Das Leben ist zu kostbar

Thomas West

Published by BEKKERpublishing, 2019.

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Das Leben ist zu kostbar

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Das Leben ist zu kostbar

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Ärztin Alexandra Heinze

Arztroman von Thomas West

Der Umfang dieses Buchs entspricht 149 Taschenbuchseiten.

Rainer Hahn kann endlich die Kaserne verlassen. Bei einem Umtrunk mit seinen Kumpeln erfährt er, dass seine Tania einen Neuen hat. Voller Wut und betrunken rast er mit seinem Auto los.

Der berühmte Trapezkünstler Salvatore Ikarelli ist die Hauptattraktion des Zirkus‘ Markos. Seine Frau Lisa jedoch ist besorgt, dass ihm etwas zustoßen könnte.

Dr. Herbert Conrady findet in seinem Fach einen Erpresserbrief. Jemand hat beobachtet, dass er mit der jungen Carola vor einiger Zeit seine Frau Clara betrogen hat.

Das wird sicher kein ruhiger Dienst im Krankenhaus für Frau Dr. Heinze.

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Copyright

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© Roman by Author /COVER MARA LAUE

© dieser Ausgabe 2019 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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Er trat vor die Kaserne auf die Straße. Einen Augenblick blieb er stehen und sah in den blauen Morgenhimmel. Er schloss die Augen und saugte die noch von der Nacht kühle Luft in die Lungen. Dann warf er seinen schwarzen Ledersack über die Schulter. Ohne sich noch einmal umzusehen, überquerte er die Straße. Trotz der frühen Morgenstunde war sie schon stark befahren. Er kümmerte sich nicht um das Gehupe der Autos. Auf der anderen Straßenseite beschleunigte er seinen Schritt. Ein trockenes Lachen löste sich aus seiner Kehle.

Er bog in eine Seitenstraße ein und rannte los. Rannte und lachte.

"Du bist frei!", lachte er. "Du bist frei, Rainer!" Er wusste nicht, wohin er rannte. Es war ihm egal. Hauptsache weg. Möglichst weit weg von dieser verfluchten Kaserne. Er rannte und lachte und rannte.

"Sie können gehen, Hahn!", keuchte er mit verstellter Stimme. Plötzlich blieb er stehen, ließ den Ledersack auf den Gehweg fallen und salutierte. "Jawoll, Herr Feldwebel!" Er lachte wieder, nahm seinen Seesack auf und lief weiter. "Jawohl, du Arschloch, ich gehe!"

Er kam an einem Park vorbei und verlangsamte seinen Laufschritt. Hinter einer Buchenhecke erkannte er einen Spielplatz. Drei Reckstangen in unterschiedlicher Höhe ragten über die Hecke. Er spurtete in den Park, setzte mit einem Sprung über die Hecke und hängte sich an die höchste der Stangen. Bis seine Arme schmerzten, turnte er an dem Gerät. Als wollte er die sportliche Abstinenz, die ihm die kleine Gefängniszelle in der Kaserne aufgezwungen hatte, in wenigen Minuten wieder wettmachen. Anschließend machte er einige Dehn- und Streckübungen und lief dann weiter. Er genoss es, seinen Körper zu spüren, genoss das rhythmische Abfedern seiner Fußsohlen vom Asphalt, genoss das Gefühl seiner Kraft. Nein, die vierzehn Tage in der Zelle hatten ihm nichts anhaben können. Seine Kondition war ungebrochen.

In einer Bäckerei kaufte er drei Schinkenbrötchen und ein Stück Mohnkuchen. Später saß er in einer Spelunke vor einem Kännchen Kaffee und einer Packung Marlboro. Die Kneipe war schmutzig und verraucht. Einige Nachtschichtler tranken Kaffee, Frührentner und Arbeitslose - er entnahm das ihren Gesprächen - tranken das erste ihrer zahllosen Biere dieses Tages. Er war glücklich, unter ihnen zu sein. Unter Menschen, nach vierzehn Tagen Arrest wieder unter Menschen!

