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Fürstenkrone
– Paket 1–

E-Book 1-50

Roberta von Grafenegg
Laura Martens
Norma Winter
Helga Torsten
Sabrina von Nostitz
Isabell Rohde
Donata von Hohenbrunn
Carolin Schreier
Cora von Ilmenau
Iris von Raven
Melanie Rhoden
Jutta von Kampen
Britta von Meierhofen
Iris von Brüggen
Dina Kayser
Susanne Weimann
Gabriela Stein
Bianca Maria
Sybille von Sydow
Viola Marquardt
Gisela Heimburg
Beate Helm
Mira von Freienwald
Alice Sieber

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74094-776-7

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Liebe, sanft wie der Abendwind …

Bewegender Roman um eine zärtliche Romanze

Roman von von Grafenegg, Roberta

Ein silbergrauer Sportwagen fuhr langsam die Pappelallee entlang, die zum Gutshof Abbensen führte. Der Fahrer summte leise vor sich hin und sah immer wieder in die weite Landschaft hinaus, die sich jenseits der Pappeln in schier endloser begrünter Ebene erstreckte. Dunkle Sommerwiesen und helle Felder lagen um den alten Gutshof, dessen dunkelrote Backsteingebäude nun sichtbar wurden.

Fürst Klaus von Bornschein parkte dicht vor dem Haupteingang und blieb einen Moment im Wagen sitzen, um den schönen alten Bau zu betrachten. Er hatte manch frohe Kindheitstage hier verbracht, damals als sein Onkel Reinhard noch lebte und die Neffen und Nichten im Sommer zu vergnügten Reiterferien einlud.

Der Fürst war vor einigen Wochen vierzig geworden, was ihn veranlasst hatte, genauer in den Spiegel zu schauen. Ja, da waren sie, die kleinen Fältchen, die sich in den Augenwinkeln angesiedelt hatten und die angeblich vom Lachen herrührten. Er konnte sich allerdings nicht entsinnen, in seinem Leben bisher übermäßig viel gelacht zu haben. Eigentlich hatte er kaum gelacht, besonders während der vergangenen Jahre hatte es wenig Anlass dazu gegeben, denn sein Leben bestand aus Arbeit.

Er stieg aus dem Wagen und betrat die Eingangshalle des Gutshofs. Auch hier hatte sich wenig verändert, die hohen Eichenstühle standen steif und unbequem wie eh und je und die Gemälde an der Wand blickten stumm auf den Besucher herab. Fürstin Anita, seine Frau, hielt viel auf Tradition, sie hatte so gut wie nichts an dem Gutshof verändert, seit Onkel Reinhard vor einigen Jahren verstorben war.

»Fürst Klaus! Meine Güte, so ganz unangemeldet! Was für eine Freude!«, rief eine bekannte Stimme aus dem Hintergrund, und eine weißhaarige Bediente trat ihm entgegen. Es war Anna, die alte Wirtschafterin seines Onkels, die trotz ihres hohen Alters nichts von Ruhestand hören wollte.

»Anna! Ich freue mich, dich so gesund und munter wiederzusehen!«

Sie wehrte lächelnd ab. »Gesund ist was anderes, Fürst. In meinem Alter, da kommen halt die Zipperlein an allen Ecken und Enden zum Vorschein und man muss gute Miene zum bösen Spiel machen. Aber bisher hat es mich noch nicht umgeworfen, das ist wahr.«

»Das wird sicher noch lange so bleiben, Anna«, meinte er schmunzelnd. »Ist die Fürstin anwesend?«

Über das Gesicht der Bedienten glitt ein Schatten, sie nickte jedoch und sagte: »Fürstin Anita ist auf dem Reitplatz. Sie hat vor ein paar Tagen eine Stute gekauft und versucht nun täglich, ihr Vertrauen zu gewinnen.«

»Dann werde ich mir den Neuzugang einmal anschauen«, meinte er fröhlich und wandte sich zum Ausgang.

»Aber wollen Sie denn nicht zuerst etwas zu sich nehmen, Fürst?«, rief ihm die Bediente nach. »Nach der langen Reise sind Sie sicher durstig und wohl auch hungrig.«

»Später, Anna. Stell nur schon alles bereit. Du weißt ja, was ich hier in Abbensen bevorzuge.«

»Die Fürstin wird sicher gleich hier sein, Sie könnten genauso gut auf sie warten und dabei einen Imbiss nehmen …«

Aber er war schon zur Tür hinaus und in den Wagen gestiegen, um zu den Stallungen hinauszufahren. Die alte Anna stand auf der Schwelle des Hauses und sah ihm nach. Es war während der letzten Jahren nicht gerade häufig vorgekommen, dass Fürst Klaus seine Frau Anita auf Abbensen besuchte. Das Paar lebte zwar nicht offiziell getrennt, doch ging jeder seine eigenen Wege, Kinder waren nach einem Reitunfall der Fürstin nicht mehr zu erwarten. Die Fürstin, die eine passionierte Reiterin war, bevorzugte Gut Abbensen wegen der Pferdezucht und der abgelegenen Lage – der Fürst lebte in München und betätigte sich dort als Sachverständiger eines großen Kunstauktionshauses. In der nunmehr fünfzehn Jahre währenden Ehe herrschte kühle Toleranz – man akzeptierte die Lebensart des Partners, ohne sie zu teilen. Das hinderte die beiden nicht daran, bei großen Anlässen als Paar aufzutreten und freundschaftlich miteinander umzugehen.

Die alte Anna hatte trotz allem noch die Hoffnung, dass Fürst Klaus und Fürstin Anita eines Tages wieder als Paar auf Abbensen leben würden. Waren sie nicht damals in den ersten Ehejahren verliebt und glücklich gewesen? Was einmal war, das konnte auch wieder sein. Nur heute standen die Zeichen dafür nicht günstig.

