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Maja & Wolfgang Brandstetter

PERCHTENJAGD

Ein Meiberger-Krimi

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Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger
Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.
Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

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Gesetzt aus der Palatino, Courier, Bauer Bodoni

Umschlaggestaltung: www.b3k-design.de, Andrea Schneider, diceindustries
Umschlagmotiv: © picturedesk.com, © FooTToo/shutterstock
Gedruckt auf PERGRAPHICA® Ivory Rough 90 g/m2. Mit Liebe in Österreich produziert bei Mondi.
ISBN: 978-3-7104-0233-3
eISBN: 978-3-7104-5224-6

Inhalt

Kapitel I ADVENT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel II RAUNACHT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel III ILLUSION

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel IV NICHTS IST, WIE ES SCHEINT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel V DIE MUTTER

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel VI WEIHNACHT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

NACHWORT

DANKSAGUNG

Kapitel I

ADVENT

1

Weißt Du, was Du Dir wünschst? Ich schon. Dem Christkind hab ich’s schon geschrieben. Sagen wollt ich’s ihm auch. Damit ich mich traue, hab ich den Bärli mitgenommen. Den mit der Mütze, die die Mama genäht hat. Ich hab ihm gesagt, dass wir zu den Sternen gehen. Am See. Da, wo der Rauch getanzt hat. Da hat’s nach gerösteten Mandeln geduftet. Die Mama hat mir welche gekauft. Kurz war ich traurig, weil ich die große Tüte wollte. Aber die kleine war dann auch groß. Geraschelt hat’s ordentlich. Wenn du wüsstest, wie schön das war. Und wie die Schuhe geknirscht haben im Schnee. Die Lichter aus den Holzhäuschen, die waren ganz orange, das weiß ich noch. Und warm. Da ist mir auch ganz warm geworden. Ich hab den Bärli in die Tasche gesteckt und mit ihm getanzt, weil da so schöne Musik war. Von der Flöte. Da hab ich gewusst, so klingt das Christkind. Aber statt dem Christkind sind die Monster gekommen.

Da haben alle geschrien.

Die Mama, die hat meine Hand gedrückt. Da hab ich gespürt, wie’s kalt wird. In meinem Hals und im Bauch. Weil ich die Augen gesehen hab. Von den Monstern. Die haben mich direkt angeschaut. Da hab ich gewusst, jetzt muss ich sterben.

2

Maries Mutter wusste nicht, wie es passiert war. Ihre Tochter hatte sich seit Wochen darauf gefreut. Auf die Mandeln, die Lichterketten. Sie war noch nie auf dem Adventmarkt in St. Wolfgang gewesen. Und es war das Größte für sie. Vor Aufregung hatte sie ihre Hand gedrückt. Dann waren die Perchtenläufer gekommen. Und Marie war nicht mehr da. Sie hätte ihre Tochter nie losgelassen. Nie. Ob der Entführer einer der Perchten war, konnte sie nicht sagen. Nur dass Marie nicht weggelaufen wäre. Das war alles, woran sie denken konnte. Und an die Kälte in der alten Salzburger Polizeiinspektion. Nicht nur ihre Gedanken waren gelähmt, auch ihr Körper. Von dem Eisblock, der sich jetzt in ihrem Hals formte. Nie hätte sie Marie losgelassen. Oder doch? Sie hatte ihr Kind verloren. Sie war schuld. Sie hatte Marie verloren.

Der Psychologe schaute sie jetzt an. Mehr noch. Er schaute direkt in sie hinein. Wortlos. Die einzige Stimme war die aus dem Nebenzimmer. Von dem Polizisten, dem, der so hieß, wie Nestroy. »Wenn ma das Kind nicht hamm’, bevor’s finster wird, dann sinkt die Chance, dass ma’s lebend finden, unter zehn Prozent.« Ihr Verstand hatte an dieser Stelle einen Knoten bekommen. Sie wünschte sich, ihn zu verlieren. Die Wand, hinter der sie die Stimme hörte, war alt. Eine blöde Gipswand, die grinste, mit ihren Rissen, die sie auslachte. Ein verfallenes Lachen in abblätterndem Kalk. Maries Mutter wollte ihre Stirn dagegenschlagen. So fest sie konnte. So oft sie konnte. Bis keine Gedanken mehr da waren.