Er mischte sich in ihre Unterhaltung, und bald gingen Witze hin und her. Schließlich setzte er sich an ihren Tisch und gab eine Runde Schnaps aus. Als er nach zwei Stunden wieder auf die Straße trat, traf ihn die einsetzende Hitze des Hochsommertages wie ein Faustschlag. Er versuchte sich zu orientieren und schlenderte Richtung Bahnhof.

Was mach' ich jetzt?, überlegte er. Erst einmal Tania anrufen, dann den Alten.

Auf der anderen Straßenseite fiel ihm ein Schaufenster auf. Er steuerte es an.

Nein, das Unangenehme zuerst.

Ja, er würde zuerst seinen Vater anrufen. Wahrscheinlich hatte der ihn durch seine Beziehungen so schnell aus dem Bau geholt. Er musste ihn anrufen. Er brauchte Geld.

Das Schaufenster gehörte zu einem Fitnessstudio. Es war schon nach zehn, und das Studio hatte bereits geöffnet. Für zwei Stunden vergaß er Tania, vergaß sogar seinen Vater, vergaß alles.

Mit der besten Laune seit Tagen kam er gegen Mittag am Bahnhof an. Sogar, als er die Nummer des Anwaltsbüros seines Vaters wählte, dämpfte das seine Stimmung kaum.

"Rainer Hahn hier, ich möchte meinen Vater sprechen."

"Herr Dr. Hahn telefoniert gerade, wollen Sie warten?"

Er wollte, und kurz darauf ertönte die sonore Stimme seines Vaters.

"Junge? Alles klar?"

Er hasste es, Junge genannt zu werden. Er war ein Mann von achtundzwanzig Jahren. Wann würde der Alte das endlich kapieren?

Sein Vater kam gleich zur Sache: "Wir müssen über die Angelegenheit noch sprechen. Es hat mich eine Menge Geld gekostet, dich ohne Vorstrafe da 'rauszuboxen."

"Danke."

"Schon gut. Ich habe mit deinem Professor gesprochen, du kannst im Wintersemester sofort wieder einsteigen."

Er antwortete nichts. Sie tauschten noch ein paar Bedeutungslosigkeiten aus. Das war's.

Als Tania sich meldete, verstellte er die Stimme und sprach in breitestem rheinischen Dialekt. "Hier ist die Staatsanwaltschaft. Leider müssen wir Ihren zukünftigen Gatten noch ein paar Jährchen hier behalten, Frau Billinger, wegen Beschädigung von Staatseigentum. Sie müssen die Trauung hier im Gefängnis vollziehen."

Tania erkannte ihn nicht gleich. Dann kicherte sie los: "Du unverbesserlicher Witzbold, du."

Sie verabredeten sich für den Nachmittag.

"Mein Wagen steht zu Hause in der Garage. Ich muss die Bahn nehmen, sonst läge ich längst in deinen weichen Armen, Holdeste." Eine merkwürdige Zurückhaltung lag in ihrem Lachen. Er schob es einfach weg.

Nachdem er die Fahrkarte nach Bad Ems gelöst hatte, saß er mit einer Cola vor dem Bahnhof auf einem Blumenkasten und wartete auf seinen Zug. Ein Strahlen lag auf seinem Gesicht. Der Tag war gut. Er dachte an Tania und lächelte. Er dachte an den Hochzeitstermin in einem Monat und grinste. Er dachte an das idiotische Gesicht seines Feldwebels heute Morgen und lachte. Er lächelte sogar den einen oder anderen Passanten an, und nicht nur junge Frauen. Und er wäre in schallendes Gelächter ausgebrochen, wenn ihm jemand gesagt hätte, dass Rainer Karl Hahn noch am gleichen Tag, etwa zehn Stunden später, den Tod suchen würde.

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Die Tageszeitung brachte es auf der ersten Seite des Regionalteils: ,Zirkus Markos gastiert eine Woche lang in unserer Stadt‘.

