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Alexa Innocenti

Trügerisch

Psychothriller


Gewidmet allen Frauen, die glauben, schwach zu sein und die doch ihre Sensibilität und Zerbrechlichkeit mühelos in Stärke verwandeln.


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

TRÜGERISCH

 

 

2. Auflage

 

 

Dieser Roman erschien erstmals im Jahr 2017 unter dem Zitel "Trügerischer Engel"

 

 

 

 

 

 

Ehebrecher bleiben sich nahezu immer treu.

(Martin Gerhard Reisenberg, Diplom-Bibliothekar und Autor)

1


„Und so hat der Alltag uns wieder.“ Eva Waldner schloss seufzend die Haustüre auf und betrat schwer bepackt ihr adrettes Einfamilienhaus. Im nächsten Augenblick setzte sie den großen Hartschalenkoffer mitten im Flur auf den Boden.

„Was für ein Mief“, murmelte sie naserümpfend. Offenbar wurde während ihrer Abwesenheit kein einziges Mal gelüftet.

„Was hast du denn erwartet, Liebling? Das Haus war ja über zwei Wochen unbewohnt“, ließ sich Ralphs Stimme hinter ihr vernehmen. Er hievte zwei weitere Gepäckstücke herein und schloss die Tür.

„So, geschafft. Endlich zuhause!“ Schelmisch lächelnd trat er auf Eva zu, legte seine Hände auf ihre Hüften und suchte forschend ihren Blick.

„Hey, was hast du denn vor?“

„Na, was denkst du wohl, was ich vorhabe?“ Der neckende Tonfall und seine blitzenden Augen verhießen pure Leidenschaft. Trotzdem war Eva nicht in Stimmung für romantische Zweisamkeit.

„Also, jetzt lass mich doch erst mal ankommen …“ Kichernd versuchte sie sich seinem Griff zu entwinden.

„Will ich ja … Aber du raubst mir den Verstand, Liebling. Den ganzen Flug über habe ich an nichts anderes gedacht. Deine Schuld, wenn du so sexy aussiehst. Ich habe die appetitlichste, süßeste und schönste Frau der Welt. Wie kannst du da erwarten, dass ich in deiner Gegenwart nicht auf unanständige Gedanken komme?“, flüsterte er an ihrem Ohr. Warmer, nach Pfefferminz duftender Atem streifte ihr Gesicht.

Wider Willen musste Eva lächeln. Allerdings fühlte sie sich nach der langen Reise überhaupt nicht appetitlich und wunderschön, wie ihr Mann behauptete. Wenn sie wenigstens schnell duschen könnte …

„Ralph, warte.“

„Schsch… entspann dich, Liebling“, überging Ralph ihren halbherzigen Protest. „Ich tue nichts, was du nicht willst.“ Er löste ihre Haarspange und spielte mit Evas herabwallender, glänzender Mähne. Seine Fingerspitzen fanden und liebkosten ihre erogenen Zonen im Nacken, streichelten sanft ihren Hals und wanderten langsam in den Ausschnitt ihres T–Shirts. Eva spürte, dass ihr Körper auf seine Liebkosungen reagierte.

„Du weißt wirklich, wie du eine Frau schwach machen kannst”, flüsterte sie und fühlte ihren Widerstand schwinden. Sie ließ geschehen, was geschehen sollte und erwiderte seine Umarmung mit wachsender Leidenschaft. Wie gut er roch! Sie nahm einen Hauch seines teuren Aftershaves wahr, das er kurz vor dem Rückflug aufgetragen hatte. Erwartungsvoll schloss sie die Augen und bog den Kopf zurück. Als er spielerisch an ihrer Halsbeuge knabberte und ihre Augenlider, ihre Wangen und ihre halbgeöffneten Lippen mit hauchzarten Küssen bedeckte, stöhnte Eva wohlig auf. Seine Fingerspitze zeichnete die Kontur ihrer Unterlippe nach, bevor seine Zungenspitze sich behutsam an den Seiten ihres Mundes vortastete und Eva lustvolle Schauer vom Kopf bis zu den Zehenspitzen bescherte. Ihre Hände fuhren unter sein Shirt und streichelten seinen muskulösen Rücken, während ihr Innerstes sich immer mehr in dem leidenschaftlichen und zärtlichen Spiel ihrer Zungen verlor. Die Zeit hielt inne. Eva konzentrierte sich ganz auf diesen Moment, wollte ihn ins Unendliche ausdehnen. Doch schließlich hielt sie es nicht mehr aus und löste sich atemlos von ihm.

