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Band 209

 

Der Krieg in meinem Kopf

 

Rüdiger Schäfer

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Prolog: Froser Metscho

1. Perry Rhodan

2. Perry Rhodan

3. Froser Metscho

4. Perry Rhodan

5. Froser Metscho

6. Perry Rhodan

7. Froser Metscho

8. Perry Rhodan

9. Froser Metscho

10. Perry Rhodan

11. Froser Metscho

12. Perry Rhodan

13. Froser Metscho

14. Froser Metscho

15. Froser Metscho

16. Froser Metscho

17. Perry Rhodan

18. Froser Metscho

19. Perry Rhodan

Epilog: Froser Metscho

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Fünfzig Jahre nachdem der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff entdeckt hat, ist eine neue Epoche der Menschheit angebrochen. Die Solare Union steuert den Aufbruch ins All. Die Menschen haben Kolonien bereits in fernen Sonnensystemen errichtet. Doch auf die terranischen Pioniere warten ungeahnte Herausforderungen und Gefahren.

Im Jahr 2089 erweist sich der Plophoser Iratio Hondro als unheimliche Bedrohung. Es gelingt ihm, das Capellasystem unter seine Kontrolle zu bringen. Aber zunehmend wird klar, dass die wahre Bedrohung für die Menschheit das geheimnisvolle Dunkelleben ist – es scheint Hondro seine Macht zu verleihen.

Daher wird es immer dringlicher, mehr über dieses Phänomen herauszufinden. Sogar Rhodan selbst wird mit Dunkelleben infiziert, was ihn früher oder später töten wird. Einer seiner Gegner kämpft währenddessen einen verzweifelten Kampf – in ihm tobt DER KRIEG IN MEINEM KOPF ...

Prolog

Froser Metscho

 

Es ist dunkel.

Als ich noch ein Kind war, hatte ich panische Angst vor der Dunkelheit. Mamãe musste immer die Tür zu meinem Zimmer einen großen Spalt weit auflassen, sonst hätte ich kein Auge zugetan.

Mittlerweile hat die Dunkelheit etwas Tröstendes. Manchmal kommt sie mir sogar wie eine Verheißung vor. Seit Marias Tod ... nein ... seit Marias Ermordung, hat die Finsternis ihre Schrecken verloren, denn schwärzer und trostloser kann meine Welt kaum noch werden.

Die Kabinenpositronik registriert, dass ich mich aufsetze, und regelt langsam das Licht hoch. Waschen, anziehen, die tägliche Vitaminkapsel mit einem halben Glas Wasser hinabspülen ... die übliche Routine. Das Frühstück lasse ich ausfallen. In den ersten Stunden nach dem Aufstehen kriege ich keinen Bissen herunter. Das war schon immer so.

Mein Multifunktionsarmband piept leise. Fünfzehn Minuten bis Schichtbeginn. In Terrania ist es gerade Viertel vor sechs Uhr morgens. In New Taylor auf Plophos ... ich muss kurz nachdenken ... vier Uhr nachmittags. Aufgrund des 25-stündigen Tages dort müssen die Uhren regelmäßig angeglichen werden. Wie für alle anderen Kolonien auch gibt es kein festes Umrechnungsverhältnis. Die meisten Welten haben längst eine zweite, parallel laufende Eigenzeit eingeführt. Auf dem Erdmond folgt man natürlich der Erdnorm.

Wie immer, wenn ich meine Kabine für eine neue Schicht verlasse, werfe ich einen letzten Blick auf Maria. Ihr Bild steht auf dem schmalen Tisch direkt gegenüber der Koje. Es war damals schwer gewesen, einen Rahmen für die altmodische Fotografie zu finden, vor allem auf Mimas. Dennoch habe ich es geschafft.

Das Bild hat mich nach Plophos begleitet. Und wieder zurück. Es stammt aus glücklichen Tagen, aus einer Zeit, in der ich noch glaubte, dass uns die Welt ... ach was, das Universum offenstünde. Mein Leben schien nichts als ein großes und aufregendes Abenteuer zu sein. Und dann ...

Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähle ihm von deinen Plänen.

