cover
BERNHARD GÖRG - DÜRNSTEINER PUPPENTANZ - Ein Wachau-Krimi - edition a

Freitag, 16. April 16 Uhr 18

Kapitän Leutgeb blickte zuerst voll Stolz auf die vier goldenen Streifen auf dem linken Ärmel seiner dunkelblauen Uniformjacke und dann voll Ungeduld auf seine Uhr. Siebzehn Minuten Verspätung. Und noch immer eine mindestens dreißig Meter lange Menschenschlange an der Spitzer Anlegestelle. Würde wohl noch eine Weile dauern, bis sein Schiff endlich ablegen konnte. Dabei war ihm Unpünktlichkeit schon seit seiner Kindheit ein Gräuel.

Schon in Melk hatte seine MS Wachau bei der Abfahrt vierzehn Minuten Verspätung gehabt. Weil die meisten Passagiere, bevor sie an Bord gingen, noch schnell ein Foto der Benediktinerabtei machen wollten. In Dürnstein würde die Verspätung sicher weiter zunehmen. Die Schlange an Touristen würde dort mindestens dreimal so lang sein wie hier in Spitz.

Er fuhr seit sechsundzwanzig Jahren im Dienst der DDSG Blue Danube auf der Donau. Die letzten zehn Jahre davon zwischen Krems und Melk. Seit sieben Jahren als Kapitän. Zu seiner Zeit als Lehrling vor einem Vierteljahrhundert hatte das Unternehmen froh sein müssen, seine Dampfer wenigstens in der Hochsaison halbvoll zu bekommen. Jetzt waren die Schiffe schon im April ausgebucht. Außer bei schlechter Witterung. Heute herrschte Postkartenwetter. An einem für den Frühling typischen blassblauen Himmel nur eine einzige kleine Wolke und ein einsames, einen Kondensstreifen hinter sich herziehendes Flugzeug, das direkt in die über dem Horizont stehende Sonne zu fliegen schien. Kein Wunder, dass sich die Menschen auf dem Sonnendeck drängten. Er konnte auch sehen, dass viele von ihnen ihre Kameras oder Smartphones griffbereit hielten.

Endlich signalisierte ihm ein Mitglied der Crew mit Handzeichen, dass die MS Wachau bereit zum Ablegen war. Die beiden Dieselmotoren sorgten für ein leichtes Zittern des Schiffs. Er brauchte weniger als eine Minute, um es mit dem Joy Stick in die für ihn vorgesehene Fahrtrinne zu navigieren. Ihm wäre ja das Manövrieren des Schiffes mit dem Steuerrad, wie er es von früher kannte, lieber gewesen. Aber das durfte er nur mehr verwenden, wenn die elektronische Steuerung ausfiel.

Im Rückspiegel seines Steuerstands beobachtete er die teils offenen, teils versteckt ausgetragenen Rangeleien um die besten Aussichtspositionen auf dem Sonnendeck. Dabei hatte er schon des Öfteren Handgreiflichkeiten erlebt. Aber heute schien alles friedlich abzulaufen. Es erheiterte ihn immer wieder, dass unter den Fotografen die Männer bei weitem in der Überzahl waren, während sich die Mehrzahl der Damen darauf konzentrierte, ihre Gesichter in die Sonne zu halten.

Auf weniger als hundert Strommeter genau konnte er den Punkt vor der Ruine Aggstein voraussagen, an dem wie auf Kommando das Klicken der Kameras einsetzte. Er kannte natürlich auch die Stelle kurz nach Weißenkirchen ganz genau, an der sich die Fotografen für die beiden Highlights der Fahrt in Stellung brachten: Für die Ruine der Burg Dürnstein, die vor vielen Jahrhunderten dem englischen König Richard Löwenherz gegen dessen Willen Kost und Quartier geboten hatte, und für die barocke Stiftskirche, die unterhalb der Ruine, aber noch immer hoch über dem Strom lag. Gleich würden sich die Gesichter der Damen von der Nachmittagssonne ab- und Dürnstein zuwenden. Er erinnerte sich, dass es noch vor fünfundzwanzig Jahren an Bord jedes Mal heiße Diskussionen über die Farbe des Kirchturms gegeben hatte. Mit den Jahren waren diese Diskussionen immer lauwärmer geworden. Heute löste das Hellblau des Turms überhaupt keine Debatte mehr aus.

Auf der Höhe von Weißenkirchen sah er von seinem Kommandostand, wie sich auf einmal mehrere Passagiere, die auf der Backbord-Seite des Oberdecks saßen oder standen, über die Reling beugten. Auch ein Mitglied seiner Crew. Sofort übertrug er dem Steuermann das Kommando, verließ seinen Posten und rief zu dem Matrosen hinunter: »Was ist denn los?«

»Kann ich nicht genau sagen«, antwortete der Mann. »Hat wie eine Vogelscheuche oder so etwas Ähnliches ausgesehen.«

»Entfernung?«

»Knapp zehn Meter.«

Ein Passagier, der gerade dabei war, ein Foto zu machen, rief dazwischen:

»Mit einem dunklen Gewand. Aber wegen der Wellen schwer zu erkennen. Ist schon wieder weg.«

Mit dieser Auskunft war der Kapitän noch nicht zufrieden.

»Sicher kein Mensch?«

»Dann müsste er tiefgefroren sein«, antwortete der Fotograf. »Weil sich das Ding ganz steif genau im Rhythmus der Wellen bewegt hat.«

Der Matrose und einige Passagiere nickten.

Der Kapitän betrat wieder den Steuerstand und machte eine Eintragung ins Bordbuch. Er wusste aus langjähriger Erfahrung, dass die Leute alles Mögliche ins Wasser warfen. Es wurde immer schlimmer. Null Verantwortungsgefühl für die Umwelt. Allerdings kein Grund, die Strompolizei zu alarmieren oder gar die Geschwindigkeit zu drosseln, um zu warten, bis der Gegenstand wieder in Sichtweite kam. Er wollte keine weitere Verspätung riskieren.

Freitag, 16. April 16 Uhr 30

Nach sechs Jahren sah ihr am Weinberg gelegenes Haus richtig heimelig verwachsen aus. Weinreben, die sich am warmen, rötlichen Holz des Balkons und über die grobe weiße Fassade entlangschlängelten. Modern und rustikal zugleich. Auf dieses Schmuckstück war sie stolz. Ihr Klaus hatte es vor sechs Jahren gekauft. Um Umbau und Einrichtung hatte sie sich gekümmert. Geld verdiente Klaus als Seniorpartner einer großen Wiener Anwaltskanzlei genug. Daher hatte sie sich hier verwirklichen können. Alles vom Feinsten. Aber dezent, alles andere als überladen, denn Protz war ihr zuwider. Seit Abschluss der Umbauarbeiten hatte sie fast jedes Wochenende hier verbracht. Die Namen Klaus und Theresa Strasser hatte sie selbst in das Türschild geschnitzt. Dass am Hang gegenüber, genau im Zentrum des Blickfeldes, der Spitzer Friedhof lag, betrachtete sie nur als kleinen Nachteil. Durch die ansonsten prachtvolle Aussicht auf die Ruine Hinterhaus, den Tausendeimerberg und die Donau wurde dieser Nachteil mehr als wettgemacht. Ein einmaliges Panorama.