Der Blick des Psychologen hinderte sie daran. In seinen Augen war kein Trost, nur eine Erinnerung. Daran, dass Marie sie brauchte. Auf die Polizei konnte sie sich nicht verlassen, und der Psychologe, so viel hatte sie verstanden, tat das auch nicht. Sein Griff war fest, als er ihr aufhalf. Sein Blick zu den diensthabenden Beamten glich einem Kommando. In diesem Moment wusste sie, dass er mehr als ein psychologischer Betreuer war. Die beiden Polizisten, die jetzt aus dem Nebenzimmer kamen, taten, was er sagte, und das machte ihn zu ihrer letzten Hoffnung.

Der Name des Psychologen war Meiberger, und er las diesen Gedanken in ihren Augen, konnte aber nicht darauf eingehen. Zu sehr war er mit einer Hypothese beschäftigt, die seit dem Verschwinden der kleinen Marie in seinem Kopf Form annahm, die er aber noch nicht ganz greifen konnte. Eine Hypothese, die das Einzige war, was das kleine Mädchen in seinen Augen noch retten konnte.

Meiberger hielt sich dabei an einem Gesetz aus der Psychologie fest. Einem sogenannten Gestaltgesetz. Dieses besagt, dass unser Gehirn komplex erlebte Sachverhalte immer zu möglichst simplen Strukturen zusammenfügt. Um ein Ganzes zu schaffen. Gerade das passierte Meiberger jetzt selbst, in diesem Moment. Vor dem Salzburger Rathaus, in dem die Polizeiinspektion untergebracht war, peitschte ihm beim Rauskommen eine herbe Kälte in den Nacken, im selben Moment, als der Blick von Maries Mutter ihn durchbohrte. Zwei Ereignisse, die in seiner Wahrnehmung zusammenpassten, aber selbstverständlich losgelöst voneinander auftraten. So wie die beiden anderen Sachverhalte, die in seinen Gedanken Tango tanzten. Das Auftauchen der Perchtenläufer passte vom Zeitpunkt her perfekt zum Verschwinden des Kindes. Trotzdem gab es keinen einzigen tatsächlichen Beweis für einen Zusammenhang. Es könnte in Wahrheit auch nur so sein wie mit der Kälte im Nacken und dem Blick der Mutter. Perfekt passend, aber ohne tatsächlichen kausalen Zusammenhang.

Die Gestalten, die Maries Mutter mit dem Verschwinden ihrer Tochter zusammenbrachte, die Perchten, waren nur eine Gruppe Jugendlicher gewesen, die man allesamt befragt hatte. Niemand stand in Verbindung zu der Mutter oder dem Mädchen, und für alle Beteiligten war es nichts Ungewöhnliches. Eine Horde Verkleideter, die als Attraktion auf dem Adventmarkt einen Perchtenlauf aufführten. Maries Mutter, die aus Berlin hierhergezogen war, hatte allerdings keine Ahnung von den hiesigen Bräuchen. Für sie war es ein grausiges Schauspiel.

Meiberger versuchte, den hilflosen Blick der Mutter zu erwidern, was nicht leicht war. Ihr Griff um seinen Arm war stärker als seiner um ihren, obwohl er schätzungsweise gut fünfzig Prozent ihres Gewichts auffing. Die Salzburger Altstadt fing ihrerseits die beiden auf, umhüllte sie, während Meiberger das Salz sehen konnte, das ihm von der vereisten Straßendecke entgegenfunkelte. Ein Blick nach oben, und der Rathausturm schoss aus dem Himmel, wie versteinert in seinem verschneiten Rokoko. Meiberger fixierte im Gehen die Turmuhr, goldene Zeiger vor römischen Ziffern. Sieben Uhr dreißig.

