Rainer Haubrich
Das Scheunenviertel
Kleine Architekturgeschichte der letzten Altstadt von Berlin
Mit zahlreichen farbigen Fotografien
Insel Verlag
EINLEITUNG
I. Kapitel: bis 1871
Vor den Toren der Residenzstadt
Das einzige erhaltene Palais von Georg Christian Unger
Der Garnisonfriedhof, eine grüne Oase
Reliefs von Schinkels Bauakademie
II. Kapitel: 1871 bis 1918
»Hinterhof« der Reichshauptstadt
Der Durchbruch der Kaiser-Wilhelm-Straße
Die einzige erhaltene Kaufhaus-Fassade von Alfred Messel
Das Ende der Scheunengassen
Eine Komposition wie in Paris: Die Volksbühne auf dem Bülowplatz
III. Kapitel: 1918 bis 1945
Sprung in die Moderne
Dynamische Rundungen: Das Ensemble von Hans Poelzig
Entstuckung und Neue Sachlichkeit
Die Pläne der Nationalsozialisten
IV. Kapitel: 1945 bis 1989
Stalinismus, Verfall und Plattenbauten
Das historische Zentrum, zum Abriss freigegeben
Zwei Generationen von Plattenbauten
V. Kapitel: 1989 bis heute
Rettung und Neubeginn
Die Renaissance der Hackeschen Höfe
Neue architektonische Akzente
Bildnachweis
Literatur
Einer der malerischsten Höfe des Scheunenviertels liegt hinter dem Haus Neue Schönhauser Straße 12 (s. S. 35)
In fast allen Metropolen Europas zieht es die Menschen in die Altstädte. Warum? Weil man dort auf engstem Raum eine Fülle von Bauwerken findet, an denen sich die Geschichte des Ortes bis zurück zu den Anfängen ablesen lässt. Die meisten Gebäude wurden sorgfältig gestaltet, oft mit reichem Schmuck, und sie sind geprägt von einem jahrhundertealten klassischen Formenkanon, der jedem vertraut ist und der sie trotz ihrer verschiedenen Größe und stilistischen Unterschiede auf harmonische Weise verbindet. Obwohl dicht an dicht gebaut wurde, haben die Stadträume menschenfreundliche Proportionen.
Auch in Berlin gab es bis zum Zweiten Weltkrieg eine Altstadt. Sie bestand aus den Quartieren rings um die ältesten Kirchen: rechts der Spree um Nikolai- und Marienkirche, Heiliggeistkapelle und Franziskanerkirche, auf dem linken Flussufer um die Petrikirche. Zwar stehen außer der Petrikirche alle diese Sakralbauten bis heute, aber fast die gesamte dichte Bebauung zwischen ihnen wurde ausradiert – und damit verschwanden Orte wie der Molkenmarkt, der Neue Markt und der Fischmarkt, die Bischofstraße oder der Hohe Steinweg.
Es waren die Bomben des Zweiten Weltkriegs, die vieles vernichteten, aber genauso zerstörerisch waren die Abrisse danach. Denn die DDR wollte die Erinnerung an das Zentrum des bürgerlichen Berlin tilgen und an gleicher Stelle eine moderne Stadtmitte errichten, die vom Triumph des Sozialismus künden sollte – mit dem Fernsehturm als Siegeszeichen. Von den einst 1200 Häusern, die Mitte der 1930er Jahre auf diesem Areal standen, sind nur 85 erhalten. Am Gründungsort Berlins zwischen Alexanderplatz und Schloss erstreckt sich heute eine überdimensionierte und in der kalten Jahreszeit zugige Freifläche mit den Ausmaßen von 20 Fußballfeldern.
