Über das Buch

Slowenien, Zweiter Weltkrieg: Die junge Medizinstudentin Sonja erkennt in dem SS-Offizier, den sie auf der Straße in Maribor trifft, Ludek wieder, der sie als Kind einmal beim Skifahren aus dem Schnee gezogen hat. Ludek heißt jetzt Ludwig und ist ein überzeugter Nazi. Sonja bittet ihn um Hilfe für ihren inhaftierten Freund Valentin. Für Ludwigs Hilfe zahlt Sonja einen hohen Preis. Doch Valentin, der bei den Partisanen kämpft und später im Kommunismus Karriere macht, dankt Sonja ihren Einsatz nicht. Stilistisch brillant lotet Jancar in seinem preisgekrönten Roman aus, wie weit wir bereit sind zu gehen, wie der Krieg Beziehungen neu formt und die Liebe, auch wenn das Leben weitergeht, in die Knie zwingt.

Drago Jančar

Wenn die Liebe ruht

Roman

Aus dem Slowenischen von Daniela Kocmut

Paul Zsolnay Verlag

Inhalt

ERSTES KAPITEL: Das Mädchen von der Fotografie

ZWEITES KAPITEL: Umarmung in der Mühle

DRITTES KAPITEL: Das Zimmer am See

VIERTES KAPITEL: Der Ausreißer

ERSTES KAPITEL

Das Mädchen von der Fotografie

1

Auf der Fotografie, die von einem unbekannten Fotografen aufgenommen wurde, sind zwei schlanke junge Mädchen zu sehen: die eine in einem karierten Rock, einer leichten Strickjacke und mit dunkler Strumpfhose, die andere mit einem schwarzen Mantel und schön geflochtenen Zöpfen, die ihr über den Rücken fallen. Dieses Mädchen trägt keine Strumpfhose, offenbar handelt es sich hier um den letzten Rest, um die letzten Atemzüge des warmen Sommers, möglicherweise um frühe Septembertage. Eine Aufnahme von einem Vormittag, an dem die Bewohner der Stadt eilig ihre Besorgungen erledigen, eine Frau mit einer Aktentasche, einige stehen lediglich herum. Hier ein Mann mit einem Fahrrad, der mit jemandem plaudert, wahrscheinlich über das Wetter, ein anderer zieht an einer Zigarette und qualmt in den blauen Tag hinein. Ein aufmerksamer Beobachter mag bemerken, dass mit der Aufschrift am großen Gebäude etwas geschehen ist: Das HOTEL OREL war zum HOTEL ADLER geworden; eine kleine Korrektur, der praktisch veranlagte Besitzer hatte nur zwei neue Buchstaben anfertigen lassen, das A und das D, und auch das Wort RESTAVRACIJA war zu RESTAURANT geändert worden. In der unteren Ecke rechts, mit dem Rücken zum Fotografen, geht ein Mann in Uniform. Er trägt schwarze Stiefel, einen grauen Militärrock, am Gurt eine Pistole. Das idyllische Bild eines ruhigen frühherbstlichen Vormittags in einer Straße von Maribor schlägt im Nu in eine Atmosphäre unsichtbarer Angespanntheit um: Woher kommt er, wohin marschiert dieser uniformierte Mann, es handelt sich ziemlich sicher um die Uniform einer Schutzstaffel-Einheit, der unbekannte SS-Mann kommt aus einer Ecke der Aufnahme und befindet sich auf dem Weg in ihr Zentrum. Er scheint nur im ersten Augenblick unbekannt, schon im nächsten Moment blickt sich die hellhaarige junge Frau im karierten Rock und den schwarzen Strümpfen zum Mann in Uniform um und sagt zu ihrer Freundin:

— Sieht der nicht genau so aus wie Ludek?

Die Freundin mit den Zöpfen erhascht noch im letzten Moment das Profil des vorbeigehenden deutschen Offiziers.

— Ich glaube, das könnte er sein, sagt sie. Er sieht ein wenig erwachsener aus, sie lacht.

Doch sie wird rasch ernst, als sie das Gesicht ihrer Freundin sieht.

Das Gesicht des Mädchens in Karo-Rock und schwarzer Strumpfhose sieht besorgt aus, irgendetwas bedrückt sie, vielleicht hat sie ihrer Freundin soeben von dem, was sie bedrückt, erzählt, plötzlich schießt ihr eine Erkenntnis durch den Kopf.

— Er ist es, sagt sie, ich kenne ihn.

Eine Zeit lang sehen sie ihm nach.

— Denkst du daran, es ihm zu sagen?, fragt das Mädchen im Karo-Rock mit aufgeregter, beinahe leicht zitternder Stimme.

— Ich würde es ihm an deiner Stelle sagen, nickt ihr die Freundin mit den Zöpfen ermunternd zu und zuckt mit den Schultern: Fragen kostet nichts, oder?

Das Mädchen im Karo-Rock tritt nervös von einem Fuß auf den anderen.

— Ich werde meinen Vater bitten, mit ihm zu sprechen, er kennt ihn gut.

Und kurz darauf fügt sie hinzu:

— Wenn er nur dazu bereit sein wird.

— Sonja!, ruft die Freundin und lächelt fast ein wenig neckisch: Ich glaube, es würde mehr fruchten, wenn du es ihm sagst.

Dieses Lächeln ist redundant, es ist nicht notwendig. Sonja, die nervös ihre Handtasche in ihren Händen zusammendrückt, ist nicht zum Lachen zumute, auch nicht zum Lächeln, obwohl sie nun bald lächeln würde müssen; wenn sie mit jenem Mann sprechen wollte, würde sie sehr freundlich lächeln müssen.

Der Mann in Uniform befindet sich mit seinem bestimmten Schritt nun schon tief in der Fotografie, dort gegen Ende der Straße, die nun Burggasse heißt.

— Was sein wird, wird sein, sagt plötzlich das blonde Mädchen im Karo-Rock, drückt ihre Handtasche fester an sich und läuft dem Offizier hinterher. Mochte sie noch so schnell gehen, sie hätte ihn nicht eingeholt. Sie rennt los.