Die kleine Marie war jetzt seit vier Stunden verschwunden, und die Stadt mit ihren verschneiten Mauern und Barockfassaden sah Meiberger an, als ob das alles seine Schuld wäre. Und als ob sein Verstand nicht schon genug mit Widersprüchen zu kämpfen hätte, tauchten jetzt auch noch Engel am Himmel auf.

Strahlend gelbe Engel, Umrisse von Flügeln und Sternen, die Weihnachtsbeleuchtung der Altstadt, die sich in stromfressendem Neon in seine Retina bohrten. Meiberger wusste, dass die junge Mutter in der Griesgasse geparkt hatte. Er hatte den diensthabenden Wachtmeister umgehend wissen lassen, dass es unverantwortlich war, die Frau von St. Wolfgang allein hierher fahren zu lassen. Aber keine Chance, sie hatte darauf bestanden, so wie sie es auch jetzt tat. Maries Mutter konnte nicht zulassen, dass ihr diese letzte Normalität genommen wurde, denn dann … dann müsste sie sich den Umkehrschluss eingestehen. Dass ihr Leben nie mehr so sein würde wie vorher. Weil Marie wirklich weg war, nicht nur kurz woanders und … Die Mutter stoppte ihre Gedanken.

Sie klammerte sich fester an Meiberger, und er konnte fühlen, dass sie zitterte, als sie nach vorne zum Makartsteg nickte, der wie ein funkelnder Bogen über der tiefschwarzen Salzach schwebte. Erst im zweiten Moment erkannte Meiberger den Kleinwagen der Frau, der gegenüber zugeschneit im Parkverbot stand. Davor ein Straßenmusiker, der voller Freude auf sein Keyboard klimperte, über ihm strahlten die leuchtenden Eiszapfen um die Wette. Meiberger hielt die Frau stützend am Arm, als er mit ihr die Straße überquerte, und dabei fegte ein Windstoß so eisig gegen sein Gesicht, dass sich seine Wangen zusammenzogen. Dazu diese Musik, das Licht, die Häuserreihe.

Meibergers Stadt ließ ihn nicht in Ruhe denken, sie drängte sich ihm auf, mit ihrer Weihnachtsstimmung, ihren harmonischen Schornsteinen und leuchtenden Gassen. Als ob sie ihm vorhalten wollte, dass man doch bitteschön froh zu sein hatte, so kurz vor Weihnachten. Es war jetzt eigentlich an der Zeit, seine Familie in den Arm zu nehmen. Aber Meiberger hatte keine Familie mehr, und wenn er versagte, würde die Frau neben ihm bald dieses Schicksal teilen müssen. Das alles waren zum Glück nur Gedanken, in Worte fasste er das Gegenteil. Mit ruhigem Tonfall versuchte er, eine Frau zu beruhigen, die nie wieder ruhig sein würde, nicht bevor die kleine Marie wieder da war. Seine Worte waren Floskeln, das wussten beide, aber sie mussten nur für hundertfünfzig Meter reichen, vielleicht auch nur hundertzwanzig, die paar Schritte bis zu ihrem Auto, einem Auto, das sie in ihrem Zustand gar nicht lenken sollte.

Als ob der Wind es Meiberger noch schwerer machen wollte, drückte er ihn mit aller Kraft von seinem Ziel weg, und die kleinen Schneeflocken, die G’fraster, fanden das lustig, sie setzten sich in seinen Wangen fest wie vereiste Nadelspitzen. Als sie das Auto endlich erreicht hatten, klebten die weihnachtlichen Klavierklänge des Straßenmusikers zäh in Meibergers Gehörgang, und er ertappte sich für eine Sekunde bei der Vorstellung, wie die Schneeflocken im Takt von »Stille Nacht« auf seine Haare glitten. Und da bekam er es zu fassen: Kausalattribution war das Stichwort, die fachliche Bezeichnung für den permanenten Selbstbetrug des eigenen Gehirns. Es war der Rückschluss zur Hypothese der Gestaltgesetze und mit ihm der entscheidende Hinweis. Festlich verpackt, mit einer goldenen Schleife. Der Täter war nicht mit den Perchten gekommen. Unabhängig von der Aussage der Mutter und der Interpretation der Kripotrotteln.