"Hier ist es, Gottfried, willst du hören?" Lisa sah den Mann, der ihr am Campingtisch gegenüber saß und sein Frühstücksei löffelte, fragend an. Er nickte.

Sie frühstückten meistens vor ihrem blauen Wagen, jedenfalls wenn das Wetter es zuließ. So konnte man den anderen Artisten zuwinken, die ebenfalls vor ihren Wagen frühstückten, mit Vorübergehenden plaudern, dem Jongleur beim Training zusehen, das Knurren der Raubkatzen hören und den Duft der Pferde riechen. Gottfried liebte es, den Tag so zu beginnen.

"Mitten in meiner Familie", wie er manchmal sagte.

Lisa betonte die Stellen, die Gottfried betrafen.

"Der berühmte Trapezkünstler Salvatore Ikarelli wird mit seinem dreifachen Salto mortale auftreten. Er ist einer der wenigen Artisten auf der Welt, der diesen Sprung ohne Netz wagt ..." Lisa ließ die Zeitung sinken. "Ich werde bei der Zeitung anrufen. Die sollen endlich einmal schreiben, dass seine Frau dabei jedes Mal Blut und Wasser schwitzt."

Gottfried stand auf, ging um den Tisch und beugte sich zu ihr hinunter.

"Meine Liebste", er streichelte ihr blauschwarzes, langes Haar und küsste sie, "jetzt mache ich diese Nummer schon seit fast drei Jahren und immer noch versetze ich dich in Angst und Schrecken. Das tut mir leid." Er ging vor ihr in die Hocke. "Aber solange du Blut und Wasser schwitzt, weiß ich wenigstens, dass du mich noch liebst."

Seine Augen waren wasserblau, und eine Entschlossenheit funkelte in ihnen, die Lisa selten bei einem Mann gesehen hatte. Sie konnte nicht in diese Augen schauen, ohne dass etwas in ihr zu schmelzen begann. Seit sieben Jahren ging ihr das so, seit sie zum ersten Mal in diese Augen geblickt hatte.

"Dummkopf", sie klopfte ihm mit der flachen Hand auf den kahl rasierten Schädel, "solche Liebesbeweise hast du gar nicht nötig. Du weißt, dass ich dich noch lieben werde, wenn du mich einst krächzend um dein Gebiss bittest, damit du mich ins Ohrläppchen beißen kannst." Der gespielte Ärger wich aus ihrer Stimme, und sie wurde plötzlich sehr weich. "Ich werde dich immer lieben ..."

Er nahm sie in die Arme und küsste sie auf's Neue.

"He Salvatore! He Lisa!" Einer der beiden Liliputaner lehnte zwei Wagen weiter aus der Tür. "Einen guten Morgen braucht man euch wohl nicht mehr wünschen."

"Warum nicht, Charlie?" Gottfried stand auf. "Der Tag fängt zwar gut an, aber warum sollte er nicht noch besser werden?"

"Hoffen wir mal, dass er für den Chef ähnlich gut angefangen hat!" Charlie verschwand in seinem Wagen.

Lachend ließ sich Gottfried auf seinem Klappstuhl nieder und widmete sich seinem Ei.

"Du hast gut lachen, Baby", Lisa nahm die Zeitung wieder hoch, "aber nicht jeder hat bei unserem Direktor so einen dicken Stein im Brett wie du."

"Vor zwölf Jahren, als ich anfing, ging es mir nicht anders als den beiden Kleinen. Da war ich dreiundzwanzig, und nicht nur mein damaliger Direktor hat mich als Blitzableiter für seine Launen benutzt." Er sah Lisa mit hochgezogenen Brauen an und sprach leise weiter. "Du weißt selbst, dass wir schon bessere Clowns gesehen haben."

