3Emanuel Richter

Seniorendemokratie

Die Überalterung der Gesellschaft und ihre Folgen für die Politik

Suhrkamp

7Einleitung: Die mangelnde politische Auseinandersetzung mit den Senioren

Das Motto der Gegenwart und der nächsten Jahrzehnte muss lauten: »Ageing Matters!« Das soll heißen: Das Alter und die Alterung sind hoch bedeutsam und gehen uns alle an. »Ageing Matters« ist eine klangvolle Formel aus der internationalen Ratgeberliteratur. Mit diesem Ausruf ist nicht nur gemeint, dass dem Lebensalter, ob jung oder alt, in allen öffentlichen Belangen mehr Beachtung zukommen sollte. Dieser Ruf zielt im Besonderen auf eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Lage und die Belange der älteren Generationen. Denn in der ganzen Welt nimmt die Zahl der Senioren beträchtlich zu, und dieser Trend wird noch bis mindestens zur Mitte dieses Jahrhunderts anhalten. Es zeichnet sich ein massives Ungleichgewicht zwischen den verschiedenen Altersgruppen ab. »Ageing Matters« – das fordert dazu auf, über die soziale und ökonomische Lage, über die Integration und über die politische Rolle von immer mehr Senioren verstärkt nachzudenken. Wenn es so viele ältere Menschen gibt, dann entstehen daraus auch neue Herausforderungen für die Demokratie. Als Betroffene werden die Senioren in der politischen Sphäre bereits immer deutlicher sichtbar. Inwieweit können und sollen sie auch als Handelnde mehr politisches Gewicht erlangen? Erweisen sich die Senioren bei genauerer Betrachtung als die einstmaligen, als die restlichen oder als die vermehrt in Erscheinung tretenden Repräsentanten einer politisch interessierten und engagierten Bürgerschaft? Welche Möglichkeiten zur politischen Partizipation bestehen oder bieten sich vor dem Hintergrund der alternden Gesellschaft an?

Eine deutlich gealterte Bürgerschaft kann für die Demokratie zum Fluch oder zum Segen werden. Die allererste Befürchtung ist: Es droht ein erbärmliches Absterben der Demokratie. Wenn man von der Annahme ausgeht, dass sich ältere Menschen weniger für die Politik interessieren und engagieren als jüngere, dann wird sich die Politikverdrossenheit schlicht deshalb ausbreiten, weil die Zahl der Senioren wächst. Das Interesse der Senioren für die Politik könnte schwinden, weil die meisten von ihnen mit der Sorge um 8ihr tägliches Auskommen sowie mit der Pflege ihrer angegriffenen Gesundheit völlig ausgelastet sind. Der Demokratie würden durch die wachsende Zahl alternder, politisch passiver Bürger die Akteure entzogen. Übrig blieben allenfalls noch einige wenige, alternde Profipolitiker in politischen Führungsämtern, die vielleicht sogar so von ihrer eigenen Kompetenz und Altersweisheit überzeugt und eingenommen wären, dass sie dem Versuch erliegen würden, sich über Sonderregelungen oder gar über Notstandsverordnungen der üblichen Begrenzung ihrer Amtszeit zu entziehen. Beispiele dafür gibt es heute schon genug. Immer enden sie in der autokratischen Herrschaft von auf jung getrimmten Greisen, die demokratische Prozesse außer Kraft setzen und dem Volk nachhaltig schaden. Es käme zu einer Vergreisung der Demokratie, die gleichzeitig ihr Ende einläuten würde.

