Kapitel 6

 

Am Sonntagabend checkte Hanna zuerst in dem netten Frühstückshotel in der Nähe des Polizeipräsidiums in Düsseldorf ein und machte sich dann auf die Suche nach einem Restaurant in der Umgebung, um dort zu Abend zu essen. Die ungewohnte Situation fühlte sich seltsam an: wie lange war sie sonntagabends nicht mehr allein unterwegs gewesen? Und ja, bei jedem Blick durch die Fenster der diversen Lokale sah sie nur Paare oder Grüppchen an den Tischen sitzen. Sie gab sich einen Ruck und betrat ein thailändisches Restaurant, in dem noch ein Fensterplatz an einem Zweiertisch frei war, wie sie von außen gesehen hatte. Die Bedienung war äußerst zuvorkommend und die Knusperente mit Gemüsebeilagen, die sie geordert hatte, köstlich. Hanna entspannte sich zunehmend und bestellte sich gemischte Früchte zum Nachtisch und ein Glas Sekt.

Als sie das Restaurant später beflügelt wieder verließ, bummelte sie noch ein wenig durch die Straßen, verspürte aber wenig Lust, noch irgendwo anders auf ein Glas Wein einzukehren, sondern ging zum Hotel zurück, um Michael anzurufen. Er fehlte ihr.

Das Seminar zum Thema Fallanalyse begann um 9 Uhr und umfasste gut 30 Teilnehmer, wie sie rasch überschlug. Obwohl die Uhr noch eine Viertelstunde bis zum Beginn des Seminars anzeigte, gab es kaum noch Plätze und Hanna ließ ihren Blick suchend durch die Reihen schweifen während sie langsam durch den Mittelgang schritt, bis ihr ein freier Platz ganz in ihrer Nähe auffiel.

»Entschuldigung, ist dieser Platz noch frei?«, fragte sie die Teilnehmerin unmittelbar daneben, worauf diese kurz aufschaute und nickte. Hanna bedankte sich erleichtert und setzte sich, während sie ihre Sitznachbarin einer kurzen Musterung unterzog. Sie mochte in ihrem Alter sein, besaß ein feines, ungeschminktes Gesicht, kurze, blonde Haare und trug Jeans und ein weites Sweatshirt.

›Irgendwie schade‹, schoss es Hanna spontan durch den Kopf, ›die Sachen sehen alle zu groß an ihr aus. Aber, was geht mich das an?‹

Sie packte die Schreibutensilien aus, legte sie auf die Ablage ihres Stuhls und lehnte sich zurück, um ihren Blick durch den Raum schweifen zu lassen. An dem Seminar nahmen deutlich mehr Männer als Frauen teil, darunter befanden sich wiederum mehr gestandene als junge Beamte. Stimmengewirr durchdrang den Raum, das jetzt, da sich die Tür zum Podium öffnete, wie auf Kommando verstummte. Ein großer, schlanker Mitvierziger trat ein, machte ein paar Schritte zum Rand des Podiums und ließ seinen Blick über den vollbesetzten Raum schweifen. Dann nickte er und lächelte.

»Wie ich sehe, haben wir ein volles Haus, was mich ausdrücklich freut. Und wie Sie sich sicher denken können, bin ich Ihr Dozent für dieses Seminar zum Thema Fallanalyse. Mein Name ist Sören Schneider, ich bin Kriminalpsychologe am hiesigen Polizeipräsidium und freue mich, mein Wissen mit Ihnen teilen zu dürfen.« Applaus erklang, worauf Schneider lachend die Hände hob.

»Aber ich habe doch noch gar nichts gemacht! Wenn Sie mir am Ende unserer Seminartage applaudieren, freue ich mich allerdings umso mehr.«

›Sympathischer Typ‹, dachte Hanna erleichtert, ›und ziemlich locker‹. Aber was hatte sie eigentlich stattdessen erwartet, fragte sie sich und musste zugeben, dass sie, ohne den geringsten Anlass, mit einer Art Sonderling gerechnet hatte.