„Komm“, stieß sie hervor und zog ihn ungeduldig Richtung Couch. Vergessen waren Müdigkeit und der Wunsch nach einer Dusche. Es gab nur noch diesen sexy Mann - und sie. Sie wollte ihn. Hier, jetzt, sofort …


Mitten in der Nacht erwachte Eva und schaute sich schlaftrunken im Raum um. Fahles, geisterhaftes Mondlicht fiel durch halb geschlossene Rollläden und ließ die Konturen der Möbel nur schemenhaft aus den Schatten treten. Fröstelnd stemmte sie sich auf die Ellenbogen. Sie erkannte, dass sie sich auf dem Teppich vor der Couch im Wohnzimmer befand. Neben ihr lag Ralph, nackt wie Gott ihn schuf. Seine gleichmäßigen Atemzüge zeugten von tiefem, erschöpftem Schlaf. Kein Wunder, er hatte - im Gegensatz zu ihr -während des dreizehnstündigen Fluges von Los Angeles nach München kaum ein Auge zugetan. Und anstatt zuhause sofort todmüde ins Bett zu sinken, beschert er mir die romantischste Liebesnacht seit Monaten, dachte sie glücklich.


Sie erhob sich leise und breitete fürsorglich eine Decke über den Schlafenden. Ihr Magen grummelte laut und erinnerte sie daran, seit einer geschätzten Ewigkeit nichts Anständiges mehr zu sich genommen zu haben, von dem geschmacksneutralen Mahl im Flugzeug einmal abgesehen. Auf der Suche nach einem Snack betrat sie die Küche - und schloss mit einem ernüchtertem Seufzer wieder die Tür des abgetauten Kühlschranks. Na gut, mal sehen, was die Vorratsschränke an Essbarem hergeben. Während ihrer Überlegung, was man aus einer Packung Toastbrot, einer Dose Thunfisch und einem angebrochenen Glas Essiggurken zaubern könnte, ertönten hinter ihr tapsende Schritte auf dem Fliesenboden.

„Hey“, grüßte Ralph schlaftrunken und nahm ein Glas aus dem Schrank. Gewohnheitsmäßig öffnete er den Kühlschrank und schloss ihn gleich darauf mit einem undeutlichen Murren. Eva musste lachen.

„Bist also auch drauf reingefallen!”

Aus seiner Richtung ertönte eine einsilbige Antwort, während er das Glas unter dem Wasserhahn füllte. “Was ist denn an Essbarem da?“

„Toast, Toast und nochmals Toast. Wahlweise mit Thunfisch oder Essiggurken.“

„Klingt ja super. Ich glaube, ich verzichte.“ Er gähnte herzhaft. „Morgen müssen wir unbedingt einkaufen.“

„Also in wenigen Stunden, meinst du wohl.“

„Sieht so aus“, erwiderte Ralph mit einem Blick auf die Küchenuhr. Er grinste schief . „Die Frage ist, wie nutzen wir die Zeit bis dahin? Schlafen oder …?“

Ralphie hier lässt uns ja augenscheinlich keine Wahl”, schmunzelte Eva mit Blick auf die offenbar inzwischen wieder unternehmungslustigen unteren Körperregionen ihres Göttergatten.

„Ganz genau. Also, worauf warten wir dann noch?“

Eva drängte sich an ihn und glitt dann betont langsam auf die Knie. Diesmal würde die Küche eingeweiht.


2

 

Der folgende Morgen sah dann ganz anders aus.

„Wie spät ist es denn?“, grummelte Ralph schlaftrunken unter seinem Kissen hervor.

Eva äugte stöhnend zum Digitalwecker. Elf Uhr. Morgens oder abends? Nochmaliges Blinzeln klärte ihren Blick und sie erkannte die Buchstaben AM, die in grüner Leuchtschrift blinkten.

„Fast Mittag“, knurrte sie wortkarg, hin und hergerissen zwischen den Optionen, noch weiterzuschlafen oder aufzustehen. Ihre innere Uhr beharrte auf der Behauptung, es sei erst zwei Uhr nachts.

Lustlos ließ sie sich in die Kissen zurücksinken. Wenn ich jetzt weiterschlafe, werde ich es heute Abend büßen und keinen Schlaf finden, das ist ja wohl klar. Sich auf die Seite wälzend, betrachtete sie zärtlich ihren Mann. Ralph war schon wieder ins Land der Träume abgetaucht. Plötzlich durchflutete sie eine solch immense Vorfreude auf den Ehealltag mit ihrer großen Liebe, dass es ihr beinahe den Atem raubte.