Fürst Klaus war heute in der Tat ungeduldig, Anita wieder zu sehen. Das Paar hatte zuletzt vor einem halben Jahr gemeinsam an einer Familienhochzeit teilgenommen und man hatte sich recht gut miteinander verstanden. Anita hatte lächelnd nach seinem vierzigsten Geburtstag gefragt und sie hatten beide über die Möglichkeit einer Midlifecrisis gescherzt, die sich nun einstellen könnte. Er hatte Anita damals bezaubernd gefunden, so fröhlich und ungezwungen wie lange nicht mehr. Man hatte sich gegenseitig versprochen, recht bald einen Besuch zu machen und er hatte sie sogar zu seiner Geburtstagsfeier eingeladen. Aber Anita hatte abgesagt, eine schlimme Zahngeschichte hielt sie in Abbensen zurück.

Nun aber, da ihn sein Weg sowieso nach Hamburg zu einer Expertise führte, hatte er beschlossen, in Abbensen, das dicht bei Hannover lag, überraschend vorzusprechen.

Die Stallungen waren recht ausgedehnt, sie schlossen einen Sandplatz ein, auf dem regelmäßig trainiert wurde, daneben einen Rasenplatz, wo etliche Hindernisse aufgebaut waren. Er konnte schon von weitem Anitas helle Stimme hören, die den Stallknechten Anweisungen zurief. Lächelnd schritt er auf den Sandplatz zu, wo seine Frau einem dunkelbraunen Pferd verschiedene Gehorsamsübungen abverlangte.

»Soll ich den Schimmel jetzt satteln, Fürstin?«

Die Frage wurde von einem jungen Mann gestellt, der soeben aus dem Stall trat und den Fürst Klaus noch nie zuvor gesehen hatte. Offensichtlich ein neuer Angestellter, ein hochgewachsener junger Mensch, mit dichtem blondem Lockenhaar.

Fürstin Anita vollendete die angefangene Übung und wandte sich dann für einen Moment um: »Wenn du das allein schaffst, mein kleiner Rittmeister. Sonst muss ich kommen und dir dabei helfen.«

Sie lachte hell, und der junge Mann errötete. Etwas linkisch wandte er sich um und begab sich zu den Pferden. Die Fürstin fuhr mit ihrer Arbeit fort, aber der Beobachter konnte sehen, dass ein kleines, glückliches Lächeln auf ihrem Gesicht zurückgeblieben war.

Fürst Klaus war hinter den Stall getreten. Ohne genau zu wissen weshalb, hatte er sich den Blicken seiner Frau entzogen. Er spürte eine plötzliche, tiefe Beklemmung, die die frohe Stimmung, in der er angekommen war, hinwegwischte. Warum? Was war an dem Gehörten so bedrückend?

Es war nichts Neues und auch nichts Unerwartetes. Anita hatte eine kleine Affäre mit einem Angestellten. Es war nicht das erste Mal, das solches geschah, auch er selbst hatte in München hin und wieder eine kurze Beziehung gehabt.

Solche Vorkommnisse hatten ihre Freundschaft bisher kaum Beeinträchtigt. Wie konnte er ihr auch zumuten, monatelang wie eine Nonne zu leben? Sie war gerade einmal achtunddreißig und strotzte vor Energie und Lebenskraft. Er beobachtete, wie sie abstieg und den Braunen in den Stall führte. Er hatte wenig Lust, sie dort aufzusuchen. Vielleicht wäre er unpassend gekommen.

Langsam ging er zu seinem Wagen zurück und fuhr zum Gutshof. Dort hatte Anna für ihn ein Frühstück gerichtet und er nahm es ein, ohne auf Anita zu warten. Nachdenklich betrachtete er durch die hohen Fenster den blühenden Garten, der noch genauso erhalten war, wie er in seiner Kindheit ausgesehen hatte. Er war Anita dankbar dafür, dass sie diese Familientraditionen achtete – auch sie hatte als kleines Mädchen in diesem Garten gespielt. Auf der Schaukel hatte sie damals gesessen in einem weißen Kleid, und er hatte vor allen anderen Jungen das Vorrecht gehabt, sie anzustoßen. Lange vorbei! Er stand auf und trat dicht an eines der Fenster.

Was hatte ihn da nur für eine merkwürdige Traurigkeit ergriffen? Anita hatte eine Affäre – was störte es ihn? Was hatte er sich überhaupt von diesem Besuch erwartet?

Er trank den Kaffee aus und schob den Teller zurück. Draußen hörte er Schritte, Anita trat ins Haus und nicht nur sie allein. Auch die Stimme des blonden Rittmeisters war zu vernehmen. Fürst Klaus wappnete sich – er würde die Situation mit gewohnter Gelassenheit meistern. Das war er sich schuldig.

*

Das Unwetter fegte Äste und helle Papiertüten über die Autobahn, Regen peitschte gegen die Scheiben des Wagens, der Fürst konnte kaum das Steuer festhalten, so griffen die Böen den Wagen von der Seite an. Er konnte sich nicht entsinnen, schon einmal in ein ähnliches Unwetter geraten zu sein.

Man konnte nicht schnell fahren, es hatte wenig Zweck, die Fahrt fortzusetzen. Er bog in eine Raststätte ein, stieg aus dem Wagen und kämpfte sich durch Regen und Wind bis zum Eingang des Selbstbedienungsrestaurants. Dort besorgte er sich einen Kaffee und ließ sich an einem der Tische nieder.

Nachdenklich sah er nach draußen, wo in der Dunkelheit einzelne helle Lichter vorüberglitten und hin und wieder ein Mensch mit hochgestelltem Kragen und vorgebeugtem Oberkörper dem Gebäude zustrebte. Fürst Klaus stellte fest, dass dieses Unwetter nicht schlecht zu seiner eigenen trüben Stimmung passte, ja, es war ihm lieber, dass Himmel und Erde um ihn herum tobten, als dass er durch eine sanfte, stille Sommernacht fahren musste.

Er rührte Zucker in seinen Kaffee und wollte gerade ins Grübeln geraten, als sich die Tür auftat und eine junge Frau in den Raum trat, einen unförmigen und völlig durchnässten Rücksack im Arm. Sie schüttelte sich wie eine nasse Katze, dann trat sie mit raschen Schritten in den Raum, sah sich um und wandte sich mit einer raschen Drehung nach links.