Sie hätte heute natürlich auch gleich hier in Spitz einkaufen können. Seit dem Kauf des Wochenendhauses war sie immer darauf bedacht gewesen, sich als loyale Ortsbewohnerin zu zeigen und in den wenigen Geschäften, die es in dem kleinen Ort noch gab, gutes Geld zu lassen. Aber der Freitag Nachmittag gehörte immer der Fahrt nach Krems. Mit einer Entfernung von knapp zwanzig Kilometern ja nur ein Katzensprung. Zum Markt auf dem Dreifaltigkeitsplatz. Denn dort gab es die schönsten Blumen. Also setzte sie sich ans Steuer ihres Einkaufswagens, wie Klaus ihr geräumiges Elektroauto abfällig zu nennen pflegte. Er hätte ihr am liebsten ein repräsentativeres und schnelleres Auto geschenkt. Aber das lehnte sie der Umwelt zuliebe ab.

Als gebürtige Wienerin, die sich immer als reine Großstadtpflanze betrachtet hatte, war sie erstaunt, wie sehr ihr das dörfliche Leben in der Wachau ans Herz gewachsen war. Sogar mehr als Klaus, obwohl der keine fünf Kilometer von Spitz entfernt geboren war. Aber er war ja schon im Alter von acht Jahren mit seinen Eltern nach Wien übersiedelt. Anfangs waren auch noch ihre beiden Kinder regelmäßig nach Spitz mitgekommen. Aber mit der Zeit waren deren Besuche immer seltener geworden. Katja war gleich nach der Matura aus dem Elternhaus ausgezogen. Der jetzt neunzehnjährige Mathias lebte zwar noch bei ihnen, aber an den Wochenenden zog auch er es immer öfter vor, in Wien zu bleiben.

Morgen würden aber beide kommen. Weil eine große Feier anlässlich der Wahl zum Vizepräsidenten der Wiener Rechtsanwaltskammer und des gleichzeitigen fünfundvierzigsten Geburtstags des Vaters anstand. Die offizielle Feier mit Kanzleipartnern, wichtigen Klienten und Vertretern der Anwaltskammer hatte schon vor einer Woche in einem Wiener Nobelhotel stattgefunden. Für morgen waren die privaten Freunde eingeladen. Eine kleine Runde. Zwanzig Gäste. Mehr hatten im Wochenendhaus beim besten Willen keinen Platz.

Klaus hätte lieber einen der umliegenden Heurigen gemietet, lieber mehr Menschen eingeladen. Vor allem solche, die seinen Aufstieg zum Präsidenten der Anwaltskammer fördern konnten. Aber sie hatte sich durchgesetzt. Sie wollte das Fest lieber intim halten. Mit dem Argument »Qualität vor Quantität« hatte sie ihn schließlich überzeugt.

Außerdem hätte sie ihre liebe Not gehabt, allzu viele von fern anreisende Gäste in den Hotels der Umgebung unterzubringen. Obwohl es erst Mitte April war, war es gar nicht leicht gewesen, Zimmer für die wenigen Geburtstagsgäste, die über Nacht bleiben wollten, zu reservieren. Dass fast alles ausgebucht war, war dem Höhepunkt der Wachauer Marillenblüte geschuldet. Die hatte heuer eine gute Woche später als in den Vorjahren eingesetzt. Der Weg nach Krems war gesäumt von diesen vergleichsweise unscheinbaren Obstbäumen, die nur für knappe zwei Wochen mit ihrer Pracht auftrumpften. Weiße Blüten, die aus kräftig rosafarbenen Knospen herauswuchsen und lange gelbe Stempel ausbildeten. Da hatte die Natur barock gespielt. In den letzten Jahren war die Wachauer Marillenblüte ein ähnlich großer Touristenmagnet geworden wie die Narzissenblüte im Ausseerland. Sollte sie den Blumenschmuck mit Marillenbaumzweigen ergänzen? Nein. Den Freunden des Geburtstagskindes würde diese Blüte ohnehin auf dem Silbertablett serviert, weil sie von der Terrasse des Wochenendhauses einen Traumblick auf ein Meer von blühenden Marillenbäumen hatten.

Ihr Wagen surrte leise dahin. Was für ein herrlicher Nachmittag. Sie hatte Klaus überreden wollen, mit ihr gemeinsam nach Krems zu fahren. Vergeblich. Dabei hatte sie sich wirklich ins Zeug gelegt, ihm sehr bildhaft beschrieben, wie schön die Fahrt durch die Wachau im Licht der tiefstehenden Sonne sein würde. Auf der einen Seite die glitzernde Donau, auf der anderen Seite die mit erstem Grün noch zaghaft überzogenen Weinberge, die alten Orte, in die nach dem langen Winter das Leben zurückkehrte, dazu überall Marillenbäume, barocke Blüten in orangem Licht. Zum Abschluss dann vorbei an den pastellfarbenen Fassaden von Stein. Sehr warm für Mitte April war es obendrein. Was konnte es Schöneres geben?

Als sie schließlich bei der Einfahrt nach Krems zur großen Tankstelle kam, musste sie seufzen: Warum konnte man die hässlichen Dinge nicht unter die Erde verlegen?

Kurz vor dem Dreifaltigkeitsplatz fand sie einen Parkplatz. Zwei Minuten später stand sie in der Mitte des Marktes neben dem ungewöhnlichen Pestdenkmal, dessen drei weiße Säulen die heilige Dreifaltigkeit symbolisierten. Dass es schon späterer Nachmittag war, war unverkennbar. Die Bauern aus der Umgebung, die hier frische Ware zumeist aus eigenem Anbau feilboten, hatten an diesem schönen Tag bereits ein gutes Geschäft gemacht. Die Holzkisten, die wohl in der Früh noch voller Kartoffeln, Karotten, Äpfel, und allerlei Gemüse gewesen waren, waren weitgehend leer. Aber frische Blumen gab es noch in Hülle und Fülle. Sie ließ den Blick über diese Farbenfreude schweifen.

Da erspähte sie jemanden, der ihr aus Richtung Landstraße entgegenkam, den sie seit bald fünfundzwanzig Jahren kannte: Roman Gröger. Wahrscheinlich der älteste Freund ihres Mannes. Ebenfalls Anwalt und selbstverständlich zum morgigen Geburtstagsfest eingeladen. Sie erhob die Stimme: »Kann es sich ein Anwalt in Krems leisten, an einem Freitag Nachmittag schon in Freizeitkleidung herumzulaufen? Servus, Roman!«

Der Rechtsanwalt, der sie offensichtlich noch nicht bemerkt hatte, riss seinen Kopf in ihre Richtung. Was für ein strahlendes Lächeln in seinem tief gebräunten Gesicht! Völlig ansatzlos. Kein Wunder, dass sie auf der Uni kurz für ihn geschwärmt hatte.

Er machte drei große Schritte auf sie zu und umarmte sie. »Theresa, meine Liebe. Das ist aber eine schöne Überraschung. Was machst du denn in Krems? Du wirst doch die Vorbereitungen für die Geburtstagsfeier nicht vernachlässigen?« Er trat einen Schritt zurück und zeigte ihr seinen tadelnden rechten Zeigerfinger.

