Epilog

 

Am nächsten Morgen klingelte Katrin schon früh bei Johannes Ludwig, um sicherzugehen, dass er noch zu Hause war. In der Hand hielt sie eine Tüte mit Brötchen.

Als der Sprachwissenschaftler, dem man eine durchwachte Nacht ansah, öffnete, maß er die Hauptkommissarin mit einem erstaunten Blick.

»Sie kommen zum Frühstück zu mir, Frau Kramer?«, sagte er anstelle einer Begrüßung und deutete auf die Tüte.

»Wenn Sie mich dazu einladen, gerne, Herr Ludwig.«

»Bitte treten Sie ein.« Er trat einen Schritt beiseite, damit Katrin an ihm vorbeigehen konnte. »Kann ich davon ausgehen, dass es sich hier um einen eher privaten Besuch handelt?«

Die Hauptkommissarin nickte und sah ihm forschend in die Augen. »Sie wissen es schon?«

»Ja.« Ludwigs Stimme klang rau.

»Dann handelt es sich ab jetzt wirklich um einen ganz privaten Besuch.«

»Kommen Sie doch bitte weiter, ich mache uns Kaffee.«

Als sie wenig später vor dem gedeckten Frühstückstisch saßen, mochte keiner von ihnen beginnen. Endlich nahm Katrin einen Schluck Kaffee, atmete tief durch und sagte mit einem Blick aus dem Fenster: »Herr Ludwig, den Freitod Ihres Bruders bedaure ich von Herzen. Und ich mag mir nicht vorstellen, was er für Sie bedeutet. Mein tief empfundenes Beileid.« Sie zögerte einen Moment bevor sie fortfuhr: »Darf ich Ihnen trotzdem hier, ganz unter uns, meine persönliche Sichtweise der Dinge darlegen?«

»Bitte, wenn Sie das möchten.«

Katrin blickte auf die blühende Natur vor dem Fenster, nickte langsam und begann leise zu sprechen.

»Sie müssen Unfassbares durchgemacht haben, Sie alle. Niemand kann das je wieder gutmachen und auch Therapien haben ihre Grenzen. Ihr Lehrer, Dieter Feld, war ein Ungeheuer. Ich schäme mich für die Erwachsenen, die für Sie verantwortlich waren. Das heißt, vielleicht bis auf eine, Ihre damalige Lehrerin Frau Pauli, nicht wahr? Ich glaube, dass sie es war, die ihren Kollegen damals angezeigt hat. Leider ohne Erfolg, weil auch Staatsanwalt Römer meines Erachtens zur Seilschaft der Kinderschänder gehörte. Ich glaube, dass er auch die Fotos von den Tathergängen gemacht hat. Frau Pauli hat trotzdem versucht, Ihnen allen so weit wie möglich zu helfen, denn sie glaubte Ihnen, im Gegensatz zu Ihren Erziehungsberechtigten. Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen.« Katrin brauchte einen Moment, um das Ohnmachtsgefühl, das sie jetzt zu überfluten drohte, zu maßregeln, damit sie weitersprechen konnte. »Wie dem auch sei … Direktor Unger muss auch mit dem Missbrauch zu tun gehabt haben. Ich glaube zwar, dass er selbst gar nicht beteiligt war, aber er hat seinen Freund geschützt und die Vorgänge toleriert. Wahrscheinlich hat ihn das später so belastet, dass er Feld aus dem Weg gegangen ist. Ihr Bruder Carsten, Herr Ludwig, Adrian Weber, Matthias Laurenz, Thomas Reiners und Sie waren die Hauptbetroffenen und Sie schmiedeten Rache, als Sie älter wurden. Nachdem Sie die Schule verlassen hatten, nahm der Plan, den verhassten Lehrer umzubringen, Form an. Warum Sie so lange gewartet haben, die Tat auszuführen, vermag ich nicht zu beurteilen. Wahrscheinlich war jeder von Ihnen jahrelang mit der Bewältigung des Traumas beschäftigt. Vielleicht gab es auch eine Zeit, in der Sie hofften, alles vergessen oder wenigstens an den Rand Ihres Bewusstseins drängen zu können. Irgendwann jedoch nahm die Planung wieder konkretere Formen an und das 25-jährige Abitur schien der perfekte Anlass zur Umsetzung zu sein, auch weil Ihr Bruder seit Jahren offiziell von der Bildfläche verschwunden war.«