Die Kaffeetasse des Fürsten wurde von ihrem Rucksack mit kühnem Schwung quer über den Tisch auf einen Kübel mit künstlichen Pflanzen zugeschleudert. Erschrocken drehte sie sich um und ließ den Rucksack fallen. »Ach, du Schreck!«, rief sie und musste lachen. »Das tut mir riesig Leid. Ich hole Ihnen gleich einen neuen. Mit Milch und Zucker, ja?«

Sie hatte große dunkelblaue Augen und schwarze Wimpern, aber das war es nicht, was ihn faszinierte. Es war ihre impulsive Art, ihr spontanes Erschrecken, ihr fröhliches Lachen, und das selbstverständliche Angebot, dass sie sofort in die Tat umsetzte. Bevor er protestieren konnte, hatte sie zwei Tassen Kaffee bestellt und trug sie zu ihm an den Tisch.

»Das war nicht nötig«, meinte Fürst Klaus.

»Und wie das nötig war«, gab sie zurück und stellte den Kaffee vor ihn hin. »Haben Sie schon einmal solch einen Sturm erlebt?« redete sie drauflos und wies zum Fenster, hinter dem ein Busch sich im Wind hin und her bog. »Einfach riesig, so was. Ich hab’ versucht, mich mit ausgebreiteten Armen gegen den Wind zu lehnen. Und was soll ich Ihnen sagen?«

»Nun?«, fragte er schmunzelnd, weil sie ihn erwartungsvoll ansah.

»Ich bin nicht umgefallen.«

»Aber ganz schön nass geworden?«

Sie rührte Zucker und Milch in ihren Kaffee und nickte dabei. »Das allerdings. Aber das trocknet wieder.«

Er beobachtete, wie sie trank, genussvoll seufzte und sich die nassen Haarsträhnen aus der Stirn strich. Sie war ungewöhnlich hübsch, ein zierliches, schlankes Geschöpf, fast noch ein Kind, wie es schien, und doch voller sprühender Lebendigkeit und Energie. Sogar in nassen Kleidern behielt sie ihren Optimismus.

»Wo wollen Sie denn hinreisen?«

Sie war beschäftigt, in ihrer nassen Jackentasche zu graben, um dort noch einige Münzen zu finden. Darum antwortete sie nicht gleich. »Nach München. Aber Frankfurt ist auch okay. Oder wenigstens Köln.« Sie hielt jetzt drei kleine Geldstücke in der Hand, wie er sehen konnte waren es nur Centmünzen. Ihr Blick glitt über die Glasvitrinen mit den belegten Brötchen, aber sie begriff, dass sie zu wenig Geld hatte und steckte ihre Barschaft wieder ein.

Fürst Klaus war gerührt. Sie hatte ihm einen Kaffee bezahlt und nun hatte sie selbst kein Geld mehr, um sich etwas zu essen zu kaufen. Was für eine Träumerin.

»Darf ich Sie zu einem Imbiss einladen?«

Ihr Blick glitt einschätzend über ihn und sie schüttelte den Kopf. »Nett von Ihnen, aber ich mag das Zeug hier sowieso nicht.«

»Wenigstens noch einen Kaffee?«

Sie lachte und lehnte wieder ab. »Auf keinen Fall. Sonst hebe ich gleich ab. Ich trinke sonst eigentlich Tee. Aber der Tee in solchen Restaurants ist halt immer nur Beuteltee.«

Es gefiel ihm, dass sie sich nicht einfach aushalten ließ. Obgleich er gern etwas für sie getan hätte. Wie sich eine so junge Frau einfach einem völlig unbekannten Autofahrer ausliefern konnte? Wer weiß, wem sie in die Hände fallen würde; sie schien ziemlich unerfahren zu sein.

»Ich fahre nach München«, sagte er. »Wenn Sie mitfahren möchten – es ist Platz genug in meinem Wagen.«

Sie grinste freundlich und nickte. »Gern. Da habe ich ja richtig Glück gehabt. Mit dem Rucksack und dem Kaffee – das sollte wohl so sein.«

Sie lachte so ansteckend, dass er mitlachen musste. Er spürte, dass seine Traurigkeit verflogen war. Diese junge Frau strahlte einen solchen Optimismus aus, dass daneben keine trübe Stimmung Platz hatte.

»Ich heiße Tina«, sagte sie und reichte ihm mit komischer Feierlichkeit die Hand.

»Ich bin Klaus von Bornschein.«

»Oha! Alter Adel?«

»Ja, schon recht alt.«, schmunzelte er.

Das Wetter hatte kaum nachgelassen, sie mussten Regen und Wind die Stirn bieten um zum Wagen zu gelangen. Dort schloss er zuerst die Beifahrertür auf und ließ sie einsteigen, dann verstaute er den Rucksack im Kofferraum. Völlig durchnässt setzte er sich dann hinter das Steuer und fuhr sich mit dem Ärmel über das nasse Gesicht.

»Sie sind ein richtiger Gentleman«, sagte Tina in verändertem Ton. »Ich hätte mein Zeug doch selber verstauen können, dann wären Sie jetzt nicht so nass geworden.«

»Ach«, meinte er schmunzelnd, »das trocknet wieder.« Er schaltete die Heizung ein und startete den Wagen. Immer noch musste er gegen heftigen Seitenwind ansteuern. Die Autobahn war voller Wagen, die so langsam fuhren, als läge dicker Schnee auf der Fahrbahn.

»Also, ich mache alles, was Sie wollen«, erklärte sie heiter. »Wenn Sie Ruhe beim Fahren wollen, dann halte ich den Mund. Wenn Sie aber Unterhaltung brauchen, um nicht einzuschlafen, dann bin ich besser als ein Radio. Sie müssen nur sagen, was ansteht.«

»Radio«, gab er lächelnd zurück.

»Okay. Aber immer schön die Hände am Steuer lassen! Ich erzähle haarsträubend aufregende Sachen.«

Sie war eine hinreißende Erzählerin. Was auch immer sie berichtete, es stand so plastisch vor seinen Augen, als habe er es selbst erlebt. Dazu war es ungeheuer spannend, ihr Mienenspiel zu betrachten, die raschen Veränderungen in ihren Zügen, denn sie Menschen oder Erlebnisse beschrieb, die ausdrucksvollen Bewegungen der Hände. Fürst Klaus musste wirklich aufpassen. Wenn die Witterungsverhältnisse verlangten seine volle Konzentration auf den Verkehr.