Lisa zuckte nur mit den Schultern. Sie vermied es, kritisch über Kollegen zu sprechen. Gottfried allerdings - ihm gestand sie das zu. Er war ein As auf seinem Gebiet. Sein Standpunkt war: zehn Prozent Talent, neunzig Prozent Fleiß. Er hatte sich seinen Spitzenrang als Trapezkünstler hart erarbeitet. Und er arbeitete immer noch an sich. Und er respektierte keinen Artisten, der nicht an sich arbeitete.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte Lisa die Zeitung wieder sinken lassen. Sie beobachtete ihn. Seine Gesicht war weich, und besonders sein Mund mit den vollen Lippen schien Gottried Vogel eher als weichen Gefühlsmenschen, denn als energischen Willensmenschen zu charakterisieren. Lisa wusste, dass er beides war. Sie hatte es gleich damals gewusst, vor sieben Jahren, aus seinen Augen.

Wann wird er endlich ans Aufhören denken? Lisa sprach diese Frage nicht aus. Nicht mehr. Zu oft hatten sich die heftigsten Auseinandersetzungen an dieser Frage entzündet. Und an der anderen: Wann werden wir Kinder haben? Sie hatte sie nur zweimal ausgesprochen.

Gottfried stellte den Eierbecher auf den Tisch und griff nach seiner Kaffeetasse. Jetzt erst merkte er, dass seine Frau ihn beobachtete. Und in ihren wehmütigen, dunkelblauen Augen las er ihre Gedanken.

"Lisa ..." Er ging zu ihr und nahm sie in den Arm. "Mach' dir keine Sorgen, du hast doch mich."

Sie dachte daran, dass ein Kind ihr als lebendiges Bild ihrer Liebe bleiben würde, wenn er sich eines Tages den Hals bricht. Sie hütete sich aber, diesen Gedanken auszusprechen.

"Heute ist heute", Gottfried lächelte sie aufmunternd an, "und um morgen kümmert sich das Leben." Er stand auf und begann abzuräumen. "Und jetzt geht es an die Arbeit, das verscheucht trübe Gedanken und regt den Appetit auf's Mittagessen an."

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"Hurra, die Erlösung kommt, das Wochenende kann beginnen!" Dr. Herbert Conrady hing seinen Arztmantel in den Schrank und ging dann erst auf Alexandra Heinze zu, um ihr die Hand zu drücken. "Ein ruhiges Dienstwochenende wünsche ich Ihnen, Frau Kollegin.

"Danke, Herr Conrady, wünsche ich mir auch." Die Notärztin stellte ihre Tasche auf den Schreibtischstuhl und schlüpfte in ihren weißen Mantel. "Und? Wie war es?"

"Ruhig, sehr ruhig."

"Hoffentlich bleibt es so." Alexandra warf ihren Sanitätern, die es sich schon am Tisch bequem gemacht hatten, einen hoffnungsvollen Blick zu. "Ich habe heute Abend nämlich einen Tisch im ,Corona d'Oro‘ bestellt. Da wäre ein pünktlicher Dienstschluss ganz wünschenswert, nicht wahr, meine Herren?"

"Das kann man wohl sagen", tönte Ewald Zühlke, "sonst müssen wir das langversprochene italienische Essen doch noch auf den Sankt Nimmerleins-Tag verschieben."

"Oh, Sie tun etwas für das Betriebsklima!" Conrady war schon an der Tür. "Na, dann viel Spaß. Sie werden schon pünktlich hier wegkommen. Unfälle und Herzinfarkte sind vertagt. Die Leute sind im Urlaub oder lassen sich auf ihren Terrassen und Balkonen von der Sonne bescheinen. Was machen Sie eigentlich im Urlaub?"

"Sobald Herr Stellmacher zurückkommt, also in vier Wochen, werden mein Mann und ich zu unserer langgeplanten Nordlandtour aufbrechen. Drei Wochen Dänemark, Schweden und Norwegen. Der Campingbus ist schon gebucht."

"Na, das klingt ja nach Abenteuer!" Conrady öffnete die Tür, wandte sich dann aber noch einmal seiner Kollegin zu. "Ach übrigens, Frau Heinze, bleibt es dabei, dass Sie nächste Woche Mittwoch für mich den Spätdienst machen? Ich will mit meinen Neffen und Nichten in den Zirkus gehen."