Der Ausspruch stammte von dem französischen Mathematiker, Physiker und Philosophen Blaise Pascal. Während meines Ingenieurstudiums fand ich das Zitat noch originell und amüsant; inzwischen weiß ich, dass es schlicht die bittere Ironie des Lebens beschreibt.

Nichts ist zerbrechlicher als Glück.

Das Schott meiner Kabine schließt sich lautlos, und ich kann Marias lächelndes Gesicht nicht mehr sehen. Zumindest nicht mit den Augen. Ihr Bild in meinem Herzen, in meiner Erinnerung, ist dagegen so frisch wie am ersten Tag. Es verblasst niemals. Es gibt mir Kraft und quält mich zugleich.

Der Weg zu meiner Konsole im Technischen Entwicklungslabor XII ist nicht weit. Ich bin dort eins der vielen Rädchen im Getriebe. Ich leiste meinen Beitrag für das große Ganze.

Das soll übrigens nicht resigniert oder gar undankbar klingen. Im Gegenteil. Die Arbeit in den Tiefen der Lunar Research Area ist nicht nur fordernd, was für die nötige Ablenkung sorgt, sondern auch ausgesprochen interessant. In den vergangenen Monaten war ich Teil eines Teams aus Spezialisten, von denen jeder Einzelne eine Autorität auf seinem jeweiligen Fachgebiet ist. Und ich durfte an einem Projekt mitwirken, das den weiteren Weg der Menschheit zu den Sternen womöglich in historischem Ausmaß beeinflussen wird.

Im Labor treffe ich Juna. Sie hebt den rechten Arm und lächelt. Ich grüße knapp zurück und verstecke mich dann so schnell wie möglich hinter meiner Konsole. Rasch rufe ich einige Hologramme auf, baue eine virtuelle Mauer zwischen mir und der Außenwelt. Juna versteht die stumme Botschaft. Sie kommt nicht zu mir herüber, um ein Gespräch zu beginnen. Vielleicht hat sie aber auch einfach nur zu viel zu tun.

Juna Dasima Baharum ist die Chefingenieurin des Projekts. Ich mag sie und sie mich wohl auch. Dennoch halte ich Abstand. Ich bin verseucht. Infiziert. Ich trage etwas in mir, das auf andere überspringen und sie ebenso zerstören kann wie mich selbst. Diesem Risiko kann und will ich Juna nicht aussetzen. Sie hat Besseres verdient. Besseres als mich.

Die Simulationsreihe, die ich am vorangegangenen Morgen gestartet habe, ist beendet. Ich verbringe meine erste Arbeitsstunde damit, mir die Ergebnisse anzuschauen. Daten sichten, ordnen, interpretieren. Stück für Stück entsteht so der Forschungsbericht, den ich schließlich in das allgemein zugängliche Projektforum einstelle.

Währenddessen sind weitere Mitarbeiter im Labor eingetroffen. Durch die halb transparenten Projektionen hindurch erkenne ich Nadine Baya, eine Technikerin mit langen, schwarzen Locken. Unauffällig. Sie ist immer freundlich und wirkt stets ausgeglichen. Sie spricht kurz mit Juna und verschwindet wieder.

Die Zeit vergeht angenehm schnell. Das tut sie meistens. Die Arbeit im Projekt ist selten Routine. Jeden Tag werde ich mit Problemen konfrontiert, die wenige Stunden zuvor nicht vorauszusehen waren. So ist das, wenn man auf einem akademischen Feld arbeitet, für dass es noch nicht mal einen passenden Namen gibt. Quintadimphysik klingt irgendwie geschwollen, Halbraumüberlagerungsforschung zu kompliziert. Vielleicht brauchen wir auch gar keinen neuen Namen. Im Projekt arbeiten Experten fast aller denkbaren wissenschaftlichen Fachrichtungen zusammen. Letztlich zählt das Ergebnis, und nicht, wie man es nennt.

Das Mittagessen nehme ich in der großen Messe ein. Dort bin ich anonym. Ich suche keinen Kontakt. Außer den Mitgliedern meines Teams kenne ich kaum jemanden. Zumindest niemanden, dem ich mehr als ein belangloses Hallo oder ein beiläufiges Nicken schulde, wenn ich ihm begegne.

