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Über dieses Buch:

Ende des 19. Jahrhunderts in China: Aufständige Chinesen überfallen eine europäische Delegation – der einzige Überlebende ist der vierjährige Robert de la Motte. In letzter Minute rettet ein angesehener Mandarin dem Jungen das Leben und zieht ihn fortan wie seinen eigenen Sohn auf. Als junger Mann gewinnt er die Gunst des Kaisers Guang Hsü. Doch schon bald gerät er am kaiserlichen Hof zwischen alle Fronten – nun ist es an ihm, zwischen den Kolonialmächten und dem chinesischen Kaiserreich zu vermitteln. Aber wie kann er den Erwartungen zweier Völker gerecht werden?

Die imposante Geschichte einer untergegangenen Epoche – in seinem perfekt recherchierten und mitreißend erzählten Historien-Epos über die Zeit der Boxeraufstände entführt Klaus von Gaza seine Leser in das geheimnisvolle wie faszinierende China!

Über den Autor

Klaus von Gaza wurde im Jahr 1940 in Hamburg geboren. In jungen Jahren war er Schiffsjunge und Vollmatrose. Daran schlossen sich verschiedene weitere Berufe an: jedes Mal eine Herausforderung, Neues zu erlernen. So legten diese vielschichtigen Erfahrungen sein schriftstellerisches Fundament. Beeindruckt von Erzählungen über seinen Urgroßvater C. Meyer-Glitza, den ersten Konsul Koreas und zugleich Handelsherr in China und Hongkong, schrieb er nach jahrelangen Recherchen seinen ersten historischen Roman »Der Sohn des Mandarins«. Heute lebt der Autor in Schleswig-Holstein am Nord-Ostsee-Kanal. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.

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eBook-Neuausgabe März 2019

Copyright © der Originalausgabe 1999 by Lichtenberg Verlag GmbH, München

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: HildenDesign, München, unter Verwendung von shutterstock.com/kikujungboy und agile rabbit editions, xu-beihon

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)

ISBN 978-3-96148-408-9

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Klaus von Gaza

Der Sohn des Mandarins

Roman

dotbooks.

Inhaltsverzeichnis

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

ZWÖLFTES KAPITEL

DREIZEHNTES KAPITEL

VIERZEHNTES KAPITEL

FÜNFZEHNTES KAPITEL

SECHZEHNTES KAPITEL

SIEBZEHNTES KAPITEL

ACHTZEHNTES KAPITEL

NEUNZEHNTES KAPITEL

ZWANZIGSTES KAPITEL

EPILOG

Lesetipps

ERSTES KAPITEL

OHNE DEN LEICHT geneigten Kopf zu heben, musterte Lin Nie-fü aus zusammengekniffenen Augen den schwitzenden Wahrsager. Der Mann roch nach ranzigem Fett und feuchtem Schmutz. Obwohl er sich sehr nach der Ruhe und Geborgenheit seines Hauses in Tientsin am Peiho, dem weißen Fluß, sehnte, ließ er keine Ungeduld erkennen.

Der Wahrsager sprach mit schneller, heiserer Stimme und deutete unter fortwährendem Nicken auf die verschiedenen Kartenbilder, die vor ihm lagen. Plötzlich schob er sie zusammen und holte stattdessen eine Handvoll unterschiedlicher Hölzchen aus der Tasche seines langen, blauen Kittels.

Lin Nie-fü, Mandarin des vierten Grades, wußte, daß ihm nur noch für heute und die folgenden Tage geweissagt werden würde. Sein strenges und beherrschtes Gesicht verriet mit keiner Regung jenen Stolz, den er empfand. Gestern noch hatte er einen niedrigeren Rang bekleidet, den des fünften Grades, erkennbar an einem durchsichtigen Kristallknopf am Hut und einem gestickten Silberfasan auf der Galatracht. Heute hatte er vom Regenten des Kinderkaisers, Prinz Kung, die Ernennungsurkunde zum Mandarin des vierten Grades erhalten und durfte nun seinem neuen Rang entsprechend den dunkelblauen Knopf und die gestickte Wildgans auf dem blauen Umhang tragen.

Behaglich lehnte er sich zurück und sah sich in Gedanken noch einmal die Stufen der Audienzhalle emporschreiten, voller Achtung den Kotau vor Prinz Kung vollziehen, der die Macht des Kaiserhauses durch sein drachenbesticktes, blauseidenes Gewand zur Schau stellte, um sodann höflich gebeugt die Ernennungsurkunde entgegenzunehmen. Wie erstaunlich schnell dann alles gegangen war: die flüchtige Verbeugung des Prinzen, der Wink des Obereunuchen, woraufhin die drängenden Diener ihn bis zum Portal geleiteten und ihn im Eilschritt in seiner Sänfte zu jener verlausten und verschmutzten Herberge zurücktrugen, wo er notgedrungen übernachtet hatte. Dort hatte er in der winzigen Kammer zum ersten Mal seine neuen Kleider angelegt und sich daran erinnert, wie er vor Jahren schon einmal in derselben Herberge voller Stolz die Galatracht mit dem Silberfasan vor sich ausgebreitet, sie dann endlich übergezogen hatte und voller Freude in dem winzigen Raum herumgetanzt war.

Lin Nie-fü hatte die Augen geschlossen. Auf welche Wege würde ihn das Schicksal noch führen? Würde er jemals einen Pfau und den lichtblauen Seidenknopf tragen dürfen? Dann würde er noch einen Rang höher stehen und seinem Freund Li, dem Salzkommissar, gleichgestellt sein.

Als wollte er ein böses Bild vertreiben, strich sich der Wahrsager hastig mit der knochigen, von Altersflecken übersäten Hand über die Augen und schielte ängstlich zu dem Mandarin hinüber.

»Was wollt Ihr mir sagen?« fragte Lin Nie-fü, dem die unwillkürliche Geste des Alten keineswegs verborgen geblieben war.

»Ein Unglück, Herr!« Seine Stimme klang vor Aufregung jetzt kehlig. »Vergebt einem nichtsnutzigen Untertan! Sollen Euch zehntausend Jahre nur Freude widerfahren, aber entlaßt mich aus Euren Augen.« Die Worte kamen ihm vor Aufregung nur stoßweise über die Lippen, und als Lin Nie-fü sich weiter in Schweigen hüllte, fiel er vor ihm auf den Boden, berührte ihn dreimal mit der Stirn und hielt seine Hände in Höhe des Kopfes parallel dazu ausgestreckt.

»Steht auf!« befahl Lin Nie-fü. Noch lag im Klang seiner Stimme eher Neugier als Ärger. »Erzählt, was Euch die Hölzer sagen!«

Nur zögernd beendete der Seher seinen Kotau. Das verrunzelte Gesicht war nun mit unzähligen kleinen Schweißperlen bedeckt, die, wenn sie sich berührten, zu Tropfen anwuchsen und den Runzeln folgend über sein Gesicht rollten, am Kinn im schütteren, graugesprenkelten Barthaar zusammentrafen und abtropften. Die dunklen Ringe unter seinen Augen zeigten, wie erschöpft er sich fühlen mußte. Unter dem strengen Blick des Mandarins wagte er sich weder zu entfernen noch zu lügen, sondern beugte sich erneut über die Hölzer. Dabei hielt er seine Augen geschlossen, um die Konstellation der Stäbchen nicht noch einmal ansehen zu müssen.