Eine andere Befürchtung richtet sich genau umgekehrt auf die wachsende politische Einflussnahme einer zahlenmäßig starken und dominanten Altersgruppe. Droht uns eine Herrschaft der Senioren, indem sie zahlreiche politischen Ämter sowie große Teile des Bürgerengagements an sich reißen und ausschließlich Klientelpolitik betreiben? Diese Befürchtung gewinnt Nahrung durch den Trend, dass die Jungen aufgrund ihrer familiären und beruflichen Belastungen immer weniger Zeit für das politische Engagement aufbringen können. Aber sicherlich werden nicht alle Senioren in der politischen Sphäre in Erscheinung treten. Wiederum wird sich ein sozialer Spaltpilz bemerkbar machen, der jene Senioren von der politischen Betätigung ausschließt, die tagtäglich um ihre materielle Grundversorgung kämpfen müssen. Die zu erwartende Schar an armutsbedrohten Senioren könnte als Rentenprekariat völlig aus dem Spektrum der politischen Aufmerksamkeit verdrängt werden. Dann bekämen wir es vor allem mit alternden, wohlsituierten Wutbürgern zu tun, die zu ihren Gunsten streitlustig in jede politische Auseinandersetzung eingreifen. Werden also nur noch wohlhabende, gut gebildete und vor Gesundheit strotzende Senioren die Restexemplare der Bürgerschaft und ihrer Altersgruppe sein, die im politischen Raum sichtbar bleiben? Treten diese dann als sture Verfechter ihrer Privilegien auf, mit der Folge, dass sie sich gleichzeitig zu wenig um das Wohl der ärmeren Altersgenossen kümmern? Haben wir insgesamt mit einer feindlichen Übernahme der politischen Interessenvertretung durch die Senioren zu rechnen? Dann steuern 9wir auf eine Gerontokratie zu, die verbunden ist mit einem Krieg der Generationen.

Die demokratischen Hoffnungen gegenüber der Seniorendemokratie heften sich an eine idealistisch wirkende Erwartung: Die erhöhte Zahl der Senioren führt dank ihrer verstärkten politischen Betätigung zu größerer politischer Sichtbarkeit der Bürgerschaft insgesamt. Unter dieser Annahme trägt die Alterung der Gesellschaft zu einer Stärkung der partizipatorischen Demokratie bei. Können aber die Senioren tatsächlich als agile Ruheständler und als aufmerksame Wächter der Demokratie eine ungeahnte Ausweitung bürgerschaftlicher Teilhabe in die Wege leiten, die dank solidarischen Verhaltens den Bedürfnissen aller Altersgruppen zugutekommt und die Demokratie zu neuer Blüte führt? Stehen uns dadurch große demokratische Errungenschaften bevor, dass sich viele der Senioren mit reichhaltiger Lebenserfahrung in die Politik einbringen und das politische Geschehen einer ganz neuartigen Partizipationskultur zuführen, die vielleicht sogar andere Generationen stimuliert? Es gibt viele Fragen und bislang kaum Antworten, viele Zweifel und wenig Gewissheit. Es gibt deutliche demografische, soziale, politische und kulturelle Entwicklungen, Tendenzen und Dynamiken, die jedoch in Hinblick auf die demokratischen Folgen der alternden Gesellschaft noch nicht zu einem klaren Bild zusammengefügt worden sind. Daher ist ein genauerer Blick auf den markanten Generationswechsel und auf die Folgen für Politik und Demokratie erforderlich.

Fest steht: Alle westlichen und auch viele nichtwestliche Gesellschaften werden bis mindestens zur Mitte des 21. Jahrhunderts einen erheblich anwachsenden Anteil an älteren Menschen aufweisen. Erst danach könnte sich wieder ein Gleichgewicht zwischen den Generationen herstellen, weil im Moment keine neue »Baby-boomer«-Generation heranwächst. In Deutschland werden im Jahr 2050 mindestens 35 Prozent der Bevölkerung über 60 Jahre alt sein.[1]  Das bedeutet einen markanten demografischen Wandel, denn im Jahr 1990 waren es etwa 20 Prozent, gegenwärtig sind es etwa 28 Prozent.[2]  Es zeichnet sich bereits jetzt sehr deutlich eine 10so genannte Überalterung ab – es gibt übermäßig viele alte und vergleichsweise zu wenige junge Menschen. Das ausgeglichene Verhältnis zwischen den Generationen ist gestört. Es kommt zu einer Geriatrisierung der Welt.