2

Ich sehe sie, wie sie den Gehsteig entlang der Fenster des Kaffeehauses Astoria dem Mann in Uniform nachläuft, die Slovenska entlang, vor Jahren hieß sie noch Slovenska, Slovenska ulica, noch einige Jahre früher, als hier noch Österreich war, hieß sie Windischstraße, nun heißt sie Burggasse, sie läuft dem deutschen Offizier nach, sie kommt ihm immer näher. Für einen Augenblick verliert sie ihn aus den Augen, der Offizier biegt hinauf in die Tyrševa, vor einigen Jahren war das noch die Tyrševa, nun ist es die Herrengasse. Das Mädchen im Karo-Rock, Sonja, bleibt an der Ecke stehen, holt tief Luft und blickt ihm nach. Es sieht so aus, als hätte sie es sich anders überlegt, als ob sie es nicht könne. Aber sie muss es tun, eine gewisse Hoffnung sagt ihr, dass sie das tun muss. Einen Augenblick später fasst sie einen Entschluss und geht die Straße hinauf. Bald geht sie fast im Gleichschritt mit ihm, sie versucht gleichmäßig zu atmen, sie will nicht, dass er sie so außer Atem sieht, sie will, dass es aussieht, als mache sie gerade einen Spaziergang, dass sie möglicherweise auf dem Weg in den Park sei oder dass sie in dieser Richtung etwas zu erledigen habe. Sie geht beinahe neben ihm, vielleicht einen Schritt hinter ihm, vielleicht kann sie sich wieder nicht entscheiden, ob sie ihn ansprechen soll, vielleicht traut sie sich nicht, vielleicht schlägt ihr Herz schneller. Dann überholt sie ihn schnellen Schrittes, dreht sich zu ihm um und sagt, als hätte sie ihn soeben bemerkt:

— Das bist doch du, Ludek.

Der Offizier sieht sie an.

— Erinnerst du dich nicht an mich?, lächelt das Mädchen im Karo-Rock, sie muss lächeln.

Der Mann bleibt stehen, er mustert sie mit seinem Blick, es scheint, als erkenne er sie nicht.

— Kennst du mich denn nicht?, sagt das Mädchen und drückt die Handtasche enger an die Brust. Ich bin es, Sonja.

— Was wollen Sie?, sagt der Offizier auf Deutsch mit einer unangenehmen, abgehackten Stimme und durchbohrt sie mit seinem Blick, in dem dennoch ein Hauch Neugierde steckt, vielleicht kommt sie ihm doch bekannt vor.

Sonja kann auch Deutsch, diese Sprache fällt ihr nicht schwer, sie hat sie im Gymnasium gelernt, auch sonst spricht man in dieser Stadt nun nur noch Deutsch, daher ist sie ein wenig verlegen, weil sie ihn auf Slowenisch angesprochen hat. Und das einen Soldaten in deutscher Uniform, einen Offizier, den sie um etwas bitten will.

Das Gespräch hätte somit schon zu Ende sein können, ehe es begonnen hat, wenngleich Ludek auch Slowenisch spricht, Sonja weiß das genau, vor ungefähr fünfzehn Jahren, damals war sie noch ein kleines Mädchen gewesen, hatte er Slowenisch gesprochen.

— Wir sind am Bachern gemeinsam Ski gefahren, beeilt sich Sonja auf Deutsch zu sagen, Sie trugen einen blauen Pullover, sie beginnt ihn zu siezen, sein Blick ist so, seine Stimme wirkt so, dass sie nicht einfach sagen kann: Du, Ludek.

— Der Herr hatten einen blauen Pullover an, fährt sie rasch und kurzatmig fort und lächelt, so einen mit einem weißen Streifen quer darüber … Sie kannten meinen Vater, sein Name ist Anton, Anton Belak … Gewiss erinnern Sie sich … Wir waren einmal zusammen Ski fahren, Sie haben mir aufgeholfen, als ich in den Schnee gefallen bin, ich war völlig nass … nasser Schnee.

All das sagt sie in einem Atemzug und sieht ihn voller Erwartung an.

Den Offizier dünkt etwas, bei der Erwähnung des Namens ihres Vaters blitzt etwas auf, aber es scheint, als ob er nichts davon wissen wolle, damals hatte man ihn wirklich Ludek genannt, nun heißt er Ludwig, er war immer schon Ludwig gewesen, man hatte ihn nur mit diesem slowenischen Barbarismus gerufen.

Er blickt sie an, auf einmal beginnt er zu lachen.

— Wir waren wirklich da oben Ski fahren, ja, waren wir wirklich.

— Und ich bin in den Schnee gefallen.

— Sie sind in den Schnee gefallen?

— Und Sie haben mir aufgeholfen. Ich war ganz nass, ich hatte einen Stock verloren.

— Ah, einen Stock?

— Einen Skistock, wir haben im Schnee danach gesucht.

Ludwig sieht auf seine Uhr.

— Und Ihr Vater?, fragt er. Was ist mit Ihrem Vater?

Er wartet die Antwort nicht ab, er hat es eilig, er hat eine verantwortungsvolle Aufgabe in dieser Stadt, eine überaus verantwortungsvolle Aufgabe, er kann nicht bis in alle Ewigkeit auf der Marburger Straße stehen und mit einem Mädchen plaudern, das er einst nass aus dem Schnee gezogen hat, vielleicht auch den Skistock, er blickt auf die Uhr und sagt, seine Arbeit warte auf ihn. Er denkt aber auch, dass das Mädchen schon eine Frau ist, er hätte nichts dagegen, sie wieder aus dem Schnee zu ziehen.

— Und wie sieht es nach der Arbeit aus?, sagt Sonja und spürt, wie ihr die Röte ins Gesicht gestiegen ist. Vielleicht könnten wir nach der Arbeit gemeinsam Tee trinken? Im Kaffeehaus?

Verwundert, auch ein wenig argwöhnisch, sieht er sie an. Er hat gewiss eine Position inne, die ihn bei einem solchen Angebot augenblicklich etwas stutzig werden lässt.

— Ist mit Ihrem Vater etwas nicht in Ordnung?, fragt er geradeheraus, weil er ahnt, dass hinter diesem Tee ein Problem steckt, worüber das Mädchen reden möchte.

— Nicht mit dem Vater, sagt Sonja leise.

— Wenn es etwas Amtliches ist, kommen Sie in mein Büro, sagt Ludwig, nickt höflich und setzt seinen Weg fort.

Sonja schweigt und blickt zu Boden. Ihre Handtasche drückt sie mit solcher Kraft, dass ihre Haut an den Fingerknöcheln weiß wird. Sie könnte ihm nachgehen, sie könnte sagen, dass sie einen Teil des Weges gemeinsam gehen könnten. Aber sie kann nicht, das kann sie nicht mehr, sie hat getan, was sie konnte. Sie bleibt stehen und blickt ihm nach.

