurde die größtmögliche Sorgfalt beachtet. Gleichwohl werden die Benutzer aufgefordert, die Beipackzettel und Fachinformationen der Hersteller zur Kontrolle heranzuziehen und im Zweifelsfall einen Spezialisten zu konsultieren. Fragliche Unstimmigkeiten sollten bitte im allgemeinen Interesse dem Verlag mitgeteilt werden. Der Benutzer selbst bleibt verantwortlich für jede diagnostische oder therapeutische Applikation, Medikation und Dosierung.

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Schattauer

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Alle Rechte vorbehalten

Umschlagabbildung: August Macke: Dame in grüner Jacke

Lektorat: Mihrican Özdem

Projektmanagement: Dr. Nadja Urbani

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-43192-6

E-Book: ISBN 978-3-608-11065-4

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20379-0

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Vorwort

Individualisierte Psychotherapie ist eine praxisorientierte Methode zur Diagnostik, Therapieplanung und Steuerung der Behandlung mit dem Ziel, diese dem individuellen Bedarf und der persönlichen Situation der Patienten anzupassen.

Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, dass in psychotherapeutischen Behandlungen individuelle Behandlungserfordernisse diagnostisch geklärt werden und in die Planung und Durchführung der Therapie eingehen. Tatsächlich wird Psychotherapie jedoch zunehmend – einem medizinischen Behandlungsmodell folgend – als standardisierte, auf gezielte Reduktion von Beschwerden ausgerichtete Intervention verstanden, analog etwa der Verordnung von Medikamenten mit einer definierten Zielsetzung und Wirksamkeit.

Aktuell gelten störungsorientierte und empirisch nachweislich wirksame Therapiemethoden als Goldstandard der psychotherapeutischen Behandlung. Die von den medizinischen und psychotherapeutischen Fachgesellschaften erarbeiteten Behandlungsleitlinien spiegeln die Ausrichtung an störungsorientierten Methoden wider. So sollte beispielsweise ein Patient mit einer Persönlichkeitsstörung eine speziell auf das Störungsbild ausgerichtete psychotherapeutische Behandlung erhalten, da diese nach den Kriterien der empirischen Evidenz als am besten wirksam eingeschätzt wird. Als evidenzbasierte, störungsspezifische Therapie käme dann beispielsweise eine Behandlung mit Dialektisch Behavioraler Therapie (DBT) auf Grundlage eines standardisierten Behandlungsmanuals infrage. Allerdings gibt es nicht nur eine, sondern neben der DBT drei weitere, von den Fachgesellschaften gleichrangig als wirksam empfohlene störungsspezifische Therapien zur Behandlung von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen. Diese sind die Übertragungsfokussierte Therapie (TFP), die Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) und die Schematherapie (Renneberg et al. 2010).

Welche störungsorientierte Therapie ist nun am besten wirksam und sollte eingesetzt werden? Macht es überhaupt Sinn, so zu fragen? Die Ergebnisse von Therapiestudien erlauben ja keine Aussage darüber, ob die Behandlung auch im individuellen Fall wirksam sein wird, und sind daher nicht einfach auf die Behandlungsplanung einzelner Patienten zu übertragen. Wäre es nicht sinnvoller zu überlegen, welche individuellen Behandlungserfordernisse im Einzelfall vorliegen und welche spezifische Zielsetzung sich daraus für die Therapie ergeben? Zudem sind bei der Wahl von Behandlungsmethoden auch Vorlieben des Patienten und das vorhandene Therapieangebot mit zu berücksichtigen.

Entgegen einer häufig vertretenen Auffassung haben manualisierte Therapien keine bessere Wirksamkeit als Behandlungen, die nicht einem festen Standard folgen (Truijens et al. 2019). In einer umfassenden Auswertung von Studien zu Wirkfaktoren von Psychotherapie kommen Norcross und Wampoldt (2011) zu der Empfehlung, die Behandlung an individuelle Behandlungsbedürfnisse anzupassen, um die Wirksamkeit von Psychotherapie zu verbessern. Zudem gibt es erste Hinweise darauf, dass individualisierte Behandlungen auch im klinischen Einsatz besser wirksam sind (Weisz et al. 2012).