Was hat dieser demografische Wandel für politische Konsequenzen? Was bedeutet er für die Demokratie? Darüber macht man sich bislang kaum Gedanken. Lediglich die wohlfahrtsstaatlichen Probleme der alternden Gesellschaft werden allmählich wahrgenommen und finden in der Politik zunehmende Berücksichtigung. Alarmiert vom steigenden Armutsrisiko der Senioren, beschäftigt man sich mit den fatalen Folgen für die Rentenpolitik. Hektisch drehen die Politiker an den Stellschrauben für die Ruhestandsregelungen. Fieberhaft intensiviert man in die Gesundheitsfürsorge, eifrig kümmert man sich um seniorengerechte Lebensformen, phantasievoll sorgt man für eine altersgerechte Freizeitkultur. Was bei alledem jedoch fehlt, ist die tiefere Auseinandersetzung mit den demokratischen Aspekten dieser Entwicklung. Will man eine lebendige Demokratie, dann braucht man tatkräftige, politisch umsichtige Akteure. Das gilt ganz besonders in Zeiten bedrohlich anwachsender populistischer Bewegungen, in denen schrill tönende Meinungsführer eher mit politischer Empörung aufwarten als mit konstruktiven Vorschlägen. Die Demokratie ist grundsätzlich darauf angewiesen, dass sich die Bevölkerung politisch eifrig betätigt – das ist der partizipatorische Grundimpuls aus dem urdemokratischen Postulat der Selbstregierung des Volkes. Darüber hinaus funktioniert die Demokratie nur, wenn sie klare Vorstellungen über die gemeinschaftlichen Herausforderungen und Belange hervorbringt. Sie schließt selbstverständlich das Wohl aller Bevölkerungskreise und aller Altersgruppen ein. Die Demokratie zehrt davon, dass möglichst viele Menschen jeglichen Alters als politische Profis oder als politische Laien, als Betroffene und als Akteure öffentlich sichtbar werden und die Politik mitgestalten. Unabhängig von ihren altersspezifischen Wahrnehmungen und Anliegen müssen sie solidarisch das Wohl der gesamten Bürgerschaft vor Augen haben.

Welche Rolle können nun insbesondere die Senioren dabei spielen? Eine grundlegende Einsicht dieses Buchs wird lauten: Die wachsende Zahl an Senioren kann nur unter bestimmten Bedingungen einen greifbaren demokratischen Gewinn erzielen und zu einer Stärkung der partizipativen Demokratie beitragen. Mit 11den dazugehörigen Ausgangsbedingungen, Hintergründen und Schwierigkeiten muss man sich deshalb gründlich auseinandersetzen; hier fehlen bislang verlässliche Befunde. Die politische Bedeutung der zahlreicher werdenden Senioren lässt sich bisher nur anhand von wenigen verfügbaren Grunddaten ablesen. So weiß man einiges über ihre Wahlbeteiligung und ihre -präferenzen sowie über die Formen und die Intensität ihres ehrenamtlichen Engagements. Viel mehr aber weiß man nicht. Es fehlen allgemeine Erkenntnisse darüber, wie sich die Alterung der Gesellschaft auf die Teilhabe der Bürger an den politischen Kommunikations-, Beratungs- und Entscheidungsprozessen auswirken könnte. Ein genauerer Blick auf die soziale, kulturelle und politische Lage der Senioren wird erforderlich, um die Möglichkeiten und Tücken ihrer verstärkten politischen Präsenz ausloten zu können. Erst auf der Basis einer gründlichen Auseinandersetzung mit dem politischen Profil der Senioren lässt sich eine konstruktive Vorstellung der Demokratie unter den Bedingungen der alternden Gesellschaft entwerfen. Nur unter Berücksichtigung der komplizierten sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen erlangt die Seniorendemokratie das Potenzial, eine fruchtbare Politisierung einzuleiten. Das wäre das Beste, was gesellschaftlich und politisch aus dem Phänomen der Überalterung resultieren könnte.