— Nur einen Tee, ruft sie, sie weiß selbst nicht, woher sie die Kraft für diese Demütigung nimmt. Einen deutschen Offizier auf offener Straße um eine Verabredung anzubetteln. Und das, obwohl es nur Ludek war, Ludek, der Skifahrer aus ihrer Kindheit. Sie muss die vielsagenden Blicke der Passanten ertragen und auch sein gnädiges Lächeln, als er sich umdreht, in seinem entschlossenen Schritt innehält, sich umdreht und sagt:

— In Ordnung. Morgen Nachmittag habe ich frei. Um fünf im Theresienhof. Und ich heiße nicht Ludek. Mein Name ist Ludwig.

Sonja nickt, bleibt mitten auf der Straße stehen und blickt seinem breiten Rücken nach, seinen schwarzen Stiefeln, dem entschlossenen Gang von Ludwig Mischkolnig, der mit seinen Stiefeln und in seiner SS-Uniform seinen Dienstpflichten entgegengeht. Sie weiß, wo der Theresienhof ist, vor ein paar Jahren noch hieß das Kaffeehaus Velika kavarna, nun sitzen dort deutsche Offiziere herum, Mädchen wie Sonja kehren dort nicht ein, aber sie wird hingehen, sie muss hingehen.

3

— Ihr Deutsch, sagt Ludwig Mischkolnig, während er sich eine Zigarette anzündet, Ihr Deutsch ist herausragend.

Nun ist er in Zivil gekleidet, trägt einen eleganten dunklen Nadelstreifenanzug, mit dünnen blauen Streifen. Sonja kommt er nun wirklich jenem Ludek ähnlicher vor, den sie einmal gekannt hatte.

— Warum siezen Sie mich, Sie müssen mich nicht siezen, wir kennen uns schon lange.

Sonja möchte mit ihm reden, wie zwei, die sich schon lange kennen, und sie kennen sich wirklich, obwohl er sich wohl nur flüchtig daran erinnert.

— Stimmt ja, sagt Ludwig. Als ich dich dort oben am Bachern aus dem Schnee gezogen habe, warst du noch ein kleines Mädchen.

— Nicht ganz klein, wie alt war ich, in etwa zwölf Jahre alt. Aber ich kann mich an alles genau erinnern. Ihr Erwachsenen habt Glühwein getrunken, wir Kinder haben Kekse gegessen, meine Mutter hatte welche mitgebracht.

— Glühwein, genau.

Er bläst eine kleine runde Rauchwolke aus, die sich über seinem Kopf in einen zitternden Kreis verwandelt. Zufrieden beobachtet er sein bläuliches Erzeugnis aus Rauch, auch Sonja beobachtet es, sie würde lächeln, wenn es sich hier nicht um eine so ernste Sache handelte, vielleicht wäre es aber dennoch nicht schlecht, wenn sie lächelte, ein wenig verkrampft kichert sie los.

— Wie machst du das denn?, fragt sie mit einem bewundernden Blick. Ach, sie tut nur so, als bewundere sie das Paffen dieser Wolken, es interessiert sie keinen Deut, sie bemüht sich, ihm mit Bewunderung in die Augen zu blicken, es fällt ihr jedoch schwer, da seine Augen einen grünen, kühlen Farbton besitzen.

— Willst du es probieren?

— Ich rauche nicht, sagt Sonja.

Was nicht stimmt. Früher hatte sie mit ihrem Freund geraucht. Mehr zum Spaß, es war lustig, im Bett Rauch in die Luft zu paffen.

— Es ist nicht schwer, lächelt Ludwig. Das geht so.

Wieder pafft er einen bläulichen Ring zur Zimmerdecke hoch und beobachtet, wie er sich auflöst. Als hätte er es überhaupt nicht eilig und hätte viel Zeit. Alle Zeit der Welt. Sonja durchzuckt ein eigenartiges Gefühl, sie muss ihren Blick von dieser ungezwungenen Handlung abwenden. Natürlich: Solche Ringe lässt er zur Decke steigen, wenn er in seiner Schreibstube jemanden verhört. Er stellt eine Frage, pafft einen Ring zur Decke, beobachtet und wartet auf eine Antwort.

— Dein Deutsch, sagt Ludwig und beugt sich ein wenig über den Tisch zu ihr, ist so … wie soll ich sagen, geschmeidig. Und so klar, du sprichst jedes Wort ganz deutlich aus.

— Ich habe in Graz Medizin studiert. An der Karl-Franzens-Universität.

— Oh!

Mischkolnig sagte oh, er war sichtlich überrascht. Ein freundliches Lächeln breitete sich über sein Gesicht aus, sein Oh war wie die kleinen Wölkchen, wie die Ringe, die er zur Decke des Kaffeehauses Velika kavarna steigen ließ, das heißt des Theresienhofs.

— Reichsuniversität, sagte er, so heißt sie jetzt, wir haben diese lächerlichen österreichischen Namen aufgegeben.

Sie nickte eifrig: aufgegeben. Ihr Vater fand den Namen Karl-Franzens-Universität vornehm, eine alte und angesehene Bezeichnung.

— Aber ich habe es abgebrochen, sagte sie.

— Warum denn?

Sie wollte nicht darüber sprechen, warum sie das Studium abgebrochen hatte.

— Es herrscht Krieg.

Mischkolnig lachte.

— Warum sollten die Leute im Krieg denn nicht studieren, die Universitäten sind geöffnet, die Fabriken sind geöffnet, alles läuft, das Leben geht weiter.

Erst jetzt, als er sich zu ihr beugte, bemerkte er, dass sie winzige Sommersprossen unter den Augen, auf den Wangen und, wenn er genau hinsah, auch am Hals hatte. Ein glatter Hals, ein geschmeidiges Deutsch, ein geschmeidiges Mädchen.

— Unser Deutschprofessor, sagte sie schnell, damit sie keine Fragen über ihr Studium und warum sie es abgebrochen hatte, beantworten musste, unser Professor im Gymnasium hat in Frankfurt studiert.

— Es geht nicht darum, wo euer Professor studiert hat.

Er lächelte und erklärte ihr, worum es ging.

— Es geht darum, dass ihr alle, die ihr diese Sprache gelernt habt, besser ihre Macht und Schönheit begreift. Wie soll ich sagen … Ihr seid frisch, in der Aussprache und in der Genauigkeit liegt eine gewisse Frische. Du wirst es nicht glauben; als ich nach Graz ging, das muss bald nach jenem Skiausflug gewesen sein, besuchte ich dort einen Kurs zu reinem Deutsch. Das Deutsch eines Goethe, das Deutsch eines Schiller. Bevor ich hinaufgegangen bin, arbeitete ich in einer Druckerei, ich hatte jeden Tag mit Sprache zu tun, mit dem gedruckten Wort, ich weiß, was Sprache ist, und ich weiß, was Kultur ist. Wenn ich diesen grässlichen Marburger Dialekt loswerden wollte, musste ich etwas dagegen unternehmen.