Den schob sie beiseite und hängte sich bei ihm ein. »Ganz im Gegenteil. Ich bin hier, um die Blumen für den Tischschmuck zu besorgen.« Sie ließ ihren Blick wieder über die verschiedenen Blumenstände schweifen. Klaus hatte sich Rosen gewünscht. Möglichst königlich, hatte er gemeint. Kein Problem. An prächtigen Rosen herrschte hier kein Mangel. Der Einkauf würde nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. »Wenn du Lust hast, kannst du mich zum Raimitz begleiten. Eine Cremeschnitte und ein kleiner Brauner gehen sich noch aus. Gehört sowieso zu meinem Krems-Ritual.«

»Nichts, was ich lieber täte.« Er entwand sich ihrem Arm.

»Ich verstehe«, kommentierte sie seine Bewegung neckisch. »Du willst wohl angesichts deiner zahllosen Kremser Verehrerinnen nicht den Eindruck erwecken, als hättest du die Frau deiner Träume schon gefunden.« Sie lachte ihn von der Seite an.

»Im Gegenteil. Ich will nur nicht, dass wir wie ein altes Ehepaar aussehen.« Er legte seinen Arm um ihre Schulter.

»Jetzt schauen wir eher wie ein junges Liebespaar aus, findest du nicht?« Sie gab ihm mit ihrer Hüfte einen Stoß. »Alter Schwerenöter. Wenn du so weitermachst, werde ich das Klaus erzählen. Der wird dich dann von der Geburtstagstafel ausschließen.«

Sie merkte, dass sein Gesicht für einen Augenblick sein Strahlen verlor. Allerdings nur kurz, sodass sie der Sache keine Bedeutung beimaß.

Keine fünf Minuten später saß sie mit Roman im Schanigarten der Konditorei an einem kleinen Tischchen, das gerade frei geworden war. Genau dort, wo die Kirchengasse in den Pfarrplatz überging. Zur Pfarrkirche waren es nicht einmal hundert Meter. Und gleich dahinter, aber deutlich höher gelegen, erhob sich die Piaristenkirche mit ihrer großen Turmuhr. Bei jedem Besuch der Konditorei stellte sie sich von Neuem die Frage, ob der göttliche Geschmack der Cremeschnitten etwas mit dem erhebenden Blick auf diese beiden Kirchen zu tun hatte.

Nachdem er seinen ersten Schluck Kaffee genommen und die Tasse abgestellt hatte, zeigte sich wieder der ernste Ausdruck in seinem Gesicht. »Du, Theresa, ich wollte heute noch Klaus anrufen. Aber jetzt kann ich es dir sagen. Ich werde morgen nicht nach Spitz kommen.«

Also hatte sie sich vorhin doch nicht getäuscht. Sie war ehrlich betroffen. Auch wenn der Kontakt zwischen Klaus und Roman früher enger gewesen war, so war eine Geburtstagsfeier von Klaus ohne Roman doch unvorstellbar. »Ja, aber warum denn nicht? Du gehörst doch fast zur Familie.«

»Lieb von dir, dass du das sagst. Aber Klaus hat doch nur mehr recht großkotzige Freunde. Da passe ich als kleiner Provinzanwalt einfach nicht dazu. In der Runde würde ich mich nicht wohlfühlen. Ich komme lieber am Sonntag zu einem späten Frühstück. Da habe ich euch für mich allein.«

Sie klopfte ihm auf seinen Schenkel. »Nur keine falsche Bescheidenheit, mein Lieber. Die Damen morgen wären jedenfalls von dem kleinen Provinzanwalt hingerissen. Du kannst es dir ja noch überlegen. Klaus wäre sehr enttäuscht.«

Wenn sie es recht bedachte, war sie da gar nicht so sicher. In den letzten ein, zwei Jahren hatte sich die Freundschaft der beiden alles andere als weiterentwickelt. Klaus moserte immer öfter an Roman herum. Dass er keinen Biss hätte und zu wenig aus seinen Talenten mache, dass er in Krems versauern würde und Ähnliches. Schade. Sie nahm sich vor, in den nächsten Wochen einen Anlauf zu nehmen, um alles wieder so wie früher werden zu lassen. »Gehst du jetzt in deine Kanzlei?«

»So gut wie. Meine Wohnung liegt nämlich, wie du weißt, über meiner Kanzlei. Für diese Woche habe ich genug gearbeitet.«

»Ein bisschen mehr könntest du dich schon anstrengen, damit aus dir zumindest ein großer Provinzanwalt wird. Aber wenn du es nicht eilig hast, könntest du mir noch beim Aussuchen der Blumen helfen. Ich würde das morgen Abend lobend erwähnen.«

Er lächelte. »Gib zu, dass du einen Kuli brauchst, der dir die Blumen zum Auto bringt.«

»Du durchschaust mich noch immer.« Sie schenkte ihm ein charmantes Lächeln, erleichtert darüber, dass die kurze Irritation sich offensichtlich schon wieder verflüchtigt hatte. Während er zahlte, stand sie auf und strich sich wie beiläufig ihren Dirndlrock über den Hüften glatt, um ihn weiter zu necken. »Danke für die Einladung.«

»Kann sich selbst ein kleiner Anwalt leisten. Und das nächste Mal rufst du mich an, wenn du nach Krems kommst. Mit oder ohne Klaus.«

Es war wohl übertrieben, aber sie bildete sich ein, die Blumen schon mehr als hundert Meter vom ersten Blumenstand entfernt riechen zu können.

Er nickte in Richtung der dreifaltigen Pestsäule, deren goldener Strahlenkranz an der Spitze im Licht der tiefstehenden Sonne funkelte. »So ein Strahlenkranz würde dir auch gebühren. Allerdings stammst du nicht aus der Barockzeit. Gott sei Dank.«

»Wenn du weiter so Süßholz raspelst, trage ich mir meine Blumen allein zum Auto.« Sie gab ihm einen Knuff auf den Oberarm.

Der Markt war noch immer voll mit Besuchern. Um den steinernen Mittelpunkt des Platzes herum war das Gedränge groß.

»Klaus wünscht sich besonders königliche Rosen«, raunte sie ihm mit einem Lächeln zu. Mit dieser Aussage wollte sie ihn amüsieren, allerdings verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck einmal mehr. War zwischen Klaus und Roman etwas vorgefallen, von dem sie nichts wusste? Sollte sie ihn darauf ansprechen? Nein. Klaus und Roman waren erwachsen und durchaus in der Lage, ihre Probleme selbst zu klären. Sie schlenderten von Stand zu Stand. Roman lächelte schon wieder. Konnte also nicht so schlimm sein.

Mehrere Blumenverkäuferinnen grüßten sie freundlich. Von ihren vielen früheren Einkäufen war sie hier bekannt. Sie erntete auch einige überraschte Blicke. Zweifelsohne deshalb, weil sie zum ersten Mal in Begleitung eines Mannes hier war.

