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Band 200

 

Mann aus Glas

 

Rüdiger Schäfer / Rainer Schorm

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Prolog: Der Schrei der Geminga

1. 17. November 2088 – Solsystem, Saturngebiet: an Bord des Raumfrachters KRAXN

2. 17. November 2088 – Castorsystem, Alpha Geminorum: an Bord des Wachkreuzers RACCOON

3. 17. November 2088 – Castorsystem: an Bord der KRAXN

4. 17. November 2088 – Solsystem: an Bord der CREST II

5. 17. November 2088 – Castorsystem: Dragonfly KAVGADOMUZU

6. 17. November 2088 – Castorsystem, Olymp, Containerraumhafen von Trade City

7. 17. November 2088 – Castorsystem: an Bord der CREST II

8. 17. November 2088 – Castorsystem, Olymp, Diplomatische Vertretung des Chinesischen Blocks

9. 17. November 2088 – Castorsystem: an Bord der CREST II

10. 17. November 2088 – Castorsystem: an Bord der NATHALIE

11. 17. November 2088 – Castorsystem: an Bord der CREST II

12. 17. November 2088 – Denebsystem, Alpha Cygni: an Bord der NATHALIE

13. 17. November 2088 – Castorsystem: an Bord der CREST II

14. 17. November 2088 – Denebsystem, Tiān jīn sì, Siedlung Chufa

15. 17. November 2088 – Castorsystem: an Bord der CREST II

16. 17. November 2088 – Denebsystem, Tiān jīn sì

17. 18. November 2088 – Castorsystem: an Bord der CREST II

18. 18. November 2088 – Denebsystem: an Bord der CREST II

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Fünfzig Jahre nachdem der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff entdeckt hat, ist eine neue Epoche der Menschheit angebrochen. Die Solare Union steuert den Aufbruch ins All.

Die Menschen haben Kolonien nicht nur auf dem Mond und Mars, sondern auch in fernen Sonnensystemen errichtet. Mit ihren Raumschiffen erforschen sie die Milchstraße und pflegen Kontakte zu fremden Zivilisationen.

Wie in der Vergangenheit sehen sich die wagemutigen Pioniere nicht nur mit den kosmischen Gefahren von lebensfeindlichen Umwelten konfrontiert, sondern auch mit Bedrohungen von innen wie außen.

Deshalb sind Perry Rhodan und seine Gefährten sofort zur Stelle, als Ende des Jahres 2088 die Handelskolonie Olymp Alarm auslöst. Ohne vorherige Warnung taucht dort ein rätselhaftes Objekt auf, das einen Passagier an Bord hat. Rhodan begegnet dem mysteriösen MANN AUS GLAS ...

 

 

 

Für Michael

Deine Welten bleiben bei uns

Prolog

Der Schrei der Geminga

 

Habakuk Salomon, ZUSES TRAUM, Expeditionsbericht Algol, Beta Persei, 19. Januar 2060, 13.05 Uhr Erdzeit

Ich bin angekommen.

Das Algolsystem. Im Zentrum ein Doppelstern: der eine Glutball größer, aber rot und leuchtschwächer, der andere hell und blau. Es brennt zwischen den beiden Komponenten. Gleißendes Plasma formt einen Gürtel. Es ist ein Bild voller Kraft. Ich fühle die Energie beinahe körperlich. Eine dritte Sonne vervollständigt den Dreierreigen. Sie ist deutlich weiter entfernt, fast drei Astronomische Einheiten.

Die eng beieinanderstehenden Hauptsterne erinnern mich an ein Warnlicht. Es sagt: »Du bist fremd hier. Die Fremde ist gefährlich. Nimm dich in Acht, Habakuk Salomon!«

Das Rumoren der Triebwerke nimmt zu. Sie bremsen die ZUSES TRAUM ab. Der tiefe Ton verstärkt die Unruhe. Es ist, als säße er direkt in meinem Magen. Ich bin 93 Lichtjahre von der Erde entfernt. Und ich bin allein. Sollte mir oder meinem Raumschiff etwas zustoßen, wird es keine Hilfe geben.

Die ZUSES TRAUM vibriert, der Flug durch das Plasma ist holprig. Es wird noch gute zehn Minuten dauern, bis ich diese Zone hinter mir lasse. Ionisiertes Plasma ... das ist so etwas wie das Fleisch einer Sonne, das die Schwerkraft aus ihr herausgerissen hat. Es brennt.

Ich sehe die Glut und spüre förmlich, dass sie danach giert, mich zu verbrennen. Wie sie alles verbrennen will.