Er lachte. Es war eigenartig, dass er, Ludwig Mischkolnig, dessen Familie seit jeher hier an der südlichen Grenze des Deutschtums Wache gestanden hatte, gelernt hatte, Wörter und Sätze auszusprechen, wie sie zweifelsfrei Schiller und Goethe ausgesprochen hatten.

— Unser Professor erklärte, machte Sonja töricht ihren Mund auf, dass das Marburger Deutsch das Überbleibsel eines bayerischen Dialektes sei. Eure Vorfahren sind angeblich aus Bayern gekommen.

Ludwig verging das Lachen. Das war nämlich nicht komisch, das war auch nicht nur unklug, das war dumm, geradezu dämlich. Ein Überbleibsel? Eure Vorfahren? Woher kamen denn eure Vorfahren, in ihren verpesteten Pelzen aus den russischen Sümpfen, von dort kamen sie angekrochen.

— Dein Professor ist ein Dummkopf, sagte er ruhig. Und wenn er hundertmal in Goethes Stadt studiert hat. Lehrt er noch immer am Gymnasium?

Sonja schüttelte den Kopf. Dieses Gespräch bei Tee und unter den Ringen des Zigarettenrauchs, die sich unter die Decke schlängelten, nahm plötzlich keine gute Richtung, dumme Gans, ich bin doch nicht hierhergekommen, um diesen Menschen zu provozieren.

— Ich glaube, man hat ihn ausgesiedelt. Angeblich irgendwohin nach Serbien.

— Dort gehört er auch hin, sagte Ludwig, auf diesen Misthaufen Europas.

Sonja starrte vor sich hin, schlürfte ein paar Schlucke Tee. Mischkolnig beobachtete sie eine Weile genau. Als sie ihn auf der Straße angesprochen hatte, war sie errötet, nun floh ihr Blick, sie konnte ihm nicht in die Augen blicken, ihre braunen Pupillen irrten über die Weite der großen Fenster, dort über die Drau hinweg, ans grüne Ufer jenseits des Flusses. Was führte sie im Schilde? Mischkolnig kannte die Blicke der Menschen gut, Blicke, die logen, Blicke, die sich versteckten, Blicke, die verloren durch den Raum irrten, Blicke, die verzweifelt nach Anhaltspunkten für eine Rettung suchten, die es nicht gab. In diesen Augen über den gesprenkelten Wangen gab es nichts dergleichen, das waren die Augen einer jungen Unschuld, sie führten nur im Schilde, dass sie für jemanden vermitteln wollten, um Hilfe bitten, bald werden wir herausfinden, was sie wollte.

Dann lächelte er wieder, das hatte er gut gesagt, kein schlechter Einfall mit dem serbischen Misthaufen, das musste er noch jemandem im Amt erzählen. Oder noch besser, um ein wenig vulgär zu sein: in den Dickdarm Europas, schaut euch nur die Landkarte an, dieses Serbien, das Österreich zerstört hat, ist ein regelrechter Dickdarm.

Sie schwieg. Sie mochte ihren Deutschprofessor, dem dessen Bewunderung für die deutsche Sprache und Kultur rein gar nichts geholfen hatte. Dieser Ludwig und seine Leute hatten ihn in einen Zug gesetzt, wie fast alle Professoren und Geistlichen und viele andere aus dieser Stadt. Nach Serbien, sie hatte nichts gegen Serbien. Und der Mensch, mit dem sie hier sprach, war nicht jener Ludek von vor fünfzehn Jahren, war nicht der Mensch, von dem sie etwas erwarten könnte. Sie hatte sich geirrt, sie wäre am liebsten aufgestanden und gegangen. Aber sein Vortrag über die Sprache war noch nicht zu Ende, Mischkolnig schien, er müsse dem jungen Ding noch die eine oder andere Sache erklären.

— Damit du verstehst: Deutsch ist auch im Dialekt noch immer Deutsch. Uns liegt diese Sprache im Blut, verstehst du? Das ist im Organismus, das fließt im Blut, zehn Generationen vor mir haben Deutsch gesprochen, und dann wird die Sprache veraltet, oberflächlich. Da mischen sich noch irgendwelche Fremdwörter hinein. Deswegen musste ich sie bei mir selbst bereinigen. Verstehst du?

Sonja nickte, sie verstand.

— Wir sind ein altes Volk, eine alte Kultur. Und ihr seid ein junges Volk, ihr lernt schnell. Ihr werdet uns Frische bringen, neues Blut, in einer Generation werdet ihr bessere Deutsche sein, als wir es sind.

Sonja hatte nicht vor, eine bessere Deutsche zu werden, ihr Vater auch nicht. Trotzdem sagte sie: Interessante Überlegungen.

Das sagte sie, damit Ruhe wäre, sie war nicht hierhergekommen, um sich Debatten über die Sprache und über frisches Blut anzuhören, auch nicht, um die bläulichen Ringe des Zigarettenrauchs zu bewundern, die aus seinem Mund gekrochen kamen. Und um zu nicken. Und höflich Offiziere zurückzugrüßen, die am Tisch vorbeigingen und den Kavalier Ludwig respektvoll begrüßten, wie es ein älterer Herr in Reithosen und Stiefeln ausdrückte: Der Herr Kavalier Mischkolnig sind aber heute in schöner Gesellschaft, meine Verehrung; sie war nicht deswegen hier, um in der Gesellschaft eines Kavaliers ohne Uniform andere Vorübergehende zu begrüßen, hauptsächlich uniformierte Kavaliere, von denen das Kaffeehaus nur so strotzte.

— Oje, ich habe ganz vergessen, rief sie aus, Vater lässt dich schön grüßen.

Das hatte sie sich ausgedacht, ein jämmerlicher letzter Versuch, diesen Menschen von seinen Monologen über Sprache und Kultur abzulenken. Und über Misthaufen. Wenn Vater wüsste, dass sie in diesem Kaffeehaus zwischen deutschen Offizieren saß, wäre er alles andere als erfreut. Jener Ludek, würde er sagen, war ein Bursche, der ganz in Ordnung war, solange er sich mit dem Druck beschäftigte. Und dann trieb es ihn fort, zuerst in den Kulturbund, dann machte er sich nach Österreich auf und davon. Wie ist es möglich, würde er sagen, das sagte er mehrmals, dass diese Leute solche Schweine geworden sind? Vielleicht wäre er betrübt, wenn er wüsste, dass sie mit Ludek hier saß und die Rauchwolken bewunderte, die er so geschickt, nur mit dem Mund, in Ringe zu verwandeln wusste.