Eine sagte sogar: »Sie sollten Ihren Mann öfter mitbringen, so fesch, wie er ist.«

Sie hoffte, nicht verlegen zu werden, und erwiderte mit einem Lachen, das ihr eine Spur zu forciert erschien: »Das ist aber gar nicht mein Mann, sondern ein guter Freund von ihm.«

Irrte sie sich, oder sah sie da ein verschwörerisches Zwinkern der Blumenverkäuferin? Schnell wandte sie sich ganz den Blumen zu. Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie für den Tischschmuck weiße und gelbe Narzissen mit ein paar violetten und roten Tulpen genommen. Märzenbecher wären auch schön gewesen. Oder gleich Topfpflanzen? Es gab Krokusse in allen Farben. Sie beugte sich zu einem prächtigen Exemplar. Der Geruch der feuchten Erde war stärker als der der Blüten. Sie überlegte. Am schönsten wäre es doch, jeden Tisch mit einem ganz eigenen Blumenschmuck auszustatten. Ja, warum eigentlich nicht? Klaus würde seine königlichen Rosen bekommen. Aber er hatte nicht gesagt, dass er nur Rosen wollte. Sie schlenderte mit Roman weiter, wollte zunächst nur ihre Augen und auch ihre Nase verwöhnen. Dabei würde sie entscheiden, wo sie welche Blumen kaufen würde. Natürlich würde sie für den morgigen Festtag vor allem heimische Frühlingsblumen erstehen. Die Rosen waren Mitte April bestimmt Importware. Egal. Sie kaufte dreißig Stück mit besonders langen Stielen und prächtigen dunkelroten Blüten. Die würden Klaus sicher gefallen. Ein paar lachsfarbene, die noch mehr nach ihrem Geschmack waren, mussten auch sein. Dann ging sie mit Roman ein zweites Mal über den Markt und verteilte ihre weiteren Aufträge. Sie achtete darauf, dass sie an jedem Stand in etwa gleich viel kaufte, weil sie keine der Verkäuferinnen enttäuschen wollte.

Beim Stand mit besonders schönen Narzissen stand ein halbwüchsiges Mädchen vor ihr, das zwei Töpfe mit weißen Krokussen kaufen wollte, aber eineinhalb Euro zu wenig Geld dabeihatte. Als sie die Enttäuschung im Gesicht der Kleinen sah, bedeutete sie der Marktfrau mit einem leichten Wink, das fehlende Geld ihr in Rechnung zu stellen. Der freudige Blick und der dankbare Knicks des Mädchens waren die eineinhalb Euro mehr als wert.

»Das macht dir so schnell niemand nach. Toll«, flüsterte Roman ihr ins Ohr.

Sie drehte sich zu ihm um. Was für ein Unterschied zu Klaus. Der hätte sie in dieser Situation wohl wie üblich abfällig als Mutter Teresa von Spitz bezeichnet.

Bald waren Romans Arme schwer beladen mit Sträußen von Märzenbechern, Narzissen und Tulpen in allen Farben, gekrönt von den roten und lachsfarbenen Rosen. Sie ging mit ihm zum Auto. Während er die Blumen auf der Ladefläche ihres Autos ablegte, nahm sie eine gelbe Narzisse und steckte sie ihm in den Ausschnitt seines dunkelblauen T-Shirts.

»Danke. Und bitte überlege es dir noch einmal wegen morgen.« Dann küsste sie ihn auf beide Wangen und stieg ein.

Sie musste sich beeilen. In einer halben Stunde würde der Bürgermeister von Spitz kommen, um zu gratulieren. Diesen Wunsch hatte sie ihm nicht abschlagen wollen, obwohl sich Klaus schon vor der gestrigen Abfahrt aus Wien darüber beschwert hatte. Was sollte er mit einem kleinen Provinzpolitiker, den er nicht einmal kannte? Ihren Einwand, dass man auch den Bürgermeister eines kleinen Orts nicht ohne Not vor den Kopf stoßen sollte, ließ er mit einigem Murren letztlich gelten.

Keine zwanzig Minuten später war sie wieder in Spitz. Beim Abstellen des Wagens hupte sie kurz, um ihre Rückkehr zu signalisieren. Sie tat es auch in der Hoffnung, ihren Mann dazu zu bewegen, ihr beim Tragen der Blumen zu helfen. In dieser Hoffnung sah sie sich bald enttäuscht. Aber sein demonstratives Desinteresse wollte sie nicht auch noch unterstützen. Ohne ein einziges Blumenbukett in die Hand zu nehmen, stieg sie aus, um ihn zu holen. Eigenartig. Die Tür war versperrt. Konnte nur bedeuten, dass er joggen war. Was für ein Affront dem Gast gegenüber, der nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Wenn Klaus nicht in den nächsten Minuten kam, würde für eine Dusche gar keine Zeit mehr bleiben.

Einigermaßen verärgert trug sie die Blumen ins Haus. Danach machte sie sich frisch. Kurz überlegte sie, ob sie sich umziehen sollte, entschied sich dann aber dagegen, nachdem ihr eine kurze Kontrolle im Spiegel zeigte, dass ihre Dirndlbluse weder vom Kaffee noch von der Cremeschnitte einen sichtbaren Schaden davongetragen hatte.

Da hörte sie auch schon die Geräusche eines einparkenden Autos. Konnte nur der Bürgermeister sein. Sieben Minuten zu früh. War ihr schon öfter aufgefallen, dass die Leute auf dem Land – ganz im Unterschied zu Wien – immer eher zu früh als zu spät dran waren. Sie wollte den Bürgermeister dennoch nicht warten lassen und ging ihm entgegen. Als er aus seinem Auto stieg, sah sie, dass er eine Flasche Wein mitgebracht hatte.

»Ich muss meinen Mann noch für ein paar Minuten entschuldigen. Er wird aber gleich da sein.«

»Soll ich solange im Auto warten?«

»Kommt doch überhaupt nicht in Frage. Bitte, kommen Sie weiter.«

Kaum zwei Minuten später tauchte Klaus auf. Pünktlich. Allerdings in dem dunkelblauen Trainingsanzug von Adidas, den er sich im Winter gekauft hatte. Total verschwitzt und ausgepumpt. Völlig unmöglich. Sie würde ihm später ernsthaft ins Gewissen reden müssen. Breitbeinig stellte er sich vor den Bürgermeister hin, ohne ihm die Hand zum Gruß entgegenzustrecken. »Ach, Sie sind offensichtlich der angekündigte Bürgermeister. Soll ich mich noch umziehen oder bringen wir die Zeremonie gleich hinter uns? Würde uns beiden Zeit sparen.«

Freitag, 16. April 16 Uhr 50

Der Tag hatte für Josefa Machherndl ganz mies begonnen. Eigentlich schon die Nacht davor. Offenbar half nicht einmal mehr ihr heißgeliebter Marillenschnaps, mit dem sie sonst jeden Ärger zuverlässig hinunterspülen konnte. Sechs Stamperl zwischen neun und elf Uhr abends und keines davon hatte auch nur eine Spur von Trost geboten. Sie legte die Kuppe ihres linken Zeigefingers ganz vorsichtig auf die grau-schwarze Warze an ihrem Kinn, die heute eher eine grau-rote Tönung hatte. Wegen des getrockneten Bluts. Wieso musste sie auch nach so einer Nacht auf die Idee kommen, die beiden Haare zu kürzen, die aus der Warze herauswuchsen? Hätte wohl auch noch bis morgen Zeit gehabt. An diesem katastrophalen Fehl-Schnitt mit dem Rasiermesser, das zu allem Unglück erst vor einer Woche von einem Messerschmied in Krems geschärft worden war, konnte nur diese vermaledeite Maria Magdalena schuld sein. Als angebliche Heilige geradezu eine Provokation für alle treuen Dienerinnen der Kirche, die sich ihr ganzes Leben lang bemühten, den Versuchungen des Teufels zu widerstehen. In Josefas Fall selbstverständlich erfolgreich.