Ich erinnere mich an Berichte, die ich gelesen habe – vor langer Zeit. Perry Rhodans Expeditionen führten ihn häufiger an solch gefährliche Orte: Pulsare, Magnetare, Akkretionsscheiben toter Sterne. Aber er war zumeist an Bord riesiger Schiffe, mächtig und schnell. Die ZUSES TRAUM ist das genaue Gegenteil: eine ehemalige Korvette – nur 60 Meter im Durchmesser.

Ein Mann und sein Raumschiff von der Whistler Corporation, vollgestopft mit modernster Technik: ein Prospektor auf der Suche.

Protokoll Habakuk Salomon, 19. Januar 2060, 13.16 Uhr

Hinter der ZUSES TRAUM leuchtet Algol wie ein Paar böser Augen. Unsere Vorfahren nannten ihn auch den Kopf des Dämons oder den Teufelsstern. Die Helligkeitsschwankungen führen dazu, dass Algol einem zuzublinzeln scheint.

Ich werde noch abergläubisch, wenn ich mir das länger anschaue, also konzentriere ich mich auf das Wesentliche.

Und dann ist es so weit: Ich messe wieder exakt die Hyperfrequenz an, deren Fernortung mich überhaupt erst ins Algolsystem gelockt hat. Ein kräftiges und einzigartiges Signal, das vielversprechende Zeichen, dass es hier Hyperschwingquarze geben könnte. Hochwertige Schwingquarze, die den Abbau lohnen. Die Signalquelle liegt auf dem zweiten Planeten des Systems. Er ist grob erdähnlich, Näheres lässt sich aus der aktuellen Entfernung noch nicht bestimmen.

Schwingquarze sind das Rückgrat der interstellaren Raumfahrt. Der Bedarf nimmt rasant zu – und im Algolsystem könnte ich im wahrsten Sinne des Wortes auf eine Goldader gestoßen sein. Das ist der Traum jedes Prospektors. Ich beginne mit dem Anflug.

 

Protokoll Habakuk Salomon, 19. Januar 2060, 13.37 Uhr

Die energetischen Emanationen sind eigenartig. Es sind eindeutig die Signaturen von Hyperschwingquarzen, aber solche wie diese habe ich nie zuvor gesehen. Das hat wahrscheinlich niemand.

Seit etwas über einem Jahr sind Explorerschiffe wie die ZUSES TRAUM unterwegs. Überall in der Nachbarschaft der irdischen Sonne wird kartografiert und alles untersucht, was uns dabei hilft, weiter ins All vorzustoßen. »Go far!« ist zum geflügelten Wort geworden. Die sprichwörtliche Neugier des Menschen hat ein neues Ziel.

Nein: neue Ziele.

Perry Rhodan war der Erste. Er führte die Menschheit zu den Sternen. Anfangs waren es nur wenige, die ihn auf seinen Reisen begleiteten. Nun sind wir alle aufgebrochen.

In die Fremde.

Sogar die Arkoniden, die unser erster Kontakt zu einer außerirdischen Zivilisation waren, haben den Orionarm der Milchstraße nur oberflächlich untersucht. Das tun nun wir, das tue ich.

Und dabei finden wir Dinge, mit denen niemand gerechnet hat. Wie etwa diese merkwürdigen Impulse. Die Arkoniden arbeiten seit Jahrzehntausenden mit Hyperschwingquarzen, aber ich glaube nicht, dass sie jemals auf etwas Vergleichbares gestoßen sind.

Für den Moment kann nicht ich viel mehr tun, als zu warten. Ich verfolge den Anflug auf Algol II, bis die ZUSES TRAUM in einen niedrigen Orbit einschwenkt. Die Sensoren meines Raumschiffs untersuchen den Planeten, der etwa so groß wie die Erde ist.

Es ist eine helle Welt. Sand, wohin man schaut. Kein Wunder, dass sich dort Schwingquarze finden lassen. Die Impulse, die als akustische Signale aus den Instrumenten dringen, erinnern mich an den Herzschlag eines fremdartigen Wesens; wahrscheinlich des Dämons, dessen Augen mich angeblinzelt haben. Ich kann nicht sagen, ob der Druck im Magen, den ich spüre, seit ich angekommen bin, erwartungsvolle Unruhe ist oder ganz einfach Angst.

 

Protokoll Habakuk Salomon, 19. Januar 2060, 14.24 Uhr

Die letzte Umkreisung ist abgeschlossen. Die Signalcharakteristik der hyperphysikalischen Strahlung ist noch merkwürdiger als gedacht. Sie zerfasert beinahe. Es ist fast, als wolle sich jemand verstecken.