Nun wurde Lin Nie-fü doch ärgerlich und bereute, seine Wachen bei der Sänfte vor der Pagode zurückgelassen zu haben, denn für diese Frechheit verdiente der Wahrsager mindestens dreißig Bambushiebe.

Erschrocken fuhr der Seher zusammen, als Lin Nie-fü sich erhob und dem Ausgang des Tempels zustrebte. Aus Angst vor der drohenden Strafe sprang er von seinem Sitz und lief trippelnd einige Schritte hinter ihm her. »Herr, Euch wird ein Unglück heimsuchen!« rief er und hoffte, der Mandarin würde umkehren, weil das Unglück sonst ihn treffen könnte. »Euer Sohn ...«

Lin Nie-fü blieb augenblicklich stehen. Vergessen waren der dunkelblaue Knopf und die gestickte Wildgans, vergessen auch der Zukunftstraum. »Was ist mit meinem Sohn?«

»Eurem Sohn«, der Wahrsager stockte kurz, »wird sehr bald ein Unglück widerfahren!«

»Wann?« Lin Nie-fü kehrte mit dem Seher im Gefolge um.

Behutsam, um nicht mit den zitternden Fingern die restlichen Hölzer zu verwerfen, nahm der Wahrsager das oberste ab und legte es zur Seite. »Wenn die Abendsonne den Himmel das dritte Mal rot färben wird!«

Gebannt starrte Lin Nie-fü auf das kleine, schicksalhafte Hölzchen, in das mehrere tiefe Kerben geschnitzt waren. »Und was wird geschehen?«

Die heisere Stimme des Wahrsagers krächzte nur noch. »Der Flußgott will ihn zu sich holen!«

Einen Augenblick verharrte Lin Nie-fü bewegungslos. Dann ließ er sich mutlos auf die Bank fallen. Sein Sohn, das Juwel seines Herzens, der Sonnenstrahl seines Alters. Es durfte einfach nicht sein! Wer würde dann nach seinem Tod die Riten übernehmen, um seinen Geist zu den Ahnen zu führen? Würde sein Geist dazu verdammt sein, umherzuirren, wenn er diesen einen Sohn verlieren würde?

Mit schnellen Schritten eilte er zu seiner Sänfte vor der Tür und mit herrischem Händeklatschen trieb er die in der Sonne dösenden Träger und Begleitsoldaten an. »Weiter, schnell!«

Die Kolonne setzte sich in Bewegung. Voran die Trompeter und Trommelschläger, die den Zug verkündeten. Hinter ihnen rasselten die Büttel mit Ketten und knallten die Peitschen. Vier Träger trugen die Sänfte mit den glänzenden Zierknöpfen an den Tragestangen, flankiert von weiteren Dienern, die die Amtsinsignien ihres Herrn an langen Stangen in die Höhe hielten, und gefolgt von zwei Speerträgern sowie zwei Lanzenträgern, die den Zug abschlossen.

Erst als sie durch das Tschien-Tor eilten, das sie aus der Tatarenstadt in die Chinesenstadt führte, bildeten zwei Diener die Spitze, die nun rücksichtslos mit ihren Bambusstöcken auf die entgegenkommenden Leute eindroschen, damit die Sänfte schneller vorwärtskommen konnte.

Der heiße Juliwind trieb Wolken dunklen Staubes wie Nebelschwaden über die flachen Häuser Pekings. Damit der Staub nicht von der Straße hochgewirbelt wurde, fuhren ununterbrochen Wagen mit großen Fässern, aus denen Kulis mit großem Eifer die Wege bespritzten. Es roch unerträglich nach Jauche und Unrat, denn der Inhalt der Fässer bestand aus Abwässern. Wo blieb der langersehnte Regen?

Lin Nie-fü hatte schon längst die Fenster der Sänfte mit den Seidenvorhängen verhüllt und hielt sich im Halbdunkel des Inneren ein Tuch vor die Nase. Die Straße wurde nun erheblich breiter und ging allmählich zu beiden Seiten in erhöht liegende Tempelanlagen über. Die Tempel des Himmels und des Ackerbaus säumten, von mehreren Marmorbalustraden in verschiedenen Höhen umgürtet, das südliche Haupttor. Dahinter lag das weite, flache Land.

Lin Nie-fü entstammte einer uralten, reichen Familie aus der Provinz Hunan, deren Mitglieder seit vielen Generationen als Mandarine im Staatsdienst tätig gewesen waren. Es war üblich, daß die Mandarine nur für je drei Jahre ihr Amt an einem Ort bekleideten und dann versetzt wurden. Auf diese Weise versuchte die Zentralregierung in Peking zu verhindern, daß ihre Vertreter im Land allzu mächtig wurden oder sich gar gegen das herrschende Regime verbündeten. Dadurch wurden die heiligen Familienbande schnell zerrissen, denn ebenso unüblich war es, daß mehrere Mandarine aus einer Familie in derselben Provinz Anstellung fanden.

Lin Nie-fü erinnerte sich nur zu gut an seinen Bruder, der zwar das Glück gehabt hatte, seine Eltern bei sich wohnen zu haben, der aber kinderlos geblieben war. Keine seiner vielen Nebenfrauen hatte ihm ein Kind schenken können, so daß er aus Verzweiflung einen Sohn adoptierte. Natürlich war der Stand der Gestirne bei dessen Geburt genauestens überprüft und gedeutet worden, sogar mehrere Wahrsager hatte man befragt, ob diese Verbindung Glück bringen würde. Es hatte keine Einwände gegeben. Trotzdem war der Junge eines Tages verschwunden, und mit ihm Tausende Taels Silber. Bevor sich der Bruder zu einer neuen Adoption entschließen konnte, war er unerwartet gestorben. Lin Nie-fü erinnerte sich noch gut daran, wie ihn damals die Nachricht erreichte, daß seine bildhübsche Schwägerin aus Kummer darüber ihre Pflicht als Schwiegertochter vergessen hatte. Anstatt die Eltern ihres Mannes aufopfernd bis zum Tode zu pflegen, hatte sie sich mit Rohgold das Leben genommen.

Damals war er selbst noch Lückenwarter gewesen. Er hatte also noch kein Amt als regulärer Mandarin bekleidet, sondern wartete auf einen freiwerdenden Posten. Er war vom Gouverneur mit der kommissarischen Aufgabe betraut worden, die zur Provinz Kwangtung gehörenden Kriegsdschunken zu zählen und einen Finanzplan für deren Modernisierung auszuarbeiten. Die Nachricht vom Tod des Bruders traf zusammen mit seiner Beförderung zum Mandarin des neunten Grades ein, zum Polizeipräsidenten einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Kanton. Die Beförderung kam für ihn völlig unerwartet, denn es gab viele Lückenwarter, die bis an ihr Lebensende einfach vergessen wurden. Deshalb hatte er darauf verzichtet, zu den Beisetzungsfeierlichkeiten zu fahren, und statt dessen sein neues Amt angetreten. Dann war die Nachricht vom Tod der Schwägerin gekommen, und bevor er sich besorgt auf den Weg zu seinen Eltern machen konnte, erreichte ihn ihr Schreiben, daß sie zu ihm kommen wollten. Sie waren nie angekommen. Wochenlang hatte er gewartet, als man zufällig ihre Leichen fand. Sie waren in den Bergen von Hunan von Räubern überfallen und getötet worden.