Viele Psychotherapeuten setzen Methoden und Techniken flexibel und auf die individuellen Behandlungserfordernisse ihrer Patienten zugeschnitten ein. Die Anpassung der Therapie an die Bedürfnisse der einzelnen Person geschieht allerdings meist erfahrungsgeleitet und intuitiv. Eine detaillierte Beschreibung einer Methode zur Individualisierung von Psychotherapien, die das gesamte Spektrum an Therapieverfahren und Methoden einbezieht, war bisher nicht verfügbar. Diese Lücke zu schließen, ist Anliegen des vorliegenden Buches.

Individualisierte Psychotherapie ist ein Therapieschulen und Therapiemethoden übergreifendes Modell von Psychotherapie. In ähnlicher Absicht hat der Psychotherapieforscher Klaus Grawe in drei voluminösen Büchern (Grawe 1998; 2004; Grawe et al. 1997; Grawe 2004; 2007) eine »Allgemeine Psychotherapie« beschrieben. Hierfür hat Grawe die vorhandenen Studien zur Wirksamkeit psychotherapeutischer Behandlungen einer sehr umfassenden Metanalyse unterzogen. Aufgrund der empirischen Analyse der vorhandenen Daten gelang es, fünf grundlegende Wirkfaktoren der Psychotherapie herauszuarbeiten: therapeutische Beziehung, Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung, motivationale Klärung und das Erarbeiten einer Bewältigungsperspektive.

Grawes Allgemeine Psychotherapie hat sich, trotz vieler Vorzüge, nicht als ein für alle Psychotherapien verbindliches und schulenübergreifendes Therapiemodell durchsetzen können. Dies mag zum Teil daran liegen, dass behandlungspraktische Aspekte konzeptuell nur wenig berücksichtigt wurden. Grundsätzlich betrachtet ist es allerdings problematisch, Psychotherapie primär aus einer empirisch-wissenschaftlichen Perspektive zu begründen. Empirisch kausale Zusammenhänge und daraus abgeleitete allgemeine Aussagen lassen sich, wie schon gesagt, nicht direkt auf den einzelnen Behandlungsfall übersetzen. Hinzu kommt, dass bei der Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Probleme in der Regel eine Vielzahl ursächlich bedingender Faktoren eine Rolle spielen und damit ein vereinfachender und objektivierender Zugang an Grenzen stößt.

Das Konzept einer Individualisierten Psychotherapie beschreitet einen anderen Ansatz und geht von der praktischen Anwendung von Psychotherapie aus. Eine Klärung der für die Planung einer Psychotherapie relevanten Bedingungen macht schnell deutlich, dass sowohl ein objektivierender Zugang zur Problematik der Patienten als auch Methoden zur Klärung subjektiver und individueller Bedingungen des Krankseins erforderlich sind. Ein von der Praxis ausgehendes Modell einer »allgemeinen« Psychotherapie muss insbesondere auch beschreiben können, wie subjektives Erleben und individuelle Erfordernisse diagnostisch erkannt werden können und in einen Behandlungsplan integriert werden können, der gleichzeitig die fachlich notwendigen und störungsbezogenen Zielsetzungen berücksichtigt.

Anliegen dieses Buches ist es, die gesamte Vielfalt der Psychotherapie mit ihrem Reichtum an theoretischen Perspektiven, Methoden und Techniken im Rahmen eines übergreifenden Behandlungsmodells einzubeziehen, wobei der individuelle Behandlungsbedarf und die grundlegenden Zielsetzungen der Therapie richtungsweisend im Vordergrund stehen. Eine solche Vorgehensweise lässt sich als methodenübergreifend bezeichnen, ausdrücklich jedoch nicht als eklektisch (d. h. aus Vorhandenem einfach auswählend) und auch nicht als integrativ (Vermischung von Methoden).

Die Entstehung dieses Buches wurde in ganz besonderer Weise durch ein Fellowship am Wissenschaftskolleg zu Berlin im Jahr 2014/15 gefördert. Der Aufenthalt am Wissenschaftskolleg hat mir ermöglicht, mich noch einmal intensiv mit der Fachliteratur zu Grundlagen der Psychotherapie auseinanderzusetzen und eine Erweiterung meiner fachlichen Perspektive durch lebendigen und intensiven Austausch mit Wissenschaftlern verschiedenster Fachdisziplinen zu gewinnen.