Dennoch: Die Scans sind komplett, und ich habe ein Zielgebiet festgelegt, in der Nähe eines alten, beinahe abgetragenen Gebirges in einer der ausgedehnten Wüsten. Sie ist größtenteils bläulich weiß. Die Korngröße des Sands variiert sehr stark. Viele Partikel sind kleiner als fünf Mikrometer. Wer sich länger auf dieser Welt aufhält, riskiert, an einer Staublunge zu erkranken.

Ein Feind, den keiner kommen sieht.

Vielleicht kenne ich den Namen des Dämons ja bereits. Aber er wird mich nicht aufhalten. Die ZUSES TRAUM verlässt den Orbit.

 

Protokoll Habakuk Salomon, 19. Januar 2060, 15.24 Uhr

Ich bin gelandet. Es ist eine fremdartige Welt. Trotzdem hat sie ihren ganz eigenen Charme, ja Zauber. Das Licht der drei Sonnen tanzt über die Wüstenflächen. In Myriaden Sandpartikeln, glatt geschliffen von unzähligen Jahren der Erosion, reflektieren Funken und kleine Blitze, als produziere die Wüste selbst ein Feuerwerk. Das Funkeln hat etwas Lebendiges.

Mein Blick versucht, die Weite zu erfassen. Es ist wunderschön. Man könnte sich darin verlieren. Ich habe Perry Rhodan häufig genug beneidet, der vielen fremden Welten wegen, die er und seine Begleiter besucht haben – so weit entfernt, dass meine Reise dagegen lächerlich wirkt. Und doch: Ich bin hier.

Die Helligkeit nimmt zu, als die kleinere zweite Sonne hinter ihrem großen Begleiter hervortritt. Ich mache eine Notiz. Schutzbrillen oder Filter sind unbedingt notwendig. Sonst könnte die Lichtfülle zum Feind werden.

Ich will nach draußen, ich will diese Welt spüren. Man sagt uns Prospektoren häufig nach, wir seien nur am Profit interessiert, an Bodenschätzen, die wir ausbeuten können. Zumindest in diesem Augenblick stimmt das nicht.

Ich betrete neues Land. Einen Planeten, den nie zuvor ein Mensch besucht hat. Wenn ein Mensch die Summe all seiner Erfahrungen ist, bin ich von nun an einzigartig. Niemand wird jemals wieder der Erste sein ... nicht hier.

 

Protokoll Habakuk Salomon, 19. Januar 2060, 16.08 Uhr

Der Sand knirscht eigenartig unter meinen Stiefeln. Er ist so fein, dass der Begriff »Pulver« beinahe unzureichend ist. Ich habe bereits etliche Quarzformen gefunden, die wir von der Erde her kennen: Moganit oder Chalcedon, Tridymit, Christobalit, Stishovit, Coesit. Amethyst, Jaspis, Achat, Onyx, Karneol ... alle kristallinen Formen sind häufig in andere, amorphe Silikate eingebettet.

Eine Verwendung des Sands als Baustoff ist nicht möglich, dazu sind die Körnung zu fein und die Oberflächen zu glatt. Es wäre wahrscheinlich auch eine Verschwendung. Denn die Schwingquarzdichte ist sogar höher, als die Prognose vermuten ließ. Kristallsinter sollten möglich sein. Wie auch immer: Die Mineralvorkommen sind gewaltig.

Eine Fauna oder Flora konnte ich bisher nicht entdecken. Ich werde nun einen Hügelkamm hinaufsteigen. Dessen Höhe sollte mir einen guten Rundumblick ermöglichen. Einige kräftige Windböen wirbeln den weißblauen Staub auf. Ich glaube, in einiger Entfernung sogar einen Windrüssel gesehen zu haben. Das leise, beinahe flüsternde Knirschen liegt über allem wie eine Stimme, die von weit her zu einem dringt. Es hat etwas Geheimnisvolles.

Leider ist die mineralogische Analyse bisher nicht sehr ergiebig, was das eigentliche Ziel angeht. Die Emanationen sind unverändert da, aber es ist erstaunlich schwierig, sie zu lokalisieren.

Ich beginne mit dem Aufstieg.

 

Protokoll Habakuk Salomon, 19. Januar 2060, 16.31 Uhr

Der Blick ist atemberaubend. Durch die Helligkeit unterschätzt man die Höhenunterschiede. Die drei Sonnen werfen verwirrend divergierende Schatten, meist in Blau oder sanftem Violett. Es ist kühl. Das ist keine Überraschung: Die Anzeigen melden 6,5 Grad Celsius, ich habe die Filter- und Heizanlagen meiner Schutzmontur trotzdem desaktiviert, um einen unmittelbaren Eindruck zu bekommen – lediglich der Staubfilter arbeitet.