Ihren inneren Schweinehund überwindend stand Eva ächzend auf und schlurfte müde in die Küche. Zum Glück ist wenigstens Kaffeepulver in ausreichender Menge vorhanden, dachte sie. Ansonsten wüsste ich wirklich nicht, wie ich heute in die Gänge kommen sollte. Eine Weile saß sie vor ihrer dampfenden Tasse am Küchentisch und schwelgte in Erinnerungen. Die Flitterwochen waren der Hammer. Einfach unbeschreiblich schön. Zwei Wochen Kalifornien: San Diego, Los Angeles, San Franzisco – das ganze Programm. Der kleine Abstecher nach Las Vegas ... Unbarmherziges Klingeln an der Haustür unterbrach ihre Träumereien. Oh Gott, wer ist das denn? Eva gähnte und erwog kurz, einfach nicht zu reagieren.

„Eva? Eva! Hallo? Bist du da?“, ertönte es von draußen. Der rostrote Lockenkopf ihrer quirligen Cousine und Nachbarin Jessica Kessler erschien am Küchenfenster. Ergeben schleppte sich Eva zur Haustür.

„Ha, da ist ja die Flitterwöchnerin! Guten Morgen, Liebes!“ Jess küsste Eva links und rechts auf die Wange, drängte sich unaufgefordert an ihr vorbei und marschierte zielstrebig in Richtung Küche. Dabei wedelte sie mit der mitgebrachten Tageszeitung, während sich in ihrer anderen Hand eine große Bäckertüte befand.

„Wie du siehst, komme ich nicht mit leeren Händen.“ Aus der Papiertüte duftete es verlockend nach frischem Brot.

„Oh, Jess, du bist ein Engel!“

„Na ja, ich dachte, nach dem ganzen Toast da drüben würdest du ein schönes knuspriges Bauernbrot zu schätzen wissen. Außerdem habe ich deine geliebten Käsesemmeln, zwei Brezeln und ein paar Vollkornbrötchen mitgebracht.“

„Was wäre ich nur ohne dich?” Eva warf Jess ein Küsschen zu, schnitt das Endstück des großen, noch warmen Brotlaibs ab und biss genussvoll hinein.

„Hmmm… das ist eins der wenigen Dinge, die ich echt vermisst habe. Obwohl wir ja im Hofbräuhaus in Las Vegas was Deutsches gegessen haben. Aber komm, setz dich doch, ich habe gerade frischen Kaffee gekocht.“ Sie deutete auf einen freien Stuhl. Flüchtig kam ihr der Gedanke an die vergangene Nacht, als sie und Ralph in der Küche …

„Nein, ich kann leider nicht bleiben. Tom und ich fahren über das Wochenende zu seinen Eltern, mein Schwiegervater feiert doch seinen Siebzigsten. Ich wollte dir nur schnell Hallo sagen und –“ Sie schlug sich mit der Hand an die Stirn. „Ich Dussel! Eigentlich wollte ich dir den Hausschlüssel zurückbringen, doch vor lauter Hektik habe ich ihn vergessen.“

„Macht nichts, ich habe sowieso schon überlegt, dir den Schlüssel für den Notfall zu überlassen.“

„Dein Vertrauen ehrt mich.“ Jess spähte aus dem Küchenfenster über die Straße zu ihrem Auto. Ihr Mann verstaute soeben eine große Reisetasche im Kofferraum “Ich muss jetzt auch schon wieder los, bevor Tom ungeduldig wird. Wir müssen uns aber so bald wie möglich zusammensetzen, damit du mir alles über deine Traumhochzeitsreise erzählen kannst. Ich platze nämlich vor Neugier!“

Sie verabschiedete sich überschwänglich und hinterließ eine etwas perplexe Eva sowie eine betörende Duftwolke Chanel Nr. 5.

 

„War etwa unsere wilde Nachbarin da?“, erkundigte sich Ralph schnuppernd, als er frisch geduscht die Küche betrat. „Hier riecht es ja wie in einer Parfümerie.“

„Du hast recht. Jess war tatsächlich hier. Sie hat uns die Tageszeitung und frisches Brot gebracht. Lieb von ihr, oder?“

„Sicher. Total lieb.“

Eva legte den Kopf schief und musterte ihren Mann. „Kannst du mir zuliebe nicht versuchen, ihr eine Chance zu geben? Sie hat immerhin während der letzten zwei Wochen auf unser Haus aufgepasst Außerdem ist sie meine Cousine.“

„Weiß ich doch, Schatz. Eigentlich ist sie ja nur eine Cousine zweiten Grades, aber lassen wir das. Ich finde die Frau nur irgendwie … übertrieben. Und du weißt ja, was man sagt: Jess am Morgen bringt – au!“ Er wich lachend zurück und rieb sein rechtes Ohr, an dem Eva kräftig gezogen hatte. „Tut mir leid, es kam einfach so über mich. Oh Mann, hab´ ich Hunger“, wechselte er grinsend das Thema. „Weißt du was? Wir essen mittags auswärts und kaufen danach ganz gemütlich ein. Natürlich nur, wenn meine wunderhübsche Gattin sich endlich dazu bequemt, sich anzuziehen.”