"Steht schon im Kalender." Alexandra ließ sich in den Schreibtischsessel fallen und griff nach dem Heft mit den Dienstprotokollen.

"Wunderbar! Vielen Dank und auf Wiedersehen!" Herbert Conrady schloss die Tür. Pfeifend ging er über den Gang in Richtung Pforte. Die Aussicht auf das freie Wochenende beflügelte ihn ungemein. Seine Frau Carla, OP-Schwester im Städtischen Krankenhaus, hatte ebenfalls frei. Sie hatten eine Segeltour an der Holländischen Nordseeküste geplant. Es war das erste gemeinsame freie Wochenende seit zwei Monaten.

Die Tür zur Pforte stand offen. Im Vorbeigehen sah er, dass einige Papiere in seinem Fach lagen. Er betrat pfeifend die Pforte und räumte sein Postfach leer.

"Schönes Wochenende, Herr Preuss", verabschiedete er sich vom Pförtner.

Auf dem Weg zum Parkplatz sah er die Post aus seinem Fach durch. Der Durchschlag seines Urlaubsantrags mit dem Genehmigungszeichen des Chefs, eine Einladung zu einer Tagung in Düsseldorf, ein OP-Bericht, um den er den Oberarzt gebeten hatte, und ein Brief ohne Absender.

Erst in seinem Wagen öffnete Conrady den Brief. Schon als er die ersten Zeilen überflogen hatte, wusste er, dass er ab sofort ein Problem hatte.

,Sehr geehrter Herr Doktor,

erinnern Sie sich an den letzten Grillabend im Spätsommer vorigen Jahres? Der OP, die Ambulanz und das Notarztteam haben zusammen gefeiert. Ich denke, Sie erinnern sich gut. Ich jedenfalls bin über alles bestens informiert. Aus erster Hand sozusagen. Haben Sie Interesse daran, dass Ihre Frau Genaueres über den Abend - bzw. über die Nacht - erfährt? Wenn nicht, zahlen Sie mir 5.000 DM, und die Sache ist erledigt. Falls Sie mit diesem Geschäft einverstanden sind - es ist wirklich weiter nichts, als ein faires Geschäft - lassen Sie die ganze nächste Woche über einen grünen Papierbogen in Ihrem Fach liegen, weiter nichts. Ich melde mich dann wieder bei Ihnen.‘

Keine Unterschrift.

Conrady ließ den Brief sinken und lehnte seinen Kopf an die Nackenstütze. Als er die Augen schloss, begann sich alles zu drehen.

"Das glaub' ich nicht", flüsterte er, "das glaub' ich nicht!", schrie er und las den Brief ein zweites Mal. "Schweinerei!" Er knüllte den Brief zusammen und warf ihn in den Fußraum vor dem Beifahrersitz. Dann stieg er aus und begann unruhig und mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen neben seinem Wagen auf und ab zu laufen.

,Grillabend‘, ,Spätsommer‘ - natürlich erinnerte er sich. Das heißt - er hatte die Erinnerung daran erfolgreich ausradiert. Hatte er jedenfalls gedacht, bis eben, bis zu diesem dreimal verfluchten Brief. Seit sie vor einem halben Jahr nach München an die Uniklinik gegangen war, hatte er so gut wie nie an Carola gedacht.

Carola ... Sie war OP-Schwester im Marien-Krankenhaus gewesen, und sie hatten sich immer gut verstanden. Und sie war hübsch, ja, das war sie, und an jenem Abend, an diesem Grillabend - sie hatte Bereitschaftsdienst, und er hatte verdammt viel Bier intus gehabt - da waren sie sich ohne Wort einig geworden. Und er war ihr ins Bereitschaftszimmer gefolgt ...

Conrady riss die Autotür auf und warf sich in den Fahrersitz. Es war ein Ausrutscher gewesen, ein einmaliger Ausrutscher, verdammt noch mal!