Vor dem Einstieg in das Thema muss die kritische Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit stehen. Das Alter wird vielfach verunglimpft, Klischees und Stereotype herrschen vor. Die Bezeichnungen »Alte«, »Ältere« und »Betagte« klingen dabei noch relativ harmlos und neutral, in dem englischsprachigen Begriff »senior citizens« schwingt sogar so etwas wie Hochachtung mit. Dann gibt es aber auch umgangssprachliche Titulierungen, wie »Oldies«, »Greise« und »Grufties«, »Silver Ager« oder »Golden Ager«. Sie sind im besten Fall ironisch gemeint, im schlimmsten Fall sollen sie offen diskriminieren. Die Senioren gelten verbreitet als kränkelnd, leistungsschwach, hilfsbedürftig, mürrisch, trotzig, desinteressiert an gesellschaftlichen Belangen. Ihre wachsende Zahl wird als bedrohlich empfunden und führt zur despektierlichen Rede von der »Rentnerschwemme«; der »Demenzgesellschaft« oder der »Rentnerdemokratie«.[3]  Auch die Weltgesundheitsorganisation 12stellt eine Diskriminierung von Senioren fest, tituliert diese als »Ageism« und stellt sie in ihrer negativen Bedeutung sogar dem »Sexismus« und dem »Rassismus« gleich. Die Diskriminierung der Senioren führt zu gesellschaftlichen Vorurteilen. Sie trägt zu einer von Desinteresse und Missachtung gezeichneten Behandlung ihrer Bedürfnisse und Anliegen bei, und sie macht sich in den unsensiblen, unausgereiften Formen des institutionellen Umgangs mit den alternden Menschen bemerkbar.[4]  Es ist also zunächst einmal eine nüchterne Begrifflichkeit gefragt, die zu einer vorurteilsfreien Betrachtung beiträgt und eine sachliche Auseinandersetzung mit der politischen Charakteristik der Senioren erlaubt. In diesem Buch gelangt der Begriff Senior zur Anwendung, wenn es um eine neutrale Beschreibung der Altersgruppe und ihrer Angehörigen geht. Nur diese Bezeichnung scheint mir von dem Anspruch einer unvoreingenommenen Würdigung getragen zu sein. Ich verwende die männliche Form, schließe darin aber auch alle weiblichen Angehörigen der Altersgruppe, also korrekt »Seniorinnen«, ein. Der Gebrauch der männlichen Form als Sammelbezeichnung geschieht nur aus Gründen der besseren Lesbarkeit und soll keine diskriminierende Position zum Ausdruck bringen. Dieser Sprachgebrauch erstreckt sich auch auf andere in diesem Buch häufig vorkommende Begriffe wie zum Beispiel den »Bürger«, der natürlich genauso gut weiblichen wie männlichen Geschlechts oder auch transsexuell sein kann.

Auch hinsichtlich der Rede von einer »Überalterung« ist Vorsicht angebracht. Der Begriff bezieht sich auf den vermeintlich sicheren Maßstab einer Normalverteilung der Altersgruppen, die genaue Aussagen darüber zulässt, wann Abweichungen von dieser Normalverteilung zu verzeichnen sind. Diesen sicheren Maßstab gibt es jedoch nicht. Für das ausgewogene Verhältnis zwischen den einzelnen Altersgruppen lässt sich kein verbindlicher Richtwert ermitteln, es gibt allenfalls triftige Einschätzungen. Weil es auf die Perspektive ankommt, lässt sich mit dem Begriff der Überalterung auch Missbrauch betreiben: Im Nazideutschland diente beispielsweise die Rede von der »Überalterung« zur Klage über einen Geburtenschwund, der die Fortexistenz des »deutschen Volkskörpers« 13gefährde.[5]  Ich werde den umstrittenen, aber in den aktuellen Debatten vielfach gebrauchten Begriff nur deshalb beibehalten, weil er griffig auf eine Reihe von ernstzunehmenden Problemen demografisch auffälliger Dynamiken verweist. Darauf gehe ich in Kapitel 1.1 noch näher ein.

Die zahlreich im Umlauf befindlichen Begriffe zur Kennzeichnung der Altersgruppe zeugen von sehr unterschiedlichen Sichtweisen auf das Alter und die Alterung. Diese Abhängigkeit von Perspektiven erweist sich keineswegs als Manko, sondern kann durchaus als eine erste seriöse Erkenntnis über die Senioren fruchtbar gemacht werden: Die Charakteristik einer Altersphase erweist sich teilweise als sozial konstruiert. Man schafft eine bestimmte Fremd- und Selbstwahrnehmung von älteren Menschen, die breite Wirksamkeit erlangt. So birgt das Statusmerkmal »Senior« unterschiedliche, gesellschaftlich wirksame Bilder des Alters und des Alterns, die unter den Senioren selbst oder in anderen Altersgruppen verbreitet sind. Diese Bilder können sich verändern, und sie wandeln sich in der Tat ständig. Die Altersbilder prägen die Problemwahrnehmung der alternden Gesellschaft sehr stark und vermischen sich mit der Faktenlage – oder überdecken diese. Der Befund der Überalterung erweist sich als eine Mischung aus »Diskurs und Lebenslage«.[6]  Es gibt demnach gar kein objektives Erscheinungsbild der Altersphase, sondern vielmehr verschiedenartige Betrachtungen. Zugleich stehen unterschiedliche Aspekte des Alterns nebeneinander. Norberto Bobbio unterscheidet fünf Altersdimensionen: Er erwähnt das urkundliche/chronologische Alter, das biologische, das bürokratische, das psychologische und das subjektive.[7]  Insofern muss in diesem Buch das ganze Spektrum der Alterung im Auge behalten werden: die Faktenlage zur Überalterung, die mit einer Reihe von aufschlussreichen Sozialdaten zur wachsenden Zahl an Senioren und zu ihren Bedürfnissen oder zu ihrem Verhalten aufwarten kann; und die Altersperspektiven beziehungsweise Altersbilder, die es immer schon gab und die im Zuge der Überalterung an Bedeutung gewinnen und 14bemerkenswerten Veränderungen unterliegen, die aber auch ihrerseits bestimmte gesellschaftliche und politische Wahrnehmungen und Dynamiken hervorrufen.