Lin Nie-fü hielt sich mit beiden Händen die pochenden Schläfen. Hatte er nicht jeden Tag vor dem Hausgötzen gebetet? Sehr oft, vielleicht sogar zu oft, teure Opfer gebracht? Was hatte nur dessen Zorn erregt? Jahrelang waren der Götze und er gut miteinander ausgekommen. Keiner konnte sich beklagen. Noch nie hatte er am Ende des Jahres Grund gehabt, ihn anzuschreien, zu schlagen oder gar auf den Abfallhaufen zu werfen. Warum sollte sich daran so plötzlich etwas ändern?

Lin Nie-fü drückte mit den Fingern gegen die schmerzenden Augen. »Ich will jeden Tag ein Gebet mehr sprechen!« hauchte er kaum hörbar. »Ich werde unserem Götzen ein schönes und teures Opfer bringen. Verschone bitte meinen Sohn. Nimm mir mein ...« Er stockte und fragte sich, ob das Angebot zu großzügig sei, schob die Bedenken aber sofort beiseite. »... mein Augenlicht. Nimm alles, was du haben willst, aber laß mir meinen Sohn!«

Endlos weit erstreckte sich das flache Land vor seinen Augen. Kein Baum, kein Hügel durchbrach die Monotonie. Nur endlose Felder und staubiger Wind. Wind und Staub, vor dem es kein Entrinnen gab. Wo blieb der Regen? Die holprige Straße nach Tientsin führte fast schnurgerade nach Süden. Die flimmernde Hitze gaukelte ihm in einiger Entfernung Wasserlachen und Pfützen vor, die sich beim Näherkommen immer wieder auflösten, um in weiterer Entfernung erneut zu entstehen.

***

Auguste de la Motte seufzte und versuchte, nicht mehr an Deutschland zu denken. Nicht mehr an das schöne Herrenhaus am Damischen See bei Stettin und an das weitaus angenehmere Klima zu Hause. Jetzt mußte er in der Fieberhölle von Schanghai leben, jenem Sumpfland, dessen Grundwasserspiegel nur eine Handbreit unter dem Erdboden lag. In einer Gegend, in der man nicht sagte: »Wie geht es Ihnen?«, sondern: »Ich hoffe, es geht Ihnen heute etwas besser«.

Der leichte Wind, der über das Deck des Postdampfers strich, umspielte die langen Haare seines Sohnes. Robert lag mehr auf seinem Stuhl, als daß er saß, und sein müder Blick hing an den sich hoch auftürmenden weißen Wolken. An dem Pferdekopf mit der wehenden Mähne, an dem Eisbären, der mit seiner Pranke nach dem Mädchenkopf tatzte, und an den vielen anderen Wolken, die sich noch nicht zu erkennen gegeben hatten.

»Morgen werden wir Taku erreichen!« murmelte Auguste de la Motte und versuchte die Aufmerksamkeit des Jungen auf sich zu lenken. Die Kumuluswolken wurden seit einiger Zeit immer kleiner und trieben nun als weiße Flotte mit geblähten Segeln auf die untergehende Sonne zu. Hoch über ihnen färbten sich dünnverwehte Zirruswolken in blasses Rosa.

Robert fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und empfand den leichten Salzgeschmack als angenehm. »Holt uns Onkel Didier ab?« Seine braunen Augen suchten das vertraute Gesicht des Vaters.

»Versprochen hat er es«, murmelte Auguste de la Motte.

Ohne seinen Vater aus den Augen zu lassen, nickte der Kleine. »Ob er wohl ein Geschenk für mich hat?«

Die Stirn des Vaters verriet Unmut, weil es seinem Sohn wieder einmal gelungen war, geschickt, wenn auch über Umwege sein Hauptinteresse in den Vordergrund zu stellen. Erika, seine Frau, hätte in dieser Situation bestimmt nur gelächelt, sich über ihren Sohn gebeugt und auf verschwörerische Weise mit ihm Gedanken über den Umfang etwaiger Geschenke ausgetauscht.

»Onkel Didier ist Priester, und außerdem besuchen wir ihn, also müßten wir ihm etwas mitbringen!«

Robert faßte die Antwort seines Vaters als Vorwurf auf, denn warum sollte ein Priester einem vierjährigen Jungen nichts schenken? Warum war bloß Mama nicht mitgekommen! Sie würde ihm alles viel besser erklären können. »Warum ist Mama eigentlich nicht mit uns?«

»Sie fährt mit einem anderen Schiff zu Opa nach Deutschland!«

Das Rosa der Zirruswolken wurde zusehends intensiver und tauchte nun auch die letzten Schäfchenwolken in ein liebliches Licht. Das strahlende Blau des Himmels wurde langsam blasser, und als sich die Sonne dem Horizont bis auf eine Handbreit näherte, verwandelte sich das schwache Blau über der Kimm in Türkis. Aus dem hohen Schornstein des Dampfers quollen dunkle Rauchwolken. Sie wurden vom leichten Seewind seitwärts getrieben, verwirbelten und lösten sich langsam über der Wasseroberfläche neben dem silbern quirlenden Band des Kielwassers auf.

Robert erhob sich umständlich aus seinem Stuhl und ging an die Reling. Die Sonnensegel über ihm zurrten an den Laschings, und wenn der träge Wind die Planen anhob, rollte die Beule wie eine Welle weiter und ließ die Plane am Ende gegen das Holzgestell schlagen.

Die flachen Berge der Halbinsel Shantung ließen mit den letzten Sonnenstrahlen noch einmal plastisch die Strukturen ihrer Täler und Einschnitte erkennen, um dann beim schnell schwindenden Tageslicht zu einer dunklen Masse zu verschmelzen. Die Miadaoinseln ragten im letzten Viertel der Sonne wie riesige, flache Pfannkuchen aus dem Meer, und nachdem der obere Rand der Sonne im Wasser verschwunden war, explodierte am Himmel ein Farbenfeuerwerk. Von Sekunde zu Sekunde changierten die leuchtenden Farben von tiefem Rot zu Purpur, von Gelb zu Ocker und von Türkis zu Grün. Doch ebenso plötzlich, wie es begonnen hatte, erlosch das Farbenspiel, und es wurde rasch dunkel.

Fröstelnd legte de la Motte seinen Arm um Roberts Schultern. »Es ist Zeit, ins Bett zu gehen!« sagte er leise und gab dem chinesischen Kindermädchen ein Zeichen, sich um den Jungen zu kümmern.