Das wollten ihre Gehirne ihnen nur weismachen, so wie Meibergers Hirn ihm gerade erzählen wollte, dass das Keyboard des Straßenmusikers ein Klavier war. Der Täter war davor schon da gewesen. Nahm man das als gegeben an, so musste er es geplant und das Eintreffen der Perchten abgewartet haben. Das war ein echter Hinweis, denn es schloss eine spontane Tat aus. Damit offenbarte sich ein nicht zu unterschätzender Vorteil, denn genau da konnte Meiberger ansetzen und Rückschlüsse ziehen. Jetzt gab es wieder eine Chance, wenn die Theorie hielt, könnte er das Mädchen vielleicht noch rechtzeitig finden.

Die Ironie dieses Sachverhalts bestand darin, dass der Täter in genau dem Moment, in dem Meiberger diesen Gedanken fasste, ebenfalls da war. Unbemerkt, nur fünf Meter von ihm und der Frau entfernt. Von der anderen Straßenseite aus beobachtete er, wie der Psychologe ihr jetzt in das Auto half. Wie sie sich dabei an ihn klammerte. Wie das letzte Blatt an einem sterbenden Baum. Wie Maria sich damals an ihren Josef geklammert haben musste. In Sorge um das heilige Kind. Gott, war das schön. Und da spürte der Täter sie, die Wärme, für die er das Spiel überhaupt erst begonnen hatte.

Dieses Gefühl, das ihm nur die Nähe zum Geist der Weihnacht geben konnte. Er war vermutlich der Einzige, der das begriffen hatte. Der Einzige, dem klar war, dass das großartige Licht der Weihnacht nur über Schatten entstehen konnte. Und dass es dieser Schatten war, der die schönste Zeit im Jahr überhaupt erst möglich machte. Wer die biblische Weihnachtsgeschichte wirklich gelesen und nicht nur überflogen hatte, der wusste ohnehin, dass der Teufel der wahre Held dieser Geschichte war. Nur seine Dunkelheit konnte das Licht entfesseln. Wieder wurde ihm warm ums Herz, und er freute sich. Denn er wusste in diesem Moment mehr als in jedem anderen, dass er dieser Teufel war und somit der Schöpfer des Guten. Wie heißt es? Sein größter Trick war es, die Menschen glauben zu lassen, dass er nicht existierte.

Auch der Psychologe hatte keine Ahnung, dass er da war. Ganz nah. Dieser Meiberger ging auf Perchtenjagd, dabei war der Percht die ganze Zeit direkt vor seiner Nase. Die Fratze in der Menge, das unentdeckte Böse, das Dinge vorhatte, die den Psychologen zum Schreien bringen würden, wenn er die Chance hätte, sie zu erahnen. Der ihm so heilige Verstand würde in sich zusammenfallen. Und das wird er, wenn er erst sieht, wie das Spiel zu Ende geht, wenn es seinen Höhepunkt erreicht, in der Weihnachtsnacht. Diese Vorstellung schenkte dem Teufel die aufregende Ruhe, die man Vorfreude nennt. Es war wie damals. Wie das Warten auf das Christkind. Und während er wartete, würde er die Nächsten zu sich holen. So wie er es im Jahr zuvor auch schon getan hatte. Ohne dass irgendein anderer Mensch als er selbst es würde kommen sehen. Wie hatte schon seine Omama immer gesagt?