Ich bin nicht unhöflich. Ich vermeide soziale Interaktion nicht um jeden Preis, denn das würde auffallen. Ich bin lediglich ... still. Die allermeisten akzeptieren das irgendwann. Sie halten mich wahrscheinlich für einen komischen Kauz, einen Sonderling, zumindest für introvertiert, aber das ist mir egal. Ich wünschte nur, das alles wäre endlich vorbei.

Am späten Nachmittag plagen mich Kopfschmerzen. Viele haben ihre Schicht früher beendet. Sie wollen sich die Rede anhören, die Perry Rhodan am Abend vor der Vollversammlung der Terranischen Union hält. Die Gerüchte, dass es um das Projekt geht, dass die strenge Geheimhaltung endlich aufgehoben wird, machen seit ein paar Tagen die Runde.

Angeblich ist der Protektor krank. Es hat mit seinem Zellaktivator zu tun. Ich sehe mir die Infokanäle nur sporadisch an. Was um mich herum geschieht, nehme ich meistens ohnehin nur wie durch eine dicke Wand aus Watte wahr. Kiribati wird neues Vollmitglied der Terranischen Union. SOLitude organisiert eine Großkundgebung gegen die Pläne zur Errichtung weiterer Kolonien. Der Stardust Tower soll um zusätzliche hundert Meter in die Höhe wachsen. Und dann natürlich die allgegenwärtige Plophos-Krise. Ich lebe in stürmischen Zeiten, aber es interessiert mich nicht. Nicht ernsthaft.

Als die Kopfschmerzen schlimmer werden, melde ich mich ab. Juna mustert mich mit besorgten Blicken. Ich ringe mir ein Lächeln ab und versichere ihr, dass es mir gut geht. Ich sage ihr, dass ich bloß ein bisschen müde bin. Nachdem ich ihr versprochen habe, die Medoabteilung aufzusuchen, wenn es bis zur nächsten Schicht nicht besser wird, lässt sie mich in Ruhe.

Zurück in meiner Kabine, aktiviere ich dann doch die Holowand. Wenn Perry Rhodan etwas zu sagen hat, ist es wichtig. Schon Sekunden später bereue ich die Entscheidung, denn zurzeit kann man seinem Gesicht in den Trivid-Nachrichten nicht entkommen. Fast jede zweite Reportage, jeder Bericht, jeder Kommentar beschäftigt sich mit ihm.

Ich starre in seine überdimensionalen Züge und versuche, mir darüber klar zu werden, was ich tun soll. Was ich tun kann. Er ist Lichtjahre von mir entfernt, und doch dreht sich fast jeder meiner Gedanken um ihn.

Iratio Hondro.

Einst mein bester Freund.

Nun mein schlimmster Albtraum.

Den Krieg in meinem Kopf führe ich gegen ihn – und gegen mich selbst. Ich weiß, dass ich nicht gewinnen kann. Aber ebenso wenig kann ich aufhören zu kämpfen.

1.

Perry Rhodan

 

Thora reichte ihm einen Becher, und Perry Rhodan nickte seiner Frau dankbar zu. Das Wasser war kühl und mit ein wenig Kohlensäure versetzt – exakt so, wie er es am liebsten mochte.

»Wo sind deine Notizen?«, fragte die Arkonidin.

»Die habe ich gelöscht«, gab er zurück. »Ich werde frei sprechen.« Er nestelte am Kragen seiner weinroten Protektorenuniform.

»Du wirkst nervös. Geht es dir gut?«

»Ich bin nicht nervöser als sonst. Und hör bitte wenigstens du auf, dich alle fünf Minuten nach meinem Befinden zu erkundigen. Das tun schon alle anderen.«

»Sie machen sich Sorgen um dich.« Thora lehnte sich auf dem breiten Sofa zurück, auf dem sie Platz genommen hatte.