Eva war schon auf dem Weg nach oben. “Gib mir fünfzehn Minuten! Ach, und Ralph – hol schon mal den Wagen!”, rief sie in bester Derrick–Manier über die Schulter und eilte kichernd ins Bad.

Aus ihrer Einfahrt biegend fiel Evas Blick auf Jessicas und Toms Haus auf der gegenüber liegenden Straßenseite. Obwohl seine Bewohner erst seit einer guten Stunde verreist waren, machten die geschlossenen Rollläden und die jetzt leere Einfahrt einen geradezu abweisenden Eindruck.

Thomas und Jessica Kessler. Lange Zeit hatten sich Eva und Jess aus den Augen verloren gehabt, doch die fürchterliche Tragödie, die Eva vor gut fünf Jahren traf und fast zerbrechen ließ, führte die beiden Cousinen wieder zusammen. Jess war unter anderem für Evas Umzug von Nürnberg nach Augsburg verantwortlich, da sie ihre von Trauer zerfressene Cousine nicht alleine wähnen mochte. Letztendlich verdankte Eva Jess ihr Leben. Wenn Jess sie an jenem Tag nicht gefunden und ihr dann ganz allmählich aus dem Scherbenhaufen ihres Lebens heraus geholfen hätte … Kurz betrachtete sie die dünnen, verblassten Narben an ihren Handgelenken. Nein, besser nicht daran denken. Fabian und Marcel werden für immer in meinem Herzen bleiben, aber ich bin nun bereit, mein eigenes Leben weiterzuleben. Und wie dieses Leben manchmal so spielt, spann Eva ihre Gedanken weiter. Niemand hätte zum Beispiel gedacht, dass Jess und Tom es so lange miteinander aushalten. Es gab nur wenige Paare, die augenscheinlich so wenig zusammen passten wie die Kesslers. Dabei führten sie nun schon seit fünfzehn Jahren eine offenbar liebevolle und harmonische Ehe. Nun ja, es gab wohl kaum jemanden, der nicht auf Anhieb gut mit Tom auskam: Er war einer der unkompliziertesten Menschen, denen Eva je begegnete. Jess hingegen einer der extrovertiertesten. Daher wohl auch Ralphs Abneigung gegen sie, überlegte Eva und betrachtete unauffällig ihren Mann. Was für ein markantes Profil er hat! Ich sollte ihn unbedingt mal zeichnen. Sie ließ ihre Augen auf Ralphs maskulinen Gesichtszügen ruhen und sog wie ein Schwamm jedes noch so kleine Detail auf: Sein von der kalifornischen Sonne gebräunter Teint mit dem leichten Bartschatten, den sie so unheimlich erotisch fand. Die zum Teil von störrischen dunklen Haarsträhnen verdeckte Stirn und seine geraden, definierten Augenbrauen, welche in Zusammenhang mit den langen Wimpern seine eisblauen Augen erst richtig zur Geltung brachten. Obwohl Ralph gerne selbstironisch über seine feminin angehauchte Nase witzelte, fand Eva diese gerade wegen der leicht nach oben zeigenden Spitze so anziehend. Sein ausgeprägter Unterkiefer mit dem kleinen Kinngrübchen war nicht so breit, dass das Gesicht eckig wirkte. Und diese feinen, nicht zu vollen Lippen könnte sie wirklich ununterbrochen küssen! Obwohl er konzentriert vor sich auf die Straße blickte, sang er lauthals Grenade von Bruno Mars mit und trommelte rhythmisch mit den Fingern auf das Lenkrad. Dann schien er zu spüren, dass ihre Augen auf ihm ruhten und wandte grinsend den Kopf in ihre Richtung. Einem inneren Impuls gehorchend, beugte sich Eva hinüber und drückte einen schnellen Kuss auf seinen Mund.

„Wohin fährst du eigentlich? Essen wir nicht beim Italiener?“

„Doch, aber einer meiner Klienten hat erst kürzlich ein weiteres Restaurant in einem anderen Stadtteil eröffnet. Er liegt mir schon seit Wochen in den Ohren, ich solle doch mal mit meiner bezaubernden Frau Gemahlin vorbeikommen, deshalb fahren wir jetzt hin. Oder möchtest du unbeding zur Villa Cupido?“

„Nein, nein. Deine ,bezaubernde Gemahlin̕ möchte das neue Etablissement unbedingt kennenlernen.“

Ralph nahm ihre Hand und führte sie an seine Lippen.