Mein herzlicher Dank gilt allen Kollegen der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Klinikums rechts der Isar der Technischen Universität München, die die Entwicklung des Konzepts der Individualisierten Psychotherapie interessiert und ausgesprochen wohlwollend begleitet haben. Es war ausgesprochen hilfreich, Konzepte und Modelle direkt in der Patientenbehandlung anwenden zu können und im Team gemeinsam darüber zu reflektieren. Thomas Hensel danke ich in freundschaftlicher Verbundenheit für viele Gelegenheiten zur gemeinsamen Diskussion über eine an der Behandlung von Stressoren orientierten Psychotherapie. Eckhart Frick half mit wertvollen Hinweisen zur Präzisierung von Begriffen. Andreas Dally danke ich für die anregende Diskussion zum Thema Behandlungsfehler.

Wulf Bertram hat als Verlagsleiter das Buchprojekt begleitet und ermutigend unterstützt. Dank gilt auch Nadja Urbani und Mihrican Özdem für die kompetente Organisation und das Lektorat des Manuskripts.

Ganz besonders möchte ich mich bei Barbara Gromes, meiner Frau, bedanken, für ihren kritischen und immer klugen Rat, sowie für Geduld und Nachsicht, wenn ich innerlich oder äußerlich »im Buch« verschwunden war.

Die vertiefte Beschäftigung mit verschiedenen ätiologischen Perspektiven, grundlegenden therapeutischen Zielsetzungen und Fragen der Behandlungsplanung führt fast zwangsläufig zu einer Metatheorie, d. h. zu einer grundsätzlichen und damit relativ abstrakten Betrachtung. Ich hoffe, dass es dennoch gelungen ist, in diesem Buch durchgängig den Bezug zur konkreten Umsetzung in die therapeutische Praxis herzustellen. Viel wichtiger als die »richtige« Theorie ist der praktische Nutzen dieses Buches und die Anwendbarkeit für die Praxis. Aber bekanntlich gibt es ja nichts Praktischeres als eine gute Theorie.

München im Frühjahr 2019

Martin Sack

Anmerkung: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die jeweilige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten für beiderlei Geschlecht.

1 Warum Individualisierung notwendig ist

Wenn Sie eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nehmen müssten, worauf würden Sie Wert legen? Vermutlich würden Sie sich wünschen, als Person mit eigener Meinung und individuellen Bedürfnissen wahrgenommen und respektiert zu werden. Wahrscheinlich wäre Ihnen auch daran gelegen, dass Sie selbstbestimmt und in ihrem eigenen Tempo über die notwendigen Veränderungsschritte zur Bewältigung Ihrer Problematik entscheiden können, selbst wenn dies etwas länger dauern sollte. Und sicherlich würden Sie sich wünschen, dass die Behandlung an Ihren individuellen Bedürfnissen ausgerichtet wird und dass die zur Anwendung kommenden therapeutischen Methoden und die jeweilige Zielsetzung transparent mit Ihnen abgesprochen werden.

Gegenwärtig werden psychotherapeutische Behandlungen bevorzugt an Störungsbildern ausgerichtet sowie an Behandlungsstandards orientiert, denen empirisches Wissen über die bei bestimmten Diagnosen wirksamen Behandlungen zugrunde liegt. Zumindest entspricht dies den Empfehlungen der nationalen und internationalen Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen. Merkmale der störungsorientierten Therapie sind eine klare Zielorientierung und der Einsatz von Behandlungsmethoden, die in ihrer Wirksamkeit überprüft und nachweislich effektiv sind.

1.1 Standardisierte Therapien genügen individuellen Bedürfnissen nicht

Standardisierte Behandlungsschemata(1) können den individuellen Gegebenheiten und Notwendigkeiten der Behandlung allerdings nicht immer ausreichend gerecht werden. Psychischen und psychosomatischen Erkrankungen liegen bei ähnlicher Symptomatik oft sehr unterschiedliche Ursachen zugrunde, und es sind immer auch symptomauslösende(1) oder aufrechterhaltende Bedingungen(1) zu berücksichtigen, die in der Person des Betroffen oder im jeweiligen sozialen Umfeld(1) liegen können. Daher ist es notwendig, die Orientierung an Symptomen und Krankheitsbildern um einen weiteren methodischen Zugang zur Behandlungsplanung zu ergänzen, der es erlaubt, individuelle Behandlungserfordernisse(1) zu erkennen und die Behandlung entsprechend anzupassen.