Hinter Köln wurde das Wetter ruhiger, in der Nähe von Frankfurt fuhr er an eine Raststätte, um eine kleine Pause zu machen.

»Kommen Sie mit?«

Sie schüttelte den Kopf und behauptete, zu müde zu sein. Als er aus dem Restaurant mit einer Tüte voller Sandwichs und einem Becher Kaffee zurückkam, lag sie zusammengerollt auf der Rückbank und schlief mit rosigen Wangen wie ein kleines Mädchen.

Er stieg leise ein und bemühte sich, so sacht wie möglich zu fahren, damit sie nicht aufwachte.

*

Fürst Klaus fand es ungewöhnlich, dass ihm diese junge Frau nicht mehr aus dem Kopf ging. Midlife­crisis. dachte er. Anita hat Recht gehabt. Ich werde alt und fange an, mich für junge Mädchen zu interessieren – keine ungefährliche Sache.

Die ersten Tage nach seiner Ankunft in München versuchte er sich nach bewährter Weise mit einem großen Arbeitspensum abzulenken. Aber seine Taktik führte nur teilweise zum Erfolg. Sicher war er während der Arbeit bei seinen Kunden und im Auktionshaus mit anderen Gedanken beschäftigt, aber an den Abenden, wenn er in seiner Wohnung saß und zu seiner gewohnten Lektüre greifen wollte, wanderten seine Gedanken wie von selbst zu der jungen Frau zurück, die sich als »Tina« vorgestellt hatte und die er nicht vergessen konnte.

Sie hatte unter anderem auch eine Menge über sich selbst erzählt, und er hatte darin so viele Ungereimtheiten gefunden, dass er ins Grübeln gekommen war. Angeblich hatte sie fünf Semester Kunstgeschichte studiert, dann aber das Studium aus irgendeinem Grund abgebrochen und seitdem jobbte sie sich durchs Leben. Als er sie nach dem Grund des Studienabbruchs fragte, erklärte sie, es sei eine »Familienangelegenheit« gewesen. Irgendwie habe es sie »aus der Bahn gehauen«, sie habe einfach keine Lust mehr auf Studieren gehabt.

Er hatte nicht nach ihrer Familie fragen wollen, schließlich ging es ihn nichts an. Nur vage hatte er dann einiges über sich selbst berichtet, über seine Arbeit und ganz am Rande, dass er verheiratet sei. Sie hatte sich für diese Tatsache wenig interessiert, war aber hellauf begeistert, als sie hörte, dass er für »Kufsteiner & Winter« arbeitete und Expertisen über mittelalterliche Gemälde und Skulpturen anfertigte. Gerade darüber habe sie an der Universität einige Veranstaltungen besucht, mittelalterliche Mariendarstellungen seien ihr Spezialgebiet gewesen.

Auch das war erstaunlich, es pass­te wenig zu ihrer lebhaften, ungestümen und unbefangenen Art. Und auch nicht zu dem, was sie momentan tat. Sie erklärte, ihr Geld als Bedienung im »Grünen Kaktus« zu verdienen, das sei eine Bar in Schwabing. Ob er dort schon einmal gewesen sei? Als er verneinte, meinte sie, er müsse unbedingt einmal vorbeikommen.

Was für ein Ansinnen! Er hatte zuletzt eine Bar betreten, als er Anfang zwanzig war und mit ein paar Freunden ausgezogen war, um, München zu erobern. In seinem Elternhaus hatte man ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass ein Prinz sich durchaus einmal – wie sein Vater es nannte – die »Hörner abstoßen« konnte, doch sollte es bei solchen Aktionen auf keinen Fall zu einem Skandal kommen. Fürst Klaus hatte sich damals die Wünsche seiner Eltern zu Herzen genommen, kurz darauf wurde seine Verlobung mit Prinzessin Anita von Bodenheim bekannt gegeben.

Hatte er seine Jugend verpasst? Im Vergleich zu Freunden und Verwandten seines Alters hatte er früh geheiratet und während der ersten Jahre seiner Ehe niemals irgend­eine Affäre gehabt. Erst später, als das gegenseitige Desinteresse immer deutlicher wurde, gestattete auch er sich hier und da eine kleine Liebschaft. Allerdings waren diese Passionen ihm niemals wirklich nahe gegangen, noch nie zuvor hatte er sich über eine dieser Frauen den Kopf zerbrochen.

Der »Grüne Kaktus« war eine jener Bars, in denen das Leben erst ab zwei Uhr in der Nacht erwachte, wo hübsche Mädchen Männer zum Bestellen teurer Spirituosen verführten und man in verschwiegenen Ecken mit einem dieser Mädchen verschwinden konnte. Er wuss­te dies von Kollegen, selbst war er noch niemals dort gewesen.

Er brachte diese Dinge nicht zusammen. Dieses fröhliche, offene Wesen, das Interesse für mittelalterliche Marienbilder und auf der anderen Seite arbeitete sie in einem solchen Etablissement. Was sie dort tat, darüber wollte er nicht weiter nachdenken. Eine so hübsche junge Frau konnte in München rasch unter die Räder kommen.

Fürst Klaus stellte voll Erstaunen fest, dass ihm das Schicksal dieser jungen Frau am Herzen lag. Obgleich er sie nur ein paar Stunden lang erlebt hatte. Als er sie gegen Morgen in München weckte, hatte sie ihn völlig verschlafen und reizend verwirrt angeblinzelt.

Er hatte ihren Rucksack aus dem Kofferraum gehoben, hatte ihr zum Abschied die Hand reichen wollen. Tina jedoch war ihm unbekümmert um den Hals gefallen.