„Ganz wie es Euch gefällt.“

 

3


„Wir hätten wirklich was mitbringen sollen, meinst du nicht?“, raunte Ralph Eva zu, als sie quer über die Straße zum Haus der Kesslers eilten.

Leises Gelächter perlte aus dem hinteren Garten. Eva fragte sich automatisch, ob sie beide wohl als Letzte zu der Gartenparty eintrudeln würden. Die Pforte stand einladend offen. Flackernde Fackeln säumten den Steinweg hinauf zum Haus. „Jess ist sich darüber im Klaren, dass ihre Einladung sehr kurzfristig war. Sie wird es verstehen“, meinte Eva leise. Gleichzeitig ärgerte sie sich jedoch, nicht wenigstens eine Flache Prosecco gekauft zu haben. In diesem Augenblick schwebte ihnen auch schon die Gastgeberin entgegen.

„Hallo, meine Lieben! Genau richtig zur Blauen Stunde!“ Nach den obligatorischen Küsschen hakte sie sich bei Eva und Ralph unter und ging mit ihnen unter und in den hinteren Gartenbereich, wo sich bereits etliche Leute aufhielten und angeregt miteinander plauderten. „Sieh mal, Tom, wen wir da haben!“

„Na, wer sagt's denn? Je später der Abend, desto schöner die Gäste!“ Tom legte sein Grillbesteck beiseite, drückte Eva herzlich an sich und klopfte Ralph freundschaftlich auf die Schulter. „Alles klar?“

„Ja, danke. Ich hatte im Büro nur so viel aufzuholen, da habe ich völlig die Zeit vergessen. Kann ich dir helfen?“ Ralph krempelte bereits die Hemdsärmel hoch und musterte die auf dem Grillrost brutzelnden Würstchen und Rippchen, deren Saft zischend auf die Glut tropfte.

„Während unsere beiden Goldschätze so fleißig sind, könntest du mir ja inzwischen von deinen Flitterwochen berichten“, flötete Jess und hakte sich erneut bei Eva unter. „Jetzt bist du schon seit fast einer Woche zurück, und trotzdem haben wir uns kaum gesehen. Los, sag schnell Hallo in die Runde -und dann komm mit mir in die Küche.“



Während Eva von einem Personengrüppchen zum anderen schweifte und sich mit den Eingeladenen unterhielt, suchte ihr Blick immer wieder ihren frisch angetrauten Ehemann. Er scherzte mit Tom und Bastian Holl, einem ihrer Nachbarn am Ende der Straße, während er gleichzeitig eifrig mit der Grillzange hantierte. Sein Lachen klang wie Musik in ihren Ohren. Inzwischen trug er Toms Grillschürze. Mr Good Looking is Cooking, stand in weißer Schrift auf schwarzem Untergrund. Wie passend! Eva schmunzelte und angelte sich einen weiteren Becher Sangria von einem der Tabletts.

„Gut, nicht? Hab das Rezept aus dem Internet.“ Jess stand auf einmal wieder neben ihr und prostete ihr zu. Eva registrierte erst jetzt das bezaubernde Outfit ihrer Cousine: Sie trug heute Abend ein cremefarbenes, enganliegendes Jeanskleid, dessen nur zur Hälfte geschlossene Knopfleiste perfekt die wohlgeformten Beine zur Geltung brachte. Als fantasievoller Gürtel diente ein umfunktionierter aquamarinblauer Seidenschal. Das lange Haar hatte sie tizianrot getönt und lässig hochgesteckt, so dass einzelne widerspenstige Strähnchen verspielt ihr hübsches Gesicht umschmeichelten. Man würde nie auf die Idee kommen, dass Jess sieben Jahre älter als ich ist und erst vor Kurzem ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert hat, dachte Eva und musterte ihre Verwandte liebevoll. Deren strahlender Pfirsich–Teint nahm bereits eine zarte Röte an. In Gesellschaft trank Jess gerne ein bisschen mehr, wusste aber immer genau, wann es aufzuhören galt.

„Du siehst einfach toll aus heute Abend! Und übrigens Kompliment für die tolle Location“, schwärmte Eva aufrichtig und sah sich bewundernd um. Jess und Tom hatten sich mit der Gestaltung des Gartenfests wirklich alle Mühe gegeben: Laternen, Windlichter und bunte Lampions vergoldeten mit ihrem romantischen Licht Terrasse und Blumenbeete. Alles wirkte sehr warm und atmosphärisch.