— Oh, ruft Ludwig zufrieden aus, das freut mich aber. Arbeitet er noch immer im Krankenhaus?

— Noch immer, nickt Sonja, auf der Chirurgie.

— Dann hat er viel zu tun, sagt er und wirft ihr einen bedeutungsvollen Blick zu.

— Ziemlich viel.

Ludwig schweigt eine Weile, als überlegte er, ob das Gespräch mit der jungen Dame, die ihn offenbar bewunderte, es wert war, fortgeführt zu werden, oder ob er diesen süßlichen Tee stehen lassen und lieber zu einem Kognak übergehen sollte. Er entscheidet sich für einen Kognak und winkt dem Ober, der mit einem weißen Tuch angelaufen kommt, das er über seinen Unterarm gelegt hat.

Sie schweigen eine Zeit lang, als hätten sie sich nichts mehr zu erzählen. Als der Kognak auf dem Tisch steht, nimmt Ludwig mit gekonnter, weicher Bewegung das Glas in die Hand, schwenkt die gelbe Flüssigkeit darin, riecht daran, nimmt einen Schluck.

Sonja scheint es, er könne das ebenso gut, vielleicht noch besser, als bläuliche Rauchringe zu formen.

— Er ist gut, sagt er plötzlich auf Slowenisch. Warum wunderst du dich, glaubst du, ich hätte es vergessen?

Er beugt sich wieder über den Tisch und fügt leise, vertrauensvoll hinzu:

— Bei meiner Arbeit kommt mir das Slowenische sehr zugute.

Sonja spürt, wie ihr kalter Schweiß den Rücken hinunterrinnt. Bei seiner Arbeit. Gleichzeitig spürt sie aber, dass sie sich nicht mehr mit den Wolken, der Sprache und dem Kognak befassen kann. Sie ist wegen einer todernsten Sache hier. Und obwohl die Sache todernst ist, muss sie lächeln.

— Als wir uns auf der Straße begegnet sind, sagt sie ruhig und mit einem Lächeln im Gesicht, habe ich erwähnt, dass es nicht um meinen Vater geht.

4

Nun verstummt Ludwig und blickt sie kühl an. Er hat vergessen, worüber sie auf der Straße gesprochen hatten, damals dachte er, das Mädchen würde gerne für jemanden vermitteln, er kennt diese Sachen, ihm scheint, dass sie wirklich so etwas gesagt hatte, aber er hat es vergessen. Gestern Abend hat er mehrmals an ihren geschmeidigen Gang im Karo-Rock gedacht, an ihre freundliche Stimme, nun denkt er daran, wie geschmeidig und erfrischend ihr Deutsch ist, beinahe so wie sie selbst. Und jetzt das, immer wieder dasselbe, aber in diesen verdammten Zeiten und in dieser verdammten Stadt, sei sie auch hundertmal seine Stadt, war es unmöglich, einen ruhigen Augenblick zu genießen, muss man denn wirklich jeden Augenblick auf der Lauer sein?

— Um wen geht es denn?, fragt Ludwig Mischkolnig kühl, jetzt ist er nicht mehr Ludek, er ist nur noch Polizist, ein Polizist von außerordentlich wichtiger Sorte. Gerade weil er ein Polizist ist, spricht Sonja mit ihm, genau deswegen war sie ihm auch auf der Straße nachgelaufen. Damals trug er eine Uniform, nun ist er in Zivil. Sonja weiß nicht, dass er kein gewöhnlicher Polizist ist, Mischkolnig ist ein SS-Offizier. Im Augenblick ist er dem Sicherheitsdienst SD zugewiesen, der in dieser Stadt außerordentlich bedeutende Aufgaben durchführt. Auch das weiß sie noch nicht, wird es aber noch herausfinden, dass die Polizisten auch in Zivil unterwegs sind. Wenn sie im Dienst sind, tragen sie Uniformen, graue Uniformen der SS-Abteilungen, alle, die bei der Sicherheitspolizei sind, sind auch in der SS. Aber all das weiß Sonja noch nicht, mit großer Hoffnung sieht sie Ludek an, den jungen Mann, der sie einst aus dem nassen Schnee gezogen hatte.

— Ein Freund von mir wurde irrtümlich verhaftet, schießt es mit einer Vehemenz aus ihr heraus, etwas, das lange zurückgehalten wurde, seit damals, als sie ihm auf der Straße nachgelaufen war.

— Irrtümlich?

— Vielleicht hat man ihn mit jemandem verwechselt.

— Versteht sich, irrtümlich, es ist immer irrtümlich. Er wird doch nicht auch ein Professor sein?

— Ist er nicht, er war Assistent an der Universität von Ljubljana, ein Geodät.

— Dein Freund?

— Ein Freund, sagt Sonja zögerlich.

— Ich sehe, er ist dein Freund.

Sonja blickt in den abgekühlten Tee auf dem Tisch, es ist viel übrig geblieben, sie trinkt rasch aus, damit die Tasse leer ist, mein Gott, wie sehr sie sich wünscht, dieses Gespräch möge so schnell wie möglich vorbei sein.

— Nur deswegen hast du mich auf der Straße angehalten, um für deinen Freund zu betteln. Wie heißt er?

— Valentin. Valentin Gorjan.

Ludwig zieht sein Notizheft aus der Tasche und notiert den Namen. Sonja bemerkt aus dem Augenwinkel, dass man von den anderen Tischen zu ihnen herüberblickt, jemand lacht halblaut. Ihr Kollege ist nicht nur ein Kavalier, sondern arbeitet sogar im Kaffeehaus. Seine Tätigkeit ist solcherart, dass man auch spätnachmittags und im Kaffeehaus und in schöner Gesellschaft arbeiten muss. Er schreibt auch seine Telefonnummer auf, reißt das Blatt heraus und schiebt es ihr über den Tisch zu.

— Nun ist die Sache offiziell, sagt er.

Er blickt sie regungslos an, ihren gesenkten Kopf, sucht ihren Blick, der in den Weiten der großen Fenster herumirrt, hinter denen die warme Abendsonne glänzt.

— Trotzdem hast du mich ein wenig überrascht, sagt Mischkolnig. Hier kann es nichts Persönliches geben. Nur was mit dem Gesetz übereinstimmt, nur das.