»Das weiß ich.« Rhodan schüttelte den Kopf. »Aber es geht mir trotzdem gewaltig auf die Nerven.«

Das Holo, das die gesamte Rückwand des Raums einnahm, zeigte den Plenarsaal der Union Hall. Das Sitzungs- und Verwaltungsgebäude der Terranischen Union war der mit Abstand größte Bau im Government Garden, jener grünen Oase am Südrand Terranias, die so gut wie alle Ressorts und Administrationen der Terranischen Union beherbergte – inklusive der Botschaften sämtlicher knapp zweihundert derzeit auf der Erde existierenden souveränen Staaten.

Die Ränge der Vollversammlung waren lückenlos besetzt. Neben den vierundzwanzig Koordinatoren des Unionsrats und den sechzehn Kommissaren der Solaren Union waren auch die Vertreter der gut hundert Voll- und etwa fünfzig assoziierten Unionsmitglieder anwesend. Den Vorsitz führte wie immer Administratorin Stella Michelsen.

»Das dauert mindestens noch eine halbe Stunde«, sagte Thora. »Wenn dein Freund Ngata ums Wort bittet, können es auch zwei werden. Stella kann dem alten Griesgram nichts abschlagen, selbst wenn es hundertmal gegen die Geschäftsordnung verstößt.«

»Ich weiß«, äußerte Rhodan.

»Warum setzt du dich dann nicht zu mir?«

Für einen Moment schien der Protektor zu zögern, dann stieß er ein kurzes Lachen aus. Mit wenigen Schritten durchquerte er den Raum und ließ sich neben seiner Frau auf das Sofa fallen. Thora packte zu, drehte ihn halb herum und begann, mit kräftigen Fingern seinen Nacken zu massieren.

Rhodan schloss die Augen, gab ein wohliges Seufzen von sich. Zwei Minuten später meldete die Raumpositronik einen Besucher.

»Komm rein!«, rief Rhodan laut.

Die Positronik verstand die Aufforderung und öffnete die Tür.

»Störe ich?« Reginald Bull hatte sein breitestes Grinsen aufgesetzt. Auch er trug Uniform. Das Abzeichen des Systemadmirals glänzte silbern auf seiner Brust.

»Willst du die ehrliche oder die höfliche Antwort?«, fragte Rhodan zurück und erhob sich, um den Freund kurz, aber herzlich zu umarmen.

Thora tat es ihm nach.

»Sorry, dass ich so spät bin«, sagte Bull. »Aber erst hat mich der Admiralstab aufgehalten, und dann wollten mich Laura und Sophie dringend sprechen.«

»Wie geht es meinen Patenkindern?«

»Gut. Es tut ihnen leid, dass sie nicht persönlich kommen können«, antwortete Bull. »Aber wenn wir in ein paar Tagen starten wollen, sind noch tausend Dinge zu erledigen.«

»Erst brauchen wir die Genehmigung durch den Rat und die Vollversammlung«, erinnerte Rhodan ihn.

»Na und?« Bull zuckte die Achseln. »Glaubst du etwa, sie werden sie dir verweigern? Nach allem, was die Menschheit und die Terranische Union dir verdankt? Komm schon, Perry. Das wäre absurd!«

Rhodan lächelte. »Die FANTASY ist noch rund ein Jahr von ihrer regulären Indienststellung entfernt, Reg«, sagte er dann. »Und sie verfügt weder über die Ausstattung noch über das nötige Personal für eine Expedition in unbekanntes Gebiet. Sie ist ein Experimentalraumer, ein Testschiff.«

»Ich wiederhole mich: Na und?« Der Systemadmiral wirkte plötzlich ungehalten. »Wie oft sind wir schon mit einer besseren Nussschale direkt in die Höhle des Löwen geflogen und haben unsere Köpfe hingehalten? Da draußen mag es eine Menge Erzkonservative und politische Querköpfe geben ...« Er zeigte auf die Holowand, wo Stella Michelsen soeben ihre überraschend kurze Eröffnungsrede beendete, »... aber keiner von ihnen ist so dumm, dass er nicht um deine Bedeutung für die Terranische Union weiß oder die Leistungen, die du für die Menschen erbracht hast, nicht anerkennt.«