»Das war riesig nett von Ihnen«, hatte sie gesagt und ihn geküsst. »Danke für alles. Ich hoffe, wir sehen uns einmal wieder. Sie wissen ja: ›Grüner Kaktus‹. Okay?«

Er war überrascht von ihrem Ungestüm gewesen, gleichzeitig hatte er es rührend gefunden, denn die Umarmung hatte eher einem Vater und Beschützer gegolten, als einem Mann. Er hielt sie einen Moment lang fest.

»Grüner Kaktus? Und wann?«

»Jede Nacht ab zwei, vorher ist dort nix los.«

»Ich will sehen, was sich machen lässt. Die nächste Zeit habe ich beruflich viel zu tun …«

»Wann immer Sie Zeit haben. Ich würde mich freuen.«

Ihre Augen sahen in der Morgendämmerung fast schwarz aus und ihr Gesicht war rosig vom Schlaf. Es war etwas ungemein Zärtliches und Unschuldiges in ihrer Umarmung, etwas, das er glaubte, lange nicht mehr gespürt zu haben.

Und doch bediente sie in einer Bar, war vermutlich eine jener Frauen, die dort kaum bekleidet herumliefen und die Gäste zum Trinken animieren sollten.

Er konnte mehrere Nächte nicht schlafen, quälte sich mit einem Buch bis zum Morgengrauen und fiel dann in einen unruhigen Schlaf, aus dem der Wecker ihn viel zu früh herausholte. Todmüde stand er auf, um seine Termine wahrzunehmen, fuhr oft viele Kilometer mit dem Wagen in abgelegene Ortschaften, um dort in Gutshöfen oder Adelssitzen Kunstgegenstände zu begutachten, die von ihren Besitzern aus welchen Gründen auch immer veräußert werden sollten. Fürst Klaus verrichtete freudlos seine Arbeit. Er hätte ebenso gut auf seinem Familiensitz, Schloss Petersberg am Rhein, sitzen, nach den Gärten sehen, Spaziergänge durch die Weinberge unternehmen und Bücher lesen können.

Als er um die Mittagszeit in einem kleinen Café zu Apfeltorte und Tee einkehrte, hörte er plötzlich hinter sich das unbefangene, frohe Lachen einer jungen Frau. Er glaubte es zu erkennen und musste sich bemühen, seine Aufregung zu verbergen. Langsam und wie ohne Absicht wandte er sich um: Eine fremde dunkelhaarige Frau saß dort mit einem jungen Mann bei Kakao und Kirschwaffeln. Sie lachten über einen Witz, den der junge Mann erzählt hatte.

Er spürte, dass es keinen anderen Weg gab als Tina zu suchen. Er konnte ihr nicht mehr entkommen, sie hatte eine Saite in ihm angerührt, die nicht aufhören wollte zu klingen.

*

Am Anfang hatte Tina es im »Grünen Kaktus« recht gut gefallen. Sie war »die Neue« in der Bar, alle Männer flogen auf sie und sie hatte keine Probleme damit gehabt. Man musste nur deutlich machen, was ging und was nicht ging – und das von vornherein. Lachen, Spaß haben, ein Küsschen auf die Wange, ein wenig schmusen – das war okay. Etwas anderes nicht. Punktum. Der Job war eine Möglichkeit, rasch und gut zu verdienen, weiter nichts. Und weiter hatte sie auch nichts gewollt. Was vorher gewesen war, das zählte nicht mehr, weder das, was schön gewesen war, noch die schlimmen Dinge, die sie später eingeholt hatten. Vor allem die wollte sie so rasch wie möglich vergessen.

Tina hatte sich gleich in den ersten Tag mit Lore angefreundet und war schließlich bei ihr eingezogen. Lore war abends in der Bar die Lauteste, neulich hatte sie tatsächlich auf dem Tisch getanzt. Zu Hause war sie ganz anders. Eine ordentliche Hausfrau, kein Stäubchen lag auf dem Teppich, die Küche immer sauber und aufgeräumt, im Bad spiegelten die Kacheln. Dabei konnte Lore kochen wie eine Profi-Köchin. Manchmal kauften sie gemeinsam ein, dann kochte Lore ein Menü mit mehreren Gängen, das einem Fünfsternerestaurant alle Ehre gemacht hätte, und sie saßen beide stundenlang am Tisch, redeten, aßen und lachten. Lore konnte eine gute Freundin sein, eine, der man sich anvertrauen konnte, und auch Lore erzählte Dinge, die ihr auf der Seele lagen.

Tina hatte einige Tage gezögert, dann wusste Lore auch über ihre Begegnung mit »einem echten Fürsten« Bescheid.

»Mensch, Tina! Das ist deine Chance! Zieh den Typ an Land!«, regte sie sich auf. »Der ist garantiert märchenhaft reich.«

»Verheiratet ist er, Lorchen«, meinte Tina sachlich.

Lore zuckte die Schultern. »Na und? Das weiß doch jeder, dass man in solchen Kreisen allein aus politischen Gründen heiratet. Wie alt ist er? Um die vierzig? Na, da wird die Liebe auch nicht mehr so frisch sein. Der steht auf dich, Tina! Sonst hätte der dich nicht mitgenommen und dir auch noch etwas zu essen gekauft.«

Tina hatte selbst häufig darüber nachdenken müssen. Warum war dieser zurückhaltende und doch so sympathische Mann auf die Idee gekommen, sie mitzunehmen? Aus Fürsorge? Warum sonst, er hatte keinen einzigen Versuch unternommen, sie anzufassen. Er hatte sie einfach nur mitgenommen, wahrscheinlich, weil sie so nass und hungrig ausgeschaut hatte – wie ein Vöglein, das aus dem Nest gefallen war.

»Wenn du nicht so dämlich gewesen wärest, könntest du jetzt schon in einem Schloss sitzen und jeden Tag teuerste Klamotten und Juwelen haben. Warum hast du nichts mit ihm angefangen?«

»Aber er wollte nichts von mir!«

Lore fing an zu lachen. »Kind, was bist du lebensfremd. Der wollte ganz bestimmt. Aber weil er zu den schüchternen Typen gehört, hat er nicht gewusst, wie er es anfangen soll. Solchen Männern muss man ein wenig auf die Sprünge helfen, Mädchen …« Tina schüttelte den Kopf.