Auch er würde jetzt am liebsten dieses Gespräch beenden. Er ist selbst schuld, dass er sich in diese Plauderei verwickelt hatte, bereits auf der Straße, aber nun war, was war. Er ist niemandem etwas schuldig, am wenigsten diesem Fräulein, das denkt, es könne ihn in dumme Schwierigkeiten bringen, was noch, was noch, soll er ihren Liebhaber auch noch aus dem Gefängnis befreien?

— Ruf mich in zwei Tagen an, sagt er dennoch, ich werde die Sache überprüfen.

Als sie aufstehen und er ihr hilft, ihre Jacke anzuziehen, spürt er, wie ihre Schultern zittern.

— Aber damit wir uns verstehen, haucht er leise, beinahe flüsternd in ihr Ohr. Du musst mich anrufen. Wenn du es nicht tust, werden wir dich finden.

Dabei lacht er kurz auf, damit das Mädchen auch versteht: Er würde sie finden, er würde sie gerne wieder treffen. Sie könnte es als Drohung auffassen, man würde sie finden, weil sie einem Menschen nahesteht, den sie im Gefängnis festhalten. Aber das hat sie nicht so verstanden, sie versteht eigentlich nichts anderes, als dass dieser Mann Kontrolle über ihren Tine hat und ihm helfen kann. Obwohl er nun auch ein wenig Kontrolle über sie hat, sie hat sich selbst in diese Lage gebracht.

Sonja hebt den Blick und sieht ihn flehend an.

— Ihr werdet ihm doch nichts Schlimmes tun, flüstert sie.

— Natürlich nicht, sagt Ludwig Mischkolnig galant, ein wenig spöttisch, wenn die junge Dame, die ich einst aus dem Schnee gezogen habe, es so verlangt.

Und er denkt, dass er etwas Dümmeres schon lange nicht mehr gehört hat. Seine Aussage versetzt ihn sogar ein bisschen in gute Laune, er muss ein wenig lachen, am liebsten würde er sagen: Wem tun wir denn etwas Schlimmes an?

Sonja überrascht ihn noch einmal. Als hätte sie seine Gedanken gelesen.

— Ich verlange nichts, flüstert sie hastig in sein Gesicht, in die Nähe seiner Lippen, des Duftes nach Zigarettenrauch, der gleitenden bläulichen Wölkchen, wie soll ich etwas verlangen, wer bin ich denn, etwas zu verlangen?

Sie spricht hastig halblaut vor allen Offizieren, viele blicken sich zu den beiden um.

— Ich verlange nichts, sagt sie beinahe laut. Ich bitte. Bitte.

5

Obersturmbannführer Ludwig Mischkolnig marschierte über den Adolf-Hitler-Platz und bog in die Herrengasse hinauf zu seiner Wohnung. Die Frische des frühherbstlichen Abendwindes kühlte sein Gesicht, das ein wenig von der Wärme der vielen Körper und vom Zigarettenrauch im Kaffeehaus glühte, ein wenig aber auch wegen Sonjas Atem, den er kurz davor in seinem Gesicht gespürt hatte, ihr Blick naiv, eigentlich wirklich unschuldig, jemand, der so dreinblickt, kann nichts im Schilde führen, in seiner Seele, die Augen sind der Spiegel der Seele, und dann ihr: Bitte. So ein Bitte von einer geschmeidigen jungen Dame kann einen schon ein wenig in Aufregung versetzen, dabei wird einem regelrecht ein bisschen wohl. Er fühlte sich wohl, das war seine Stadt, nun wurde sie langsam, aber sicher so, wie er sie sich schon immer gewünscht hatte, von einer festen straffen Sorte, mit ruhig festem Schritt, murmelte er vor sich hin, sang sogar ein wenig, das wurde in der SS-Junkerschule gesungen: Mit ruhig festem Schritt, er träumte von einem neuen Europa, das deutsch sein würde und unbesiegbar. Das war es noch immer, obwohl einige Dinge nicht mehr so liefen, wie sie sollten, und auch seine Stadt befand sich in diesem neuen Europa. Wenn er daran dachte, konnte er gut gelaunt sein, abgesehen von all den Hindernissen, die es noch zu überwinden galt. Auch Sonjas herausragendes Deutsch versetzte ihn in gute Laune. Diese Leute sind in Ordnung, zum Großteil in Ordnung in jedem Land, in Österreich, in Jugoslawien auch und auch im gesamten Reich sind sie in Ordnung, sie tun ihre Arbeit, wie es sich gehört, ihr Vater ist Arzt, wir brauchen Ärzte. Was ihnen gefehlt hat, ist nur das, was jetzt passiert, jetzt werden sie unsere Leute, ein Teil der großen deutschen Kultur. Er kannte ihren Vater, sogleich als sie den Namen sagte, konnte er sich gut erinnern, an Doktor Belak, den Arzt, der noch vor einem guten Jahr ein Vaterlandsliebender war, was für ein blödsinniges Wort, vor allem, wenn man noch das Wort slowenisch hinzufügt, slowenischer Vaterlandsliebender, Menschen, die gestern noch auf ihren Vaterlandsfeiern Vaterlandslieder gesungen hatten und den serbischen und russischen slawischen Mist priesen und ihre deutschen Mitbürger verachteten und sich über deren Slowenisch lustig machten, ohne nix auf Kopf geht er über Straße — und jetzt schau her, was für ein Deutsch ihre Kinder sprechen, Schiller hätte seine Freude daran. Und auch ihre Vaterlandsliebe hatte sich irgendwohin verflüchtigt, plötzlich sind sie loyale deutsche Staatsbürger geworden. Alles lief gut, beinahe hervorragend. Letztes Jahr, seit man begonnen hatte, Bomben auf die Stadt abzuwerfen, zwar etwas schlechter, ziemlich viel schlechter eigentlich. Die anfängliche Begeisterung ist etwas abgeebbt. Aber die Hauptaufgaben sind hier, zumindest in dieser Stadt, erledigt. Das Treffen mit Sonja erfüllte ihn mit Zufriedenheit, er würde nachsehen, was mit diesem … wie heißt er noch, Gorjanec oder Gorjup los war. Er wollte nicht, dass sie ihm irgendetwas erklärte, er wusste, was sie sagen würde, er kannte diese Leier: Irrtümlich, ganz zufällig hatte er eine Pistole in der Tasche, das kommunistische Propagandamaterial hatte ihm jemand in die Tasche gesteckt, er war betrunken, als er an der Theke brabbelte, der Teufel solle das Reich holen, er kannte diese Leier, alle waren sie unschuldig und alle irrtümlich arretiert. Mit ruhig festem Schritt, ja, aber auch mit eiserner Faust, wie unser Gauleiter gesagt hat, als er nach Marburg an der Drau kam und die Leitung der Zivilbehörde übernommen hatte, er hat es ihnen klar und deutlich gesagt: Auch mit eiserner Faust, wenn es sein muss.