Träge setzte sich de la Motte in seiner Kabine unter das weit geöffnete Bullauge. Hin und wieder spielte der Fahrtwind mit den schweren Vorhängen. Er war faul. Zu faul, um sich eine Zigarre anzuzünden, und bei dem Gedanken an seine Frau verschränkte er unwillkürlich die Arme vor der Brust. Würde sie es schaffen, ihren störrischen Vater dazu zu überreden, ihnen noch einmal Geld zu borgen, damit sie das Warenangebot der Firma vergrößern konnten? Bisher war mit dem Bau von Eisenbahnlinien im Reich der Mitte noch nichts zu verdienen gewesen.

Dagegen lief das Geschäft der Engländer und Franzosen mit Waffen aller Art glänzend. Neidvoll hatte er die Taipane dieser Firmen beobachtet, wie sie sich von dem Profit ihrer umfangreichen Geschäfte Paläste errichten ließen und kometenhaft zum erlesenen Geldadel der Schanghaier Kolonie aufgestiegen waren.

Er wußte, daß sein Schwiegervater ein Mensch mit eisernen Grundsätzen war. Der Handel mit Waffen gehörte für ihn in den Bereich der Kriminalität. Oft genug hatte er dem Alten seine Pläne in den schönsten Farben geschildert, um nichtsdestoweniger immer wieder eine schroffe Abfuhr zu erhalten. Nun stand der Ruin der Firma kurz bevor. Der Firma, die Erika als Hochzeitsgeschenk mit in die Ehe gebracht hatte. De la Motte erinnerte sich, wie er damals seinem Schwiegervater die Hand gedrückt und mit tiefbewegten Worten seinen Dank zum Ausdruck gebracht hatte. Das Vermögen der Krögers blieb jedoch in der Stettiner Werft, und darauf behielt der schlaue Alte eifersüchtig seinen Daumen.

Endlich schien sich nun ein erstes großes Geschäft anzubahnen. Der Vizekönig von Kiangsu hatte unter großartigen Versprechungen, ihn die künftigen Eisenbahnlinien errichten zu lassen, ein Vermögen an Bestechungsgeldern angenommen. Das bisher einzig sichtbare Ergebnis jedoch war, daß dieser ihm nach Ablauf seiner Amtszeit in dieser Provinz sein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht hatte, leider nicht dem Wunsch der Firma entsprochen zu haben.

Nun war sein Verhandlungspartner als Vizekönig nach Petschili, der kleinsten, aber wichtigsten Provinz, versetzt worden. Wichtig deshalb, weil die ›Nördliche Hauptstadt‹ Peking, auch ›die dem Himmel gehorchende‹ genannt, darin lag, die noch keine Bahnverbindung, weder zur nächsten Hafenstadt Tientsin noch zu anderen wichtigen Metropolen, besaß.

Sein Bruder Didier hatte ihm unter schwierigsten Umständen eine Audienz bei diesem Vizekönig beschaffen können, und nun waren sie auf dem Weg dorthin, von der Hoffnung getragen, daß diese Reise am Ende von Erfolg gekrönt sein würde. De la Motte stand nun doch auf und zündete sich eine Zigarre an. Wie ein gefangenes Tier lief er die wenigen Schritte in der engen Kabine auf und ab und rauchte mit hastigen Zügen.

Am nächsten Tag rasselte nach dem Frühstück die Ankerkette des Postdampfers auf der Reede von Taku über das Ankerspill in die gelben Fluten. Noch während des Ankermanövers hielt ein Segelboot auf sie zu, umrundete das Heck des Dampfers, und federnd sprang der weißgekleidete Hafenoffizier auf das Fallreep, das mittschiffs bis auf das Wasser herabgelassen war.

Auguste de la Motte mit seinem Sohn und dem Dienstpersonal waren die einzigen Passagiere, die hier an Land gingen. Je näher sich der wendige Segler dem Land näherte, um so drückender legte sich die Hitze auf sie. Die sanfte Meeresdünung verlor sich, als das Segelboot die natürliche Barre aus Schlamm und angeschwemmtem Sand vor der Mündung des Peiho überquerte.

Auf dem Anlegerponton in Taku sah eine dunkelgekleidete, schlanke Gestalt dem näher kommenden Boot aus der aufgehenden Sonne blinzelnd entgegen. Erst als Didier de la Motte die wohlbekannte Gestalt seines Bruders ausmachte, huschte ein freudiges Lächeln über sein Gesicht, und winkend hob er die Hand.

Hinter der Sperre des Anlegers herrschte ein unbeschreibliches Gedränge. Lumpenbekleidete, hagere Kulis, die sich lautstark schreiend anpriesen, um die Neuankömmlinge mit dem Boot, einem schmalen Flußkahn ähnlich, nach Tientsin zu bringen; oder andere, die über den Landweg mit den üblichen zweirädrigen kleinen Plankarren und den einzeln hintereinander angeschirrten Pferden unbedingt das Geschäft machen wollten und sich dabei Casch um Casch unterboten.

Nachdem sich die Brüder wortlos umarmt hatten, beugte sich der Geistliche zu Robert hinab und küßte ihn. »Ich hoffe, du hattest eine angenehme Fahrt!« sagte er mit wohlklingender Stimme in französischer Sprache, wiederholte aber seine Frage sofort auf deutsch, als er den verwunderten Blick seines Neffen bemerkte.

»Ich hab's verstanden«, sagte Robert gekränkt, »und ich kann sogar chinesisch sprechen!«

»Das stimmt«, nickte sein Vater, »er hat ein Talent für Sprachen.«

»Hast du mir was ...«

»Robert!« Die mahnende Stimme seines Vaters hatte die gleiche Wirkung wie ein erhobener Zeigefinger.

»Ich hab ein schönes Geschenk für dich«, ging der Priester schnell auf den drängenden Jungen ein. »Es liegt noch in der Mission. Du wirst dich bestimmt darüber freuen«, raunte er geheimnisvoll, und sein Lächeln übertrug sich auf Robert. »Ich schlage vor, wir nehmen den Landweg«, wandte er sich wieder an seinen Bruder, »dann bekommt ihr einen ersten Eindruck von unserer Provinz.«

Nachdem für Dienerschaft und Gepäck mehrere Wagen gemietet waren, zogen die Gespanne an. Die flache, eintönige Landschaft wurde nur selten von größeren Ansammlungen kärglicher Lehmhütten unterbrochen. Dafür standen die mit Bohnen, Mais, Baumwolle und Rizinusstauden bestellten Felder prächtig, wenn auch kein Baum, kein Wald, kein Hügel die Eintönigkeit unterbrach.

Die Kolonne hatte gerade die niedrigen Lehmforts von Taku passiert, die links und rechts des Peiho als erste Befestigungsanlagen zum Schutz Tientsins und damit auch Pekings erbaut worden waren. Hier stiegen die beiden Brüder trotz der zunehmenden Hitze aus und wanderten neben den gemächlich dahinzockelnden Wagen her. Robert hatte es vorgezogen, vorn auf der Gabeldeichsel neben dem Kutscher sitzen zu bleiben.