Individualisieren(1) meint, das mit der Symptomatik deutlich werdende und zutage tretende subjektive Erleben von Not und Leid in den Blick zu nehmen und davon ausgehend gemeinsam mit dem Patienten die Ziele und Erfordernisse der Behandlung zu klären.

Die Wahl der therapeutischen Methoden richtet sich dann nach der individuellen Zielsetzung und den im Einzelfall festzustellenden Bedarf, aber nicht schematisch nach den Vorgaben einer evidenzbasierten Leitlinie oder nach den traditionellen Konzepten eines bestimmten Therapieverfahrens.

In diesem Sinne ist Individualisierte Psychotherapie(1)(1) eine praxisorientierte, an den Behandlungsbedürfnissen des jeweiligen Patienten orientierte Vorgehensweise, die von vielen erfahrenen Psychotherapeuten(1) unterschiedlicher therapeutischer Ausrichtungen praktiziert wird: Der Therapeut lässt sich bei der Planung der Behandlung von der Frage leiten, welche therapeutischen Schritte notwendig sind, um einen bestimmten Patienten in seiner jeweiligen Lebenssituation am besten fördern und unterstützen zu können.

Individualisierung(2) bedeutet in diesem Kontext explizit nicht, dass die Vereinzelung von Menschen gefördert oder das Loslösen aus einem sozialen oder kulturellen Kontext betrieben werden sollte, wie manchmal die Verwendung des Begriffs kritisierend vorgebracht wird. Individualisierung bezieht sich auf die persönlichen Besonderheiten des einzelnen Patienten und dessen Lebenssituation einschließlich der sozialen Einbindung; es berücksichtigt die vorliegenden störungsspezifischen und entwicklungsbezogenen Behandlungserfordernisse bei der Therapieplanung.

1.2 Erweiterung des medizinischen Behandlungsmodells

Die Ursprünge der modernen Psychotherapie reichen in die Zeit der Aufklärung und Romantik zurück und sind eng mit der zunehmenden Fokussierung auf das einzelne Individuum und dessen Selbstverwirklichung(1) verbunden. Dabei bestehen historische sowie inhaltliche Parallelen zur Entwicklung der Psychologie und der Pädagogik als wissenschaftliche Fachdisziplinen.

Die Entwicklung der Psychotherapie(1) ist durch eine erfolgreiche Integration in die Medizin und durch fortschreitende Professionalisierung(1) und Spezialisierung(1) gekennzeichnet. Psychotherapie im Kontext von Krankenbehandlung basiert auf einer medizinischen Problemdefinition(1) und geschieht in einem professionell-therapeutischen Behandlungskontext. Kennzeichnend hierfür sind eine klassifizierende und objektivierende Diagnostik(1)(1) und der zielgerichtete Einsatz von Behandlungsmethoden.

Es gibt gute Gründe, psychische und psychosomatische Probleme als medizinische Symptome und als zu behandelnde Krankheit zu betrachten. Zum einen wird hierdurch individuelles Leiden gesellschaftlich anerkannt, sodass Anspruch auf Hilfe durch Krankschreibung(1) und medizinische Behandlung geltend gemacht werden kann. Zum anderen bedeutet es Entlastung von eigener Schuld und Verantwortung, wenn psychische Probleme – etwa im Rahmen einer Suchterkrankung(1)(1) – als Ausdruck eines behandelbaren psychischen Leidens definiert werden. Dadurch wird es leichter, professionelle Hilfe anzunehmen. Auch dem Erleben von Stigmatisierung(1) und Ausgrenzung(1) wird entgegengewirkt, wenn Lebensprobleme als Krankheit verstanden werden, die im Prinzip jeden treffen können.