In aller Herrgotts Früh war sie schon mit dem alten Fahrrad von ihrem Haus in Oberloiben zur Stiftskirche gefahren. Auf der Fahrt hatte sie nicht einmal einen kurzen Blick auf die Marillenbäume geworfen, die links und rechts der alten Wachaustraße blühten. Denn auf dieser Fahrt war ihr, der pensionierten Dürnsteiner Gemeindesekretärin, klar geworden, dass sie unbedingt etwas unternehmen musste. Kneifen war ja so gar nicht ihre Art. Geradezu eine Frechheit, was sich diese deutschen Fernsehsender leisteten. Jede Woche mindestens eine Sendung über ein angebliches fünftes Evangelium. Gefunden in einer obskuren Wüstengegend und geschrieben von einem noch obskureren Philippus, der sich erdreistete, aus Jesus und dieser Hure Maria Magdalena ein Liebespaar zu machen. Mit allem Drum und Dran, an das sie lieber gar nicht denken wollte. Gestern wieder so ein Machwerk im TV. Fast zur Hauptsendezeit. Konnte nicht mehr lange dauern, bis auch österreichische Sender diesen Schund bringen würden. Nicht nur, dass diese Fernsehmacher alle linke Brüder und Schwestern waren. Jetzt machten sie sich auch noch daran, den Herrn und Meister systematisch in den Schmutz zu ziehen. Was für eine teuflische Strategie dieses gottlosen Packs. Wobei sie Jesus von einer gewissen Mitschuld gar nicht freisprechen wollte. Warum musste er für den Beweis, dass es für eine Umkehr nie zu spät sein würde, ausgerechnet eine Dirne auswählen? Eine reuige Oliven-Diebin hätte es doch auch getan. Mit zweitausendjähriger Verspätung begann sich das jetzt zu rächen. Jesus Christus war eben eine Person, die in der Öffentlichkeit stand. Eine solche Person musste bei der Wahl ihres Umgangs eben vorsichtig sein. Schon damals. Heutzutage wusste das doch jeder kleine Provinzbürgermeister.

Seit einiger Zeit kaufte sie in einer Trafik am Täglichen Markt in Krems alle Programmzeitschriften, derer sie habhaft wurde. Einerseits, um keine der Sendungen, die von diesem angeblichen neuen Evangelium handelten, zu versäumen. Andererseits, um sich einen Raster anzulegen, mit dem sie die zunehmende Häufigkeit dieser Schandberichte dokumentierte. Wäre doch gelacht, wenn sie diesen Spießgesellen des Teufels nicht die Masken vom Gesicht reißen könnte. Natürlich würde sie Verbündete brauchen. Den Dürnsteiner Pfarrer hatte sie schon darauf angesprochen. Aber der schien kein Interesse an der Sache zu haben. Kein Wunder, dass es bei solch lahmarschigen Vertretern mit der Kirche bergab ging. Wenn sie das früher gewusst hätte, hätte sie ihm die Bitte, für den Blumenschmuck der Stiftskirche zu sorgen, wahrscheinlich abgeschlagen. Ihren Blumendienst heute Früh hatte sie jedenfalls mit heftigem Widerwillen erledigt. Wenigstens hatte ihr der Erlöser, als sie gerade vor dem Hochaltar stand, einen Geistesblitz eingegeben. Sie sollte sich an den Chef des Pfarrers, den Propst von Stift Herzogenburg, wenden. Der war ja ein gelernter Fleischhauer. Also ganz sicher kein Weichei, und schon allein deshalb ein Mann nach ihrem Geschmack.

Ihr Kopf brummte. Immer noch beinahe so stark wie um sechs Uhr, als der Wecker geläutet hatte. So früh aufzustehen war sie seit ihrer Zeit als Gemeindesekretärin gewohnt. Sie hatte nie einen Grund gesehen, im ungeliebten Ruhestand von dieser Gewohnheit abzuweichen. Weder die Fahrt mit dem Rad und noch weniger ihre morgendliche Beschäftigung in der Stiftskirche hatten Linderung gebracht. Sie war sicher, dass die Kopfschmerzen nur von ihrem Ärger über die gestrige Fernsehsendung herrühren konnten.

Nach dem Mittagessen mit bereits am Vortag zubereiteten Fleischlaberln samt Erdäpfelpüree war bei ihr der Entschluss gereift, noch einmal nach Dürnstein zu fahren, um an der Schiffsanlegestelle den Touristenstrom zu beobachten, der die MS Wachau bestieg. An der Massenansammlung an sich hatte sie kein Interesse. Sie wollte lediglich die Menschen zählen, die die Frechheit gehabt hatten, sich am Blumenschmuck der Kirche zu vergreifen und ihn als Andenken an den Ausflug nach Dürnstein mitzunehmen. Solchem Pack sollte der Eintritt in ein Haus Gottes verboten sein.

Jetzt saß sie auf einer Bank nahe der Anlegestelle. Vor ihr Treppelweg und Donau, hinter ihr die Mauer von Schloss Dürnstein, die ihr den Blick auf den Turm der Stiftskirche verstellte. Zum Glück. Scheußliche Farbe. Die meisten Leute hatten sich in der Zwischenzeit an die hellblaue Fassade gewöhnt und wollten sich gar nicht mehr daran erinnern, wie heftig ihr Widerstand gegen die Vorgabe des Denkmalamts bei der Restaurierung des Turms vor mehr als dreißig Jahren gewesen war. Sie war stolz darauf, aus einem ganz anderen Holz geschnitzt zu sein. Die Farbe des Turms blieb ihr verhasst und das betonte sie bei jeder Gelegenheit. Trotz aller Ärgernisse genoss die ehemalige Gemeindesekretärin die ehrerbietigen Grüße der Dürnsteiner, die die wärmende Nachmittagssonne für einen kleinen Spaziergang auf dem Treppelweg nutzten. Einmal Respektsperson, immer Respektsperson. Zu ihrer Freude würdigten ihre Dürnsteiner Mitbürger die Touristenschlange keines einzigen Blickes.

Sie schätzte die Zahl derer, die aufs Schiff wollten, auf mindestens hundert. Und mindestens jede zehnte Person hielt ganz ungeniert eine Narzisse oder eine Tulpe in der Hand. Eine Frau hatte offenbar die Frechheit gehabt, sogar einen Topf mit violetten Krokussen mitgehen zu lassen. Alles Blumen, davon war sie überzeugt, die sie gestern in Dürnstein und Umgebung mühsam zusammengebettelt hatte. Vor vierzig, fünfzig Jahren hatten es die Dürnsteiner ja noch für eine Ehrenpflicht gehalten, eifrig für den Herrn zu spenden. Heutzutage alles längst vorbei.

Nachdem das Schiff endlich abgelegt hatte, stand sie auf und bestieg ihr Rad. Der Gedanke an den heimischen Marillenschnaps flößte ihr eine gewisse Vorfreude ein. Heute würde der Schnaps ihr seine tröstende Wirkung nicht versagen. Da fiel ihr Blick auf ein mannsgroßes Etwas, das sich in einem kleinen Strudel auf und ab drehte, um dann weiter stromabwärts zu treiben. Josefa Machherndl war stolz auf ihre Augen. Was ihr Adlerblick da erspähte, ließ ihr die Nackenhaare zu Berge stehen. Es konnte keinen Zweifel geben. In knapp fünfzig Metern Entfernung trieb eine Leiche. Den Schädel wie mit einer Hacke eingeschlagen. Jetzt versank sie. Im nächsten Moment tauchten die Beine wieder auf, dann der Rumpf, dann tauchten sie wieder unter. Leblos. Unfassbar. Niemand schien etwas zu bemerken. Zehn Meter stromabwärts waren wieder ein paar Teile knapp an der Wasseroberfläche zu sehen.