„Ja, ist ganz gut geworden“, winkte ihre Cousine ab und geleitete Eva ins Haus. „Also, ich höre, und lass kein Detail aus!“

„Nun, ich weiß eigentlich gar nicht, wo ich am besten anfange. Das Ganze war einfach – ups! Soll ich dir helfen?“ Eva, die hinter Jess die Küche betrat, musterte das darin herrschende Chaos mit großen Augen.

„Ach was, sieht schlimmer aus, als es ist“, wehrte Jess ab. „Das Wichtigste ist ja vorbereitet. Die Platten mit dem gegrillten Gemüse habe ich ja schon draußen auf die Tische gestellt, ebenso die verschiedenen Salate und die Brotkörbchen. Nur zum Abspülen bin ich noch nicht gekommen, was ich aber gleich erledige, während du von deinen Abenteuern in Amerika erzählst.” Nachdem sie Eva zu einem Barhocker an der Küchentheke dirigiert hatte, wollte sie wissen: „Habt ihr in L.A. irgendwelche Promis gesehen?“ Jess entnahm dem Kühlschrank eine große Schüssel Kartoffelsalat und stellte sie vor Eva. “Den hätte ich fast vergessen. Hier, koste mal. Ich vertue mich immer mit dem Salz.“ Sie reichte ihrer Cousine einen kleinen Löffel.

„Perfekt. Hast du keine Zwiebeln genommen?“

„Wenige. Die Kinder meines Schwagers hassen den Geschmack von Zwiebeln. Also?“

Eva blinzelte kurz. „Ach so, Promis! Eigentlich nicht. Obwohl ich ja quasi sicher bin, Jared Leto bei Starbucks gesehen zu haben. Aber Ralph meint, ich hätte mich geirrt. Mittlerweile glaube ich jedoch, dass er es wirklich war. Ich hätte hingehen und ihn um ein Autogramm bitten sollen … “

„Ein Autogramm? Meine Liebe, heutzutage macht man doch Selfies!“

„Stimmt, da hätte ich mich schön blamiert“, gluckste Eva. „Und dann waren wir natürlich auf dem Hollywoodboulevard. Wirklich beeindruckend, sage ich dir! Über zwei Kilometer hinweg verläuft der Gehweg mit den eingelassenen Sternen. Mehr als 2500 - bis jetzt. Vor dem Chinese Grauman Theater sind übrigens die bekanntesten Stars im Walk of fame verewigt. Im Vorhof des Theaters kannst du die Hand– und Fußabdrücke der Promis bewundern. Und … “

„Ach, hier steckt ihr! Essen ist fertig, Ladies. Kommt ihr?“ Tom betrat die Küche und gab seiner Frau rasch einen liebevollen Klaps auf die Kehrseite. „Na, quasselst du die arme Eva wieder voll?“

„Überhaupt nicht! Heute ist sie zur Abwechslung die Quasseltante“, erwiderte Jess locker und beobachtete, wie ihr Mann etliche eiskalte Bierflaschen aus dem Gefrierfach zog „Und glaub mir, Eva hat Interessantes zu berichten. Stell dich schon mal darauf ein, dass wir unseren nächsten Urlaub auch in Kalifornien verbringen.“

„Nur, wenn du mir verrätst, wie ich als Raucher den Langstreckenflug überstehen soll.“

„Ganz einfach, Tom: aufhören!“

„Ist aber nicht geplant, meine Schöne“, sagte er und lachte gutmütig, als Jess mit einem Geschirrtuch nach ihm schlug. Mit der freien Hand schnappte er sich die Salatschüssel. „Also kommt, ihr beiden. Und bringt Getränke mit, die Meute hat Durst“, orderte er im Hinausgehen an.

„Na, dann wollen wir mal“, entschied Eva und hopste vom Barhocker. „Ich habe schon einen Mordshunger.“

Jess zog Bier und zwei große Flaschen Cola aus dem Gefrierfach. „Oh gut, die sind schön kalt. Nimmst du das Mineralwasser?“

„Am besten hat es mir jedenfalls in San Francisco gefallen“, griff Eva den Faden wieder auf, während sie gemeinsam die verschiedenen Getränke hinaus auf die Terrasse trugen und auf den Tischen verteilten. „Ich könnte mir gut vorstellen, dort zu leben. Mein Gott, die Seelöwen am Pier 39! Das muss man gesehen haben. Da lebt seit vielen Jahren eine riesige Kolonie. Weißt du, dass praktisch einen Tag vor unserer Abreise alle 400 Tiere vom Pier verschwunden sind? Das ist schon einmal vor ein paar Jahren passiert. Bin gespannt, ob sie wiederkommen. Und die Pelikane am Mission Bay hättest du sehen sollen! Ich musste immer wieder hochschauen, als sie so über unsere Köpfe hinweg segelten. Sie sehen von unten aus wie Flugsaurier! Warte ab, bis ich dir die Fotos zeige … Wo sind denn die Gläser?“