Aufgrund der unübersichtlichen Verschränkung von Fakten und Betrachtungen ergibt sich die Notwendigkeit, die politischen Dimensionen der alternden Gesellschaft und insbesondere die demokratischen Folgen immer im Wechselspiel zwischen der realen Lage und ihrer Einschätzung zu betrachten. Der Hauptteil des Buches beginnt daher sinnvollerweise mit einer Zusammenfassung der Faktenlage des demografischen Wandels (Kapitel 1). Es sollen zunächst gegenwärtige Entwicklungen, Dynamiken und Trends der Überalterung anhand von Daten und Befunden dargestellt werden. Dieses Panorama vermischt sich aber unweigerlich mit gesellschaftlich wirksamen Bildern vom Alter. Diese zeigen die vorherrschende Tendenz, die Alterung zu verdrängen und den Klischees einer Alterslosigkeit zu folgen, die einer ökonomischen Marktlogik gehorcht. Es gibt in den hochtechnologisierten Industriegesellschaften die allgemeine Erwartung, dass jede einzelne Person eine auf Erwerbstätigkeit ausgerichtete Betriebsamkeit zeigt. Dieses neoliberal eingefärbte Menschenbild erstreckt sich mittlerweile auch auf die Senioren, die inzwischen ebenfalls einer Verwertungslogik unterworfen werden. Die staatliche Seniorenpolitik offenbart das, und die Strukturen der Arbeitsmärkte und die entsprechenden gesellschaftlichen Leitbilder bestätigen es. Die Senioren sollen, wie die Erwerbstätigen, auf dem Markt ihrer altersspezifischen Produktivität wettbewerbsfähig bleiben und sowohl arbeiten wie auch konsumieren – so lange, wie sie es körperlich vermögen. Wie die einschlägigen Befunde zeigen, passen sich tatsächlich viele Senioren bereitwillig oder notgedrungen den Vorgaben einer unablässigen, im Grunde altersbereinigten, also alterslosen Betriebsamkeit an – so gut sie eben können.

Allerdings bleiben unter ihnen dabei die sozial Schwachen, die schlecht Qualifizierten und die Kranken auf der Strecke. Ein sozialer Spaltpilz unter den Senioren droht sich in einen politischen Spaltpilz zu verwandeln. Die materiell bessergestellten, besser gebildeten, einkommensstarken und meist auch gesünderen Senioren neigen in der Tat zu politischer Betätigung, während die ärmeren, sozial isolierten und kränkelnden Senioren sich politisch ausgegrenzt fühlen und kaum zu politischem Engagement motiviert 15werden können. Unter dieser Randständigkeit leiden zwei Seniorengruppen besonders: die älteren Frauen und die Senioren mit Migrationshintergrund. Daher herrscht erheblicher Bedarf an materieller Versorgung, an verbesserter gesellschaftlicher Integration und an größerer politischer Berücksichtigung gerade derjenigen, die aufgrund ihrer sozialen Lage nicht selbst die Pflege ihrer politischen Anliegen betreiben können. Die in diesen Kreisen verbreitete politische Sprachlosigkeit ist genauso kritikwürdig wie eine einseitige bürgerschaftliche Sprachmächtigkeit der bessergestellten Senioren. Einerseits werden bei solch einem Missverhältnis die Bedürfnisse der randständigen Senioren nicht hinreichend bedient, obwohl gerade sie eine sorgfältigere politische Interessenvertretung am nötigsten hätten. Andererseits ergibt sich wenig Hoffnung auf eine allgemeine, allen Altersgruppen zugutekommende Stärkung der partizipativen Demokratie, wenn lediglich vor Selbstbewusstsein strotzende Wutbürger in Erscheinung treten, die vornehmlich ihre eigenen Anliegen vertreten und ihre eigene Weltsicht durchsetzen wollen. Eine erheblich ausgeweitete, wohlfahrtsstaatliche Gleichheitspolitik zugunsten der von Armut betroffenen und von Ausgrenzung bedrohten Senioren wird erforderlich, um letztendlich eine breitflächige Ermunterung zur politischen Partizipation und eine ausgewogene politische Repräsentation erzielen zu können. Über die angemessenen Formen der Ermunterung muss verstärkt nachgedacht werden.