»Ich fand es schön so, verstehst du? Richtig schön. Ich habe mich in seinem Wagen so sicher und geborgen gefühlt. Ich hab’ sogar stundenlang geschlafen …«

»Wie in Abrahams Schoß. Amen«, unterbrach sie Lore ironisch.

»Wahrscheinlich hast du in dieser Nacht die Chance deines Lebens verpennt.«

Nachdenklich sah Tina zum Fenster hinaus, wo die Bäume schon die ersten gelben Blätter zeigten. »Er wollte kommen …«, murmelte sie. »Er hat nur momentan viel zu tun.«

Lore zuckte die Schultern und öffnete ihren Kleiderschrank, denn es war Zeit, sich für die Arbeit fertig zu machen.

»Das sagen sie alle«, meinte sie und zog ein frisch gebügeltes Oberteil aus dem Schrankfach. »Was meinst du? Soll ich heut’ mal in rot gehen?«

»Rot ist die Liebe«, witzelte Tina.

»Wo du Recht hast, hast du Recht«, gab Lore trocken zurück und zog das enge, weit ausgeschnittene Oberteil an.

Im »Grünen Kaktus« war um Mitternacht noch recht wenig los. Die Mädchen saßen an einem der Tische und schwatzten, der Barkeeper polierte seine Gläser und hielt sie immer wieder gegen das Licht. Jimmy, der Chef, saß abseits in einer Nische und unterhielt sich mit einem Bekannten. Als einige Gäste erschienen, schwärmten die Mädchen aus, um ihre Arbeit zu tun. Sofort wurde es an der Bar lebhaft, es wurden Getränke bestellt, laute Unterhaltung drang durch den Raum, einer der Gäste war bereits jetzt sturzbetrunken.

»Wo ist denn die Tina?«, lallte er. »Wegen der Tina bin ich extra gekommen und nun ist sie nicht da!«

Tina hatte wenig Lust, sich um den lästigen Typen zu kümmern, aber ein wachsamer Blick ihres Chefs deutete an, dass es Zeit war, ins Geschehen einzugreifen. Sie stand vom Tisch auf und ging langsam auf die Theke zu, wo der Gast auf einem Hocker saß und gerade Sekt für alle bestellt hatte.

»Bisschen kurzsichtig, wie?«, stellte sie grinsend fest und setzte sich neben ihn. »Na? Schweren Tag gehabt?«

Der Typ legte den Arm um sie und strahlte vor Zufriedenheit. Tina spürte seinen Alkoholatem und musste sich große Mühe geben, heiter und gelassen zu bleiben.

»Mensch, Mädchen, wenn du wüsstest, wie oft ich an dich gedacht hab«, lallte er und legte den Kopf an ihre Schulter. »Trink mal ’n Schluck.«

Sie nippte an dem Glas, das er ihr hingeschoben hatte und begann, ihm eine heitere Story zu erzählen. Es war nicht ganz einfach, seine Aufmerksamkeit durch Reden zu fesseln, denn er war viel zu betrunken, um den Sinn zu begreifen. Er hatte nur eine Sache im Sinn, seine Hand kroch unter ihr Shirt und suchte dort ungeschickt herum. Tina klopfte ihm energisch auf die Finger und prostete ihm fröhlich zu.

»Auf uns alle!«

Er nahm das Glas und glotzte sie an, gleich würde er vom Stuhl kippen. »Auf dich, Tina!«

Als er wieder den Arm um sie legte und sie dichter an sich zog, ging die Tür auf und ein neuer Gast trat ein. Tina erkannte ihn im Spiegel, der hinter der Theke hing und sie erschrak. Es war Fürst Klaus.

»He, was ist mit dir?«, nörgelte ihr betrunkener Verehrer.

»Bin gleich wieder da, Süßer.« Sie löste sich geschickt aus seiner Umklammerung und glitt vom Hocker. Der Fürst stand immer noch am Eingang, er hatte sie erkannt, doch machte er keine Miene, näherzutreten. Tina begriff, dass er sie in zärtlicher Pose mit dem Betrunkenen gesehen hatte, und sie schämte sich plötzlich für das, was sie hier tat. Wahrscheinlich dachte er jetzt, sie würde mit allen diesen Männern ins Bett gehen und auf diese Weise ihr Geld verdienen. Es war nicht die Wahrheit, aber wie sollte sie ihm das deutlich machen? Sie lief auf ihn zu und lächelte ihn an.

»Ich wusste, dass Sie kommen würden!«

Er hörte, wie ehrlich ihre Freude war, und sie sah beglückt, dass ein froher Zug in sein Gesicht trat. Auch er lächelte, wenn auch nicht unbefangen.

»Wir können uns dort hinten hinsetzen und ein wenig plaudern«, schlug sie vor. »Wenn es Ihnen Recht ist.«

»Sehr sogar. Für die Theke bin ich nicht der Typ. Viel zu laut und zu unruhig.«

Hinter ihnen erhob sich Lärm, denn Tinas Verehrer wollte sich sein Mädchen nicht so einfach abspenstig machen lassen. Aber Lore war auf Zack. »He, Süßer«, flirtete sie und drängte sich dicht an ihn heran. »Warum bist du denn so kühl zu mir? Was hat sie, was ich nicht habe?«

Der Betrunkene murrte noch herum, er sei nur wegen Tina hier, ließ sich dann aber beruhigen und spendierte noch eine Runde Sekt. Der Chef grinste Lore anerkennend zu und Lore war einen Moment lang glücklich. Nachher würde sie mal fünf Minuten zu ihm rübergehen, denn sie hatte sich unsterblich in Jimmy verliebt.

»Ich hätte Sie fast nicht erkannt«, gestand Fürst Klaus. »Damals im Rasthaus sahen Sie ganz anders aus.«

Tina wurde rot. Sie trug einen superkurzen schwarzen Rock und ein Oberteil mit freizügigem Ausschnitt. Aber sie zuckte die Schultern und bemühte sich, gelassen zu sein. »Berufskleidung. In Jeans und T-Shirt kann ich hier nicht ankommen. Und auch nicht ohne Kriegsbemalung.«

Sie lachte, als er ihr versicherte, sie sähe sehr hübsch aus. »Wenn ich ehrlich bin, dann haben Sie mir allerdings im Rasthaus besser gefallen«, bekannte er.