Rhodan hatte ihn geduldig ausreden lassen. Nun trat er an Bull heran und fasste ihn an den Schultern. »Was du da sagst, ist alles richtig und falsch zugleich, mein Freund. Der Rat und jedes seiner Mitglieder ist allerdings weder dir noch mir oder irgendeiner anderen Person verpflichtet. Seine Entscheidungen orientieren sich allein an den Interessen aller Menschen. Unsere Leistungen, die Opfer, die wir gebracht haben, spielen dabei nicht die geringste Rolle. So wollten wir es von Anfang an haben, erinnerst du dich? Keine Vetternwirtschaft. Keine Seilschaften. Keine Parteidisziplin. Keine Gefallen oder Vergünstigungen aufgrund von Herkunft oder Stellung. Wir wollten, dass die Menschheit erwachsen wird. Vielleicht ist heute der Tag, an dem genau das geschieht.«

Bull schnaubte wütend. »Du und deine verdammte Sprücheklopferei!«, stieß er hervor. »Das wirkt nicht bei mir. Spar dir das für die Meute im Plenarsaal auf. Du wirst jetzt da rausgehen und die verdammt noch mal beste Rede deines Lebens halten. Und wenn sie dich danach nicht auf den Schultern zur FANTASY tragen und am liebsten gleich noch mitfliegen wollen, trinke ich freiwillig einen Liter von Guckys ungenießbarem Karottenlikör.«

Rhodan lachte und boxte dem Freund spielerisch gegen die Brust. »Ja«, sagte er. »Das werden sie bestimmt tun. Ich habe schließlich auch eine Arkonidin rumgekriegt, die meine intellektuellen Fähigkeiten einst nur geringfügig oberhalb dem geistigen Potenzial einer gemeinen Stubenfliege verortet hat.«

»Das stimmt«, bestätigte Thora trocken aus dem Hintergrund. »Übrigens eine Einschätzung, die ich bis zum heutigen Tag nie offiziell revidiert habe.«

»Ich glaube, ich bin dran«, wechselte Rhodan das Thema und deutete auf die Holowand.

Michelsen war fertig. Die eingeblendete Tagesordnung wies eine zehnminütige Sitzungspause aus, während der die Mitglieder der Vollversammlung ihren diversen Verrichtungen nachgehen konnten. Nur wenige verließen den Saal. Eine Textzeile am unteren Bildrand kündigte als nächsten Redner Protektor Perry Rhodan an.

Rechts und links des großen Hauptbilds schwebte eine Reihe weiterer Holos, die andere Perspektiven zeigten. Die Rednertribüne wurde – obwohl noch nicht besetzt – von einem Schwarm Kameradrohnen umschwirrt. Fast konnte man den Eindruck gewinnen, dass die nur fingernagelgroßen Objekte um die besten Plätze kämpften.

Stella Michelsen hatte sich auf die schmale Empore begeben, auf der die TU-Koordinatoren und SU-Kommissare saßen. Rhodan erkannte eine Reihe von bekannten, aber auch viele unbekannte Gesichter. Die letzte Unionswahl lag erst wenige Wochen zurück. Eine Reihe von Positionen waren neu besetzt worden, und auch die Ernennung des Protektors für die nächsten fünf Jahre stand in gut zwei Monaten wieder einmal bevor.

Der Türmelder machte sich erneut bemerkbar. Diesmal war es einer der im Ratsgebäude allgegenwärtigen Schweberoboter, eiförmige, knapp vierzig Zentimeter durchmessende Gebilde, die man allgemein als Unionbots bezeichnete.

»Sie werden im Plenarsaal erwartet, Protektor Rhodan«, drang eine sanfte, weibliche Stimme aus den Akustikfeldern der Maschine. »Darf ich Ihnen den Weg zeigen, Sir?«

»Gern«, sagte Perry Rhodan, obwohl er die kurze Strecke zum Rednerpult auch allein und mit geschlossenen Augen hätte gehen können.

»Viel Glück«, wünschte Reginald Bull. »Auch wenn du es nicht brauchst.«

Thora verabschiedete ihn nicht mit Worten, sondern mit einem Kuss. Rhodan schloss die Augen, genoss für einen viel zu kurzen Augenblick den Duft ihres Parfüms und den Geschmack ihrer Lippen auf den seinen.