„Keine Gläser und Porzellanteller heute Abend, meine kleine Tiernärrin. Heute ist ausnahmsweise Plastik angesagt. Mein Geschirrspüler ist kaputt und ich habe nicht vor, bis morgen früh in der Küche zu stehen und abzuspülen. Und außerdem trinkt man Bier doch aus der Flasche, oder?“

Auf der Terrasse herrschte eine ausgelassene Stimmung. Die hungrigen Gäste umlagerten bereits die beiden Biertische.

„Nachschub kommt sofort!“, rief Jess und eilte mit großen Schritten zurück ins Haus. Eva schnappte sich zwei Corona und suchte mit den Augen nach Ralph, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Vielleicht war er ins Bad gegangen? Sie legte ihren Seidenschal neben sich auf die Sitzbank, um einen Platz für ihn frei zu halten. Zerstreut beobachtete sie Tom, der den Gästen die garen Würstchen und Steaks in einer großen Aluminiumschale servierte.

„Achtung, heiß und fettig!“

„Wo hast du denn deinen Gehilfen gelassen?“, erkundigte sich Eva neugierig. Sie spießte ein Würstchen auf ihre Gabel und ließ es auf den Ralph zugedachten Plastikteller gleiten.

“Gute Frage! Dein Mann hat wirklich Talent, sich im richtigen Augenblick aus dem Staub zu machen. In einem Moment wendet er noch ganz unschuldig die Rippchen, im nächsten ist er plötzlich verschwunden.“

„Wie meinst du das?“

„Na ja, er löste sich praktisch in Luft auf. Zuerst verschlug es ihn hinten in die Büsche – dann sah ich ihn zum Gartentor hinaus spurten. Susanne, nimm für die Kids noch Würstchen“, wandte er sich an seine Schwester. „Ketchup und Senf sind dort drüben. Nehmt euch auch von dem Kartoffelsalat, Jungs. Tante Jess hat ihn extra für euch gemacht.“

„Und wohin ist Ralph gegangen?“, fragte Eva stirnrunzelnd und scannte die Umgebung mit ihren Blicken.

Tom zuckte die Achseln und widmete sich den anderen Gästen am Tisch. Dann aber tippte er Eva kurz auf die Schulter.

„Da schau. Da kommt sie ja schon angetrabt, deine bessere Hälfte! Guten Abend, der Herr!“, rief er Ralph spöttisch zu und zog mit seiner Würstchenplatte weiter. Ralph eilte über den Gartenweg herauf und ließ sich ein wenig atemlos eben Eva nieder.

„Was war denn los?“, fragte sie irritiert und zupfte einen kleinen trockenen Zweig von seinem Pullover.

„Ach nichts“, wiegelte er ab und klatschte einen großen Löffel Kartoffelsalat auf seinen Teller.

„Nun sag schon.“

„Es ist nichts, wirklich.“

„Du hast also einfach so ohne besonderen Grund beschlossen, in der Ligusterhecke Verstecken zu spielen und danach einen kleinen Spaziergang um den Block zu machen, ja?“

„So ungefähr.“

„Ralph …“

„Also gut. Ich dachte, ich hätte jemanden herumspionieren sehen. Aber ich habe mich getäuscht, da war niemand.“

„Herumspionieren?“ Eva spürte zwar seine wachsende Gereiztheit, wollte ihn aber noch nicht vom Haken lassen. „Was meinst du damit?“

Er atmete geräuschvoll aus. „Damit meine ich herumlungern, rumschnüffeln, spionieren – such dir was aus! Was ist das hier eigentlich, ein Verhör?“ Eva riss erstaunt die Augen auf. Sofort senkte er die Stimme. „Schau, ich mag es eben nicht, heimlich beobachtet zu werden. Ich dachte, da wäre jemand hinter der Hecke und –“

„Durchaus möglich, dies ist schließlich eine öffentliche Straße“, versetzte Eva schnippisch. Was war nur in ihn gefahren, sie vor den Leuten so anzufahren? Sie hatte durchaus die neugierigen Blicke ihrer Tischnachbarn wahrgenommen, die unfreiwillig Ohrenzeugen ihrer kleinen Meinungsverschiedenheit geworden waren.