»Den Teufel erwischst du nicht. Der erwischt dich.«

3

»Aktennotiz Oberstleutnant Nepomuk Wallner. Fall 160185, Verschwinden der kleinen Marie Tettmann am Spätnachmittag des 19. Dezember, 5 Jahre alt, wohnhaft in St. Wolfgang.« Nepo schaltete das Aufnahmegerät aus und spießte die Käsekrainer-Wurst auf. Er stand an einem der wohl letzten Würstelstandeln Salzburgs und sprach als wohl einziger Mensch auf dem Planeten noch in ein Diktiergerät mit mechanischem Tonbandrekorder. Die Wurst antwortete mit einem köstlichen »Plopp«, was unmissverständlich klarmachte, dass ordentlich Käse drinnen war. Richtig würziger, vermutlich Pinzgauer Emmentaler. Das war wahrlich ein Referenzexemplar einer gelungenen Käsekrainer. Allein das Grillmuster war ein Garant dafür, dass sie nicht nur gekocht, sondern zum Abschluss noch fein gebraten worden war, was für das Traditionsbewusstsein dieses Vier-Quadratmeter-Gastronomie-Unternehmens sprach. Nepo hatte über die Jahre hinweg die ideale Genießertaktik entwickelt. Ein Stück aß er pur, das nächste wurde anspruchsvoll von Ketchup umhüllt. Nicht zu schnell, nicht zu langsam. Wie eine Ballerina im Vollrausch tanzte das Krainerradl im pikanten Rot, mal auf, mal ab, aber immer grazil und – schwupps. Ein Gedicht. Zeit für die deftige Draufgabe. Das nächste Radl wurde in Senf getaucht wie ein Pinsel in Farbe, und die klinische Ausführung des Rituals wies Nepo als Gourmand der ersten Stunde aus.

Für Meiberger war er einfach nur ein fester Trottel. Zwei kostbare Minuten dauerte das kulinarische Intermezzo zwischen Nepo und der Käsekrainer jetzt schon, und Meiberger fragte sich, ob diesem zwanghaft nur ans Essen denkenden Kretin bewusst war, unter welchem Zeitdruck sie standen.

Bei einer Entführung, gerade eines kleinen Kindes, zählte jede Stunde, jede Minute. Ganz zu schweigen davon, dass es kein unpassenderes Ambiente für die Besprechung eines Kriminalfalls gab, als solch einen Würstelstand – eine Lokalität, die einer der dunkelsten Stunden der Sechzigerjahre entsprungen war und die mit ihrer Weihnachtsgirlande über dem Häuschen jahreszeitliche Stimmung verbreiten wollte, die ihren Ruf als gastronomische Latrine aber auch mit einer Lichterkette nicht gefährden konnte.

Die Lampen hingen schlapp von der Decke des Häuschens wie erwürgte Gummibärchen, und Meiberger musste Nepos Kartontässchen mit der Käsekrainer von ihm wegschieben, um zumindest einen Teil seiner Aufmerksamkeit erringen zu können. »Wir müssen die Umfeldbefragung abgleichen. Ich kann versuchen, unter Berücksichtigung der psychologischen Attribute eine Richtung zu eruieren, aus der der Entführer gekommen sein könnte, wenn er tatsächlich schon von Anfang an da war.« Nepo kaute unbeeindruckt weiter. Meiberger versuchte, seinem Vorstoß mit einem festeren Tonfall Gravitas zu verleihen. »Wenn wir die Richtung kennen, aus der er kam, können wir weiters auf die Richtung schließen, in die er verschwunden ist. Es war ein Haufen Leute anwesend, da ist die Chance, dass er gesehen wurde, groß.«

Nepo schüttelte den Kopf. »Die Chance, dass irgendwas gesehen worden is, is vielleicht groß. Aber nichts Konkretes, nichts, das hält.« Meiberger überlegte sich gerade ein Gegenargument, das Nepo mit einer Draufgabe aber sogleich abschoss. »Zwischen den Punschstandeln liegt die Durchschnittspromille bei 1,5. Da kannst genauso gut ein paar Ameisen befragen, Herr Psychologe.«

Das Diktiergerät klickte bestätigend, und Nepo nahm autoritär die zweite Nachricht auf. »Der Täter hatte offenbar das Ankommen der Perchten genutzt, um sich unters Volk zu mischen, was eine exakte Planung nahelegt.«

»Er plant nicht exakt, er plant zwanghaft«, warf Meiberger unelegant, aber effektiv ein. »Das psychologische Muster ist klar, wir wissen, dass er in der Kälte gestanden und seine Opfer beobachtet haben muss, und wir wissen, dass die Mutter sich schon davor beobachtet gefühlt hat. Also ist anzunehmen, dass der Täter ihr penibel gefolgt ist. Das braucht zwanghafte Charakterkomponenten, sonst kann er es nicht in der Perfektion durchführen.«

Nepo hörte Meibergers Worte, aber alles, woran er denken konnte, war die liquide Ergänzung, die man so einer Käsekrainer anständigerweise schuldig war. Einen Schluck Bier. Kalt. Aus der Flasche, nicht aus der Dose. Nepo schloss die Augen beim Trinken und kostete die Explosion in seinem Mund aus. Malzig. Frisch. Die Welt war in Ordnung.