Die beiden Lehrer, die mitsamt ihren Schulklassen gerade von Bord des Schiffes gegangen waren, wollte sie unter keinen Umständen alarmieren. Ihre Beobachtung würde den Kindern womöglich einen Schock versetzen. Nach kurzer Überlegung entschied sie, auch den Radfahrer nicht anzuhalten, der gerade den Treppelweg fröhlich pfeifend entlang fuhr. Das sollte einzig und allein ihr Fall sein. Bei so etwas kannte sie sich aus. Schließlich war sie ja schon einmal im Zentrum einer Mord-Untersuchung gestanden. Oder zumindest in der Nähe des Zentrums.

Freitag, 16. April 17 Uhr 07

Doris Lenhart war so aufgekratzt, dass sie einen ABBA-Song trällerte. Einen so populären, dass auch er ihn kannte. »Waterloo,… Waterloooo«, sang er leise mit und lehnte seinen massigen Körper an den Türrahmen.

Sie warf ihm einen amüsierten Blick zu, trällerte jedoch weiter und ließ sich auch sonst nicht von den letzten Handgriffen in ihrem Büro abhalten. Freitag, 17 Uhr, war Dienstschluss.

»Waterloo handelt von einer verlorenen Schlacht«, kommentierte er. »Kein passender Song, um sich auf das Wochenende einzustimmen.«

»Banause!«, schimpfte sie, während sie ihren Computer abschaltete. »Waterloo handelt von der Übermacht der Liebe.«

»Du freust dich wohl auf euren Kochkurs. Freu’ dich nicht zu früh. Mörder arbeiten auch nach Dienstschluss. Sogar in Österreich.« Er nippte an dem Becher aus Pappendeckel, den er seit fünf Minuten in der Hand hielt. Pappendeckel passte hervorragend zu der wenig repräsentativen grau-beigen Büroeinrichtung. Und der unnötige Papierhenkel passte zu den Fenstern, die Formen und Ausmaße von Schießscharten hatten. Sogar ihn, dem jeglicher Sinn für Ästhetik fremd war, störten diese schmalen Fenster. Bei jedem Blick hinaus stellte er sich die Frage, ob der verantwortliche Architekt das Gebäude in der Überzeugung geplant hatte, die Polizei vor Attacken anstürmender Verbrecherhorden schützen zu müssen. »Scheußliches Gesöff«, murrte er. »Mit der Besteilung einer neuen Kaffeemaschine könntest du unsterblich werden.«

»Das werde ich auch ohne neue Kaffeemaschine. Bist du am Sonntag wieder auf einem Fußballplatz unterwegs?«

»Klar, in Hohenau. Nicht gerade eine Traumgegend, aber immer noch besser als euer Kochkurs. Was dein Erich dort soll, ist mir schleierhaft.«

»Mein Erich weiß wenigstens, was eine Frau glücklich macht. Wenn du den Kochlöffel beizeiten geschwungen hättest, dann wäre deine Frau vielleicht bei dir geblieben.« Mit einem Seufzen nahm sie die Tulpen auf ihrem Schreibtisch, die schon den Kopf neigten, aus der Vase. Über dem Mistkübel hielt sie inne, überlegte es sich offenbar anders, zog ein kleines Messer aus der Schreibtischschublade, schnitt die braunen Stellen unten an den Stielen weg, holte frisches Wasser und stellte die Tulpen zurück in die Vase.

Er schüttelte den Kopf. Ausgeschlossen, dass die Blumen das Wochenende überlebten.

»Oder wenn du wenigstens dein Hemd über deinem Bauch zugeknöpft hättest«, kommentierte sie sein Kopfschütteln.

Widerwillig nahm er einen weiteren Schluck Kaffee, bevor er an dem Becher vorbei an sich hinabblickte. Allerdings machte er keine Anstalten, sich das Hemd über dem Gürtel zuzumachen. »Frauen stehen doch auf Männerbäuche. Habe ich einmal gelesen.«

Seine Chefin warf ihm einen Blick zu, den er nur zu gut kannte. »Es ist wirklich ein Jammer mit dir. Mein innigster Wunsch ans nächste Christkind ist, dass du einmal in einem Gewand im Büro aufkreuzt, in dem du nicht die Nacht davor geschlafen hast. Ein einziges Mal würde mir schon genügen.«

Er kraulte seinen Bart, von dem er wusste, dass der ihn zusammen mit seinem Leibesumfang wie eine Kopie von Bud Spencer aussehen ließ. An seinen bürointernen Spitznamen »Spencer« hatte er sich längst gewöhnt. »Kann ich dir leicht versprechen. Bis zu den nächsten Weihnachten hat mich nämlich unser hochverehrter Herr Polizeidirektor längst in Pension geschickt.«

»Schafft er nur über meine Leiche.« Doris Lenharts Augen blitzten.

Aber auch ohne dieses Blitzen, dessen einschüchternde Wirkung auf manchen Verbrecher er nur zu gut kannte, hätte er, der fünfzehn Jahre älter war als seine Chefin, gewusst, dass er sich auf sie verlassen konnte. Sie hatte in den letzten Monaten wie eine Löwin für ihn gekämpft und sie würde das auch weiterhin tun.

»Außerdem würde ich nicht darauf wetten, dass wir unseren hochverehrten Chef noch bis Weihnachten haben.« Das Blitzen in ihren Augen wich einem verschmitzten Zwinkern. »Meine Wiener Spione berichten mir, dass er auf einen Sprung nach oben spitzt.«

»Oh.« Er rieb sich vergnügt den Bauch. »Deine Spione versüßen mir mein Wochenende auch ohne Mehlspeis-Kurs bei einem Meisterkoch.«

Doris strich sich eine Strähne ihres kohlrabenschwarzen Haares, ein Erbe ihrer Großmutter, wie sie ihm einmal erzählt hatte, aus dem Gesicht. »Von mir aus kann er gern nach oben springen. Hauptsache, er springt von St. Pölten weg.«

»Exzellente politische Verbindungen zahlen sich halt immer aus.« Er löste sich vom Türrahmen, stellte den Pappbecher auf ihren Schreibtisch und fläzte seine hundertfünf Kilo in den davor stehenden Sessel, der wie üblich mit einem leisen Ächzen antwortete. »Du willst wohl sagen, dass große Idioten besonders gern noch größere Dummköpfe rekrutieren.«

Da klopfte es an der offenen Tür. Ein Mitarbeiter, der offenbar Journaldienst hatte, wandte sich an Doris Lenhart. »Da ist eine Frau Machherndl am Apparat, die sich absolut nicht abwimmeln lässt. Sagt, dass sie unbedingt mit Ihnen sprechen muss.«

Malzacher schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Um Himmels willen. Die alte Schnapsdrossel hat uns gerade noch gefehlt. Hast du nicht gerade etwas von ‚Waterloo‘ gesungen?«

Offensichtlich hatte sie seine Spitze nicht gehört oder überhört, was er eher vermutete. In solchen Dingen war sie eine absolute Meisterin und ihm haushoch überlegen. Stattdessen blickte sie den Beamten an.