Johannes Ludwig musterte seinen Gast mit angespannter Miene. Sein Gesicht blieb regungslos, bis auf ein kaum sichtbares Zucken der Augen. Katrin wandte sich ihm jetzt vollständig zu.

»Sie haben gemeinsam alles organisiert, Sie nahmen Kontakt zu Feld auf und wogen ihn in Sicherheit. Matthias Laurenz hatte die Wohnung, Thomas Reiners den Transporter, denn er besitzt eine Spedition, nicht wahr? Ihr Bruder Carsten führte den Plan aus und Sie anderen besaßen das perfekte Alibi, weil Ihr Bruder praktisch nicht existierte. Der Abend muss für Sie furchtbar gewesen sein; trotzdem haben Sie die lustig Beschwipsten gut gespielt. Ob Ihr Bruder noch Helfer hatte – ich glaube schon – oder nicht, ist unwichtig. Da er ein komplettes Geständnis abgelegt hat, ist der Fall damit für die Mordkommission gelöst.«

Katrin blickte nachdenklich auf ihre Tasse, als ob es etwas Besonderes an ihr gäbe, dann griff sie in ihre Tasche und holte etwas heraus. Sie streckte Johannes Ludwig ihre geschlossene Hand entgegen, der ihr unwillkürlich seinerseits die offene Rechte hinhielt. Als sie die Hand öffnete, glitt ein silbernes Kettchen mit einem schlichten Anhänger in Form eines J heraus.

»Ich dachte, Sie sollten es haben. Es lag in der Kölner Wohnung neben dem Sofa.«

»Danke!« Johannes Ludwig griff in seine Hemdtasche und zog ein fast identisches Kettchen mit einem C als Anhänger hervor. Er verbarg den Schmerz, der sich in seinem Gesicht abzeichnete, nicht länger. Der letzte Vorhang des Theaterstücks war gefallen.

»Die haben wir zur Geburt bekommen. Als wir uns trennen mussten, haben wir sie getauscht, damit wir immer beieinander sind – oder wenigstens etwas von uns. Carsten muss in letzter Zeit etwas fahrig gewesen sein …«

 

*

Zu Hause goss Katrin sich ein großes Glas Rotwein ein. Ihre Version der Tathintergründe würde sie ganz und gar für sich behalten. Vielleicht würde sie irgendwann Laura Janssen davon erzählen, aber vorerst nicht. Und sie war sich sicher, dass auch ihre Kollegin eine Theorie zu den Vorgängen besaß. Dass sie ihre Überlegungen dem Chef vorenthalten würde, war in jedem Fall unzulässig, aber es war und blieb allein ihre Entscheidung …

Während Katrins Gedanken nun weitere Kreise zogen und sie versuchte, den ganzen Fall noch einmal aus der Sicht eines Fallanalytikers zu betrachten, ertappte sie sich plötzlich dabei, wie sie unwirsch den Kopf schüttelte. Irgendwie waren die von der Pike auf erlernten Ansätze und Vorgehensweisen zur Lösung eines Falls so tief in ihr verwurzelt, dass der Wechsel der Perspektive, einen Sachverhalt aus der Sicht des Täters zu betrachten, immer noch ungewohnt war.

Spontan fiel ihr Hanna Winter, die Hauptkommissarin aus Köln ein, die sie während Sören Schneiders Seminar kennengelernt hatte.