»Da war ich müde, habe gefroren wie ein Schneider und nass war ich auch«, meinte sie kopfschüttelnd.

»Und so was gefällt Ihnen?«

»Sie wissen, was ich meine oder?«

Sie senkte den Kopf und nickte. Natürlich wusste sie, wovon er sprach. Es gefiel ihr sehr, dass er so mit ihr redete. Ernsthaft und ohne Flirt. Aber dennoch regte sich in ihr ein gewisser Trotz. Einer, der einen Adelstitel hatte, einen einträglichen Job und noch dazu Schloss und Besitzungen und was nicht noch alles – der konnte gut reden.

»Ich muss schließlich Geld verdienen, oder?«

Er sah ihr in die Augen, und sie spürte, dass er viel mehr von ihr begriff, als sie wahrhaben wollte.

»Es gibt andere Möglichkeiten, Geld zu verdienen, Tina. Warum haben Sie ihr Studium nicht beendet?«

»Meine Mutter ist gestorben.«

Es war etwas in ihrem Ton, dass Fürst Klaus veranlasste aufzuhorchen, eine unausgesprochene Bitte, die Grenze zu beachten. Er verstand, wollte nicht weiter in sie dringen. Sie schien ihre Mutter sehr geliebt zu haben. Vermutlich hatte sie nach deren Tod nicht mehr die Mittel gehabt, ein Studium zu finanzieren.

»Ich würde Ihnen gern eine Chance geben«, sagte er vorsichtig. »Was halten Sie davon, bei ›Kufsteiner & Winter‹ zu arbeiten?«

Mit großen, erstaunten Augen sah sie ihn an. »Aber … aber ich kann nicht einmal einen Computer bedienen … Und einen Studienabschluss habe ich auch nicht …«

»Das weiß ich.« Er lächelte. »Aber ich würde versuchen, etwas für Sie zu finden. Wenn Sie das wollten …«

Wieder begegneten sich ihre Blicke und beide spürten, dass da etwas war, das sie anzog, und sie musste aufpassen, nicht den Halt zu verlieren.

»Ich will schon«, sagte sie leise.

»Aber ich bin nicht sicher, ob ich es schaffe …«

Er fasste ihre Hand und drückte sie fest, als wollte er ein gegebenes Versprechen bekräftigen. »Geben Sie mir Ihre Nummer, ich rufe morgen an.«

»Das passt dir wohl, hier mit meinem Mädchen rumzumachen?«

Erschrocken sah Tina auf. Vor ihr stand der betrunkene Gast, der sich inzwischen auch von Lores intensiven Bemühungen nicht mehr abhalten ließ. Er musste sich zwar am Tisch festhalten, aber er war immer noch stimmgewaltig.

»He, du bist hier auf dem falschen Dampfer«, sagte Tina zornig. »Dort drüben steht dein Mädchen, klar?«

Der Betrunkene kniff die Augen zusammen und schwankte so übel, dass er fast gefallen wäre.

»Du bist mein Mädchen, Tina!«, sagte er. »Und du kommst jetzt mit mir. Weil ich das so will.«

Tina spürte, wie ein riesiger Zorn sie überkam. Drüben sah der Chef mit misstrauischen Augen zu ihnen hinüber; der Betrunkene war ein guter und stets spendabler Gast. Es galt, ihn zur Vernunft zu bringen, ohne viel Ärger dabei zu provozieren. Normalerweise eine leichte Übung. Der Typ war so besoffen, dass ein weiteres Glas genügen würde, ihn zum Kippen zu bringen.

Aber Tina hatte gerade jetzt keine Lust, diesem widerlichen Typen zu schmeicheln, ihn zum Trinken zu überreden, sich von ihm anfassen zu lassen.

»Setz dich hin, sonst kippst du gleich um«, sagte sie kurz angebunden.

»Du hast wohl nicht ganz kapiert!«, begehrte der Mann auf und griff sie am Arm. Im gleichen Moment wurde er jedoch energisch an der Schulter gepackt und auf einen Stuhl gedrückt. Verblüfft und benommen blieb der Betrunkene sitzen und glotzte den Fürsten an, der immer noch lächelnd vor ihm stand.

»Ganz ruhig bleiben, mein Freund. Sehen Sie: Die junge Dame ist mit mir verabredet. Und ich mag keine Einmischungen, wenn ich mich unterhalte.«

Fürst Klaus wandte sich ohne den Mann weiter zu beachten an Tina: »Machen Sie mir die Freude, Sie nach Hause begleiten zu dürfen?«

Sie sah aller Augen auf sich gerichtet und spürte, dass dies eine Entscheidung war. »Gern«, sagte sie. »Ich hole nur meine Jacke.«

*

»Du hast ja den Verstand verloren!«

Lore hielt sich beide Hände auf die Schläfen vor Verzweiflung. So naiv zu sein, das konnte wirklich nur Tina passieren.

»Ich glaube, dass es so richtig ist«, beharrte die, während sie im Schlafanzug auf ihrem Bett hockte und Knäckebrot mit Schnittkäse knabberte.

»Ein dummes Huhn bist du!«, regte sich Lore auf. »Ins Messer läufst du, das ist alles. Außerdem machst du mit dem Knäckebrot dein ganzes Bett voller Krümel.«

Tina interessierten diese Warnungen wenig.

Lore ging in die Küche, um einen Teller zu holen. Dazu brachte sie auf einem Tablett eine Flasche Orangensaft, Gläser, Servietten und eine Rolle Schokokekse. »Jetzt leg das Zeug schon auf den Teller. Ich kann Krümel im Bett nicht sehen«, bat sie.