»Was hast du erreicht?« fragte Auguste voller Hoffnung.

Didier hob beide Arme. »Ich habe den Vizekönig nicht selbst sprechen können. Aus seiner unmittelbaren Umgebung konnte ich allerdings klar heraushören, daß er lieber Kanonen kaufen würde als Eisenbahnschienen. Und von Krupp müssen sie sein! Das hat er sich in den Kopf gesetzt!«

Auguste schwieg und biß sich vor Enttäuschung auf die Lippe. Hoffentlich hatte Erika bei ihrem Vater Erfolg.

Der weitere Weg führte über endlose Friedhöfe, die von Dörfern oder kleinen Städten unterbrochen wurden. Zwischen den Gräbern verstreut lagen alte, fast vermoderte Särge, die offenbar von Grabräubern geplündert worden waren, und dazwischen Tausende kleine Denkmäler, die in ihrer Form an Butterglocken erinnerten.

Ungehalten wandte sich Auguste wieder seinem Bruder zu. »Der Vizekönig hat uns bereits ein Vermögen gekostet. Wenn wir jetzt keinen Auftrag ...« Der Ärger schnürte ihm die Kehle zu. Er faßte seinen Bruder am Arm und zog ihn etwas näher an sich heran. »Man hört immer wieder von Aufständischen und ihren Greueltaten an Europäern. Was ist daran wahr?«

Didier lächelte. Es war das gleiche unbekümmerte Lächeln wie damals, als sie noch als große Familie zusammen in Frankreich gelebt hatten. »Wir sind dabei, ein großes Volk zu wecken, es mit Gott und dem Segen der Christenheit in die Zivilisation zu führen! Das scheint nicht allen Chinesen recht zu sein!«

»Und was ist nun wirklich los?« fragte Auguste irritiert.

»Einige Wirrköpfe gibt es schon! Aber unsere Mission macht großartige Fortschritte. Du darfst nicht vergessen, daß das Land unter dem Opiumkrieg schwer zu leiden gehabt hat. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, daß sich die Bevölkerung Fremden gegenüber sehr reserviert verhält.«

»Nicht nur unter dem Opiumkrieg! Hast du vergessen, wie deine Landsleute von hier aus den kaiserlichen Sommerpalast eroberten, ihn dann plünderten und wie sich besonders euer General Cousin über das Maß der Bescheidenheit hinaus bereicherte?«

»Gewiß, gewiß. Doch das war vor zehn Jahren. Heute versuchen wir es an der Bevölkerung wiedergutzumachen, und du wirst sehen, mit Liebe und Kraft, die der Herr uns dafür verleiht, werden wir eine große Brücke schlagen!« Didier hatte während des Gesprächs seine Hände gefaltet, und sein entspanntes Gesicht strahlte Zuversicht aus. Sogar die betonte Distanzierung seines Bruders von ihrer gemeinsamen Heimat verzieh er ihm. »Unsere Häuser stehen nicht im Gesandtschaftsviertel. Wir wohnen und leben bewußt inmitten der Bevölkerung. Dieses Band wird übergreifen und wachsen. Bald werden wir eine große Familie sein!«

Die Eintönigkeit des Weges wurde durch nichts aufgelockert. Die einzige Abwechslung blieb der unterschiedliche Anbau auf den Feldern. Vom schwerfälligen Schaukeln des Wagens war Robert müde geworden. Er hatte sich auf die Gepäckstücke gelegt und war bald eingeschlafen. Etwa die Hälfte des Weges hatten sie zurückgelegt, und ungefähr acht Kilometer lagen noch vor ihnen. Noch immer gingen die Brüder neben den Wagen her, und jeder hing seinen Gedanken nach.

Auguste fragte sich erneut, ob es damals richtig gewesen war, ins aufstrebende Preußen zu ziehen. Rückblickend schien es ihm auch heute noch der einzig folgerichtige Schritt gewesen zu sein. Fort aus dem kinderreichen, armen Elternhaus, fort aus der Abgeschiedenheit der Bretagne ins aufblühende Preußen. Welch Glück, daß er dort Erika getroffen hatte. Die Heirat sollte für ihn das Sprungbrett aus der Mittelmäßigkeit zum Reichtum werden.

Langsam schälten sich aus der Hitze des flimmernden Tages die Umrisse Tientsins. Wie jede Stadt im Norden Chinas war sie von einer hohen Mauer umgeben. Die wehrhaften Aufbauten über den Toren und an den Mauerwerken betonten ihre große Bedeutung: Tientsin war Pekings einzige Verbindung zum Meer.

Rumpelnd fuhren die Wagen auf den Peiho zu. Von nun an ging der Weg am Flußufer entlang. Der Verkehr auf dem Fluß wurde immer dichter, und je mehr sich die Wagenkolonne der Stadt näherte, desto mehr Boote lagen am Ufer. Abertausende von Kähnen bedeckten hier das Wasser. Alles Erdenkliche wurde auf ihnen befördert, und außerdem dienten sie den Flußfamilien gleichzeitig als Wohnung. Hier um Tientsin lebte man von und mit dem Wasser.

Die hohe Mauer, die von weitem so großartig ausgesehen hatte, war dem Verfall nahe. Überall bröckelte es, und teilweise war sie einfach abgetragen worden. Die einzige Brücke über den Fluß, die die südliche von der nördlichen Stadt trennte, machte einen ebenso trostlosen Eindruck. Über lose Bohlen und splittrige Planken zwängten sich die Fuhrwerke an den Menschen vorbei, die darauf bedacht waren, nicht über den Rand ins Wasser zu stürzen, denn ein Geländer fehlte völlig.

Es schien Auguste de la Motte, als ob sich die Menschen hier unruhiger und gereizter als in Schanghai verhielten, und an vielen Straßenecken hatten sich Aufständische versammelt, die jedem Fremden Schimpfworte nachriefen, ohne daß die Polizei einschritt. »Weiße Teufel« war noch eines von den harmlosesten. Je weiter sie in die südliche Stadt vordrangen, desto größer wurde das Gedränge um sie herum. Zwischen vielen größeren Wagen schoben noch mehr eilige Kulis ihre Schubkarren, hetzten schreiende und schwitzende Lastenträger, und sie wurden hautnah von Bettlern, Aussätzigen und Krüppeln bedrängt, die sich von ihnen eine Spende erhofften. Selbst die kleinste Lücke wurde von dem nie abreißenden Strom der unzähligen Fußgänger gefüllt. Nur selten bot ihnen der Anblick einer kostbaren Sänfte wohltuende Abwechslung.

Endlich erreichten sie das französische Konsulat. Erleichtert legte Auguste seine Hand auf Roberts Schulter, und beide folgten Didier ins Haus. Die abweisende Art der Beamten, denen sie hier begegneten, nachdem sie sich als Deutsche zu erkennen gegeben hatten, befremdete Auguste. Eisige Ablehnung schlug ihnen entgegen.

»Was ist hier los?« raunte er Didier ins Ohr.