Mich würde wirklich interessieren, ob es ihr ähnlich ergeht. Wo hatte sie die Visitenkarte nur hingelegt? Ach ja, sie musste in der Schreibtischschublade sein. Katrin stand auf, um die Karte zu holen, griff dann kurz entschlossen zum Handy und wählte Hannas Nummer. Die nahm nicht ab. Nun ja, vielleicht war das doch keine so eine gute Idee gewesen, sie kannte die andere ja kaum. Nachdem Katrin sich ein weiteres Glas Wein eingeschenkt hatte und es gerade zum Mund führen wollte, klingelte ihr Handy. Sie stellte das Glas zurück auf den Tisch, nahm das Gespräch an und meldete sich.

»Hallo, hier ist Hanna Winter«, klang es aus dem Hörer, »ich sah gerade auf dem Display, dass Sie angerufen haben, Frau Kramer. Entschuldigen Sie, mein Smartphone lag noch in der Küche. Übrigens sind Sie mir eben tatsächlich zuvorgekommen, denn ich wollte mich auch schon bei Ihnen melden.« Hanna Winter machte eine kleine Pause, bevor sie fortfuhr: »Ich falle jetzt mal direkt mit der Tür ins Haus: Nächsten Samstag bin ich in Düsseldorf. Hätten Sie Zeit und Lust auf einen Kaffee? Wir könnten auch etwas essen gehen, was meinen Sie?«

Hannas warme Stimme vermittelte eine wohltuende Nähe, so als ob sie längst vertraut miteinander wären, daher antwortete Katrin spontan.

»Das passt mir gut, Frau Winter. Gehen wir doch zusammen essen, ich weiß auch schon, wo.«

Nachdem die beiden Frauen die Details besprochen und das Gespräch wenig später beendet hatten, saß Katrin für einige Augenblicke still da und spürte mit einem Mal Zuversicht in sich aufsteigen. Eine Zuversicht, die ihr zwar früher vertraut gewesen, aber ihr inzwischen längst fremd geworden war. Nach scheinbar unendlich langer Zeit wurde ihr bewusst, dass sie im Begriff war, ihr neues Leben nicht nur zu erdulden, sondern es auch anzunehmen und zu gestalten.

Die Mauer, die sie um sich selbst herum errichtet hatte, bekam plötzlich Risse. Wohltuende Risse. Die Menschen in ihrem Umfeld – Laura Janssen an erster Stelle – aber auch Sören Schneider und Luca Goldoni schienen näher an sie heranzurücken. Und natürlich Hanna Winter, die Kollegin aus Köln, auf deren Besuch am Wochenende sie sich jetzt schon freute.

 

 

ENDE

 

 

 

CAROLINE MARTIN

Trügerische Hoffnung

 

Rheinlandkrimi 6

 

Dezernat Düsseldorf

Katrin Kramer ermittelt

 

 

Inhalt

 

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Epilog

 

 

Impressum

 

Überarbeitete Neuveröffentlichung Juli 2019

Copyright © 2019 by Caroline Martin

Copyright © 2019 der E-Book-Ausgabe by Verlag Peter Hopf, Petershagen

 

Dieser Roman wurde bereits unter dem Titel ›Zeit der Entscheidung‹ in der Reihe KATRIN KRAMER PPD veröffentlicht und von der Autorin für die vorliegende Fassung neu bearbeitet.

 

Covergestaltung: etageeins, Jörg Jaroschewitz

E-Book-Konvertierung: Die eBook-Manufaktur

Redaktionelle Betreuung: Thomas Knip

 

ISBN ePub 978-3-86305-288-1

 

www.verlag-peter-hopf.com

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.

 

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und die Verbreitung des Werkes in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf fotomechanischem, digitalem oder sonstigem Weg, sowie die Nutzung im Internet dürfen nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages erfolgen.

 

 

Prolog

 

Der Nebel war so dicht, dass sie die Hand kaum vor Augen sehen konnte, geschweige denn irgendetwas, das vor ihr lag. Während die Feuchtigkeit sie wie ein nasses Tuch umhüllte, konnte sie spüren, wie die Kleidung an ihrem Körper zu kleben begann und ihr das Wasser aus den Haaren und über das Gesicht lief.

Katrin fror.