Die Kühle hat einen sonderbaren Einfluss auf meine Wahrnehmung. Jetzt könnte man all das für Schnee halten. Die bläulichen Schatten verstärken den Eindruck; und wahrscheinlich beeinflussen sie auch mein Temperaturempfinden.

Es riecht ... eigenartig, ein bisschen wie Piment. Eine Mischung aus Pfeffer, Nelke und etwas anderem, vielleicht arkonidischem Sommat. Nicht ganz so blumig. Der Wind hat sich gelegt.

Zwei Dinge fallen mir von meiner erhöhten Position aus auf: Zum einen sind da einige sonderbare Ansammlungen, die wie Kugelkonglomerate aussehen. Es sind nicht viele, maximal vier oder fünf. Zum anderen scheint es doch eine Flora zu geben. Nicht weit entfernt recken sich einige knorrige Äste oder etwas dergleichen aus dem Sand. Es sieht beinahe aus, als habe jemand Totholz in den Sand gesteckt. Eine Farbe kann ich von meinem Standort aus nicht angeben: Es ist schwärzlich, anthrazit ... auf jeden Fall extrem dunkel. Ich werde mir das näher ansehen und aktiviere deshalb alle Schutzfilter wieder.

 

Protokoll Habakuk Salomon, 19. Januar 2060, 16.53 Uhr

Nicht nur die Einschätzung der Höhen ist schwierig auf dieser eigenartigen Welt – es betrifft auch die Entfernungen.

Ich war der Meinung, nur einige Minuten gehen zu müssen. Der Blick auf die Messdaten war dann eine Überraschung. Ich habe eineinhalb Kilometer zurückgelegt. Warum ich nicht zuvor auf die Anzeigen geschaut habe, kann ich nicht sagen. Diese Welt nimmt einen gefangen. Ihre Kargheit ist beinahe asketisch – sie hat aber nichts Armseliges. Es gibt keinen Mangel, der auffiele.

Ich stehe mittlerweile vor diesem eigenartigen Gewächs. Es lebt tatsächlich, obwohl es aussieht wie ein abgestorbener, vertrockneter Ast. Aber das Ding ist nicht abgestorben – es lebt und scheint tief zu wurzeln. Überhaupt nehme ich an, dass es eine unterplanetare Vegetation gibt. Ich habe am Fuß des Baums ein wenig den Sand zur Seite geschaufelt. Wurzeln kamen zum Vorschein, einige davon gehören eindeutig nicht zu diesem Gewächs. Wahrscheinlich ist es eine komplette Wurzelvegetation. Bisher war mir nicht klar, woher der Sauerstoff in der Atmosphäre stammt. Damit ist nun wohl auch dieses Rätsel geklärt.

An einigen der kleineren Äste, die ebenso tot aussehen wie der Stamm, hängen große, schwärzliche Dinger, die wie Nüsse anmuten. Von der Schale her vielleicht eher Mandeln. Wie die spanischen Mandeln aus Marcona ... Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.

Ich reiße eine davon ab. Und habe Mühe, die harte Schale zu entfernen. Darunter kommt cremig-weißliches Fruchtfleisch zum Vorschein. Ob die Dinger essbar sind?

 

Protokoll Habakuk Salomon, 19. Januar 2060, 16.59 Uhr

Rumal hätte meine estnische Großmutter mich genannt. Trottel. Schwachkopf oder Idiot. Nachdem ich mich zwei Minuten lang übergeben habe, kam ich endlich auf die kluge Idee, die Filter wieder zu desaktivieren. Einer der traditionellen Küchentipps, wenn man wissen will, ob etwas noch essbar ist, lautet: Riech dran! Das habe ich getan – unvorsichtigerweise.

Meine Güte, stinken diese Dinger! Mir fällt nicht mal etwas ein, womit ich es vergleichen könnte. Meine Augen brennen. Diese Nüsse dampfen einen Brodem der Hölle aus, dass man auf der Stelle ohnmächtig werden könnte. Wenn ich sie mit Mandeln vergleiche, sollte ich erwähnen, dass sie eiskalt sind. Sie sind so kalt, als zögen sie aus allem in ihrer Umgebung die Wärme ab. Frianüsse, das passt. Aus meiner Kindheit kenne ich die altnordische Mythologie der Edda. So wie diese Welt habe ich mir immer Niflheim vorgestellt.