Dann war der kleine Abstecher ins Paradies wieder vorbei. Was nun kam, war die harte Realität.

2.

Perry Rhodan

 

Stella Michelsen begrüßte ihn bereits im großzügig angelegten Empfangsbereich, einem in diversen Grün- und Blautönen gehaltenen Areal, das sich unmittelbar an die für die Koordinatoren und Kommissare reservierte Zone anschloss. Der Boden war mit grauem Teppich belegt, der die Schritte dämpfte. In Abständen von mindestens zehn Metern hatte man Oasen aus Palmbäumen und künstlichen Wasserläufen errichtet, um die sich bequeme Sessel gruppierten. Dort konnten sich die Rats- und Versammlungsmitglieder bei Bedarf zu kleineren Zirkeln zusammenfinden und konferieren. Diverse Unionbots glitten lautlos hin und her, reichten Getränke und Obststücke, entsorgten Abfälle, überbrachten Nachrichten oder standen für Auskünfte jeder Art zur Verfügung.

Ein paar der Anwesenden bemerkten Perry Rhodan, hielten jedoch Abstand, als sie sahen, dass er mit ausgestreckten Händen auf Michelsen zueilte.

»Stella«, sagte der Protektor. »Es ist viel zu lange her.« Sie schüttelten sich die Hände. Ein kaum vernehmliches Knurren, das von unten kam, ließ Rhodan das Gesicht verziehen.

»Sie haben ihn also immer noch«, fügte er hinzu. Er trat einen Schritt zurück und richtete seinen Blick auf das gut kopfgroße Etwas, das zwischen den Füßen der Administratorin hervorlugte und dessen optische Erscheinung sich irgendwo zwischen Chihuahua und Dackel bewegte. Diamond, der Roboterhund der TU-Administratorin, war in den vergangenen Jahren wohl ebenso berühmt geworden wie die Unionschefin selbst. Die in vielen Belangen einmalige Konstruktion begleitete die Politikerin praktisch auf Schritt und Tritt.

»Selbstverständlich. Warum sollte ich ihn nicht mehr haben?« Michelsen lächelte. Diamond hingegen fletschte die Zähne und bellte zweimal laut und vernehmlich.

»Aus!«, rief Michelsen streng, woraufhin Diamond zwei weitere Male bellte und sich dann wieder darauf beschränkte, drohend Rhodan anzuknurren.

»Sie schüchtern ihn immer noch ein, Perry.« Die Administratorin nahm Rhodan am Arm und zog ihn in Richtung des großen Rundbogens, der über einen kurzen Korridor direkt auf die Bühne des Plenarsaals hinausführte. »Sie sollten sich einmal ernsthaft mit ihm beschäftigen. Ihm zeigen, dass Sie Freundschaft schließen wollen.«

Rhodan seufzte innerlich. Er verzichtete darauf, Michelsen zum wiederholten Mal klarzumachen, dass er sich ganz sicher nicht vor laufenden Holokameras mit einem Roboterhund abgeben würde, nur um mit ihm Freundschaft zu schließen. Dass Diamond ihn offenbar nicht leiden konnte, war schließlich mit einer winzigen Änderung seiner Programmierung zu beheben, doch darauf brauchte er die Administratorin gar nicht erst anzusprechen.

Mein Diamond ist keine Maschine, die man einfach an- und abschaltet, pflegte sie zu sagen. Er hat seine eigene Persönlichkeit, und wer ihn respektiert, den respektiert auch er.

Als Rhodan den Versammlungssaal mit Michelsen betrat, reduzierte sich der allgemeine Geräuschpegel sofort. Einige Hundert Augenpaare richteten sich auf ihn. Gleichzeitig erschien sein Gesicht in Großaufnahme auf der Holowand, die sich über die komplette Länge der Tribüne spannte und die im Halbkreis angeordneten Sitzreihen des Auditoriums überragte.