Kritik am medizinischen Modell

Psychische und psychosomatische Erkrankungen werden nie durch eine alleinige Ursache ausgelöst, sondern haben grundsätzlich eine multifaktorielle Genese(1)(1). Insbesondere soziale und interpersonelle Aspekte werden durch die Diagnosestellung einer psychischen Erkrankung nicht ausreichend abgebildet, mit der Gefahr, dass diese dann auch im Behandlungs- und Beratungskontext zu wenig beachtet werden. Zudem ist die betroffene Person immer auch selbst in die Krankheitsentwicklung involviert, was bedeutet, dass Änderungen von Verhaltensweisen oder Bewertungen, beispielsweise in Bezug auf die eigene Person oder die Umwelt, erforderlich sind, um zu gesunden. Insbesondere der letzte Aspekt hat die Konsequenz, dass Psychotherapie nicht wie ein Medikament verordnet und dass Gesundung(1) nicht einfach durch therapeutische Einwirkung hergestellt werden kann. Therapieerfolge(1) lassen sich nicht durch psychotherapeutische Techniken und Behandlungsmanuale produzieren, sondern hängen von vielfältigen Einflussfaktoren, z. B. dem Krankheitsgewinn(1) durch Entlastung und der Motivation zu Veränderung(1) von Verhalten ab.

Das an Symptomen und Krankheitsbildern orientierte medizinische Modell(1) beschreibt nur einen Teil der Gesamtproblematik und stellt eine starke Vereinfachung dar. Kulturwissenschaftliche und sozialanthropologische Analysen gehen in der Kritik an der medizinischen Definition psychischer Probleme(1) noch weiter, indem aufgezeigt wird, dass Krankheitsklassifikationen(1) und der therapeutische Umgang mit Gesundheitsstörungen in einem hohen Ausmaß durch gesellschaftliche Bedingungen geprägt sind (Leys 2000). In einem anderen kulturellen und gesellschaftlichen Kontext – etwa einer kollektivistischen, durch starken familiären Zusammenhalt geprägten Gesellschaft – werden Lebensprobleme(1) in einer anderen Weise wahrgenommen, anders beschrieben und bezeichnet und wahrscheinlich auf eine andere Weise bewältigt als in unserer durch die Fokussierung auf das einzelne Individuum geprägten Kultur.

Überhaupt kann infrage gestellt werden, ob therapeutische Maßnahmen – wie es üblicherweise geschieht – ausschließlich auf das einzelne Individuum ausgerichtet sein sollten, da Menschen immer in sozialen Bezügen leben und das soziale Umfeld erheblichen Einfluss auf das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit(1) des Einzelnen hat.

Psychische Probleme(1) – beispielsweise nach dem Unfalltod eines Kindes – können aus medizinischer Perspektive als »anhaltende komplexe Trauerreaktion(1)« diagnostiziert und psychotherapeutisch behandelt werden. Hilfreich können aber auch Beistand und Unterstützung aus der (Groß-)Familie und durch Freunde sein. Auch Trauerarbeit(1) im Rahmen von Seelsorge oder einer Selbsthilfegruppe wäre eine Option, die bei der Bewältigung helfen kann (Schupp 2017). Über die Frage, inwieweit auch schwere psychische Belastungen nach Verlust eines Kindes als normal, vielleicht sogar für die Bewältigung notwendige Reaktion zu verstehen sind und wie lange diese anhalten darf, gibt es auch in Fachkreisen weit auseinanderliegende Vorstellungen (Rosner & Wagner 2013).

Die Kritik am medizinischen Krankheitsmodell(2)(1) psychischer Erkrankungen macht deutlich, dass die medizinische nur eine von mehreren möglichen Perspektiven ist und dass nicht jeder psychische Leidenszustand als krankhaftes Phänomen betrachtet werden muss. Die Stärken des medizinischen Modells liegen darin, dass es ermöglicht, Probleme anhand eindeutiger Kriterien zu identifizieren, Hilfeleistungen zu professionalisieren und deren Anwendung empirisch-wissenschaftlich zu begründen. Aufgrund der notwendigen Kategorisierungen und Verallgemeinerungen kann aber eine ausschließlich an objektiven Kriterien ausgerichtete medizinische Sichtweise den individuellen Bedürfnissen nach Hilfe und Bewältigung nur unzureichend gerecht werden.