Die Frianüsse mögen essbar sein, zumindest sagt das mein erstes Untersuchungsergebnis. Sie enthalten erstaunlich viele Vitamine und sind sehr eiweiß- und kohlehydrathaltig, dazu kommen einige hochwertige Fette. Wahrscheinlich könnte man sich ausschließlich davon ernähren, wenn man nichts anderes hat. Grauenhafter Gedanke. Diese Dinger sprechen jeder Erinnerung an wohlschmeckendes Essen Hohn. Ich habe die Nase voll. Buchstäblich. Nichts wie weg hier!

 

Protokoll Habakuk Salomon, 19. Januar 2060, 17.41 Uhr

Die Anzeigen sprengen die Skala. Ich stehe vor einem der Kugelkonglomerate. Es ist eine Ansammlung hochwertiger Schwingquarze, wirklich extrem hochwertiger Schwingquarze. In dieser Dichte habe ich etwas Derartiges noch nie gesehen. Die Meldung an die ZUSES TRAUM war beinahe wie Jom Kippur, Pessach und Weihnachten zusammen.

Das Beste dabei: Ich messe im Zentrum des Konglomerats eine hyperenergetische Signalspitze an. Eine enorme Spitze. Das ist ein Hyperschwingquarz, wie man ihn kaum einmal findet. Eine erste flüchtige Messung bestätigt es: Das ist die Ursache der Impulse, die mich nach Rumal geführt hat. Der Name erscheint mir passend für diese Welt, er bedeutet auch Täuschung. Nach meiner Erfahrung mit den widerlichen Stinkbomben werde ich nie wieder Nüsse essen.

Die Schwingquarze, die den Kern umgeben, sind nicht ganz so hochwertig. Ich messe etwa 57 Metranon – das ist mehr als das Doppelte des typischen Werts. Auch falls der Kern nicht halten sollte, was er verspricht: Diese Welt ist eine Schatzkammer.

Ich werde versuchen, das Konglomerat aufzubrechen.

 

Protokoll Habakuk Salomon, 19. Januar 2060, 17.59 Uhr

Er ist nur so groß wie eine Perle. Die Matrix ist makellos, ein Teil der beinahe perfekten Kugel ist transparent. Es ist der höchstwertige Hyperschwingquarz, den ich je gesehen habe – den irgendjemand je gesehen hat.

Ich schalte den Aktivierungsemitter ein. Ein Prüfimpuls wird bestätigen, was ich bereits weiß.

»Akustikumsetzung!«, befehle ich. Es mag altmodisch sein, aber viele Prospektoren überprüfen die Qualität, indem sie sich die Aussendung des Impulses anhören. Angeblich gab es früher Astronomen, die dasselbe mit den eingehenden Radiowellen aus dem All taten – auf der Suche nach außerirdischem Leben.

Nun, zumindest das ist nicht mehr nötig.

Ich sende den Aktivierungsimpuls und ...

 

Protokoll Habakuk Salomon, 19. Januar 2060, 18.01 Uhr

Ich war nicht lange ohnmächtig, und die Mikropositronik meines Schutzanzugs gibt bereits wieder Entwarnung. Die akustische Umsetzung des freigesetzten Hyperimpulses hat mich außer Gefecht gesetzt.

Dieser Hyperschwingquarz ist ein wahres Monster. So klein und so ... mächtig. Whistler wird mich zum Teilhaber machen wollen. Das wäre sicher billiger, als mir eine dem Nutzungsvertrag entsprechende Provision zu zahlen.

Eine Sache ist eigenartig: Die Frequenz- und Amplitudenausmessung des Impulses brachte ein Ergebnis, von dem ich nicht weiß, was es bedeutet. Wir, wir Menschen, kennen diesen Impuls seit Langem. Es ist der Gammaimpuls des Pulsars Geminga – genauer: das fünfdimensionale Äquivalent.

Geminga.

Er ist angeblich der letzte Pulsar in einer ganzen Reihe anderer Pulsare, deren Entstehungssupernovae die Lokale Blase geformt haben, in der auch unsere eigene Sonne steht. Und auf Rumal war ich, Habakuk Salomon, der Erste, der ihren Schrei gehört hat. Der Schrei der Geminga hat uns vielleicht sogar geschaffen.

Ich setze die Meldung ab. Nicht nur an die Whistler Corporation. An die ganze Terranische Union. Vielleicht hat soeben unsere Zukunft begonnen.

1.

17. November 2088

Solsystem, Saturngebiet: an Bord des Raumfrachters KRAXN

 

»Kann das verdammte Pack nicht bleiben, wo der Pfeffer wächst?« Kapitän Daan Meynster verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse. Die Narben, die seine linke Hälfte bedeckten, verstärkten den Eindruck. Das wusste er. Zwar hatte der Kapitän die Entstellung kosmetisch abmildern lassen, aber die verbliebenen Reste reichten aus, um ihm ein gefährliches Aussehen zu geben. Er nannte die Verletzungen häufig eine wertvolle Erinnerung; woran, das verriet er nicht.