Zu einem politisch aktiven Senior gehört auch ein passendes Selbst- und Fremdbild. Entsprechen die herrschenden Altersbilder den Anforderungen an die politische Betätigung? Zur Beantwortung dieser Frage bleibt die Flut an historisch vorhandenen und gegenwärtig herrschenden Altersbildern daraufhin zu befragen, ob sie überhaupt die Vorstellung eines politisch wachsamen, aktiven, engagierten Seniors zulassen (Kapitel 2). Es wird sich zeigen, dass die Altersbilder seit jeher und bis heute zwischen zwei Extremen schwanken. Mal verfällt man in eine Altersmelancholie, die nur die Hinfälligkeit und die Einbußen an Lebensqualität vor Augen hat; mal strahlt man eine naive Zuversicht aus, die das Alter als glänzende Errungenschaft betrachtet und die gewachsene Lebenserfahrung preist. Die Vorstellung von einem politisch aktiven Senior passt ganz offenkundig kaum zum Bild der Altersmelancholie, sondern braucht tatsächlich eine lebensbejahende Haltung, die im zuneh16menden Alter und im Seniorendasein einen politisch wirksamen Vorzug erkennt. Diesem Bild des gereiften Seniors steht jedoch der ausgeprägte Jugendkult der Gegenwart gegenüber, der aus der Maxime des lebenslangen Arbeitens und der alterslosen Leistungsbereitschaft erwächst. Der in den Gegenwartsgesellschaftlich eifrig geschürte Traum von der unvergänglichen Jugend bezieht sich in verräterischer Direktheit auf die Alterung, indem er ihre biologische Unabwendbarkeit hartnäckig verleugnet. So entsteht die widersinnige Vorstellung von einem alterslosen Senior, der unerschöpflich seinen Betätigungen nachgeht. Dieser Typus wird bislang vor allem als eine Figur betrachtet, die als wirtschaftlicher Akteur in Erscheinung tritt – als ein pausenlos Aktiver, der durch seine nicht nachlassende Arbeitskraft zum Bruttosozialprodukt beiträgt. Wer diesem Kult ewiger Leistungsfähigkeit nicht zu genügen vermag, wird geringschätzig als Bedürftiger betrachtet und gilt unversehens als ein Fall für die Fürsorge. Diese Diskriminierung droht vielen Senioren, insbesondere jener wachsenden Zahl an alternden Menschen, deren Berufsbiografie von prekären Arbeitsverhältnissen geprägt war. Ein Mensch, der unleugbar altert, dessen Leistungsfähigkeit nachlässt und der für den Arbeitsprozess nicht mehr vermittelbar ist, erfährt auch eine politische Diskriminierung. Er wird als Betroffener an den Rand der politischen Aufmerksamkeit gedrängt und vom Wohlfahrtsstaat nur noch als Problemfall registriert. Er kann selbst kein angemessenes Rollenbild als ein politisch aktives Mitglied der Bürgerschaft entwickeln. Denn auch die alternden Politikaktivisten sollen noch mitten im Leben stehen, rüstig sein, hellwach bleiben sowie selbstbewusst und kraftvoll in das politische Geschehen eingreifen können.