Gerade als Meiberger dachte, dass das Niveau des immerhin waffenführenden Polizeibeamten neben ihm nicht zu unterbieten war, kam Nepos Assistent Ganslinger dazu, dem optischen Eindruck nach ein entfernter Cousin des Pumuckl. In seiner Hand wurde eine Schaumrolle sichtbar, die er mit der Leidenschaft eines Liebhabers in den Fingern hielt. Wenn man diese Seite von Inspektor Kevin Gottlieb Ganslinger verstehen will, dann muss man seine Geschichte kennen. Als jüngster »Nachkomme« der k.-u.-k. Konditorei Ganslinger in St. Gilgen wurde Kevin die Schaumrolle in die Wiege gelegt. Buchstäblich. Diese Liebe zur österreichischen Konditorkunst ließ Mama Ganslinger keinen Zweifel daran hegen, dass ihr Gottlieb – sie nannte ihn nur bei seinem zweiten, von ihr favorisierten Namen – einmal den Familienbetrieb übernehmen würde. Bis zu seiner Jugend stellten die Mehlspeisen dann auch tatsächlich Ganslingers Lebensmittelpunkt dar, aber das änderte sich, als just an seinem zehnten Geburtstag die erste und letzte Videothek in St. Gilgen eröffnete. Fortan eiferte Ganslinger den Helden der seinerzeit immens populären Actionfilme nach, die ihn auf dem brandneuen Videorekorder der Eltern aus der Realität entführten. Stallone, Schwarzenegger, Van Damme, echte Kerle, die die Welt kraft ihrer Coolness wieder geraderückten. Fortan war für Ganslinger klar, dass auch er das tun würde. Er würde Polizist werden und zog diesen Jugendtraum tatsächlich durch, was Mama Ganslinger nicht nur enttäuschte, sondern regelmäßig ihren Blutdruck kontrollieren ließ. Doch ungeachtet dessen waren und blieben Schaumrollen Inspektor Ganslingers große Liebe. Für ihn war klar, dass sie perfekte Werke österreichischer Konditortradition waren. Sie hatten kein Vorne und kein Hinten, keinen Anfang und kein Ende, und eben das machte sie perfekt. Nepo sah das anders. Aus seiner Sicht brachte nur ein Ignorant Schaumrollen zum Würstelstand mit. Das war sowohl in kultureller als auch in kulinarischer Hinsicht in hohem Maße unpassend.

Für Meiberger entbehrte es nicht einer gewissen Ironie, dass solch traurige Produkte des öffentlichen Schulsystems im späteren Leben in die autoritäre Position kommen konnten, die Exekutive der Republik zu verkörpern. Ganslinger stellte in derselben Sekunde fest, dass kein Puderzucker, sondern Kristallzucker auf der Schaumrolle war. Anfängerfehler.

Meiberger schlussfolgerte mit einem kapitulierenden Seufzer, dass diese pragmatisierten Herzinfarktkandidaten so ziemlich das Gegenteil dessen sein würden, was man im Allgemeinen als hilfreiche Kollaboranten betrachtet. Die Verantwortung dafür, das Mädchen zu finden, lag wohl oder übel bei ihm, und zwar bei ihm allein. Er musste sich zu hundert Prozent auf sich selbst verlassen, ein bisschen so wie damals in der Schule. Und ebenso wie damals klammerte er sich trotz seiner akademischen Grade und Diplome immer noch an eine simple, mit neun Jahren am Schulhof in Itzling gewonnene Erkenntnis: Es gibt nur einen einzigen Moment, in dem man mit hundertprozentiger Sicherheit davon ausgehen kann, dass ein anderer Mensch einem die Wahrheit sagt. Der Moment, in dem der andere eine Entscheidung trifft. Der Täter hatte eine Entscheidung getroffen – und die würde Meiberger zu ihm führen. Darauf musste er sich jetzt konzentrieren. Ohne Hilfe und in dem klaren Bewusstsein, dass jede Sekunde, die er verlor, Maries Überlebenschancen verringerte.