Ein wenig zu dramatisch raufte er sich die Haare. Die eisgraue Strähne, die sich links bis in den Nacken zog, wirkte auf andere wie das misslungene Experiment eines übereifrigen Friseurs.

Mijnheer Elliot zeigte seine typische Reaktion: ein schmales Grinsen. Er kannte seinen Kapitän besser, als Meynster das lieb war.

Die Stimme der Positronik war sachlich. »Transmitterstation PORTORIUM I bestätigt die Anfrage nach einem Transitcode. Die Übermittlung erfolgt sofort nach Abschluss der Kontrolle durch den Sprungzoll.«

Ein lautes Signal zeigte den Abschluss des Andockmanövers an. Die Zollschaluppe hatte sich ordnungsgemäß angekündigt, und die Fahrtangleichung war wohl manuell erfolgt. Ein Zeichen, dass die Besatzung ihr Handwerk auch in dieser Hinsicht verstand.

Für Meynster war das ein weiterer Grund, sich aufzuregen. »Können die Kerle nicht jemand anderen aufhalten?«, schimpfte er brummig.

Elliot kicherte. »Warum sollten sie?«, fragte er. »Die KRAXN ist so gut wie jeder andere Frachter.«

»Und das von dir, Mijnheer?« Meynster zog die Augenbrauen zusammen. »Du bist hier der Ingenieur. Unter anderem. Ein Frachter wie jeder andere – was ist das für ein Berufsethos? Ich könnte das als Eingeständnis werten, dass du deinen Job nicht tust. Ich sollte ernsthaft darüber nachdenken, dir die Heuer zu kürzen.«

»Du hast Pilot, Koch und Putzhilfe vergessen«, murmelte Elliot. »Na ja, Pilot nur, wenn Calamity nicht kann oder will. Und Finger weg von meiner Provision, sonst fliegt dieser Schrotthaufen nirgendwohin!«

»Eine Drohung?«, fragte Meynster mit finsterem Unterton.

»Eine Feststellung«, gab Elliot trocken zurück.

»Die Kontrollgruppe der PORTORIUM I betritt das Schiff«, verkündete die Positronik. Sie projizierte ein Hologramm, in dem zu sehen war, wie der Zolltrupp seine Schaluppe verließ, eine kleine Fähre mit typisch platt gedrückter Eiform.

»Na, dann gehe ich sie mal begrüßen«, beschloss Meynster unwillig. »Du bleibst in der Zentrale.«

Elliot schmunzelte. »Soll ich durchfegen?«

Meynster fabrizierte ein dumpfes Geräusch und verließ die Zentrale der KRAXN. Der Weg war nicht weit. Wie bei vielen Frachtern durchmaß die Hauptzelle der KRAXN nur rund hundert Meter, dazu kam der Ringwulst. Im unteren Schiffsteil reckte sich die Frachtsäule weit in den Raum. Dort wurden die Container, die sogenannten Bulks, verankert. Die meisten Frachter waren keine Neubauten, sondern ausgemusterte und radikal umgebaute Raumfahrzeuge der Terranischen Flotte. Wenn sie dort außer Dienst gestellt wurden, waren sie begehrt – bei Händlern, Konsortien und freien Kapitänen. Auch die KRAXN war ein ehemaliges Kampfschiff der Systemverteidigung. Meynster liebte sie – obwohl sie etwas mitgenommen wirkte.

Zurzeit bediente Meynster die Castor-Linie. Olymp war ein lohnendes Ziel. Die Freihandelswelt boomte, und von dort aus waren die meisten anderen Kolonien direkt erreichbar. Die komplexe Transmitterarchitektur war das Herzstück von Olymp ... und seines Erfolgs.

Meynster eilte den Korridor Richtung Schleusenbereich entlang. Wie immer wirkte das Innere der KRAXN ein wenig unordentlich. Missmutig sah er ein paar leere Dosen herumliegen. »Von wegen durchfegen«, murmelte er.

Calm Janey, das dritte Besatzungsmitglied, hatte einen beinahe monströsen Appetit. Dass die zierliche Pilotin ihre Figur dennoch ohne Probleme hielt, nahm ihr Meynster ab und an übel. Hauptsächlich dann, wenn er selbst von der Waage stieg. Er war nicht übergewichtig, aber das verdankte er nur seiner Disziplin.