Ein Blick auf das tatsächliche politische Verhalten, auf die Werte und auf das Profil der Senioren liefert spannende Aufschlüsse über die Realität im Umgang mit den generationsspezifischen Merkmalen (Kapitel 3). Inwieweit sind die Senioren als Wählende präsent? Wie stark ist ihre Wahlbereitschaft ausgeprägt, was und wen wählen sie? Welche Motive und Anreize sind für diese Altersgruppe vorhanden, politisch sichtbar zu werden? Es wird sich zeigen, dass die Senioren, entgegen ihrer wachsenden Bedeutung als zahlenmäßig starke Altersgruppe, bislang kaum als Betreiber einer verstärkten demokratischen Teilhabe der gesamten Bürgerschaft in Erscheinung treten. Allenfalls stechen einige wenige unter ihnen als 17professionelle Politiker hervor, die den Nimbus des elder statesman erlangt haben und ein Führungsamt an das nächste reihen. Darüber hinaus gibt es die simple Vorstellung, die Senioren seien die besten Kandidaten für die Ehrenämter und für die Laienpolitik: Wenn überhaupt jemand genügend Zeit und Muße für das politische Engagement besitze, dann seien das doch die gelangweilten Senioren. Das Ehrenamt wird zum Anreiz gerade für diejenigen stilisiert, die aus der Anerkennung ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit verdrängt worden sind und als sichtbar Alternde nach einer sinnvollen Betätigung und Bestätigung suchen. Dieser Aufruf zur Ausübung von Ehrenämtern dient jedoch vielfach der Kompensation eines partiellen Staatsversagens. Die Senioren sollen vor allem dort im öffentlichen Raum freiwillig tätig werden, wo es um die Kompensation von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen geht. Tatsächlich gibt es ein ausgeprägtes politisches Engagement unter Senioren, das auf die altersgerechte Politikgestaltung im lokalen Bereich gerichtet ist. Es dient vor allem dem freiwilligen Einsatz für die vernachlässigten Interessen der eigenen Altersgruppe. Das zeigen die mittlerweile fast überall eingerichteten Seniorenbeiräte und Seniorenbüros. Die Kategorie des Ehrenamts stellt also oft nicht mehr dar als die Umschreibung für eine wohlfahrtsstaatliche Selbsthilfe unter eifrigen Rentnern. Sie verspricht soziale Hilfe für die wachsende Zahl der armutsbedrohten Senioren, aber kaum ein partizipatives Engagement, das über die Belange der eigenen Altersgruppe hinausreicht.

Was hat das politische Engagement der Senioren dann an demokratischen Effekten anzubieten? Was kann eine einzige Altersgruppe für die gesamte Bürgerschaft leisten? Kann ausgerechnet durch die verstärkte Partizipation der Senioren die Demokratie lebendig gehalten werden? Das sind die zentralen Fragen, die auf die Gefahren wie auf die möglichen partizipativen Gewinne durch eine stärkere politische Beteiligung der Senioren verweisen (Kapitel 4). An dieser Stelle erheben sich erneut die Zweifel, inwieweit diejenigen Senioren, die sich tatsächlich engagieren, als Fürsprecher anderer Altersgruppen auftreten wollen und können – und ob das von den Jüngeren überhaupt akzeptiert wird. Gibt es eine Konkurrenz der Altersgruppen um politische Einflussnahme, gibt es zwischen ihnen unüberbrückbare Interessenunterschiede oder ein tiefsitzendes Misstrauen? Inwieweit hat die verbreitete Rede vom Krieg der Generationen ihre Berechtigung? Steuern wir auf eine Herrschaft der 18Senioren zu, bei der diese Altersgruppe nur ihre eigenen Anliegen verfolgt? In der Demokratie sind natürlich solidarische Haltungen in allen Altersgruppen gegenüber allen anderen gefragt. Diese Balance und Wechselseitigkeit ist allerdings nicht so einfach zu erzeugen – und erst recht nicht politisch leicht durchzusetzen. Unter dem Blickwinkel der generationenübergreifenden Effekte müssen die Formen des Engagements unter den Senioren auf den demokratischen Prüfstand. Der Nahbereich der kollektiven Lebensbewältigung bietet natürlich das wichtigste Betätigungsfeld für ein solidarisches Engagement: die Stadtteilarbeit, die Mitwirkung in Bürgerzentren, die Beteiligung an Selbsthilfegruppen, an Nachbarschaftshilfen, an Bildungsarbeit und an Fördermaßnahmen für Randgruppen. Es eröffnen sich einige Politikfelder, in denen mehr bürgerschaftliches Engagement gefragt ist, zumal die üblichen repräsentativen Mechanismen zunehmend versagen. Es scheint durchaus so, als wäre teilweise der Typus des gealterten Wutbürgers gefragt, der durch notorisches skeptisches Nachfragen bei den politischen Amtsträgern, Institutionen und Gremien, durch empörte Statements, durch Petitionen, Demonstrationen oder jegliche Art von Protestaktion gegen die Vernachlässigung bürgerschaftlicher Anliegen und Belange aufbegehrt. Die Mechanismen der politischen Repräsentation befinden sich in einer Krise, und die spontane Intervention stellt ein Mittel dar, die Bürgerschaft verstärkt in der politischen Arena sichtbar werden zu lassen. Zu klären bleibt in diesem Zusammenhang, inwieweit die neuen Medien den Senioren als Vehikel eines verstärkten politischen Engagements dienen können. Immerhin zählen die Senioren heute nicht mehr zur Gruppe der Internet-Verächter, sondern sind sehr aktive Nutzer, denen damit viele Wege der politischen Einflussnahme offenstehen.