Wieder las er den Brief. Er war auf irgendeinem Tintenstrahldrucker gedruckt worden, mit einer Standardschrift. Eine Freundin von Carola? Eine Kollegin, bei der sie angegeben hatte, weil sie sich einen Arzt ins Bett geholt hatte?

Egal - Carla durfte nichts davon erfahren! Sie war so eifersüchtig wie eine römische Filmdiva. Sie würde ihn sofort aus dem Schlafzimmer ausquartieren. Und zuvor würde sie sämtliches Geschirr aus den Schränken räumen und auf dem Boden zertrümmern. Oder ihm an den Kopf werfen. Und am nächsten Tag würde sie beim Anwalt sitzen. Ja, Conrady kannte seine Frau, und - er liebte seine Frau. Kein Wort durfte sie erfahren.

Er zerriss den Brief in tausend kleine Stücke, stieg aus und ließ die Schnipsel durch das Eisenrost eines Gullis in die dunkle Tiefe segeln. Dann ging er zurück und startete sein Auto.

Gut, jetzt war erst einmal Segeln angesagt, und möglichst gute Miene. Vielleicht sollte er gar nicht reagieren. Vielleicht würde dieser Erpresser, dieses Schwein, den Mut verlieren. Mal sehen.

Conrady versuchte wieder zu pfeifen, wie eben noch, als er durch den Krankenhausgarten zum Parkplatz gegangen war. Welches Lied hatte er gleich auf den Lippen gehabt? Mist - er hatte es vergessen ...

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Hagen Sudhoff war ein Einzelgänger. Im Zirkusteam pflegte er kaum private Kontakte, und ein harter, abweisender Zug um seinen Mund ließ bei den Menschen, die mit ihm zu tun hatten, gar nicht erst das Bedürfnis nach Kontakt mit ihm aufkommen. Jedenfalls bei den meisten nicht.

Aber man kann auch nicht sagen, dass er ein übler Kerl gewesen war. Nein, manche Kollegen im Zirkus schätzten ihn sogar. Die Liliputaner etwa heulten sich regelmäßig bei ihm aus, wenn der Direktor sie wieder einmal zur Schnecke gemacht hatte, weil ihre Clown-Nummer danebengegangen war. Und der Direktor war relativ häufig der Meinung, dass sie daneben ging.

Auch Ikarelli fand den Sudhoff eigentlich ganz in Ordnung. Das sagte er sogar später noch, danach, als alles vorbei war.

Sudhoff blieb vor dem Wagen des Direktors stehen und klopfte. Der Bass seines Chefs forderte zum Eintreten auf.

"Tag, Herr Markos." Sudhoff schloss die Wagentür hinter sich. Der Direktor saß vor seinem PC und sah nicht einmal auf. Er rechnete. Das tat er meistens, rechnen. Auch wenn die Saison überdurchschnittlich gut gelaufen war bisher, sah Hektor Markos seinen kleinen Zirkus am Rande des Bankrotts. Er sah ihn immer am Rande des Bankrotts. Und deswegen rechnete er ständig.

"Was gibt's, Hagen?"

"Ich muss Sie sprechen, Chef."

"Schießen Sie los!" Er drehte sich um und sah seinem strohblonden, knapp dreißigjährigem Drahtseilartisten in die Augen. Der Blick des Direktors sagte: Du hast genau fünf Minuten Zeit, fass dich kurz!

"Ich will ins Hauptprogramm", ohne Umschweife kam Hagen auf den Punkt. Der Direktor liebte es direkt und unverblümt.

"Verstehe ich. Womit?"

"Mit der Motorradnummer. Ich hab' sie jetzt drauf. Ich fahr' ohne Netz, hin und zurück."

Markos musterte ihn mit seinen dunklen, hellwachen Augen. Es waren diese alles durchdringenden Augen, die jeder der Artisten fürchtete. Augen eines Kindes und eines Greises zugleich. Niemand wusste das exakte Alter des Zirkusdirektors. Lilli, die Frau mit den Gummigliedern, die regelmäßig mit ihm schlief, war davon überzeugt, dass der Direktor Anfang vierzig war. Hagen hielt ihn für über fünfzig.