Die Überprüfung macht mich tatsächlich nervös, dachte er.

Dabei war die Zollkontrolle nichts Ungewöhnliches. Meynsters Abneigung gegen die Einschränkungen allerdings genauso wenig. Der in den Niederlanden geborene Kapitän galt als schwierig, die Kommandanten der Frachter grundsätzlich als vielfach dubios. Das hatten sie mit Olymps Freihändlern gemeinsam. Leise vor sich hin schimpfend, betrat Meynster das Schleusenareal. Der Zolltrupp bestand aus fünf Mann, die bereits ihre Kontrollgeräte aufbauten. Einer davon war auffällig fett.

Bloß keine Zeit verlieren, dachte Meynster. Umso schneller bin ich euch wieder los. Freu mich schon drauf.

»Kapitän Meynster«, sagte der Gruppenleiter laut. »Erlaubnis, an Bord zu kommen?«

Meynster grunzte. »Was soll die bescheuerte Frage? Wo sind Sie denn wohl? Aber damit Sie zufrieden sind: Erlaubnis erteilt.«

Der Gruppenleiter war ein farblos aussehender Mann, dessen einzige Auffälligkeit penetrant gelbes Haar war. Wahrscheinlich gefärbt. Die Frisur allerdings war wieder genauso langweilig wie der Rest.

Ein Bürokrat, wie er im Buche steht, na klasse, dachte Meynster und machte gute Miene zum bösen Spiel. »Sie haben bereits angefangen, wie ich sehe.«

»Die Messungen laufen, ja«, bestätigte der Gelbhaarige, auf dessen Namensschild »Cedric« stand.

»Nun, Mister Cedric«, sagte Meynster. »Wann darf ich damit rechnen, weiterfliegen zu können? Sie wissen, dass die nächste Durchgangsphase bereits initialisiert wurde. Ich würde wirklich ungern bis zur übernächsten Aktivierung warten müssen. Meine Kunden übrigens noch viel weniger. Das dürfte Sie kaum überraschen.«

Cedric grinste. »Kann ich mir vorstellen. Sagen wir's mal so: Wenn wir nichts finden, sind Sie ganz schnell wieder auf der Strecke. Versprochen. Es sei denn ...« Er unterbrach sich und sah Meynster misstrauisch an. »... Sie hätten etwas Illegales an Bord.«

Meynster seufzte. Immer dasselbe Spiel. Ich hoffe nur, sie wollen nicht auch noch die Containersäule überprüfen. Ich bin sicher, meine Passagiere wären davon nicht begeistert.

Der fette Kerl näherte sich Meynster und Cedric. Da erst fiel Meynster die grünliche Hautfarbe des Manns auf.

Ein Imarter, dachte Meynster. Was tut der denn beim Sprungzoll?

Immerhin erklärte das die Fettleibigkeit des Manns. Imarter benötigten auf ihrer Heimatwelt Canopus IV einen optimalen Energieumsatz – dazu trugen die in die Epidermis der Kolonisten implementierten Chloroplasten bei. Die Gewöhnung an ihre dünne Atmosphäre führte bei vielen Imartern, die ihre Heimatwelt verließen, zu Adipositas. Den Effekt kannte man von Bewohnern der Erde, die im Hochgebirge lebten, etwa den Anden. Die Ausdauer der Imarter war dennoch legendär. In einer dichten Atmosphäre mit einem Überangebot an Sauerstoff waren diese Menschen nicht zu stoppen.

Der Dicke nuschelte etwas, was Meynster nicht verstand.

Cedric lächelte. »Er sagt, alles sei bisher in Ordnung. Allerdings laufen noch zwei weitere Testreihen. Das Hyper-D-Spektrum interessiert uns schließlich besonders, nicht wahr?«

Arschloch!, dachte Meynster. Als ob ich das nicht wüsste.

Es ging um die Drusen ... wie immer. Seit ihrer Entdeckung vor über 28 Jahren waren diese Hyperschwingkristalle zum gesuchten, weil seltenen Handelsgut geworden – und damit selbstverständlich gleichzeitig zum ertragreichen Schmuggelgut. Die Drusen kompensierten einen Großteil der Verluste, die mit der schwindenden Wirkung des Halatiums und seiner Verbindungen einherging. Seit vor 30 Jahren die Große Ruptur verschlossen worden war, sank die Effektivität des exotischen Stoffs immer weiter ab. Die Drusen waren ein willkommener Ersatz, auch wenn sie nicht ganz die Wertigkeit des Halatiums erreichten.