Ein ähnliches Schicksal traf die historischen Vorstädte, die sich einst im Osten wie in einem Halbkreis um die Altstadt gelegt hatten. Die frühere Königsstadt wird heute dominiert von den Häuserblöcken am Alexanderplatz; die Stralauer Vorstadt (in Richtung Stralau) besteht aus den rechtwinklig angeordneten Gebäudescheiben an der Karl-Marx-Allee; die einstige Köpenicker Vorstadt (in Richtung Köpenick) prägt vorstädtischer Zeilenbau aus der Nachkriegszeit.
Nur die nördliche Spandauer Vorstadt (in Richtung Spandau) überlebte all diese Stürme der Vernichtung weitgehend unversehrt, teils weil es dort im Zweiten Weltkrieg vergleichsweise wenige Bombentreffer gab, teils weil es danach abseits jener Entwicklungsgebiete von »Berlin – Hauptstadt der DDR« lag, die grundlegend umgestaltet werden sollten. Erst in den 1980er Jahren drohte der Spandauer Vorstadt der Untergang aufgrund von Vernachlässigung und Verfall. Gerettet wurde sie durch die friedliche Revolution in Ostdeutschland und den Fall der Mauer. Zur Zeit der Wiedervereinigung stellte man den historischen Stadtteil als größtes Flächendenkmal Berlins unter Schutz. Heute bildet er die letzte erhaltene Altstadt der Metropole.
Den östlichen Teil der Spandauer Vorstadt bezeichnet man als Scheunenviertel, weil die Bebauung dort, wo heute die Volksbühne steht, einst mit der Errichtung von Scheunen begann. Um die Architekturgeschichte dieses Quartiers zwischen Alexanderplatz und Rosenthaler Straße, zwischen Stadtbahn-Viadukt und Torstraße soll es im vorliegenden Buch gehen – um ein kleines Stück Berlin, insgesamt nur etwa einen halben Quadratkilometer groß, anhand dessen sich die Baugeschichte der Hauptstadt wie durch ein Brennglas betrachten lässt: Da sind die frühesten Bauten des 18. Jahrhunderts und der idyllische Garnisonfriedhof, die Bürgerhäuser des Klassizismus und die Pracht der Gründerzeit, die einzige erhaltene Kaufhausfassade Alfred Messels und das 1920er-Jahre-Ensemble Hans Poelzigs an der Volksbühne, die Zeugnisse des Stalinismus und die Plattenbauten der DDR sowie die aufwändigen Restaurierungen und vielfältigen Neubauten nach dem Fall der Mauer.
Durch die Gentrifizierung in den vergangenen Jahrzehnten gibt im Scheunenviertel heute ein zunehmend wohlhabendes und internationales Publikum den Ton an. Es könnte nicht weiter entfernt sein von den Milieus, die über Jahrhunderte das Scheunenviertel prägten: kleine Leute, Soldaten, Handwerker, Arbeiter, Halbwelt. Und seit den Anfängen siedelten sich auch Juden hier an, weil ihnen für lange Zeit der Zugang nach Berlin nur von Norden durch das Rosenthaler Tor und später auch das Prenzlauer Tor erlaubt war. Mitte des 19. Jahrhunderts setzte ein starker Zuzug von Juden aus Osteuropa ein, die das Stadtbild am sichtbarsten in der Grenadierstraße (der heutigen Almstadtstraße) prägten. Zeugnisse des einst florierenden Judentums haben sich zwar in der westlichen Spandauer Vorstadt erhalten mit dem ältesten jüdischen Friedhof Berlins in der Großen Hamburger Straße und der prächtigen Synagoge in der Oranienburger Straße. Aber im Scheunenviertel selbst sucht man vergeblich nach architektonischen Überresten der einstigen Hinterhof-Synagogen, Talmudschulen, jüdischen Betstuben oder Gästehäuser.