»Ach, Lorchen. Es ist doch bloß mein Bett. Du und dein Putzfimmel!«

Lore seufzte und öffnete die Packung mit den Schokokeksen. »Du und deine naive Lebenseinstellung!«, erwiderte sie bekümmert. »Merkst du denn nicht, was der Typ vorhat?«

»Er will mir einen Job besorgen, das ist doch okay, oder?«

Lore biss erstmal in den Keks und dachte nach. Wie sollte sie ihrer Freundin die Taktiken verheirateter Männer in Bezug auf junge Frauen nur klarmachen? »Abhängig machen will er dich, Mädel. Wenn du erst bei dieser Firma arbeitest, hat er dich in der Hand. Er ist da, eine große Nummer, verstehst du nicht? Ein Wort von ihm und du fliegst.«

Tina schaute sie ungläubig an. »Das ist doch Quatsch. Warum sollte er mir einen Job besorgen, wenn er mich gleich wieder rauswerfen will? Du redest Schwachsinn, Lore.«

»Kein Schwachsinn. Natürlich will er dich nicht gleich wieder rauswerfen, dein feiner Fürst. Nicht, solange du seine Wünsche erfüllst.«

Tina schob das letzte Stück Knäckebrot in den Mund und griff nach der Keksschachtel. »Ach nee! Und was sollten das für Wünsche sein?«, fragte sie angriffslustig.

Lore hielt das für eine rhetorische Frage. »Was schon? Du darfst dir deine Kohle selber verdienen, und der Herr kehrt ab und zu – wenn seine Gattin weit weg ist – bei dir ein. Kein Schloss und keine teuren Klamotten. Strengste Diskretion eingeschlossen. Hast du keine Lust oder vielleicht sogar einen anderen Freund – dann ist dein Job weg. So schaut das aus, wenn’s fertig ist, meine Liebe«, erklärte Lore eindringlich.

Tina grinste ungläubig und kaute den zweiten Keks. »Fragen Sie Frau Lore, was? Du würdest eine hervorragende Zeitschriftentante abgeben. Die moralisch wertvolle Beratung für Jungfrauen und solche, die es werden wollen.«

»Du kannst glauben, was du willst, Tina. Aber meiner Erfahrung nach läuft der Hase in diese Richtung.«

Tina seufzte tief und nahm den dritten Keks in Angriff. Vielleicht hatte Lore ja Recht. Vielleicht war sie nur auf einen Adelstitel und ein wenig Taktik hereingefallen. Der zurückhaltende Kavalier, der Wohltäter, der sie aus dem zweifelhaften Etablissement befreit, um sie zu seiner Geliebten zu machen. Mein Gott, es war ja wohl nicht das erste Mal, dass so etwas passierte.

»Ich kann das einfach nicht glauben«, seufzte Tina. »Du hast ihn doch auch gesehen. Ich denke immer, dass er so ehrlich und aufrichtig ausschaut. Ein richtiger Kavalier. Er hat mich beschützt und nach Hause begleitet.«

Lore machte eine wegwerfende Handbewegung. Die Kekse gingen langsam zur Neige – aber sei’s drum. Die Hauptsache war, dass Tina zur Vernunft kam. »Nach Hause begleitet. Sehr schön …«, murmelte sie.

»Ja. Er hat mich mit seinem Wagen bis vor die Haustür gefahren.«

Lore kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Und dann?«

»Nichts«, gab Tina mit ernstem Gesicht zurück. »Überhaupt nichts. Wir haben uns verabschiedet, und er hat versprochen, morgen anzurufen.«

Lore schüttelte den Kopf. Ihrer Kalkulation nach hätte er in diesem Moment zumindest ein zartes Küss­chen auf die Wange riskieren müssen. Oder einen feurigen Handkuss. Typen, die den aufrichtigen Kavalier spielten, gingen fast immer so vor.

»Also, komisch ist das schon«, murmelte sie. »Da gibt’s zwei Möglichkeiten.«

»Du liebe Güte!« Tina stöhnte. »Verschone mich mit deinen Mutmaßungen.«

»Also, entweder ist er impotent oder schwul«, meinte Lore mitleidslos.

»Vielleicht ist er einfach nur ein wertvoller Mensch.«

Lore lachte auf. »Mein liebes Mädchen. Wertvolle Menschen kannst du mit der Laterne bei helllichtem Tage suchen. Und ich schwöre dir, dass ich im ›Grünen Kaktus‹ davon noch keinen einzigen gesichtet habe.«

Seufzend legte Tina die leere Keksschachtel beiseite und begab sich ins Bad, um die Zähne zu putzen.

Danach kroch sie in ihr Bett, was Lore zu einem leichten Schauder veranlasste. Nicht einmal die Krümel hatte Tina herausgefegt.

»Schlaf gut«, sagte Lore sanft. »Morgen schaust du, ob du im ›Grünen Kaktus‹ noch etwas kitten kannst. Der Chef war stocksauer, das kannst du glauben. Unseren besten Kunden hast du verschreckt. Noch dazu wegen einem, der nicht einmal ein müdes Wasser bestellt hat.«

»Der ›Grüne Kaktus‹ kann mir den Buckel herunterrutschen«, knurrte Tina, die sich fest in ihre Decke eingewickelt hatte.

»Schlaf dir Verstand an, Mädel!«, gab Lore zurück, sammelte das Geschirr zusammen und trug es in die Küche.

Tina hatte kaum die Augen geschlossen, da war sie schon fest eingeschlafen. Erst gegen Morgen, als das Sonnenlicht durch die Jalousie blitzte, erwachte sie. Er will heute anrufen, dachte sie und spürte, dass sie unruhig war. Drüben in Lores Schlafzimmer war noch nichts zu hören, die Freundin schlief meist bis gegen Mittag, kein Wunder wenn man bis vier Uhr in der Nacht gearbeitet hatte.

Tina stand leise auf und zog die Jalousie hoch. Ein wundervoller Spätsommertag begrüßte sie mit heiterem Himmel und Sonnenstrahlen, die in den Fenstern der gegenüberliegenden Häuser aufblitzten. Sie rieb sich die Augen und hatte das Gefühl, etwas Unangenehmes sei geschehen. Nachdenklich ging sie ins Bad, duschte und lief im Bademantel in die Küche, um die Kaffeemaschine anzuwerfen. Was konnte es nur sein, das sie so belastete? Das Wetter jedenfalls nicht, es war ein absoluter Bilderbuchtag.