Bis zur ersten Pause hatte Hanna schon mehrere Seiten ihres Blocks beschrieben. Der Unterschied zwischen einem Fallanalytiker und dem ermittelnden Kripobeamten war größer, als sie gedacht hatte. Während die Ermittler, wie alle aus eigener Erfahrung wussten, den Tatort untersuchten, die Identität des Opfers feststellten, Spuren identifizierten und Zeugenaussagen sammelten, besaß die Fallanalyse einen anderen Ansatz: Der Fallanalytiker musste sich von dieser Vorgehensweise lösen; sein Fokus lag auf dem Täter, der zur Begehung der Tat (außer bei Affekttaten) von Anfang ständig an Entscheidungen treffen musste: wann er die Tat beging, wer das Opfer sein sollte, welches Tatwerkzeug er verwendete, welche Verletzungen er zufügte, wo er die Leiche zurückließ und wie er sich vom Tatort entfernte. Hatte er die Leiche liegengelassen, mitgenommen, versteckt, abgedeckt?

Welche Spuren gab es am Tatort oder an der Leiche? Was war über das Opfer zu sagen? Hierzu wurden Verwandte und Freunde befragt, PC oder Tagebücher herangezogen.

Der Fallanalytiker versuchte herauszufinden, warum gerade dieser Mensch als Opfer ausgewählt wurde, oder ob er einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war.

Die Besonderheit, dass Zeugenaussagen unberücksichtigt bleiben sollten, um den objektiven Blick nicht zu verlieren, sondern sich auf Sachinformationen zu konzentrieren, konnte sich Hanna zwar vorstellen, fand den Ansatz aber schwierig. Auch ihre Nachbarin machte ein ratloses Gesicht. Als sie in der Pause aufstanden, um sich ein wenig die Beine zu vertreten, sprach Hanna sie spontan an.

»Haben Sie auch Lust auf einen Kaffee? Und wissen Sie vielleicht, wo man den hier bekommt?«

Die andere maß sie mit einem skeptischen Blick, dann nickte sie leicht. Hanna war die Zurückhaltung nicht entgangen, deshalb schob sie jetzt lachend nach: »Ach, das ist ja prima. So wie ich mich kenne, wäre die Pause am Ende vorbei gewesen und ich hätte immer noch keinen Kaffee.«

Auf dem Weg zur Cafeteria stellten sie sich einander vor, das heißt Hanna ergriff die Initiative und streckte ihrer Mitstreiterin die Hand entgegen.

»Mein Name ist Hanna Winter, ich bin Hauptkommissarin bei der Kölner Mordkommission.«

Nach einem winzigen Zögern ergriff die andere Hannas Hand und sah ihr forschend in die Augen.

»Katrin Kramer, hallo. Ich werde demnächst hier auch als Hauptkommissarin arbeiten«, sie machte eine Pause. »Ich komme ursprünglich aus Hamburg.«

»Oh, das stelle ich mir nicht so leicht vor, wenn man einmal in Hamburg zu Hause war, obwohl Düsseldorf ja auch eine sehr schöne Stadt ist«, Hanna seufzte. »Ich finde Hamburg wunderschön. Immer, wenn ich mal wieder dort war – mein Bruder lebt da, wissen Sie, gefällt mir Köln erstmal gar nicht mehr. Aber das legt sich schnell wieder«, lachte sie, »dafür ist in Köln vieles unkomplizierter.«

Durch ihre zugewandte, unbeschwerte Art gelang es Hanna, Katrin Kramer ein paar weitere Sätze zu entlocken, wobei sie den Eindruck gewann, dass sich diese ein kleines Stück aus ihrem Schneckenhaus wagte, in dem sie offensichtlich saß.

Ihr entging nicht, dass ihre Nachbarin sie ab und zu von der Seite taxierte, während sie später im Seminarraum wieder den Ausführungen Sören Schneiders lauschten. Hanna spürte, dass sie bereits jetzt an Katrin Kramers Geschichte interessiert war, und warum sie von Hamburg nach Düsseldorf gezogen war, obwohl sie erst demnächst hier ihre Stelle antrat. Deshalb beschloss sie sie zu fragen, ob sie abends miteinander essen gehen wollten. Nach einem Moment des Zögerns und einem weiteren forschenden, auf Hanna gerichteten Blick, stimmte Katrin Kramer schließlich zu. Die Skepsis, die ihre ganze Körperhaltung ausdrückte, nahm Hanna zur Kenntnis und beschloss ihrerseits ebenfalls zurückhaltend zu sein.

Katrin Kramer führte Hanna in ein kleines, italienisches Lokal, in dem, wie sie erklärte, fast ausschließlich Stammkunden aßen, was eine gute Küche garantierte. »Wenn man sich nicht auskennt, landet man gern in einer der Touristenfallen, die nur die Laufkundschaft bedienen. Da können Sie die Küche vergessen.« Katrin ertappte sich dabei, ein wenig von ihrer Zurückhaltung aufzugeben, als sie in Hannas zugewandtes Gesicht schaute.