Diesem war die Situation sichtlich peinlich, und er führte sie zu einer Sitzgruppe am anderen Ende der Empfangshalle. »Kommt, setzt euch erst einmal! Die Befremdung meiner Landsleute resultiert wahrscheinlich aus der drohenden Kriegsgefahr mit Preußen.«

Auguste runzelte erstaunt die Stirn. »Weißt du schon Näheres?«

»Euer Wilhelm, König von Preußen, hat die Forderung Napoleons abgelehnt, auf die Thronkandidatur des Prinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen in Spanien zu verzichten.«

»Aber deswegen gleich ein Krieg?«

»Soviel ich mitbekommen habe, hat Bismarck die Forderung Napoleons in einem Telegramm aus Bad Ems an seinen König so übermittelt, daß dieser nur noch den Krieg erklären konnte. Aber das ist noch nicht alles.« Didier senkte die Stimme. »Die süddeutschen Länder haben die Absicht, sich mit Preußen zu verbünden.«

Auguste begann die Tragweite dieser Nachricht zu dämmern.« Dann können wir also nicht hierbleiben?«

Bevor Didier antworten konnte, trat ein schlanker Mann auf sie zu. »Darf ich mich vorstellen, Fontange, kaiserlicher Konsul in Tientsin.« Er verbeugte sich knapp und setzte sich zu ihnen an den Tisch.

»Der Deutsche Zollverein«, kam er sofort zur Sache, »hat natürlich nicht die Möglichkeit, Ihnen in dieser Stadt Obdach zu gewähren. Ich betrachte Sie jedoch gern als meine Gäste, wenn Sie es nicht vorziehen, nebenan in der Mission zu wohnen.«

Dankbar verneigte sich Auguste de la Motte und nahm das Angebot an. »Allerdings«, fuhr der Konsul fort, »haben wir beträchtliche Schwierigkeiten mit den Chinesen. Vor einiger Zeit brach im nördlichen Stadtteil in unserem Waisenhaus eine Epidemie aus. Ein paar der Kinder starben. Den Klosterfrauen wurde daraufhin von der Bevölkerung vorgeworfen, aus den toten Kindern Zaubermittel herzustellen, und seitdem werden wir von dem Pöbel belästigt.«

Hier im Konsulat direkt neben dem Missionshaus und der Kathedrale fühlte sich Auguste sicher, und er bedankte sich noch einmal für die Gastfreundschaft.

»Onkel Didier hat noch das Geschenk für mich!« drängte Robert mit bittender Stimme. »Gibst du es mir gleich?«

»Besucht mich nach dem Essen in der Mission, dann bekommst du es«, tröstete der Priester seinen Neffen und verabschiedete sich.

Robert schienen die nächsten Stunden unendlich langsam zu vergehen. Die Langeweile trieb ihn durch die Flure des geräumigen Hauses. Überall an den Wänden hingen reichverzierte Mandarinschwerter, Speere mit vergoldeten Kordeln und Lanzen. Roberts kleine Hände strichen über das matte Holz, über die mit glitzernden Steinen besetzten kleinen Rundschilde und über die elfenbeinernen Schwertgriffe. Er sah sich in prächtiger Uniform inmitten ihm zujubelnder Soldaten auf einem Schimmel sitzen und gegen einen vor Angst zitternden Feind ziehen.

»Robert!« weckte ihn die Stimme seines Vaters aus den Träumen. »Robert! Wo steckst du?«

Am Eingang des Missionshauses erwartete sie Didier. Sein geheimnisvolles Lächeln machte Robert noch neugieriger, und die letzten Schritte lief er auf ihn zu. Er umfaßte mit beiden Händen seinen Arm. »Was ist es? Wo hast du es?« bedrängte der Junge seinen Onkel.

Es war eine kleine Kriegsdschunke aus Holz. Das plumpe Fahrzeug war sorgfältig geschnitzt und ausgemalt; sogar kleine, geflochtene Matten hingen als Segel an den verhältnismäßig dicken Masten. Zwischen dem erhöhten Vorder- und Achterdeck standen, schwarz bemalt, auf jeder Seite sechs Kanonen, deren Läufe drohend über die Reling ragten.

»Es hat ja auch Augen!« freute sich Robert, und mit zischenden Lauten ahmte er die tobende See nach und ließ das Schiff in seinen Händen kräftig schaukeln.

»Die Chinesen betrachten die Schiffe als lebendige Wesen. Deshalb haben sie am Bug die aufgemalten Augen«, erklärte der Geistliche seinem Neffen und lächelte unmerklich, »schließlich müssen sie ja sehen können, um Zusammenstößen und anderen Unfällen auszuweichen.«

Mit großem Ernst sah Robert dem Schiff in die Augen. »Willst du schwimmen? Kannst du denn auch schwimmen?« Fragend wanderte sein Blick zum Onkel.

»Wir können es ja mal ausprobieren!«

Ein Strahlen huschte über Roberts Gesicht, und seine dunkelbraunen Augen begannen zu leuchten. »Wo?«

Didier wies mit dem ausgestreckten Arm an der Kathedrale vorbei. »Unten am Fluß gibt es einige stille Plätze!«

Der Weg dorthin führte an hoch ummauerten, größeren Grundstücken vorbei, wo nur reiche und hochgestellte Chinesen wohnten. Von hier aus war das ununterbrochene Lärmen der wimmelnden Menschenmassen nicht mehr zu hören. Auch von der Hektik des Stadtzentrums und des Hafens war nichts mehr zu spüren.

Stolz schritt Robert vor den Erwachsenen her. Die Dschunke hielt er mit beiden Händen umklammert. Unweit des Ufers stand ein in kostbare, blaue Seide gekleideter chinesischer Knabe in Roberts Alter vor einer Gartenpforte und betrachtete das bunte Schiff. Stolz hob Robert es etwas höher. »Wir wollen es schwimmen lassen!« rief er dem Jungen zu und machte das Geräusch einer abgefeuerten Kanone nach. »Unten am Fluß, komm doch mit!« Einladend winkte er zu ihm hinüber.

Scheu folgte ihnen der kleine Chinese, und als die Dschunke endlich auf dem Wasser schaukelte, sich unter dem Wind etwas zur Seite legte und einige Kreise fuhr, kam er interessiert ein wenig näher. Er versuchte, mit einem langen Zweig Holzstückchen aus dem Wasser zu fischen. Vergeblich hangelte er mit angespannter Konzentration nach dem Treibholz. Das warme Wasser des Weißen Flusses reichte ihm schon bis zum Saum seines Umhangs. Unmerklich lockte ihn sein Eifer in das tiefere Wasser.

Irgendwo in der Stadt wurde geschossen. Auguste und Didier blickten sich an und sahen daraufhin aufmerksam in Richtung Stadt. Eine kleine Unmutsfalte über Didiers Nasenwurzel verriet dem Bruder dessen geheime Besorgnis. Es schien sich etwas verändert zu haben. Aber was? Die Boote auf dem Fluß zogen noch immer ihrer Wege, begleitet vom eintönigen Klappern der Segelmatten gegen die Masten. Die Elstern keckerten munter weiter, und das heisere Krächzen der Raben auf den Dächern hielt unvermindert an. Und doch hatte sich etwas verändert. Eine fast greifbare Gefahr war zu spüren. Wieder trafen sich die Blicke der beiden Männer. Von innerer Unruhe getrieben eilte Didier die wenigen Schritte den Hang zum Uferweg empor, während Auguste sich schützend neben Robert stellte, der die kleine Spielzeugdschunke mit einem abgebrochenen Ast am Ufer des Flusses entlangmanövrierte.