Trotzdem würde er überprüfen, was an der Sache dran war, soweit er sich erinnern konnte, war unter den Verdächtigen in seinem Zuständigkeitsbereich, das heißt, in Bearbeitung, dieser Gorjup oder wie auch immer auf keinen Fall dabei. Wahrscheinlich hatte ihn Hochbauer in der Hand. Er kannte seine Leute, nicht nur dem Namen nach, auch ihre Verwandtschaft bis zum fünften Grad, sogar ihre Geliebten. Na ja, nun kannte er ja auch die Geliebte dieses Gorjanec, Sonja hieß sie, als sie noch ein kleines Mädchen war, hatte er sie vielleicht wirklich am Bachern nass aus dem Schnee gezogen, er würde es auch jetzt tun. Um ehrlich zu sein: mit allergrößter Freude.

6

Am Rande des Parks blieb er stehen. Im zweiten Stock brannte im Zimmer seiner Mutter noch Licht. Sie wartete auf ihn.

Seit der Vater nicht mehr war, wartete sie jeden Abend auf ihn, wie sie auf ihren Mann gewartet hatte. Ich habe Palatschinken für dich, mein Söhnchen. Er mochte dieses Wort nicht, nach der schweren Arbeit, die er tagsüber verrichtete, wollte er am Abend nicht Söhnchen genannt werden, so wie damals, als er noch klein war. Am liebsten wäre er auf Zehenspitzen an ihrem Zimmer vorbeigeschlichen, hätte sich hingelegt, eine Platte aufgelegt, ein Buch gelesen. Aber das war nicht möglich: Gestern Abend, als er aus dem Amt nach Hause kam, hatte er die Stiefel schon an der Treppe ausgezogen, leise die Tür geöffnet — das Licht im Flur nicht angemacht — und ging in Socken auf sein Zimmer zu. Aber seine Mutter hatte trotz ihres Alters ein hervorragendes Gehör, sie öffnete die Tür, machte das Licht an und sah ihn verwundert an.

— Was ist denn mit dir?, fragte sie. Du wirst doch wohl nicht getrunken haben.

Er schüttelte den Kopf, sagte, er wollte sie nicht stören. Er störe sie ja nicht, sie könne es jeden Abend kaum erwarten, ihn zu sehen, er sei ja nie zu Hause.

— Du weißt, dass ich viel zu tun habe, Mutter.

— Das weiß ich, sagte sie, aber ich warte so sehr auf dich. Wir könnten uns doch wieder einmal gemeinsam Veronika, der Lenz ist da anhören.

— Ich mag dieses Lied nicht, antwortete er verdrossen.

— Früher hast du es gern gehört, wir haben es alle gehört.

Er legte die Stiefel ab und öffnete seinen Pistolengürtel. Seine Mutter folgte ihm mit dem Blick.

— Was ist denn?, fragte er ein wenig nervös. Was siehst du mich so an?

— Du weißt sehr gut, was ist, zischte sie und stemmte ihre Hände in die Hüften.

— Na, was?

— Du warst bei einer Frau, sagte sie. Warum vertraust du deiner Mutter nicht? Ich habe nichts dagegen, du hättest sie mir aber ruhig vorstellen können.

— Mutter, sagte er so ruhig er konnte. Ich war nicht bei einer Frau, und rede keine Dummheiten. Ich war im Dienst, ich habe mir die Stiefel ausgezogen, weil ich dachte, du schläfst, ich wollte dich nicht wecken.

— Du weißt, dass ich nie schlafe, ich warte immer auf dich, sagte sie.

Er trat in sein Zimmer und warf die Tür zu. Eine Zeit lang stand er da, wartete, dass sie ging. Aber sie ging nicht, das hätte er hinter der Tür gehört.

Dann sang sie leise:

Veronika, der Lenz ist da,

die Mädchen singen tralala.

— Mutter, geh schlafen, sagte er.

Sie antwortete nicht. Eine Weile später meldete sie sich mit gebrochener, beinahe schluchzender Stimme leise zu Wort:

— Die Palatschinken stehen am Herd, die Marmelade ist im Schrank.

Er öffnete die Tür. Sie stand da und konnte kaum die Tränen zurückhalten. Er dachte, dass sie so einsam sei, seit der Vater nicht mehr lebte, so einsam. Er umarmte sie. Er ging in die Küche und begann sich mit den Palatschinken vollzustopfen, obwohl er kein bisschen hungrig war. Die Mutter saß auf dem Stuhl, hielt die Hände im Schoß und sah ihm zufrieden zu.

Das war letzten Abend gewesen. An diesem Abend wollte er wirklich keine Palatschinken mit Marmelade. Er beschloss, noch ein wenig spazieren zu gehen, und in der Zwischenzeit würde die Mutter vielleicht einschlafen, manchmal schlief sie doch ein. Am Morgen würde er sich entschuldigen, weil er sie nicht aufgegessen hatte, sie sind ja zum Frühstück auch noch gut, er würde sie zum Frühstück essen. An diesem Abend wünschte er sich noch etwas frische Herbstluft, einen Spaziergang durch die befreite, der deutschen Heimat angeschlossene Stadt. Er dachte daran, ins Kaffeehaus zurückzukehren, um mit einer freundschaftlichen Runde, an der es dort nie mangelte, seine heiteren Gedanken zu teilen. Dort saß manchmal Hans Hochbauer, trank und erlaubte sich dumme Scherze: Hat dir deine Mama erlaubt auszugehen? Hans hatte ihn gefragt, warum er noch immer mit seiner Mutter zusammenlebte, er könne sich eine eigene Wohnung finden. Und heiraten. Ludwig Mischkolnig hatte gelacht und gesagt, ich bin mit der Heimat verheiratet. Obwohl ihm nicht zum Lachen zumute war, Hans war im Dienst sein Untergebener und erlaubte sich trotzdem solche Scherze. Dieser Fettwanst, er aß zu viel, in diesem Amt dürften keine Menschen arbeiten, die so viel aßen und tranken.