Falls im Kreis der Senioren das Bewusstsein vorherrschte, dass sie nicht nur für ihre Altersgruppe, sondern solidarisch für die Bürgerschaft insgesamt eintreten, dann könnte ihre wachsende Zahl zweifelsohne zu einer enormen Ausweitung des bürgerschaftlichen Engagements führen. Dann dient die Seniorendemokratie einer Stärkung der Partizipationskultur. Für die gegenwärtige Politik ergibt sich daraus allerdings ein erheblicher Reformbedarf. Seniorengerechte Modelle demokratischen Engagements müssen von einer massiv erweiterten staatlichen Gleichheitspolitik begleitet werden: Es ist in erster Linie notwendig, die materiellen Bedingungen für 19die randständigen Senioren zu verbessern und so dazu beizutragen, sie zum demokratischen Handeln zu ermuntern. Die Rentenversorgung und die Grundsicherung der armutsbedrohten Senioren werden zur großen wohlfahrtsstaatlichen Herausforderung. Nur der, dem es ausreichend gutgeht, kann sich auch politisch engagieren. Insbesondere die weiblichen Mitglieder der Altersgruppe und die Senioren mit Migrationshintergrund bedürfen einer gezielteren staatlichen Fürsorge, einer spezifischen Ansprache und einer behutsamen, aber nachdrücklichen Ermunterung zum politischen Engagement, weil sie vielfach aufgrund ihrer sozialen Lage und kulturellen Prägung die politische Betätigung scheuen. Wenn das gelingt, paart sich sogar öffentlicher Nutzen mit privatem Gewinn, denn politische Tätigkeit im Alter erweist sich offenbar als Mittel zur Steigerung der eigenen Lebensqualität. Wie in Kapitel 4.2 zu zeigen sein wird, gibt es im Rahmen von Altersstudien Indizien dafür, dass die politische Tätigkeit der Senioren dazu beiträgt, ihr Selbstwertgefühl innerhalb der Gesellschaft zu stärken sowie das physische Wohlbefinden und die kognitive Leistungsfähigkeit zu erhalten. »Demokratie statt Demenz« könnte man plakativ das daraus abgeleitete Programm der partizipativen Ermunterung betiteln, das gleichzeitig positive Effekte für die Bürgerschaft und für die Senioren zeitigt.

Die Potenziale einer generationenübergreifenden, von aktiven Senioren getragenen Politisierung werden an dieser Stelle erkennbar. Damit die partizipative Entfaltung gelingt, sind die generationsspezifischen und die generationsübergreifenden Angebote für bürgerschaftliches Engagement erheblich auszuweiten und facettenreicher zu gestalten. Erst dann bringt der demografische Wandel Entwicklungen hervor, die demokratisch produktiv auf ihre eigenen Dynamiken rückwirken können: wenn nämlich die Präsenz einer wachsenden Altersgruppe insgesamt eine wachsende Bürgerbeteiligung nach sich zieht. Die Überalterung kann also demokratische Gewinne erbringen. Wenn die drohenden Gefahren einer Gerontokratie gebannt werden können, dann entfaltet die Seniorendemokratie ihren konstruktiven Sinn. Sie wird so zu einer partizipatorischen Errungenschaft, getrieben von der verstärkten politischen Teilhabe einer ganzen Altersgruppe, die generationenübergreifende Wirkungen erzielt. Sie wird im Kreis der Senioren das eigene Wohlbefinden fördern und die eigene Wertschätzung 20erheblich steigern. Aber sie muss getragen sein von dem Bewusstsein eines solidarischen Zusammenhalts der eigenen Altersgruppe und aller Generationen. Aktive Senioren aller sozialen Milieus, die sich im Namen aller Altersgruppen in die politischen Abläufe einschalten – das ist die weitgreifende demokratische Hoffnung und Empfehlung, die sich in diesem Buch an die Überalterung knüpft.