»Komm, wir gehen zurück!« In den fast geflüsterten Worten lag so viel Überzeugungskraft, daß Robert, ohne zu widersprechen, nach seinem Boot griff und es aus dem Wasser fischte. Plötzlich erstarrte er. Unfähig, etwas zu sagen oder zu schreien, sah er das blaue Seidenbündel, das wenige Meter von ihnen entfernt im gelben Wasser vorbeitrieb.

Im selben Moment entdeckte es auch Auguste de la Motte. Ohne sich zu besinnen, riß er sich die Jacke vom Leib, warf sie neben seinen Hut in den Sand und watete mit langen, staksigen Schritten ins Wasser. Der harte, glitschige Flußboden hatte seine Tücken. In dem Moment, als Auguste ausrutschte, warf er sich geistesgegenwärtig nach vorn, und mit weit ausholenden Kraulbewegungen schwamm er auf den forttreibenden Jungen zu, der nur von der Luft in seiner Kleidung über Wasser gehalten wurde.

Mit dem regungslosen Kind in den Armen watete er ans Ufer zurück. Robert stand noch immer bewegungslos an der gleichen Stelle und hielt mit verkrampften Händen seine Dschunke umklammert. Vom Uferweg lief Didier seinem Bruder entgegen, doch als er gerade die Hälfte des Weges hinter sich gebracht hatte, erschienen mit Lanzen, Speeren und Messern bewaffnete Chinesen am Ufer.

Der Priester blieb stehen und rief ihnen etwas in ihrer Sprache zu. Drohend bildeten die Leute einen Halbkreis um ihn. Mit lauter Stimme rief er noch einmal die gleichen Worte und wies auf Auguste, der mit dem Kind in den Armen einige Schritte auf sie zukam. Schweigend umringten die Chinesen die Europäer. Unerhörte Spannung lag in der Luft. Hoch über ihnen verhallten die gleichmäßigen Flügelschläge einer Schar Kormorane, die flußaufwärts zogen.

Ohne Warnung sprang ein Lanzenträger plötzlich vor, stach mit der Waffe auf den Geistlichen ein und traf ihn am Oberschenkel. Mit fahriger Handbewegung tastete Didier nach der Wunde und blickte erstaunt auf seine Hände, die sich vom Blut rot gefärbt hatten. Stockend, seine Stimme bis in den Diskant erhoben, schrie er den Leuten noch einmal etwas zu. Doch sie starrten ihn nur weiter mit unbewegten Gesichtern an. Dann stach ein anderer zu. Er traf ihn am Hals. Didiers Stimme brach schlagartig ab. Ein dünner Blutfaden lief aus seinem geöffneten Mund über das Kinn und tropfte auf die Soutane. Der große, schlanke Mann wankte, doch bevor er fiel, sprangen noch andere Männer vor, um mit ihren Waffen auf ihn einzustechen.

In wahnsinniger Angst preßte Auguste das blaue Bündel an sich und starrte auf den toten Bruder. Ein gequältes Stöhnen kam ihm über die Lippen, und völlig außerstande weiterzudenken, drehte er sich um und rannte auf seinen Sohn zu.

Robert hatte seinen Onkel zu Boden fallen sehen. Doch dann, als die Lanzen und Messer ihn immer wieder trafen und er kurze Zeit später bewegungslos im Sand liegenblieb, schien es ihm, als verwandelte sich dieser in einen Stein. Er sah keine Menschen mehr; blickte durch sie hindurch in die Sonne. Sie war so rot und wurde immer größer. Die kleinen Hände hielten das Schiff mit den aufgemalten Augen noch immer so fest umklammert, daß sich die Fingernägel in das Holz eingruben und abbrachen. Er sah auch nicht, wie sein Vater im Lauf plötzlich innehielt und mit aufgerissenen Augen nach vorn in den Sand fiel.

Auf dem Uferweg hatten sich im Laufschritt vier Träger, gefolgt von Soldaten, mit einer prächtigen Sänfte genähert. Der Mandarin des vierten Grades hatte seine Leute zum Laufschritt angefeuert. Er selbst spürte nicht, wie sich sein Gesicht vor Sorge verkrampfte und nun als häßliche Fratze durch die zurückgeschlagenen Vorhänge glotzte. Von weitem schon hatte er die Menschen am Ufer gesehen, und die Angst um seinen Sohn legte sich ihm wie ein eisernes Band um die Brust.

»Der Flußgott will ihn zu sich holen!« erinnerte sich der Mandarin an die Worte des Wahrsagers, als er die Gestalt des Priesters und eines anderen Europäers erkannte. Sein Sohn war also nicht in Gefahr. Suchend tasteten seine besorgten Augen das Ufergelände ab.

In dem Augenblick, als sich der Europäer zur Flucht wandte, erkannte Lin Nie-fü das Bündel in dessen Armen, und er wußte sofort, daß es sein Sohn war. Die Stimme versagte ihm. Vor Entsetzen schlug er sich mit den Fäusten gegen die Stirn, als er sah, wie der Mann von einem Speer getroffen wurde, der ihn und das kleine Bündel vor seiner Brust tödlich durchdrang.

Immer wieder strich der Mandarin über das kalte, zarte Gesicht seines toten Sohnes. Betreten standen die Diener um ihn herum und wichen seinem leeren Blick aus. Mit dem toten Kind im Arm erhob er sich. Dann entdeckte er den am Ufer liegenden Jungen, der, vom Schaft einer Lanze am Kopf getroffen, zusammengebrochen war.

Lin Nie-fü sah auf die beiden toten Europäer, auf seinen Sohn im Arm und noch einmal zu Robert. »Bringt ihn hierher!« befahl er seinen Wachen. Von zwei Soldaten getragen, wurde Robert neben die Sänfte gelegt. Sein Gesicht war blutverschmiert. Aus einer Platzwunde an der Schläfe pulste noch immer Blut hervor.

Lin Nie-fü legte seinen leblosen Sohn in die Sänfte und beugte sich über Robert. Er fühlte dessen Herzschlag und untersuchte die Wunde. Dann erhob er sich und blickte zu den in einiger Entfernung wartenden Mördern. Sollte er sie durch seine Soldaten vertreiben lassen? Die Zeiten waren unsicher, und wer konnte schon sagen, ob nicht ein anderer Trupp im Hinterhalt darauf wartete, auch ihn mit seinem Gefolge zu ermorden. Lin Nie-fü unterdrückte den Wunsch nach Rache und blickte noch einmal auf Robert. Dann hob er ihn hoch und legte ihn ebenfalls in die Sänfte. »Weiter!« befahl er mit heiserer Stimme, und die Soldaten rückten auf, um ihren Herrn wirkungsvoller beschützen zu können.