Was machte sie hier? Mitten im Winter, an einem so ungemütlichen Tag, der wie dazu geschaffen war, zu Hause mit einer Tasse heißem Kakao und einem Buch vor dem Kamin zu sitzen?

Sie wusste es nicht. Unsicheren Schrittes ging sie weiter. Etwas anderes blieb ihr sowieso nicht übrig, sie musste in Bewegung bleiben, um sich nicht den Tod zu holen. Eine unbestimmte Ahnung, die so stark war, dass sie ihr folgen musste, zog sie immer weiter voran in eine bestimmte Richtung. Vielleicht stand dort ein Haus, in das sie sich flüchten konnte, oder sie fand jemanden, der sich hier auskannte. Jedenfalls war alles besser, als sich weiter so durchschlagen zu müssen.

Während sie spürte, wie ihr das Wasser jetzt auch in die Schuhe lief, nahm sie vor sich tatsächlich etwas wahr. Erst war es nur eine Ahnung. Angestrengt starrte sie durch den Nebel, bis ihre Augen brannten. Dann war sie sich sicher: Dort stand etwas, etwas Rotes, wie sie jetzt durch den Nebelschleier, der sich kurzfristig lichtete, sehen konnte. Die Augen starr auf das Etwas gerichtet, das sie eben noch klarer gesehen hatte, setzte sie einen Fuß vor den anderen, um ihrem Ziel näher zu kommen …

In ihrem Kopf begann es plötzlich zu klingeln. Katrin hielt sich die Ohren zu, doch das Klingeln hörte nicht auf. Sie spürte ihr Herz rasen, warf den Kopf hin und her und … schlug die Augen auf.

Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass sie wieder nur geträumt hatte. Dann drehte sie sich zur Seite und stellte den Wecker aus. Mit einem tiefen Seufzer blieb sie noch einen Moment lang auf dem Rücken liegen und musterte die noch fremde Zimmerdecke. Dann setzte sie sich auf und sah sich um. Ein Gefühl der Wehmut beschlich Katrin. Es würde lange dauern, bis sie sich hier zu Hause fühlte, so war es nach Umzügen immer schon gewesen. Bei nächster Gelegenheit würde sie ein paar schöne Möbelstücke erstehen, die der äußerst spartanisch eingerichteten Dreizimmerwohnung etwas Atmosphäre verliehen. Jetzt aber wartete ihr erster Arbeitstag auf sie.

Wenige Minuten später stand sie in ihrem Badezimmer und musterte sich ernst im Spiegel. Die kurzen mittelblonden Haarsträhnen standen wild vom Kopf ab und die Anspannung des Traumes fand sich noch in ihren Zügen wieder. Seit sie vor zwei Jahren die Vierzig hinter sich gelassen hatte, hielten sich nicht nur solche Eindrücke länger als früher, fand sie. Und dann war da noch der traurige Ausdruck in ihren Augen … Aber das war jetzt nicht wichtig.

Katrin schlüpfte nach dem Duschen in ihre Jeans und ihr Lieblings-Sweatshirt, trank im Stehen einen Kaffee, biss ein paarmal in das trockene Brötchen vom Vortag, warf ihren dunkelblauen Dufflecoat über und machte sich auf den Weg zum Polizeipräsidium. Draußen war es wärmer, als sie vermutet hatte, der Frühling war schon zu ahnen und die Knospen an den Bäumen wurden jeden Tag dicker.

Aber auch das war im Moment nicht wichtig.

 

 

Kapitel 1

 

Die Strecke zwischen ihrer Wohnung in der Lessingstraße und dem Polizeipräsidium Düsseldorf legte Katrin mit der Bahn zurück. Wenn es im Sommer schön wäre, könnte sie – viele gute Vorsätze vorausgesetzt – auch laufen. Eine knappe halbe Stunde würde das dauern, die sie dann zwar früher aufstehen musste, aber das würde sich schon finden. So war sie in einer Viertelstunde vor Ort, auch ohne Auto, das sie sich auch nicht anschaffen wollte, da sie privat so gut wie gar nicht mehr fuhr.