4

Weißt Du schon, was Du Dir vom Christkind wünschst? Ich schon. Ich will meinen Bärli wiederhaben. Ohne ihn gehe ich nicht, das hab ich dem Mann gesagt. Ich hab ihm gesagt, dass der Bärli mit mir nach Hause geht. Und der Mann kann mir nix tun. Der nicht. Es tut nicht weh, nur weil da Blut war. Aus der Nase habe ich auch schon oft geblutet. Und nur weil ich kein Pflaster auf die Hand bekommen habe, tut’s noch nicht weh. Der kann mir nicht wehtun, der Mann, weil ich ihn nicht lasse.

Und ich weiß, dass die Mama mich finden wird. Weil sie mich immer gefunden hat. Ich muss nur warten. Ganz ruhig sein, und brav. Dann findet sie mich. Ganz sicher. Ganz, ganz sicher.

5

In der Nacht zuvor war eine beachtliche Schneeschicht über die Welt gefallen. Die Zeit war angehalten worden, und wer immer die vereisten Schluchten der Alpen jetzt betrat, ließ deutliche Spuren zurück. Viele waren es nicht, die heute schon vor Eva und Karl auf den Untersberg gestiegen waren. Um genau 7:42 Uhr waren sie wach geworden, in den Armen des jeweils anderen, eingekuschelt, wie Vögel im Nest. Und ein Nest, das war es, ihr Häuschen, zwar ein wenig abgelegen, hier oberhalb von St. Leonhard, aber so, wie sie es sich immer gewünscht hatten. Und jetzt, kurz nach halb neun, baumelten beide schon in zweihundert Metern Höhe an Granitfelsen, gehüllt in dicke Bergsteigerjacken. Eissplitter fetzten an Evas Gesicht vorbei, und Muskelfasern protestierten, als sie den Eispickel einschlug. Sie umklammerte den Stil so fest sie konnte, der Druck ihrer fünfzig Kilo Körpergewicht lastete wie ein Vielfaches auf ihr. Ein Windstoß ließ ihre Jacke flattern, sie spürte, wie der Sog sie vom Felsen wegdrückte, hörte die Stimme ihres Vaters durch ihren Kopf dröhnen. »Enger an der Wand klettern, der Böe keine Chance lassen. Nicht nach unten blicken.« Eva blickte nach unten. Es war ein Reflex, den die dumme Maschine Mensch immer dann ausführte, wenn sie das Gleichgewicht verlor. Obwohl sie sich noch festhielt, schien Eva jetzt allein der Blick nach unten zu ziehen. In einen Abhang aus spitzen Felsvorsprüngen, die sie beim nächsten Fehler aufspießen würden wie die Fliegen, die ihre Cousins auf den Dornenbüschen ihrer Mutter aufgespießt hatten, an ihrem elften Geburtstag, um sie zum Weinen zu bringen. Eva schloss die Augen, schüttelte die Erinnerung ab und zwang sich, wieder nach oben zu schauen.

Sonnenstrahlen stachen ihr in die Augen, ihre überforderten Sehnerven reagierten mit dunklen Punkten, aber dahinter sah sie den Felsvorsprung, der nur noch wenige Meter entfernt war. Eva sammelte alle Kräfte. Sie holte aus, schlug den Eispickel ein zweites Mal ein – und: rutschte ab. Eva sackte im Bruchteil einer Sekunde nach unten, ihre zweite Hand schoss reflexartig zur Wand, fand Halt, der ihre Finger zum Zittern brachte. Ihr ganzes Gewicht baumelte jetzt nur noch an dieser brennenden Handfläche. Ein stechender Schmerz schoss durch Evas Arm, aus den Augenwinkeln sah sie die scharfen Felsformationen unter sich. Das Stechen im Arm verwandelte sich in ein Pochen, die Finger wurden taub, und Eva verstand in dem Moment, dass sie abstürzte. Ihre Finger gaben nach, und sie wurde mit einer Geschwindigkeit in die Tiefe gerissen, die stärker und größer war als alles, was sie je erlebt hatte. Sie war machtlos. So fühlte sich wohl das Sterben an. Der Moment, wenn der Tod einen eingeholt hatte und man nichts mehr gegen ihn ausrichten konnte.