Nachdem die Sänfte des Mandarins verschwunden war, hieben die Aufständischen mit unbeschreiblichem Haß auf die Toten ein, bevor sie sie in den Fluß warfen. Mit lautem Geschrei lief daraufhin die Mörderbande weiter zur Brücke, um auf die nördliche Seite der Stadt zu gelangen. Dort lagen ungeschützt das Spital und das Waisenhaus der Franzosen.

***

Seit Tagen hielt sich Lin Nie-fü nur in seinem dunklen Arbeitszimmer auf. Nur hier aß und schlief er seit dem Unglück am Fluß. Schwere Selbstvorwürfe plagten den Mandarin; denn nicht nur der plötzliche Tod seines Sohnes lähmte ihm die Lebenskraft, sondern täglich wurde ihm aufs neue bewußt, wie groß der Fehler gewesen war, daß gerade er, ein hoher Richter, den europäischen Jungen mitgenommen hatte. Was sollte er jetzt mit ihm anfangen? Warum hatte er ihn nicht sofort den Behörden übergeben? Lin Nie-fü fuhr sich mit einer Hand über die rasierte hohe Stirn und seufzte leise. Was sollte er nur tun? Konnte man ihm vorwerfen, einen europäischen Jungen gefangenzuhalten? Wie er es auch drehte und wendete, die Antwort war ja! Mit Verbannung, vielleicht sogar mit der Todesstrafe mußte er rechnen. Also wohin mit ihm? Nicht einmal seinen Namen konnte der Junge ihm nennen, weder seine Nationalität noch, wer die beiden anderen Europäer am Fluß waren. Er konnte sich an nichts erinnern!

Lin Nie-fü wehrte sich gegen die Enge seiner Gedankengänge, indem er so ungestüm von seinem Stuhl aufsprang, daß dieser laut polternd zu Boden fiel. Gebeugt und müde schlurfte er an das verhangene Fenster und blickte durch einen Spalt der Vorhänge in den Garten. Das grelle Tageslicht, das auf seine weiße Trauerkleidung fiel, blendete seine müden Augen. Er spürte, daß er durch den Kummer der letzten Tage um Jahre gealtert war.

Hinter ihm öffnete sich leise die Tür, und Qin-lin trippelte ohne Begleitung der Zofen in den Raum. Die gebeugte Gestalt ihres Mannes verriet ihr seinen Kummer. Behutsam stellte sie den Stuhl an seinen alten Platz zurück und wollte sich leise wieder entfernen, als er sie mit einer Handbewegung zurückhielt.

»Was soll ich tun?« fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten, denn seine Frau besaß die Tugend, sich in wichtigen Familienangelegenheiten zurückzuhalten, um ihm allein die Entscheidungen zu überlassen. Noch nie hatte sie ihn um etwas gebeten oder auch nur den kleinsten Wunsch geäußert. Ihr stets sanftes Lächeln verriet ihm, daß sie mit all seinen Anordnungen zufrieden war, und fast immer schien sie zu ahnen, in welcher Stimmung er sich gerade befand, um sich auf seine Wünsche einzustellen.

»Ich schlage vor, unseren Sohn Fen-che in Wuhan auf dem Friedhof unserer Ahnen zu begraben.« Sie schien nach diesen Worten noch kleiner zu werden, und ihre Augen blieben fest auf seinen Rücken gerichtet.

Verblüfft drehte sich Lin Nie-fü um und sah sie ungläubig an. »Hast du etwas gesagt?«

Ihre Hände fuhren nervös an einer Falte ihres seidenen Umhangs entlang, und als sie die Kordel des Gürtels erfaßte, verknotete sie sie mit fahrigen Händen. »Unser Sohn ist tot«, fuhr sie mit leiser Stimme fort, »und daran können wir nichts mehr ändern. So willkommen der Tod für die Alten nach einem langen Leben auch ist, so schmerzt es uns besonders, wenn ein junges Leben aufhören mußte zu sein! Wir beide müssen nun die Kraft und auch den Willen aufbringen weiterzuleben!«

Noch immer sah er seine Frau ungläubig an, tastete sich um den Schreibtisch herum und ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. »Ja, aber ...« Hilflos brach er ab.

»Dein neues Richteramt wirst du in der Provinz Hunan ausüben. Und von Hanjang aus ist es nicht weit nach Wuhan. Dann können wir sein Grab so oft besuchen, wie wir wollen, und seinen Geist durch Geschenke erfreuen!«

»Und der andere?«

Qin-lins Gesicht überzog sich mit einer zarten Röte. Sie war schon so weit gegangen, nun mußte sie auch das bestehen. »Ich, Qin-lin, deine unwürdige Frau, werde dir keine Kinder mehr gebären können, sagt der Arzt.«

Seine Brust hob und senkte sich im Rhythmus der Atemzüge. »Ja und?«

»Wir behalten ihn! Vielleicht war einer dieser toten Europäer sein Vater. Vielleicht hat er nun keinen Menschen mehr, zu dem er zurückkehren kann! Wäre es dann nicht besser für ihn, wenn er bleibt?«

Lin Nie-fü hielt den Atem an. Die dünnen Barthaare an seinem Kinn zitterten. All das hatte er sich bereits hundertmal überlegt. Jetzt, da sie in eine andere Stadt ziehen mußten, sogar in eine andere Provinz, bot sich tatsächlich die Möglichkeit dazu. Dann konnte der Junge in der Abgeschiedenheit seines eigenen Hauses ihre Sprache erlernen und irgendwann, wenn ihm der Zopf gewachsen war, auch mit Gleichaltrigen zusammenkommen. Aber wie würde er später aussehen? So häßlich wie die meisten langnasigen Europäer, so daß man ihn sofort als solchen erkennen konnte? Lin Nie-fü mochte es sich nicht ausmalen, welche Schande er dann für seine Familie sein würde. Auf der anderen Seite war der Junge so hilflos, und anscheinend stand er noch immer unter einem Schock. Doch jedes Mal, wenn er in sein Zimmer trat und sich neben ihn auf das Bett setzte, suchte die kleine Hand sofort seine Nähe und hielt ihn so lange fest, bis er wieder ging. War das nicht ein Zeichen, daß er unbedingt bei ihnen bleiben wollte? War es nicht auch der Wille der Götter? Denn warum sonst hatten sie ihm diesen Jungen angeboten?

»Wir sind nun seine Eltern!« sagte Qin-lin mit bittendem Unterton in der Stimme. »Er könnte doch unser Sohn sein!«

Lin Nie-fü atmete langsam aus. Was wußte sie schon von Gesetzen! Wenn das bekannt werden würde, würde er günstigenfalls so schnell wieder Mandarin des fünften oder sechsten Grades sein, wie ein reifer Apfel brauchte, um vom Ast auf die Erde zu fallen. Falls der Vizekönig die Güte haben sollte, ihn nicht gar zu verbannen. Unwirsch winkte er in Richtung Tür und stützte den Kopf auf beide Arme. Lautlos wie ein Schatten huschte Qin-lin zu den drei wartenden Zofen hinaus.