Hanna ihrerseits konnte nicht ahnen, dass ihre Düsseldorfer Kollegin ihr gerade so etwas wie einen Ritterschlag erteilte, da diese sich im Kontakt mit anderen normalerweise so zurückhaltend verhielt, dass man sich förmlich abgewiesen fühlte. Aber diese beiden entwickelten im Laufe des Abends Sympathien füreinander, die sich während der folgenden Tage vertieften. Sie diskutierten über die Erkenntnisse, die sie aus dem Seminar mitnahmen und über die Schwierigkeit, zukünftige Fälle aus einem außenstehenden Blickwinkel zu betrachten.

Die Gespräche wurden außerhalb des Seminars persönlicher, wobei Hanna auffiel, dass es eigentlich sie war, die mehr von sich preisgab als die andere. Sie erzählte von Bernd, Julian und Michael und ermöglichte Katrin einen Blick auf ihr Leben. Katrin berichtete von Hamburg und ihrem Umzug nach Düsseldorf, um hier ›das Leben so gut es ging, noch einmal aus anderer Perspektive kennenzulernen‹, wie sie es sagte.

Den Grund für diese gravierende Veränderung nannte sie nicht und Hanna, die spürte, dass es ein Ereignis gegeben haben musste, das der Auslöser gewesen war, drang nicht weiter in sie. Am Ende der Woche beschlossen die beiden in Kontakt zu bleiben, tauschten Telefonnummern und Adressen aus und versprachen, bald miteinander zu telefonieren.

Hannas Vorfreude, als sie wieder im Zug nach Köln saß, war so groß, als hätte sie Michael, der sie vom Bahnhof abholen wollte, viel länger als eine Woche nicht gesehen. Auf dem Gleis liefen sie strahlend aufeinander zu und als Michael sie in die Arme schloss, spürte Hanna, dass sie wieder zu Hause war.

 

 

ENDE

 

 

 

CAROLINE MARTIN

Tanz ohne Morgen

 

Rheinlandkrimi 5

 

Dezernat Köln

Hanna Winter ermittelt

 

 

Inhalt

 

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

 

 

Impressum

 

Überarbeitete Neuveröffentlichung Juni 2019

Copyright © 2019 by Caroline Martin

Copyright © 2019 der E-Book-Ausgabe by Verlag Peter Hopf, Petershagen

 

Dieser Roman wurde bereits unter dem Titel ›Tanz in den Tod‹ in der Reihe KRIPO KÖLN veröffentlicht und von der Autorin für die vorliegende Fassung neu bearbeitet.

 

Covergestaltung: etageeins, Jörg Jaroschewitz

E-Book-Konvertierung: Die eBook-Manufaktur

Redaktionelle Betreuung: Thomas Knip

 

ISBN ePub 978-3-86305-287-4

 

www.verlag-peter-hopf.com

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.

 

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und die Verbreitung des Werkes in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf fotomechanischem, digitalem oder sonstigem Weg, sowie die Nutzung im Internet dürfen nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages erfolgen.

 

 

Prolog

 

Die Schritte der grauhaarigen Frau verlangsamten sich, als sie den Friedhof betrat, und sie blieb kurz darauf stehen, um einen tiefen Atemzug zu tun.

Das Wetter hätte an diesem Tag nicht schöner sein können, die Strahlen der späten Herbstsonne brachten die Farben der bunten Blätter zum Leuchten und die leichte Brise, die sich jetzt erhob, erinnerte an ein laues Lüftchen im Frühling.

Maria Berthold sah und spürte dies alles in ihrer Trauer nicht und setzte schweren Herzens ihren Weg fort. Vor einer Woche hatte ihr Mann hier seine letzte Ruhe gefunden und wie an jedem Tag besuchte sie auch heute sein Grab, auf dem die Kränze und Blumen bereits erkennbar welkten.

Einige Minuten lang stand sie regungslos und in Erinnerungen versunken vor diesem Stück Erde, das jetzt den Körper ihres Mannes barg, und hielt mit dem Verstorbenen Zwiesprache. Fast vierzig Jahre lang waren sie verheiratet gewesen, ja, sie nickte, nahezu glücklich. Ein kleines Lächeln huschte über ihr von Trauer gezeichnetes Gesicht, das wieder erlosch, bevor es ihre Augen erreichte, die sich jetzt wieder mit Tränen füllten.