Objektivieren und Subjektivieren – beides ist erforderlich

Mit dem Begriff Objektivieren(1) ist eine diagnostische Haltung gemeint, die Symptome und Erleben der einzelnen Person unter dem Gesichtspunkt der Abweichung von einer Norm betrachtet. Beobachtetes Verhalten(1) wird vom Einzelfall abstrahiert und auf allgemeine Erkenntnisse, beispielsweise bezüglich des Vorliegens von Symptomkriterien eines definierten Störungsbilds, bezogen. Diese Betrachtungsweise ermöglicht es, die individuellen Gegebenheiten auf das vorhandene medizinisch-psychotherapeutische Störungswissen zu beziehen und auf diesem Weg eine möglichst objektive Einschätzung der vorliegenden Problematik zu gewinnen. Objektivierendes Vorgehen reduziert Komplexität und schafft dadurch Orientierung und Vergleichbarkeit.

Die Notwendigkeit zum versachlichenden Objektivieren(2) oder zum individualisierenden Subjektivieren(1) kann je nach dem situativen Kontext sehr unterschiedlich sein. Beispielsweise wird es in einer psychiatrischen Notfallsituation eher erforderlich sein, schnell zu einer Einschätzung der objektiv vorliegenden Kriterien etwa einer psychotischen Erkrankung zu kommen, um rasch entscheiden zu können, ob eine stationäre Aufnahme erforderlich sein wird. In der Planung einer längerfristig angelegten psychotherapeutischen Behandlung hingegen, etwa bei einer chronisch bestehenden somatoformen Störung(1), wird es sicherlich wichtiger sein, die individuellen Bedingungen der Erkrankung und das subjektive Symptomerleben stärker in den Blick zu nehmen; die alleinige Fokussierung auf eine Reduktion von Beschwerden wäre in diesem Fall nicht ausreichend.

Während »Kranksein« einen subjektiven Leidenszustand beschreibt, ist die Krankheit, z. B. der Schnupfen oder das Magengeschwür – eine objektivierende Beschreibung.

Der Begriff Krankheit(1) ist eine Abstraktion, und es gibt so viele Erkrankungen, wie es kranke Menschen gibt (Sadegh-Zadeh 2015). Eine Depression(1) beispielsweise ist immer auch Ausdruck der erkrankten Persönlichkeit, sie hat einen besonderen individuell situativen Kontext und ist durch eine besondere Lebensgeschichte geprägt. Funktionelle Körperbeschwerden(1) halten sich an keine medizinische Klassifikation und werden mitunter so unmittelbar körperlich erfahren, dass es schwer sein kann, eine exakte Beschreibung zu geben und passende Worte zu finden. Selbst ein klar lokalisierter Schmerz kann ganz unterschiedlich erlebt und bewertet werden. Hinzu kommt, dass Krankheiten nicht immer in gleicher und typischer Weise ausgeprägt sind und dass auch der Verlauf und die Behandlungsbedürfnisse sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können.

Diese Beispiele zeigen, dass die individuellen Besonderheiten der Symptomausprägung(1) und des Krankheitserlebens(1) für den Verlauf und die Behandlung von Krankheiten von Bedeutung sind und eine Zuwendung zum subjektiven Erleben notwendig machen.

In der Psychotherapie (aber auch in der Medizin ganz allgemein) besteht sowohl eine Notwendigkeit zur Objektivierung(3) der Gesundheitsbeschwerden als auch zur Zuwendung zum subjektiven Erleben des Patienten.

Methoden zur diagnostischen Objektivierung(4) von Beschwerden sind in vielfältiger Form etabliert und verfügbar, beispielsweise als standardisierte diagnostische Interviews(1) oder klinische Checklisten(1). Von den medizinischen und psychologischen Fachgesellschaften erarbeitete Leitlinien geben Empfehlungen, wie die Behandlungsplanung am Stand der empirischen Forschung zur Wirksamkeit therapeutischer Methoden orientiert werden kann, und es liegen eine Vielzahl validierter störungsorientierter Behandlungsmanuale vor. Methoden zur Subjektivierung im Sinne der Einbeziehung des Erlebens des Patienten in die Diagnostik und der Berücksichtigung individueller Behandlungserfordernisse hingegen sind im Kontext einer die Therapieschulen(1) übergreifenden Perspektive bisher nicht explizit formuliert.