Drusenschmuggel war gang und gäbe, besonders auf den Routen ins Castorsystem. Olymp war eine Drehscheibe für diese Art von Geschäften, auch wenn der Kaiser von Olymp sein Möglichstes tat, illegale Aktivitäten in Grenzen zu halten. Ein aussichtsloses Unterfangen.

Wann hätte jemals die Bürokratie gegen Schmuggler gewonnen ... auf breiter Basis?, fragte Meynster sich still. Die Antwort kannte nicht nur er, auch Cedric war sich dessen bewusst.

Die Drusen waren schwer zu finden, wenn man sie unter einem Dämpfungsfeld verbarg. Die Schmugglerkartelle wussten ihr Kapital zu schützen. Erst wenn die Schwingquarze aktiviert wurden, emittierten sie einen typischen, unverwechselbaren Impuls. Der Geminga-Schrei war berühmt ... und berüchtigt. Frequenz und Amplituden entsprachen dem fünfdimensionalen Äquivalent der Gammasignatur jenes Pulsars, der ihm seinen Namen verliehen hatte.

Geminga stand in etwa 800 Lichtjahren Entfernung im Sternbild Zwillinge. Er galt als letzter Überrest einer ganzen Reihe von Supernovae, die vor langer Zeit die Lokale Blase geschaffen hatten. In ihr gab es nur wenig kosmische Materie – die Stoßfronten der Supernovae hatten sie förmlich weggeblasen. Warum die Drusen die typische Geminga-Emanation derart exakt reproduzierten, war unbekannt. Diese seltsamen Hyperschwingquarze waren ebenso rätselhaft wie selten.

Die Zolltrupps versuchten, Spuren zu finden. Das war schwierig, aber nicht unmöglich: Wenn man nicht die Strahlung der Drusen selbst fand, verriet sich stattdessen häufig das Dämpfungsfeld – wegen seines immensen Energieverbrauchs.

Das war Meynsters größte Sorge. Aber ihn beunruhigte noch etwas anderes: seine Passagiere. Deren Schiff war zwar mit einem extrem hochwertigen Spiegelfeld getarnt. Und die Zöllner setzten üblicherweise keine Massetaster ein, denn das half beim Aufspüren von geschmuggelten Drusen nicht weiter. Es war dennoch möglich, dass die Kontrolleure das zwischen den Containerstapeln versteckte Schiff bemerkten. Dann würde Meynster eine Erklärung liefern müssen. Die Aussicht gefiel ihm kein bisschen.

Der Imarter ging zu seinen Kollegen zurück.

»Sind Sie etwa nervös, Kapitän Meynster?«, fragte Cedric anzüglich.

»Das hätten Sie wohl gern«, erwiderte Meynster. »Wüsste nicht, warum. Ich habe allerdings einen Terminplan, den Sie mir hier genussvoll durcheinanderbringen. Danke schön übrigens.«

Mijnheer Elliots Kopf erschien vor ihm in der Luft. »Käpt'n, die Formationsphase wird gerade eingeläutet. So langsam wird's eng.«

Meynster fluchte, und Cedric machte einen Schritt rückwärts.

Meynster warf ihm einen bösen Blick zu. »Cedric, wenn Sie sich vielleicht ein kleines bisschen mehr beeilen könnten? Oder wollen Sie meine Konventionalstrafe zahlen, wenn ich bis zur nächsten Passage warten muss? Das sind ganze acht Stunden.«

Cedric schluckte tatsächlich. »Ich mache hier nur meine Arbeit.«

Meynster fixierte ihn. »Und die können Sie nur langsam machen, oder wie?«

Der Transferzöllner wusste selbstverständlich, dass diese Drohung gegenstandslos war. Eine hoheitliche Handlung, wie er sie vornahm, war völlig rechtmäßig und Schadenersatzklagen wären aussichtslos. Aber er wusste, dass Meynster unangenehm werden konnte. Offenbar war diese Aussicht Motivation genug.

»Wie sieht's aus?«, rief Cedric über die Schulter.

Der Imarter hob den Daumen. Meynster fiel ein Stein vom Herzen.

»Also gut, Kapitän«, sagte Cedric. »Wir haben keine Spuren entdeckt.«

»Sie hatten nichts anderes erwartet, hoffe ich?«, sagte Meynster knurrig.

»Nein, selbstverständlich nicht!«, beteuerte Cedric ein wenig zu schnell. »Ich wünsche guten Flug und erfolgreiche Geschäfte.« Er tippte etwas in sein Multifunktionsarmband ein. »Ich habe die Freigabe erteilt.«

»Machen Sie bloß, dass Sie wegkommen!«, murmelte Meynster und winkte dem Trupp zu, sich zu beeilen.