Da fingen Hände Evas Schultern auf. Noch bevor sie begriffen hatte, was vor sich ging, spürte sie, wie der Druck nach unten einer Kraft wich, die sie nach oben zog. Eva wurde auf einen Felsvorsprung gehievt – von Karl, der die ganze Zeit neben ihr geklettert war. Er stemmte sie mit einer Behutsamkeit auf das kleine Plateau, die angesichts der extremen Situation fast surreal war. Genauso wie sein Lächeln. Ein ehrliches Lächeln, das dem Tempo seiner Atmung und dem Zittern in seinem Gesicht trotzte – beides Nebenwirkungen des Adrenalins, das durch seinen Körper pumpte. Eva lehnte sich an die Wand, keuchend und bis zum Hals in eine Bergsteigerjacke gehüllt, die sich plötzlich zwei Nummern zu groß anfühlte.

Sie wollte sich bedanken und entschuldigen, beides gleichzeitig, brachte aber keinen Ton heraus. Einen Moment brauchte sie, bis ihre Atmung wieder ruhiger war, dann flüchtete sie sich in Karls Augen. In die Vertrautheit dahinter, die sie in Sekundenschnelle beruhigen konnte. Karl würde ihr keinen Vorwurf machen, dass sie ohne die einschränkende Sicherung klettern wollte. Er würde sie auch nicht darauf hinweisen, dass das Beinaheunglück ihre eigene Schuld gewesen war. Die meisten Menschen in Evas Umfeld verbrachten ihre Zeit damit, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen, Vergangenes auszuwalzen und einander zu kritisieren. Karl war anders. Auch deshalb liebte sie ihn.

Sie konnte nicht genau bestimmen, wie lange das schon so war, erinnerte sich aber an ein Ereignis, das mit ziemlicher Sicherheit den Grundstein für ihre Gefühle gelegt hatte. Es war mittlerweile vierundzwanzig Jahre her, Evas achter Geburtstag. Ihr Vater hatte Schicht im Bergwerk, und Eva war allein. In dem alten, dunklen Haus, in dem die Holzböden ständig zu knacksen anfingen, obwohl niemand im Zimmer war. Immer wieder erweckte es den Eindruck, als ob jemand den langen Gang zu ihrem Kinderzimmer entlangginge, um die Tür aufzustoßen, ihr die Decke vom Körper zu reißen und … Eva wollte sich nicht mehr erinnern, wovor genau sie in den Nächten Angst hatte, aber die Angst war immer da. Zumindest bis sie an jenem achten Geburtstag Karls Geschenk geöffnet hatte. Es bestand aus einer Taschenlampe und einem kleinen Spiegel, der an einen Holzpflock gelötet war. Um den Zusammenhang zu verstehen, musste man drei Dinge wissen.

Erstens: Die Häuser von Karls und Evas Eltern lagen nebeneinander.

Zweitens: Karls Zimmer war im oberen Geschoss, das von Eva im unteren.

Drittens: Seit Karl in der ersten Gymnasialklasse die Parallelen zwischen Thomas Edison und Daniel Düsentrieb erkannt hatte, war er ein selbst ernannter Erfinder und ständig dabei, seine nächste Errungenschaft zu konstruieren. Von der »Super-Duper-Regenschirmfernbedienung« bis zum »Super-Duper-Apfelschäler« versuchte er sich an den verschiedensten Konstruktionen, die meist nur eines gemeinsam hatten: Sie waren »Super Duper«.