Auch die Einbeziehung des subjektiven Erlebens als Zugangsweg zur Klärung der vorliegenden Problematik benötigt eine klare methodische Konzeption, da diese eine Schlüsselfunktion für eine individualisierte Therapieplanung(1) einnimmt.

Die Behandlung von kranken Menschen erfordert vom Arzt oder Psychotherapeuten sowohl eine objektivierende distanzierend-analysierende(1) und(1) kritische professionelle Haltung als auch die subjektivierende, persönlich beteiligte und am einzelnen Individuum authentisch interessierte Zuwendung zum Patienten. Dabei ist es entscheidend wichtig, dass beide Zugangsweisen genutzt werden, um die vorliegende Problematik umfassend diagnostisch zu klären und eine individuelle angepasste Behandlungsplanung zu ermöglichen. Es geht um eine »Kultur«, also um einen gelebten Umgang mit einem unvermeidbaren Spannungsfeld, das charakterisiert ist durch die Notwendigkeit, sowohl eine objektivierende als auch eine subjektivierende Zugangsweise zum Krankheitsphänomen zu finden. Sicherlich wäre es einfacher, sich auf den Standpunkt zu stellen, dass nur eine auf naturwissenschaftlichen Paradigmen basierende und an symptomatischen Zielen ausgerichtete wissenschaftliche Psychotherapie ernstzunehmen sei. Die Komplexität der Diagnostik und Therapieplanung nimmt zu, sobald das subjektive Erleben der Patienten und womöglich auch die subjektive Wahrnehmung(1) der Behandler berücksichtigt werden soll.

Einführung des Subjekts in die Medizin

Der Begriff »Einführung des Subjekts(1)« geht auf den Internisten und Neurologen Viktor von Weizsäcker zurück (Weizsäcker 1940). Dieser wies in sinnesphysiologischen Experimenten nach, dass das wahrnehmende Subjekt aktiv gestaltend an der Produktion der Wahrnehmungsinhalte beteiligt ist, es also keine vom Wahrnehmenden unabhängige und damit keine absolute objektive Sinneswahrnehmung gibt. Auch der das Experiment beobachtende Wissenschaftler bringt unvermeidlich seine eigne subjektive Perspektive ein, sofern er mit dem zu erkennenden anderen Subjekt umgeht, d. h. sich in eine wechselseitige Beziehung zu dem Gegenstand des Erkennens begibt. Daher ist es unvermeidlich, dass der aktiv involvierte Beobachter das Ergebnis seiner Beobachtung im Zuge seiner Teilnahme verändert (Sack 2005).

Aus diesen Einsichten lässt sich schlussfolgern, dass objektive und widerspruchsfreie Wahrnehmung, wenn es um subjektives Erleben geht und ein explorativer Kontext besteht, eigentlich nie zu erreichen ist. Allerdings kann in einem Prozess der Problemklärung(1), auf den sich zwei Menschen aktiv einlassen, darauf vertraut werden, dass ein gemeinsamer Prozess des Erkenntnisgewinns(1) und des Entdeckens von Lösungsideen in Gang kommt, der wesentlich auf Intersubjektivität(1) basiert und ohne diese nicht möglich wäre (Christian & Haas 1949).

Die Forderung nach einer »Einführung des Subjekts in die Medizin« bezieht sich also sowohl auf Subjektivität(1) als Grundlage des individuellen Erlebens wie auch auf Intersubjektivität als Basis von interaktiv gewonnenen Erkenntnissen. Subjektivieren meint in diesem Zusammenhang, das individuelle Erleben des Patienten in den Blick zu nehmen, gerade auch da, wo dieses von typischen Mustern eines Störungsbildes abweicht und nicht der erwarteten Norm folgt. Dies ist nur möglich, wenn das subjektive Erleben so detailliert wie möglich exploriert und als Informationsquelle für die Diagnostik und Behandlungsplanung ernstgenommen wird.

1.3 Zuwendung zum individuellen Leid