"Hören Sie, Hagen, ich habe Sie heute Morgen beim Training beobachtet. Sie sind noch unsicher. Und dann gleich ohne Netz - viel zu gefährlich."

"Und zu teuer!" Hagen platzte der Kragen. "Sagen Sie's doch, Sie wollen den zusätzlichen Tausender nicht locker machen!"

Markos stand auf und kam langsam auf den Jüngeren zu. Keinen Augenblick zog er seinen bohrenden Blick aus Hagens Augen. Einen fast körperlich spürbaren Schmerz empfand Hagen. Er verfluchte sich für die Idee, bereits zum dritten Mal in dieser Saison wegen der gleichen Sache vorzusprechen.

"Sie wissen genau, dass ich für eine gute Nummer tiefer in die Tasche greife, als meinem Steuerberater lieb ist. Das bringt Publicity und Publikum. Aber ich bin auch verantwortlich für die Sicherheit meiner Leute. Deswegen noch einmal: Nein."

"Und der Ikarelli zieht schon die dritte Saison die gleiche Nummer ab. Er bringt nichts Neues mehr und kriegt vermutlich zwei Tausender mehr als die meisten hier." Hagen war laut geworden.

Markos musterte ihn schweigend bevor er langsam nickte.

"Hüten Sie sich, Hagen! Eifersucht und Neid kosten nur Kraft und Konzentration. Salvatore ist fünf Jahre älter als Sie. Er hatte entsprechend länger Zeit, an sich zu arbeiten und zu dem zu werden, was er ist: Unsere Hauptattraktion." Der Direktor drehte sich von Sudhoff weg und ging zu seinem Schreibtisch zurück. "Ohne ihn würden wir gar nicht mehr aus den roten Zahlen kommen. Keine Diskussion also über Salvatore Ikarelli." Er nahm vor seinem Computer Platz und griff nach der Maus. "Bis heute Abend, Hagen."

Vor dem Wagen des Direktors zündete Hagen Sudhoff sich eine Zigarillo an. Fluchend spuckte er aus. Markos war ein Mann wie ein Granitblock. Er hätte es wissen müssen. Mit schwerem Schritt ging er auf das Zirkuszelt zu.

Von hinten hörte er Schritte. Der Jongleur sprach ihn.

"Hagen, kannst du mir fünfzig Mark leihen?" Er musste wirklich arg in Schwierigkeiten stecken, wenn er es sogar wagte, Hagen Sudhoff anzupumpen.

"Geh' zum Teufel", knurrte Sudhoff.

Die beiden Liliputaner standen an der offenen Seitenplane, starrten zur Kuppel hoch und schüttelten die Köpfe.

"Wahnsinn."

Über dem Netz trainierte Salvatore Ikarelli. Er hatte sein Trapez so kraftvoll in Schwung gebracht, dass es aussah, als würden seine Fersen jeden Moment das Kuppeldach berühren. Lisa, seine Partnerin, stand auf dem Absprung und hielt das zweite Trapez fest. Jetzt - Ikarelli kehrte gerade vom äußersten Punkt seines Aufschwungs zurück - schickte sie es ihm entgegen. Ikarelli ließ sein Trapez los, stieg, sich dreimal überschlagend, zur Kuppel empor, und griff im Fallen das auf ihn zuschwingende Trapez seiner Partnerin.

Die Liliputaner hatten den Atem angehalten. Nun brachen sie in begeisterten Beifall aus.

"Bravo, Salvatore, fantastisch!"

Hagen Sudhoff wusste, dass Ikarelli diese Nummer heute Abend ohne Netz präsentieren würde. Er wusste, dass die Zuschauer ihm tosenden Beifall spenden würden. Er wusste, dass Ikarelli der Beste war. Und er wusste, dass er Ikarelli hasste.

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Zunächst hatte er den