Da und dort klang verhaltener Applaus auf. Einige der Abgeordneten in den vorderen Reihen nickten Rhodan zu oder hoben grüßend die Hand. Da die Zeit bereits fortgeschritten war, verzichtete der Protektor darauf, von der Bühne in den Saal zu gehen und ein paar der ihm bekannten Frauen und Männer persönlich zu begrüßen. Dafür war auch nach seiner Ansprache noch Gelegenheit.

Michelsen begleitete ihn bis zum Rednerpult. Diamond war plötzlich verschwunden. Wahrscheinlich war er so programmiert, dass er sich zurückzog, sobald die Administratorin in ihrer offiziellen Rolle aktiv wurde.

»Ich darf alle Anwesenden bitten, die Plätze einzunehmen«, sagte Michelsen. Ihre Stimme wurde automatisch bis in den letzten Winkel des Saals übertragen. »Perry Rhodan, Protektor der Terranischen Union, wird in wenigen Augenblicken zu uns sprechen.«

Sie schüttelten erneut die Hände, diesmal hauptsächlich für die allgegenwärtigen Kameras. Die meisten Sitzungen der Vollversammlung waren öffentlich und wurden frei empfangbar über zahlreiche Medien verbreitet. Die Terranische Union hatte in den vergangenen Jahrzehnten erhebliche Mittel investiert, um praktisch jedem Bewohner der Erde den Zugang zum sogenannten Human Community Mesh, kurz Mesh genannt, zu ermöglichen. Das positronische Netzwerk, das über Hyperfunkrelaisketten auch die Kolonien mit der Heimat verband, war bei der Einführung ein heiß diskutiertes Politikum gewesen. Vor allem die Tatsache, dass es sich nur mit erheblichem technischen Aufwand aussperren ließ, war bei einigen Regierungen – insbesondere im Chinesischen Block – auf erheblichen Unmut gestoßen.

Zu Rhodans Zufriedenheit hatte die Terranische Union damals jedoch allen Drohgebärden und politischen Interventionen getrotzt und war in der Sache unnachgiebig geblieben. Die Nutzung des Human Community Mesh, so die Argumentation des Rats, war kostenlos. Man benötigte lediglich ein geeignetes Endgerät; schon ein simpler Empfänger elektromagnetischer Impulse genügte. Ob das Angebot in Anspruch genommen wurde, oblag der freien Entscheidung des Einzelnen – und über dieses Prinzip, das unter anderem unverbrüchlich in der TU-Verfassung verankert war, verhandelte die Terranische Union grundsätzlich nicht. Mit anderen Worten: Ein Staat, der seinen Bürgen den Zugang zum Mesh verwehren wollte, konnte das zwar versuchen, hatte dabei aber keinerlei Hilfe von der Terranischen Union erwarten.

Rhodan ließ den Blick ein letztes Mal über die Reihen der im Plenum Versammelten schweifen. Da saßen sie alle nebeneinander: die Vertreter sämtlicher Kulturkreise, Hautfarben, Kontinente und Glaubensrichtungen. Nie zuvor in der wechselvollen Geschichte der Menschheit waren die Bewohner dieses Planeten so eng zusammengerückt, nie zuvor hatten sie ihre Differenzen, die bei näherem Hinsehen viel zu oft kleinlich und egoistisch waren, zur Seite geschoben, um bei der Lösung der tatsächlich existenziellen Probleme zusammenzuarbeiten.

Es hat verdammt lange gedauert, dachte Rhodan nicht ohne Stolz. Und auch wenn wir noch immer am Anfang eines langen Wegs stehen: Wir werden ihn weitergehen, egal was passiert!

»Ich weiß, dass Sie alle sich in diesen Tagen nicht über einen Mangel an Arbeit beklagen können«, begann er zu sprechen. Auf eine Begrüßungsformel verzichtete er. »Deshalb freut es mich umso mehr, dass Sie es heute einrichten konnten, und ich möchte mich für Ihr zahlreiches Erscheinen bedanken.«

Rhodan wandte kurz den Kopf und sah zur rechten Seite der Tribüne hinüber. Dort hatten Maui John Ngata und Reginald Bull Platz genommen. Hinter ihnen befand sich die kleine Erhöhung für Staats- und Ehrengäste. Thoras weiße Uniform mit dem Emblem der Terranischen Flotte war nicht zu übersehen. Normalerweise verzichtete die Arkonidin darauf, sich vor der Vollversammlung derart exponiert in Szene zu setzen. Doch an diesem Tag wollte sie ihm und der Welt zeigen, dass sie ihn vorbehaltlos unterstützte. Kein Wunder also, dass auch sie von einer Wolke aus Pressedrohnen umgeben war.