»Hat sie gesagt, weswegen sie mit mir sprechen möchte?«

»Absolut nicht aus ihr herauszukriegen. Will es nur Ihnen sagen.« Der Journalbeamte machte ein unglückliches Gesicht.

Doris ließ sich die Laune jedoch sichtlich nicht verderben. Mit dem Anflug eines bösen Lächelns deutete sie auf die Stelle, wo sein Bauch zwischen den Hemdknöpfen zum Vorschein kam. »Ich bin schon auf dem Sprung zu einem wichtigen Termin. Du redest mit ihr.«

»Sorry, das ist dein Waterloo.« Nun war es an ihm, verschmitzt zu grinsen. »Sie will nur mit dir reden, wie du ja gehört hast. Abgesehen davon bin ich dafür nicht der Richtige. Bei Nervensägen neige ich dazu, meine gute Erziehung zu vergessen.« Er kraulte einmal mehr seinen Bart. »Aber ich habe einen Vorschlag zur Güte. Du sprichst mit ihr, aber schaltest den Lautsprecher ein. Damit ich dich seelisch unterstützen kann, wenn das Gespräch aus dem Ruder läuft.«

Doris gab dem an der Tür wartenden Beamten einen Wink. »Dann geben Sie mir die Gute halt in Gottes Namen.«

Kurze Zeit später war die pensionierte Gemeindesekretärin in der Leitung. »Hier Frau Machherndl aus Dürnstein. Ich hoffe, Sie erinnern sich noch an mich.«

»Wie könnte ich Sie je vergessen. Wo brennt es denn?«

Er reckte seinen rechten Daumen hoch, während die Chefinspektorin begann, die Strähne ihres Haars, die wieder in die Stirn gefallen war, um ihren Zeigefinger zu drehen.

»Ich möchte einen Mord melden.«

Er sah, wie sich der ganze Körper seiner Chefin plötzlich anspannte, und sie die Haarsträhne wieder ins Gesicht fallen ließ. Er merkte aber auch sofort, dass sie sich um betonte Ruhe und Unaufgeregtheit bemühte.

»Und wo soll der Mord passiert sein?«

»Woher soll ich denn das wissen? Ich bin ja nicht dabei gewesen.«

Doris Lenhart holte tief Luft. »Frau Machherndl, woher wollen Sie dann wissen, dass es einen Mord gegeben hat?«

»Weil ich die Leiche gesehen habe. Sie schwimmt in der Donau.«

Die Leiterin der niederösterreichischen Mordkommission nahm einen auf ihrem Schreibtisch liegenden Kugelschreiber in ihre Hand.

»Und wo genau wollen Sie die Leiche in der Donau gesehen haben?«

»Frau Lenhart, als ehemalige Dürnsteiner Gemeindesekretärin, die immer für ihre Genauigkeit bekannt gewesen ist, sage ich Ihnen eines ganz klar: Ich will nicht eine Leiche gesehen haben, sondern ich habe sie gesehen.«

»Ist ja gut, Frau Machherndl. Also, wo haben Sie die Leiche gesehen?«

»Bei der Schiffsstation Dürnstein. Es ist keine drei Minuten her, da ist sie an mir vorbei getrieben. Ich bin nämlich auf einer Bank am Ufer gesessen.«

»In welcher Entfernung ist das Objekt an Ihnen vorbeigeschwommen?«

»Vierzig bis fünfzig Meter. Und meine Augen sind immer noch so gut, dass ich keine Brille brauche. Daher weiß ich auch, dass es kein Objekt sondern ein toter Mensch gewesen ist. Dem hat ein ganzes Eck vom Schädel gefehlt.«

Ihm war spätestens in diesem Moment klar, dass sie der Sache nachgehen mussten. Schnapsdrossel hin oder her.

»Gut, Frau Machherndl, wir kümmern uns darum. Wo können wir Sie erreichen, falls wir Sie noch brauchen?«

»In meinem Haus in Oberloiben. Und ich gehe davon aus, dass Sie mich bestimmt noch brauchen werden. Meine Telefonnummer haben Sie ja.«

Er war sicher, dass Doris die Nummer längst weggeschmissen hatte. War ja schließlich mehr als ein Jahr her, dass sie zum letzten Mal mit Josefa Machherndl gesprochen hatte.

»Selbstverständlich.«

Lügnerin, dachte er. Aber toll, wie sie es verstand, gut- Wetter zu machen.

»Und was werden Sie in dem Fall tun?«

»Das werde ich gleich mit meinem Stellvertreter, dem Herrn Chefinspektor Malzacher, besprechen, der gerade mir gegenüber sitzt.«

»Ist das noch immer der unmögliche ältere Herr mit dem dicken Bauch?«

»Auf Wiederhören, Frau Machherndl. Und nochmals Dank für Ihren Anruf.«

Die Chefinspektorin legte auf und sah ihn an. Sichtlich quietschvergnügt.

»Einen sehr tollen Eindruck hast du ja bei ihr nicht hinterlassen. Aber für eine Schnapsdrossel scheint sie noch sehr gute Augen zu haben. Zumindest was dich betrifft.«

»Blöde Kuh.«

»Und was hältst du von ihrer Geschichte?«

Er kratzte sich am Ohr. »Zwar nicht sehr viel, aber zu meinem Leidwesen auch nicht so wenig, dass wir es uns leisten könnten, sie zu ignorieren.«

»Sehe ich genauso. Sichtbar eingeschlagener Schädel. Wenn das stimmt, dann kann es kein Schwimmer gewesen sein, der sich totgestellt hat. Aber eine Leiche müsste doch eigentlich untergehen.« Sie rieb sich nachdenklich am Kinn. »Egal. Wenn die Machherndl die angebliche Leiche vor ein paar Minuten bei der Anlegestation in Dürnstein gesehen hat, dann kann sie ja noch nicht weit weitergetrieben sein. Also: Du verständigst in Krems die Strompolizei. Die sollen die Donau zwischen Krems und Loiben absuchen. Zur Sicherheit aber bis Dürnstein fahren. Vielleicht ist ja dort etwas ans Ufer gespült worden.«

Freitag, 16. April 17 Uhr 05

Der Kapitän hatte auf seinem Steuerstand so lange gewartet, bis der letzte Passagier in Krems von Bord gegangen war. Er zog den Knoten seiner roten Krawatte enger und rückte seine weiße Mütze so zurecht, dass sie auf seinem Kopf ganz leicht, aber erkennbar, schief saß. Nach rechts abfallend. Würde ihm nach Meinung seiner Frau ein besonders schneidiges Aussehen verleihen. Dann verabschiedete er sich von seinem Steuermann mit Handschlag und winkte den auf dem Deck stehenden Mitgliedern der Crew zu.

Er war froh, nur ein paar Schritte von der Anlegestelle entfernt einen reservierten Parkplatz zu haben. Weil Parken an dieser Stelle ein riesiges Problem war. Viele Passagiere ließen sich deshalb von Verwandten oder Bekannten mit dem Auto abholen. Nachdem die MS Wachau deutliche Verspätung gehabt hatte, würde heute kaum jemand auf seinen Chauffeur warten müssen.