Das Scheunenviertel widerlegt, wie die meisten populären Altstädte, Glaubenssätze der modernen Architektur. Etwa die Vorstellung, dass man Stadt stets »neu denken« und dem jeweils aktuellen Zeitgeist anpassen müsse – dabei funktionieren die historischen Viertel trotz aller gesellschaftlichen und technologischen Veränderungen bis heute sehr gut, sie sind immer Sehnsuchtsorte geblieben. Gerade die »Neudenker« zieht es ja in die ältesten Quartiere, wo sie sich an jedem historischen Ornament erfreuen. Viele Anhänger der Moderne glauben außerdem, dass die Ansammlung möglichst vieler herausragender und spektakulärer Architekturen besonders attraktiv sei – dabei finden sich im Scheunenviertel vergleichsweise wenige bauhistorisch wertvolle Gebäude. Nicht das Spektakuläre macht seinen unverwechselbaren Charakter aus, es ist das Zusammenspiel der vielen alltäglichen Häuser aus verschiedenen Epochen. Selbst die zu ihrer Zeit neuartigen Bauwerke von Alfred Messel markierten ja keineswegs einen Bruch mit der überlieferten Architektur, und nicht einmal über die vergleichsweise avantgardistischen Gebäude von Hans Poelzig aus den 1920er Jahren lässt sich das behaupten, folgen sie doch mit Blockrandbebauung, Traufhöhe und Putzfassaden immer noch tradierten Gestaltungsprinzipien.
Jüdisches Scheunenviertel 1929: Obstgeschäft im Haus derTalmud-Tora-Schule »Ez Chaim« in der Grenadierstraße 31
Dasselbe Haus heute: Die Adresse lautet inzwischen Almstadtstraße 16
Der erste Bruch in der Architektur des Scheunenviertels, das waren die Wohnhäuser aus der Zeit des Nationalsozialismus, die hinter der Volksbühne einen intakten historischen Straßenzug ersetzten: Es waren vorstädtische Zeilenbauten ohne Läden oder Gastronomie im Erdgeschoss, und sie bedeuteten das Ende des belebten öffentlichen Raumes. Der zweite, weitaus verhängnisvollere Bruch vollzog sich mit der Nachkriegsmoderne der 1960er und 1970er Jahre, deren Feindschaft gegen die überlieferte Stadt noch ausgeprägter war und die häufig keine Rücksicht auf historische Straßenzüge und Gebäudehöhen nahm.
Die großen Vordenker der Moderne waren ja der Hybris verfallen, zu glauben, mit ihnen beginne eine vollkommen neue Architektur, die allem zuvor Gebauten weit überlegen sei. Als Walter Gropius 1937 seine Professur in Harvard antrat, ließ er erst einmal die gesamte bauhistorische Bibliothek entsorgen. Und Le Corbusier schrieb: »Es bleibt uns nichts mehr von der Architektur früherer Epochen, so wenig wie uns der literarisch-historische Unterricht an den Schulen noch etwas geben kann.« Es war ein Jahrhundertirrtum: Keine der neuen Städte vom Reißbrett wurde ein dauerhafter Erfolg, keines der modernen Quartiere ist heute so populär wie jene aus den Epochen vor 1900.
Der beste Beweis dafür in Berlin ist das historische Scheunenviertel mit seiner reichen architektonischen Substanz und einer besonderen Atmosphäre, die aus dem Nebeneinander von großstädtischem Treiben und der Intimität von Seitenstraßen und Hinterhöfen entsteht. Man stelle sich einmal vor, es gäbe heute auch noch die einstigen Scheunengassen, mit denen alles begann und die um 1900 für den dreieckigen Platz mit der Volksbühne weichen mussten. Hätten sie die Zeitläufte überlebt, was für eine Attraktion wären sie heute, welches Leben mit Geschäften, Restaurants und Cafés könnte sich dort entfalten, wie begehrt wären die Altbauwohnungen in dem einst verrufenen Quartier! Orte wie die Füsilierstraße, Amalienstraße oder Koblankstraße, längst verschwunden und in Vergessenheit geraten – sie wären heute erste Adressen.