»Sie kennen die Berichte der Ereignisse aus den vergangenen Tagen und Wochen«, fuhr Rhodan fort. »Die Bedrohung, die von Iratio Hondro und der von ihm beherrschten Capellakolonie ausgeht, hat Ausmaße angenommen, die niemand von uns mehr ignorieren kann.«

Zustimmende Zwischenrufe, vereinzelt auch ein missbilligendes Kopfschütteln. Rhodan hob kurz die Arme und wartete, bis sich die meisten der Zuhörer wieder beruhigt hatten.

»Ich will Ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen«, sagte er dann. »Was ich Ihnen mitzuteilen habe, lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen. Nach drei Jahrzehnten relativer Ruhe und einer beeindruckenden Phase der Prosperität stehen wir nun vor einer Entwicklung, die sich als ein Wendepunkt in vielerlei Hinsicht herausstellen könnte. – Sie kennen mich hoffentlich gut genug, um zu wissen, dass ich nicht dazu neige, die Dinge im Übermaß zu dramatisieren. Mir ist durchaus bewusst, dass es unter den Mitgliedern dieses hohen Hauses Stimmen gibt, die den Anstrengungen der Terranischen Union, allen Menschen der Erde zu dienen, noch immer mit Argwohn und Skepsis begegnen. Die Verantwortlichen, allen voran Administratorin Michelsen und ihre Koordinatoren und Kommissare, werden diesen Zweifeln und Befürchtungen auch weiterhin mit Offenheit, Transparenz und dem festen Willen zu konstruktivem Dialog gegenübertreten.«

Diesmal war der Applaus deutlich kräftiger. Aus den Augenwinkeln beobachtete Rhodan, wie Präsident Ngata bedächtig nickte und sich wie immer mit beiden Händen auf seinen schweren Gehstock stützte, dessen Knauf aus einem ausgebrannten Geminga-Schwingquarz bestand.

Rhodan erlaubte sich ein knappes Lächeln. Dann trat er hinter dem Rednerpult hervor und machte zwei Schritte auf die Versammelten zu. Der Schwarm der Kameradrohnen folgte ihm.

»Ich bin kein guter Politiker!«, rief Rhodan. »Das war ich nie, und das werde ich niemals sein.« Den vereinzelten Rufen der Zustimmung setzte er ein breites Grinsen entgegen. »Und wie Sie hören können, stehe ich mit dieser Meinung nicht allein da.«

Gelächter und erneut Applaus.

»Und weil ich kein guter Politiker bin, sage ich oft, was ich denke. Hin und wieder vielleicht zu oft. – Vor über fünfzig Jahren ist etwas geschehen, das mein Leben für immer verändert hat. Ich habe auf dem Mond die Vertreter einer Zivilisation kennengelernt, die nicht auf der Erde entstanden ist. Einer Zivilisation, die über unvorstellbare Zeiträume und gewaltige Entfernungen hinweg ein riesiges Sternenreich errichtet hat. Angesichts der Erfahrungen, die wir mit den Arkoniden gemacht haben, werden mir viele von Ihnen mit einiger Berechtigung widersprechen, wenn ich das Große Imperium als ein Beispiel für Gemeinschaftssinn, Toleranz und Zusammenhalt bezeichne. Doch vergessen Sie bei allen Vorbehalten eins nicht: Die Arkoniden haben die Milchstraße bereits mit ihren Raumschiffen erforscht, als wir Menschen noch in Höhlen lebten.«

Rhodan ging drei weitere Schritte in Richtung seiner Zuhörer. Langsam drehte er den Kopf von links nach rechts, schien jedem Delegierten direkt in die Augen blicken zu wollen.