Zu seiner Überraschung standen noch immer sechzig bis achtzig Leute um die Anlegestelle herum, einige sogar noch auf dem Ponton. Als er das Schiff verließ, wusste er genau, was folgen würde. Kameras und Handys wurden mit ihm als Ziel gezückt und einige Passagiere wollten sich mit ihm gemeinsam fotografieren lassen, wobei sich zwei Damen bei ihm sogar einhängten. Er war diese Prozedur gewohnt und ließ sie geduldig und auch recht gern über sich ergehen. Kundenzufriedenheit war für ihn oberstes Gebot. Allerdings hatte er eine eiserne Regel: Er würde sich nie zu einem Kaffee oder einem Glas Wein einladen lassen. Nicht einmal ins der Anlegestelle gegenüberliegende »Wellenspiel«. Das probierten alleinstehende Damen immer wieder.

Kaum war er mit der Foto-Prozedur fertig, steuerte ein schlanker, bebrillter Mann auf ihn zu, an den er sich erinnerte. Es war der Passagier, der die Vogelscheuche fotografiert hatte. In der Hand hielt er ein Tablet.

»Entschuldigung, Herr Kapitän. Ich wollte Ihnen nur das Foto zeigen, das ich gemacht habe. Ich habe es jetzt rüberkopiert.« Er hielt ihm den Bildschirm hin. »Hier in der Vergrößerung, sehen Sie? Ich habe mich geirrt. Es war doch keine Vogelscheuche.«

Freitag, 16. April 17 Uhr 09

Was für ein Kaff. Gföhl. Der Ort genauso nichtssagend wie sein Name. Noch gestern um diese Zeit hätte ihn das gar nicht gestört. Weil er zu dieser Zeit noch überzeugt gewesen war, hier seine Abschiedsvorstellung als niederösterreichischer Polizeidirektor zu geben. Die hätte von ihm aus auch in Alt-Nagelberg oder Großmugl stattfinden können. Alles Orte, die er ohnehin kein zweites Mal in seinem Leben sehen würde.

Heute stand die Eröffnung der neuen Polizeistation auf dem Programm. In Wahrheit nur ein Umbau. Er hatte sich alle Mühe gegeben, aus der Veranstaltung ein großes Fest zu machen. Nicht nur dem Image der Polizei, sondern auch dem Landeshauptmann zuliebe, der schon vor sechs Wochen sein Kommen zugesagt hatte. Ihn würde er ja auch in seiner neuen Funktion gut brauchen.

Wenigstens war das Wetter hervorragend. Blauer Himmel. Die Frühlingssonne spendete ausreichende Wärme. Kein Wind, allenfalls ein Lüftchen, schwer beladen mit dem aufdringlich süßen Duft des Flieders an der Mauer da drüben. Dazu allerlei Blütenpollen, die ihn in der Nase juckten. Im wahrsten Sinne des Wortes reizend war es hier im Freien. Auf dem Hauptplatz. Eine Festveranstaltung mit allem Drum und Dran. Örtliche Blasmusikkapelle. Glanzpolierter Spritzenwagen der Freiwilligen Feuerwehr. Mit Frühlingsblumen bekränzte Weinkönigin im Dirndl. Die Gföhler Gemeinderäte und sonstigen Honoratioren vollständig angetreten. Und gut hundert Personen als Publikum. Begrüßung durch den Bürgermeister, dessen Nase eine innige Beziehung zu alkoholischen Getränken aller Art verriet. Selbstverständlich mit dem Herrn Landeshauptmann als erstem Adressaten der Grußbotschaft. Dann hatte der Gemeindevorsteher aber als zweiten Ehrengast nicht ihn, sondern die neue Sicherheitssprecherin der Volkspartei begrüßt. Landtagsabgeordnete Katharina Krenn. Sie saß neben ihm, zog die Blicke auf sich und stahl ihm, Wolfgang Marbolt, dem obersten Sicherheitsverantwortlichen des Landes, die Show. Das tat weh. Aber lang nicht so weh wie der Telefonanruf eines guten Freundes gestern Abend.

Jetzt saß er in der ersten der vor dem Gemeindeamt aufgestellten sechs Reihen und tat so, als würde er den salbungsvollen Worten des Landeshauptmanns aufmerksam lauschen. Die ölige Stimme schien ihm heute den falschen Zungenschlag, den er bei Reden des Landesfürsten immer zu hören glaubte, besonders deutlich zu unterstreichen. Neben sich die Sicherheitssprecherin. Zugegeben attraktiv, aber in Sicherheitsfragen völlig unbeleckt. Eigentlich hatte er erwartet, vor der Besetzung dieser Position vom Landeshauptmann zumindest konsultiert zu werden. Wozu war er denn der oberste Sicherheitsbeamte des Landes? Aber nichts dergleichen. Als ob er Luft wäre.

Aber der Landeshauptmann und seine Abgeordnete konnten ihm heute so oder so gestohlen bleiben. Seine Gedanken kreisten um ein viel dringenderes Problem. Wie sollte er das Desaster seiner Frau erklären? Warum war er auch so dumm gewesen? Vor drei Wochen hatte er ihr gegenüber geprahlt, dass die öffentliche Ausschreibung eine reine Formsache sei. Weil er den Posten ohnehin schon so gut wie in der Tasche habe. Und dann vor knapp 24 Stunden die niederschmetternde Nachricht. Zwar inoffiziell, aber aus sicherer Quelle. Die sprudelten für ihn ja noch immer. Der Herr Innenminister habe sich für einen anderen Kandidaten entschieden. Dieser Hurensohn. Fand es nicht einmal der Mühe wert, ihn persönlich von seiner Entscheidung zu informieren. Ihn, der fast drei Jahre lang als Büroleiter mit seinem Chef ein Herz und eine Seele gewesen war. Die ganze Drecksarbeit, deren Erledigung der hohe Herr, feige wie Politiker eben waren, wie die Pest hasste, hatte er ihm abgenommen.

Dabei hatte er es geahnt. Aus dem Innenministerium hätte schon viel früher eine positive Nachricht kommen müssen. Schon seit einer guten Woche hatte er ein flaues Gefühl im Magen. Dieses Gefühl hinterließ bereits Spuren außerhalb des Magens. Im Büro war er noch kürzer angebunden gewesen, als es ohnehin seine Art war. Als Vorgesetzter war er nie einer von der Bussi-Bussi-Sorte gewesen. Wollte er auch nie wirklich sein, obwohl ihm in dem Punkt sein Minister ein großes Vorbild hätte sein können. War eben ein typischer Politiker, der den Höhepunkt seiner Karriere noch vor sich zu haben glaubte. Selbstverständlich mit halb Österreich per Du. Er hingegen war auf Distanz bedacht.

In den letzten Tagen auch mehr Alkohol als üblich. Sogar Whisky, den er eigentlich gar nicht mochte. Nur für hochrangige Besucher hatte er den in seinem Büro vorrätig. Die gaben ihm für seinen Geschmack allerdings viel zu selten die Ehre. Weil er seine Vorzimmerdamen nicht um ein Glas bitten wollte, hatte er gestern sogar einen kräftigen Schluck aus der Flasche genommen, oder auch zwei. Für ihn ein deutliches Signal, dass er mit sich nicht im Reinen war. Ein weiteres Signal dieser Art: Seine Frau war vorgestern durchaus in Stimmung für Sex gewesen. Kam nicht sehr häufig vor. Aber nicht einmal dazu hatte er Lust gehabt.