Aber jetzt könnte er zu seinen Kameraden in den Theresienhof gehen, Hans ist in Wien, er ist dabei, irgendeine komplizierte Sache zu lösen, eine Verbindung zwischen den österreichischen und den hiesigen Kommunisten. Er müsste sich seine dummen Sticheleien nicht anhören. Er hätte mit seinen Kameraden darüber reden können, wie es auf den Schlachtfeldern zuging, einige waren in Afrika gewesen, in Skandinavien, in Polen. Mutige Männer. Manchmal wünschte er sich auch, selbst ins Kampffeld zu ziehen, ins Getöse der Explosionen und Siege. Aber es ist der Wille der Heimat, dass er hierbleibt, in seiner Stadt, auch hier herrscht der Kampf ums Deutschtum und das neue Europa.

Er ging nicht ins Kaffeehaus. Der Park war näher, die Ahnung des dunklen Grüns zog ihn zu den alten Bäumen. Er machte sich zu den Drei Teichen auf, eine Weile ging er hin und her und wusste überhaupt nicht, wann er sich vor dem Eingang des Amtsgebäudes eingefunden hatte, seine Beine hatten den Weg dorthin von selbst gefunden. Der Wachmann am Eingang salutierte, eine der Stenotypistinnen im Bereitschaftsdienst plauderte mit dem Pförtner. Er sagte etwas von einem guten Abend und nahm den Schlüssel zu seiner Schreibstube, eigentlich nicht nur seinen, sondern auch Hans’ Schlüssel. Er würde sich Gorjans Mappe ansehen.

7

Sonja steht am Fenster in ihrem Zimmer.

Aus dem Erdgeschoss hört sie das Klappern von Geschirr, ihre Eltern sind beim Abendessen, sie würde heute Abend nicht essen, sie hatte keinen Hunger. Sie hört ihre Stimmen, leise besprechen sie Alltagsdinge, der Vater erzählt vom Krankenhaus, er verrichtet eine schwere Arbeit, es gibt wenig Ärzte, ein Teil des Personals war einberufen worden, es fehlt an allem. Es ist Krieg, es gibt auch weniger zu essen, bei ihnen geht es noch irgendwie, der Vater bekommt Marken, mehr als andere, für Ärzte muss man sorgen. Die Patienten vom Land bringen ihm auch etwas mit, Mehl, ein Stück Dörrfleisch, heute gibt es frische Eier im Haus.

— Frau Katica hat sie gebracht, Modrinjak, du kennst sie ja.

Frau Katica Modrinjak ist keine Patientin, sie ist Krankenschwester, die in Ptuj arbeitet, im dortigen Krankenhaus. Vater und sie kennen sich gut, sie besucht ihn im Krankenhaus, sie kommt auch zu ihnen nach Hause. Manchmal sitzen sie nachmittags lange allein im Wohnzimmer und unterhalten sich.

Sonja kommt das ungewöhnlich vor, auch die Mutter ist nicht dabei, wenn sich der Vater und Frau Katica ins Gespräch vertiefen.

— Worüber können die beiden nur so viel reden?, fragte Sonja einmal.

— Über die Arbeit, antwortete ihre Mutter.

Sonja kam das komisch vor, darüber hätten sie ja auch im Krankenhaus oder in Ptuj reden können, wenn der Vater die dortige Ambulanz besuchte. Ihr schien, als ahne sie ein wenig, welches Geheimnis ihr Vater und diese Frau Katica hatten. Es stimmte schon, dass sie Eier brachte, aber einige Sachen nahm sie auch aus dem Haus mit. Einmal hatte sie gesehen, wie der Vater aus seiner Tasche Verbandrollen, Desinfektionsfläschchen, Verbandklammern und Pinzetten nahm, auch chirurgisches Werkzeug und alles in einer Baumwolltasche verstaute. Als Frau Katica ging, standen diese Dinge nicht mehr im Flur. Warum sollte Frau Katica diese Dinge benötigen, wo sie doch selbst in der Ambulanz arbeitete, oder konnte man sie nicht mit einem Automobil dorthin liefern?

Aber heute denkt Sonja nicht an die Gespräche ihres Vaters mit Frau Katica, ebenso wenig interessiert es sie, was Frau Katica mitgebracht und was sie mitgenommen hat.

— Ich werde ein paar Eier zubereiten, sagt die Mutter, iss zumindest ein wenig, du bist schon ganz dürr.

— Ich werde nicht abendessen, ich habe keinen Hunger.

— Was ist mit dir, Sonja?, ruft sie ihr nach, als sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer geht. Was ist mit dir? Du isst nichts in letzter Zeit.

Was soll mit mir sein, nichts ist mit mir, mein Herz tut weh. Nun steht sie am Fenster. Es ist Abend, die Stadt ist still. Unten erstreckt sich eine leere Kastanienallee, jetzt ist sie leer, manchmal standen an lauen Abenden Menschen vor den Häusern und plauderten, von den nahe gelegenen Bergen kehrte müden Schrittes eine Familie mit Rucksäcken auf den Schultern heim. Mütter riefen ihre Kinder zum Abendessen, ein Motorradfahrer kam die Straße entlanggerattert, von der Franziskanerglocke läutete es neunmal. In ihrem Zimmer liegt auf dem Tisch ein Brief, den sie ihrem Freund nach Ljubljana geschrieben hatte: Es ist Abend, Abend, nun wird’s Nacht, drück fester der Hände Umarmung und sacht … und sieh mich an, fühl und sieh nochmals mich, wie sehr diese Minute dein bin ich. Das hatte sie ihm vor ein paar Jahren geschrieben, Verse von Gradnik, sie schickten einander Verse, ich trank dich, trank dich nicht aus, Liebe, schwere Verse, scherzhafte Verse, sie schrieben einander, sie hatte am Bahnhof auf ihn gewartet, wenn er aus Ljubljana kam. Wenn Tine zu Hause zu Besuch war, auf der anderen Seite der Drau, in Studenci, in St. Josef, gingen sie am Fluss spazieren, sie gingen durch die Straßen, saßen in der Ilich-Konditorei, wanderten nach Sveti Urban hinauf. Im Frühjahr, im Mai des Jahres 40 waren sie nach Sveti Urban hinaufgegangen, es war Mai, der blühende Mai, und das Täubchen rief zur Lieb herbei, oder wie ging noch mal das Gedicht, das damals alle aufsagen konnten. Abends wartete er in der Allee hier unten, sie kann ihn vor sich sehen, in einem hellen Hemd lehnt er an einem Baum, er steht unter der blühenden Kastanie und wartet darauf, dass sie aus dem Haus kommt. Nun ist er nicht da, nun haben wir das Jahr 44, der Abend ist still, aber still ist er nur deshalb, weil niemand aus dem Haus geht, alle sind zu Hause, sie hocken da und starren vor sich hin, sehen einander an und warten darauf, dass die Sirenen aufheulen.