Ralph schien etwas entgegnen zu wollen, entschied sich aber anders und leerte in einem Zug die halbe Bierflasche. Warum verhielt sich ihr Mann derart nervös? „Und, hast du die Person gesehen?“

„Nein. Als ich um die Ecke bog, war da kein Mensch weit und breit. Vielleicht habe ich mich einfach geirrt. Ende der Geschichte, jetzt wird gegessen.“ Demonstrativ biss er von seinem Würstchen ab und kaute genussvoll.

Eva zuckte die Achseln und häufte Salat und gegrilltes Gemüse auf ihren Teller, während sie gleichzeitig aus den Augenwinkeln bemerkte, dass Ralph immer wieder einen argwöhnischen Blick zu der immergrünen Hecke warf.

Gegen Mitternacht löste sich die Partygesellschaft langsam auf. Ralph war schon vor einer halben Stunde nach Hause gegangen, doch Eva hatte darauf bestanden, Jess noch beim Aufräumen zu helfen.

„Nichts da“, wehrte diese jedoch ab. „Geh ruhig nach Hause, dein Mann wartet sicher schon auf dich.“

„Das wage ich zu bezweifeln. Außerdem helfe ich dir gerne. Wo sind die Abfalltüten?“

Jess ging in die Küche und kehrte mit einer Rolle schwarzer Plastiksäcke zurück. „Sag mal, alles in Ordnung bei euch? Ralph wirkte heute Abend irgendwie abwesend.“

Eva seufzte und warf die gebrauchten Plastikteller in einen großen Müllsack. „Er wirkte nicht nur abwesend, er war es auch.“

„Häh?“

„Hast du nicht mitbekommen, dass er auf Phantomjagd ging?“

„Keine Ahnung wovon du sprichst. Igitt! Warte, nehmen wir einen neuen Sack. Der hier tropft.“

„Oh, stimmt. Pass auf deine Schuhe auf!“ Eva reichte Jess eine neue Mülltüte. „Als du und ich mit den Getränken auf die Terrasse kamen, war Ralph spurlos verschwunden. Einige Minuten später tauchte er dann wieder auf und behauptete, er habe jemanden hinter der Hecke herumschleichen sehen und hätte die Person stellen wollen. Als ich fragte, ob er erfolgreich gewesen sei, wurde er regelrecht giftig.“

„Und was ist daran seltsam? Überlege doch mal: Der große Häuptling wollte sein Weibchen beeindrucken und musste stattdessen unverrichteter Dinge vor seiner Angebeteten antanzen. Da reagiert man als Mann schon mal gereizt!“ Jess konnte nur mit Mühe ein Kichern unterdrücken. „Wirklich Eva, ich dachte immer, du wärst so einfühlsam!“

„Hahaha. Mach dich nur lustig. Ich mag es nun mal nicht, vor anderen Leuten von meinem Mann angepflaumt zu werden. Irgendetwas ist ihm heute anscheinend über die Leber gelaufen, und ich habe nicht die geringste Ahnung, was es gewesen sein könnte. Und um ehrlich zu sein, es ist mir auch egal.“ Eva zuckte scheinbar gleichgültig die Achseln.

„Ja, sicher. Hör mal, ich erledige das jetzt hier alleine. Nein, keine Widerrede! Geh jetzt nach Hause und sprich mit ihm. Oder tu, was auch immer zwei frisch Verheiratete eben so tun, wenn sie alleine sind. Ich glaube, du weißt, was ich meine … Na los, das ist ein Befehl!“

Eva lächelte. Jess fand einfach immer die richtigen Worte, um sie aufzumuntern. Sie gab sich einen Ruck.

„Na gut, dann mach ich das. Schlaf gut, meine Hübsche. Und danke für das schöne Fest.“

Sie umarmten sich kurz und Eva eilte über die Straße zu ihrem Haus. Ralph sah sich im Wohnzimmer einen Film im Spätprogramm an. Als sie eintrat, stand er auf und kam auf sie zu. An seiner zerknirschten Miene ließ sich sofort erkennen, dass er sich wieder gefangen hatte.

„Schatz, komm mal her,“ bat er und zog sie an sich. „Tut mir leid, ich habe mich heute Abend wie ein Idiot benommen. Keine Ahnung, was in mich gefahren ist, meine schlechte Laune an dir auszulassen. Kannst du mir verzeihen?“ Er nahm Evas Hand und küsste zart ihre Handfläche.

Sie dachte an Jessicas letzte Worte und lächelte in sich hinein. Keine Frage, sie wusste genau, wie ihr Göttlicher am Besten um Verzeihung bitten konnte …