Der aus rotem Backstein erbaute Gebäudekomplex aus den 1930ern am Jürgensplatz war riesig und wirkte wie eine Kaserne. Hier hatten in der Nazizeit Verhöre stattgefunden und die Deportation jüdischer Mitbürger war beschlossen und durchgeführt worden. Obwohl das Gebäude inzwischen modernisiert worden war, hing ihm die unrühmliche Vergangenheit noch an, sodass Katrin fröstelte, als sie die Schwelle überschritt.

Das Pförtnerhäuschen in der Eingangshalle relativierte den beklemmenden Eindruck für einen Moment.

»Guten Morgen, ich heiße Katrin Kramer. Herr Kriminaldirektor Dr. Elling erwartet mich.«

»Ah, Sie sind also unsere neue Hauptkommissarin.« Der ältere Pförtner musterte Katrin von Kopf bis Fuß, wobei er die Augen etwas zusammenkniff, um besser sehen zu können. »Zweiter Stock, erste Tür rechts. Viel Glück!«

Katrin runzelte die Stirn. Sollte sie hier tatsächlich Glück nötig haben?

Die Tür zum Büro des Kriminaldirektors stand weit offen.

»Da sind Sie ja, Frau Kramer!« Ein eleganter, schlanker Mann Anfang fünfzig erhob sich rasch von seinem Schreibtischsessel, als sie in der Türöffnung erschien, und kam der neuen Kollegin mit breitem Lächeln und ausgestreckter Hand entgegen. »Sie glauben gar nicht, wie froh ich bin, dass Sie unser Team verstärken.« Er schüttelte Katrin kräftig die Hand.

»Danke, Herr Dr. Elling, das freut mich.« Katrin sah ihren neuen Chef ernst an. Der Kriminaldirektor schaute abwartend, als ob er mit einer Bemerkung von ihr rechnete, dann fuhr er rasch fort, um die entstandene Pause zu füllen.

»Ja, dann stelle ich Ihnen am besten gleich Ihre Kollegen vor. Kommen Sie bitte.« Er berührte Katrin kurz an der Schulter und wies ihr den Weg aus dem Büro. Es wunderte ihn, dass die neue Hauptkommissarin kein weiteres Wort an ihn richtete, keinen verbindlichen Satz sprach und kein Lächeln über ihre Lippen brachte, doch er schrieb es ihrer Aufregung vor dem ersten Arbeitstag zu.

Katrin hingegen war überhaupt nicht nervös. Für sie erübrigte sich lediglich jedes weitere Wort; das ständige Alleinsein hatte sie inzwischen wortkarg gemacht. Darüber hinaus hasste sie Höflichkeitsfloskeln, da sie der Ansicht war, dass sowieso niemand wirklich ernst meinte, was er da sagte, und es folglich auch lassen konnte.

 

*

Im Besprechungsraum des Kommissariats waren die Kollegen versammelt, mit denen Katrin in Zukunft vor allem zu tun haben würde: zwei Männer und eine Frau.

Nach einem Nicken in die Runde blieb ihr Blick an der auffallendsten Erscheinung hängen, auf die ihr neuer Chef auch sofort zusteuerte.

»Das, meine liebe Frau Kramer«, er stellte sich neben die junge Frau und sah Katrin lächelnd an, »ist Ihre Kollegin, Kommissarin Laura Janssen, mit der Sie im Team zusammenarbeiten werden. Sie teilen sich ein Büro, das Ihnen Frau Janssen gleich zeigen wird. Und das«, er deutete auf einen sportlichen jungen Mann um die dreißig mit schwarzem Lockenkopf, »ist Luca Goldoni, unser PC-Spezialist.«

Sie reichten sich die Hände.

»Und ich heiße Sören Schneider und bin sozusagen für die Tathintergründe zuständig.« Der große, schlaksig wirkende Kriminalpsychologe, der in Katrins Alter sein mochte, ließ für einen Moment den Blick auf ihrem Gesicht ruhen, nickte dann und reichte ihr ebenfalls zur Begrüßung die Hand: »Wir kennen uns schon, nicht wahr?«, lächelte er. »Sie haben mein Seminar zur Fallanalyse besucht, ich erinnere mich. Willkommen in unserem Team, Frau Kramer.«

Katrin nickte zurück. »Ja genau. Ich fand Ihr Seminar sehr aufschlussreich, Herr Schneider.«

Die Hauptkommissarin drehte sich ein wenig zur Seite und musterte ihre neue Kollegin von Kopf bis Fuß. Ihre Blicke trafen sich und Katrin spürte, dass auch die andere sie beobachtet haben musste.

Total spießig, dachte Laura Janssen.

Fast nuttig, schoss es Katrin Kramer durch den Kopf.

In der Tat war die junge Frau ein Hingucker. Das lange braune Haar fiel in weichen Wellen über ihre Schultern, das stark geschminkte Gesicht wäre ohne den ganzen Aufwand vermutlich schöner gewesen und sicher wäre sie auch gut beraten gewesen, im Büro ein weniger tiefes Dekolleté zu tragen, das einen ausladenden Busen präsentierte. Ihre Taille, der ausgeprägte Po und die langen, schlanken Beine steckten in superengen Jeans und die Füße – Katrin konnte es nicht glauben – in High Heels. Wie sie darin wohl eine Verfolgungsjagd hinlegen wollte?

Umgekehrt sah Laura Janssen eine müde aussehende, unscheinbar wirkende Frau, etwa zehn Jahre älter als sie, die rein gar nichts aus sich zu machen schien, deren Haut augenscheinlich nur Wasser und Seife brauchte, die sich nichts aus Mode machte und deren Schlabberlook bis hin zu den praktischen Turnschuhen die Figur verbarg.

Irgendwie sieht sie verkleidet aus, fand Laura, als sie Katrins feine Gesichtszüge einer unauffälligen Musterung unterzog. Auf jeden Fall aber schien die Frau, so ernst und streng, wie sie in die Runde schaute, von einem Kaliber zu sein, mit dem sie bestimmt aneinandergeraten würde.

Etwas Ähnliches musste Dr. Elling durch den Kopf gehen, der nachdenklich von der einen zur anderen schaute. Aber die Sache war beschlossen; jetzt mussten sich alle zusammenraufen.

Die beiden Frauen reichten sich mit einem Lächeln, dem man die Überwindung ansah, die Hand.

»Nun denn.« Die Hauptkommissarin sah ihre Kollegin herausfordernd an. »Dann auf gute Zusammenarbeit, Frau Janssen.«

»Ist ganz in meinem Sinne, Frau Kramer. Kommen Sie, dann zeige ich Ihnen am besten unser Büro, damit Sie sich einrichten können.«

 

*

Katrin folgte Laura Janssen über den Flur, wobei sie versuchte, den aufreizenden Gang der Kollegin zu ignorieren, um ihr bereits vorhandenes Vorurteil nicht unnötig weiter zu festigen.

Das Büro trug ganz offensichtlich den Stempel eines sogenannten »Raumoptimierer«, der hier engagiert worden war, um den nüchternen Büroräumen ein persönliches Flair zu geben; in diesem Falle wohl, um die Arbeitsmoral zu beflügeln. Katrin betrat ein Zimmer, das weniger wie ein Arbeitsraum, sondern vielmehr wie ein Wohnzimmer wirkte. Viele Grünpflanzen, Bilder und eine gemütliche Sitzecke mit einer Couch und zwei Sesseln gaben dem Raum so viel Atmosphäre, dass man erst durch die beiden Schreibtische, die geschickt angeordnet rechts und links der Fensterfront standen, daran erinnert wurde, dass es sich um ein Büro handelte.

»Nett haben Sie’s hier, Frau Janssen. Sehen hier eigentlich alle Büros so aus?«

Die Kommissarin nickte. »Alle anderen, bis auf das des Chefs, wie Sie ja schon wissen. Er findet den alten 60er-Jahre-Charme beflügelnder.«